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Jako

Jako war ein ungewöhnlich begabter junger Mann. Er stammte von den Quellen des Nil und hatte die ganze Welt bereist. Er konnte Holländisch, Plattdeutsch, Englisch. In seiner Knabenzeit hatte er verschiedene Negerdialekte gesprochen. Seit zwei Jahren widmete er sich mit bestem Erfolge dem Studium des Hochdeutschen.

Nach der respektvollen Behandlung, die er auf dem Schiff erfuhr, mußte Kikimora annehmen, er sei der Kapitän. Denn wer an ihm vorüberging, hatte eine Frage. »Wollen wir nun bald abfahren, Jako?«

»Wieviel ist die Uhr?« fragte er. »Drei? Na, also!«

Es kam ein anderer. »Hast du schon gegessen, Jako?«

»Danke der Nachfrage. Feigen und Knackmandeln. Sehr gut.«

Und ein dritter erschien – es war Hinnerk der Seefahrer – und sagte: »Sieh dir mal deine Freundin Kikimora an. Ist sie nicht hübsch? Kikimora! Ki – ki – mo – ra!« Zehnmal, zwölfmal sprach er ihm den klangvollen Namen vor.

Dem Papagei war anzusehen, so etwas hatte er nie im Leben gehört. »Kik?« fragte er.

»Nein, Jako: Kikimora.«

»Ah, Kikimora! Gebt Feuer! Puhuhu!«

Kikimora fand das sehr aufmerksam von Jako. Es klang fast so schön wie der Ruf, den sie im Teufelsmoor über das Herz der Mitternacht gerufen hatte. Nur fehlte der sammetweiche Klang. Es fehlte die gespenstische Einfärbung und wundervolle Melancholie. Dennoch: Jako zauberte ihr das Bild der dunkelblauen Moornächte vor. Und ganz hingegeben sagte sie: »Huhuhuhuuu.«

Hei, riß da Jako Herz und Augen auf! »Hu?« antwortete er. »Hu? Ein andermal, Kikimora!«

»Ach,« unterbrach ihn Hinnerk, »du darfst doch nicht sagen: ein andermal! Jako, es heißt: mach' das noch einmal!«

»Ach so!« entgegnete Jako mit tiefem Verständnis. »Also mach das noch einmal! Puhuhu!«

Er legte nun schon ein wenig von der geheimnisvollen Farbe der Nacht in diesen Ruf. Und er merkte: so oft er ihn anklang, so oft antwortete Kikimora auch. Das war ungeheuer kurzweilig.

»Wie heißt du?« fragte er dann. Aber die graue Freundin schwieg. Da schrie er in einem fort giftgelb: »Wie heißt du?« Und bald rief es von der Reeling, bald rief's von Steuerbord und bald von Backbord: »Kikimora!«

»Ah so! Haha! Kikimora!«

Nun vergaß er es nicht mehr. Jako war ein so gelehrtes Haus. Wer ihm eine Weile zuhörte, der mußte annehmen, dieser Afrikaner beherrschte die deutsche Sprache vollständig. Manchmal redete er sich geradezu in Begeisterung. Er ahmte auch alle Geräusche nach: das Rasseln der Ankerketten, die Schiffspfeife, das Flappen der Segel, das Schlürfen der Wimpel, das Plätschern der Wellen. Er nannte jeden Matrosen bei seinem Namen. Auf einmal –

»Abfahren! Jetzt geht's los!« rief Jako. »Behüt' euch Gott alle miteinander! Auf Wiedersehn! Feuer! Bravo, bravissimo! Na, was sagen Sie? Ab – fah – ren!!«

Dann ward er ganz still. Er richtete den Blick hinaus aus das Bild des Hafens und der Stadt. Wie alles sich zu bewegen begann, rückwärts glitt, leise wurde, was laut gewesen war, sich einwob in den Goldduft der Ferne, verschwand … Wie ein Mensch, der ein Herz voller Erinnerungen mitnimmt aufs Weltmeer, betrachtete sich Jako diesen stummen Wandel der Dinge. Da war keine Zeit für ein Wort. Solch ein ungeheuer besinnlicher Vogel war er.

Diese stille Stunde reichte für ihn bis an die große Einsamkeit der See. Wenn dann das schimmernde Bild der Wogen weit hinauslag und nur das Plätschern der Wasser an den Planken zu hören war, dann sang er ein schwermütiges Lied, immer das gleiche, und immer mit der wehmutvollen Beschwingtheit, mit der er sein Herz löste von dem Erlebnis des Abschieds …

Though the heart be weary,
Sad the day and long,
Just to us at twilight
Comes love's old sweet song …

Danach rief er einige Befehle über das Schiff, diesmal hastig, wie einer, der noch eine rasche Pflicht tun will. Das kam daher: Kikimora forderte seine Teilnahme. Ihre schweigsame Eigenart interessierte ihn. Ihr reizvoll verschleiertes Gesicht ward ihm rätselhaft. Es läßt sich sagen: die Umwelt, mit der er seit langem vertraut war, ging für ihn unter. Kikimora wurde von Stund an eine Erscheinung, die er ergründen wollte.

Er versuchte, in allen ihm geläufigen Sprachen eine Unterhaltung mit ihr anzuknüpfen. Es ging nicht. Aber beide – seine Klugheit und sein natürlicher Frohsinn – verzweifelten keineswegs. Ein junger Mann aus den Tropen begegnete einer Tochter der norddeutschen Moore. Sie fühlten, sie hatten einander viel zu sagen. Man mußte sich also verständlich machen, auch ohne die gleiche Muttersprache. Dazu ist auf einer langen Seereise die beste Gelegenheit. Und für eine Begabung wie die Jakos war das eine besonders anziehende Aufgabe.

Zuzeiten, wenn er sich von den Schiffsleuten vergessen glaubte, hatte er einen erbärmlichen Lärm geschlagen, wie es in seinem senegambischen Urwalde Brauch gewesen war. Jetzt aber verlegte er sich auf ein gemütvolles Schwätzchen. Er beschränkte sich dabei auf die Papageiensprache. Die verstand Kikimora von vornherein am besten.

Am dritten Morgen war er sich über ihre Eigenart klar. Er kannte ihr Leid und ihre Familienverhältnisse. Er wußte auch: das Schwerste für sie war, sich in ihr neues Dasein zu schicken, das ihre Welt sozusagen auf den Kopf stellte.

»Nun, daran gewöhnt man sich!« tröstete er sie. »Sie nehmen das Leben zu schwer. Sehen Sie mich an! Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden und stehe mich ausgezeichnet dabei.«

»Für Sie ist das eine ganz andere Sache!« entgegnete Kikimora. »Ich glaube ja nicht, daß ich an dieser Veränderung der Dinge zugrunde gehe, aber glücklich werde ich dabei nie sein.«

»Ach wo!« sagte Jako. »Ich habe heute mittag, als Sie schliefen, darüber nachgedacht. Und ich glaube, ich hab's gefunden. Sie haben den merkwürdigen Hang, die Nacht zum Tage und den Tag zur Nacht zu machen. Das ist des Pudels Kern.«

»Hä! Merkwürdigen Hang!« sagte Kikimora. »Das mache ich doch aus meiner Natur heraus.«

»Natur nennen Sie das? Ich finde es sparrig, einfach sparrig, meine Liebe.«

Das Gespräch ward unterbrochen. Hinnerk der Matrose und der Schiffsjunge kamen. Der hatte eine junge Ratte im Laderaum gefangen und hatte sie an einen Faden gebunden. Die beiden Menschen waren der Ansicht, Kikimora könnte das baumelnde Rätzchen gar nicht sehen; denn es war ja sonnenheller Tag. Aber darin täuschten sie sich sehr.

Alle Sinne der Käuzin stellten sich schon aus der Ferne darauf ein. Das graue Ding wuselte nun am Eichenstamm empor.

»Duitt, hitt hitt!« rief Kikimora, und mit gebreiteten Flügeln stürzte sie sich auf die Beute. Die hielt sie mit dem einen Fange und führte sie so zum Schnabel. Dann warf sie den Kopf in hartem Rucken rückwärts und versuchte, den lebenswarmen Fraß hinunterzuarbeiten. Aber der Bissen war zu groß. Deshalb warf sie ihn wieder heraus. Preßte ihn mit Schnabel und Fängen zusammen. Drängte ihn von neuem hinab in den Schlund.

Sehr anstrengend war das. Und schön sah Kikimora dabei nicht aus, nein. So häßlich ward sie, daß Jako, Hinnerk und der Junge sprachlos zuschauten. Einmal hatten sie eine große Schlange aus dem Schiffe gehabt. Die hatte ein lebendiges Huhn gewürgt, ekelhaft! Daran erinnerten sich nun alle drei.

Als Jako allein mit Kikimora war, begann er wieder zu plaudern. »Sie haben höchst sonderbare Gelüste, meine Liebe!« sagte er. »Wollen Sie mir weismachen, so etwas sei schmackhaft?«

»Hä!« antwortete sie. »Sie wissen nicht, was gut ist!«

Für Jako war Kikimora ein ungeheueres Erlebnis. Bei seiner philosophischen Veranlagung war das kein Wunder. Er aß Kuchen und Früchte. Sie war wählerisch und verschmähte, was ihm das tiefste Behagen schaffte. So hatte er immer von neuem Stoff zum Nachdenken über sie und zu angeregter Unterhaltung. In Kikimoras Art lag es nicht, sich mit den Gewohnheiten anderer Geschöpfe auseinanderzusetzen. Für Jako aber hatte das von jeher besonderen Reiz gehabt.

Sie fuhren nun auf dem blauen Mittelmeer. Ein weicher Wüstenwind umschmeichelte sie. Nun ja, auch Kikimora plusterte vor seinem Sonnenodem das Federröckchen auf; aber freudigen Gemüts wurde sie über allem Südlandglanze nicht.

Jako kannte nun ihre Vorliebe für Nacht und Dämmerung. Er kannte all ihre Eigenheiten. Sie konnte von bestrickender Liebenswürdigkeit sein. Aber immer erst von der Stunde an, in der die Sonne auslöschte. Dann pflegte Jako zu sagen: »Nun ist der Tag herum. Gute Nacht.«

Darüber lachte Kikimora, denn ihr Tag begann ja erst. Und wenn es ganz finster geworden war, ward sie lebendig. Sie gespensterte auf ihrem Aste herum, schlug mit den Schwingen und stöhnte ein sehnsüchtiges Huhuhuhuuu nach dem anderen über das schlummernde Meer und über das Bild des gestirnten Himmels dahin, der in diesem Meere lag.

Davon erwachte Jako. Der Betrieb, den sie in den stillsten Stunden machte, regte ihn auf. Er versuchte, mit seinen Augen zu sehen, was sie so begeisternd fand an solch einer Nacht. »Ich kann nur sagen, Sie sind und bleiben ein eigensinniges Geschöpf!« Es klang nicht verärgert, auch nicht vorwurfsvoll. Aber es klang hoffnungslos. Jako hatte sich auf diese Südmeerfahrt gefreut. Er erzählte ihr in langen Sonnentagen von der Schönheit der Welt, die sich immer glückseliger um sie entfaltete. Sie aber beharrte auf ihren vorgefaßten Meinungen: der Tag sei nichts für eine anständige Eule.

Längst war sie kein Rätsel mehr für ihn. Er wußte: sie sah die Mücke in der mausgrauen Mitternacht mit der Klarheit, mit der er sich im Sonnenschein die Wanderungen einer kleinen Fliege betrachtete. Er wußte, warum sie die sterngestickte Finsternis liebte oder die schleierleisen Dämmerungen. Und er hatte erkannt, daß sie sich nie wandeln würde zu einer fröhlichen Gefährtin seiner Tage.

Und dennoch: sie liebte die Nächte, aber ihre Einsamkeiten waren seit ihrer Gefangenschaft für sie eine Qual. Dann klagte sie so schauerlich hinaus über das träumende Meer. Das klang, wie wenn in den Tiefen eines Kerkers sich jemand jammernd das Herz zerquält.

Nicht nur Jako hatte es sich angelegen sein lassen, ihre wunderliche Art nach seinem Geschmack zu wandeln, Auch Hinnerk der Seefahrer hatte sich alle Mühe gegeben. Aber wenn der an sie herantrat, trippelte sie verängstigt zum anderen Ende des Astes. Sie schnitt mit verdrießlicher Eindeutigkeit ihre Gesichter oder machte sich unbeweglich wie ein knorriges Holz. Jako ward oft auf der Achsel eines Schiffsmanns getragen und trieb mit den Menschen allerlei Kurzweil. Kikimora dagegen ward eine Einsiedlerin. Eine mürrische Waldfrau, saß sie in dem Gestrüpp ihrer Bitternisse und Sehnsüchte. Die Gebundenheit ihrer Sinne im heiteren Leuchten des südlichen Tages langweilte Jako. Oder hatte er Mitleid mit ihr? (Wer will sich vermessen zu sagen: solch eine Gemütsbewegung sei ihm fremd gewesen?) Je bekümmerter sie dasaß, desto mehr gab er sich Mühe, sie froh zu machen. Dabei verfiel er auf die seltsamsten Eingebungen. Und unverdrossen plauderte er mit ihr, wenn sie ihn hören wollte.

Das war nun auch nicht mehr immer der Fall; denn sehr viel Neues hatte er ihr wohl nicht zu sagen.

»Ich finde, Sie sind in letzter Zeit noch unzulänglicher geworden,« sprach er eines Tages zu ihr. Es tauchte der blaue Gebirgszug des Libanon gegen Morgen her auf und rückte sich in stolzer Klarheit näher. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« sang Jako. Das war sein Paradestück. Sobald sich ein Strandbild irgendwo hervortat, stimmte er dies Lied an. Und wer ihn bei seinen Handlungen beobachtete, der war nicht im Zweifel; es herrschte in ihm eine Klarheit der Gedanken, bei der von sogenanntem Instinkt und seiner Unbewußtheit gar keine Rede sein konnte.

Je näher sie dem Reiseziel Beirut kamen, desto mehr wandelte sich das Benehmen Jakos. Er füllte die letzten Stunden mit Befehlen für die Schiffsmannschaft aus. Er ahmte das Geräusch beim Raffen der Segel nach oder das Geklirr der Ketten, von dem er nun wußte, daß er es bald zu hören bekam.

Es dämmerte, als die Anker geworfen wurden.

»Wir sind nun da!« sagte er zu Kikimora.

Die Schiffsleute booteten sich aus, um an Land zu gehen. Eine sehr stille Stunde kam. Aus tausend Lichtaugen blickte die Stadt herüber.

»Geh schlafen, Jako!« sagte der Schiffsjunge im Vorüberstreifen.

»Jako will nicht schlafen!« antwortete er. »Kikimora, wir sind nun da!«

Anfangs hatte man die beiden Sitzstangen der zwei gefiederten Freunde so weit voneinander aufgestellt, daß sich die Vögel nicht erreichen konnten. Darauf brauchte man längst nicht mehr zu achten. Und an diesem Abend waren sie einander so nahe, daß Jako zu Kikimora hinübersteigen konnte.

Sie war sehr traurig. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« sang Jako. Dann plauderte er ein wenig mit ihr. Und dann sah er sie lange schweigend an. Ihr Federkleid hatte den Glanz verloren. Verbiestert in ihr Leid, blinzte sie in den Abend. So nahe am Lande, und doch angeschmiedet wie eine Verbrecherin an ein armselig Stück Holz! Das war schwer zu tragen. Auf einmal –

Jako senkte den Kopf und nahm das Wanduhrkettlein, das sich um ihren weichbefiederten Ständer schlang, in den Schnabel. Er arbeitete daran herum. Er zerbrach es. Mit sanftem Gerassel glitten die feinen Messingglieder über den Stamm.

Kikimora schien es nicht zu merken. Ganz unbeweglich saß sie. Dann legte sie ihrem Freunde den Kopf in den Nacken und spann dabei wie eine Katze. Es klang traulich und dankbar.

»Kikimora ist lieb!« sagte er, trat ein wenig zurück, und: »Jako will nun schlafen!«

Da schwang sich Kikimora empor in die Nacht. Die war wie eine dunkelblaue Vase, und die silbernen Blumen der Sterne blühten darin.

»Komm mit! Komm mit!« lockte sie. Und immer wieder: »Komm mit! Komm mit!« So befreit, so selig klang das, und so dankbar. Dreimal schwebte sie mit wippendem Schlage der Schwingen um das stolze Schiff. Dann ging sie unter in schimmernder Finsternis.


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