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Nachtgesellen

O Menschenherz, woher solltest du die Beschwingtheit nehmen zu einer Wanderung durch Wüstennacht und Steppeneinsamkeit im fremden Lande? Aber –

Mit jedem Flügelschlage schlug Kikimora das Leid langer Tage hinter sich. Sie fühlte, der Glanz der Sterne legte sich an ihr stumpf gewordenes Gefieder und machte es wieder blank. Die Lichter der Stadt gingen aus hinter ihr; die Lichter des Himmels blieben. Lautlos dehnte sich das Dunkel der Erde – lautlos und weit hinaus. Fast heimatlich mutete sie diese Steppenöde an. Durch Meilen flog sie so tief, daß die Spitzen der Gräser den Tau an ihr abstrichen. Und einmal stürzte sie sich hinein in die glimmernde Kühle. Nicht ihr Mund, aber ihr Leib hatte gedürstet nach dem sanften Regen, der sie da übersprühte.

Dann schwang sie sich wieder empor; ganz hoch, wo der Wind strich, flog sie. Den nahm sie unter ihre Flügel und trieb, ein schwarzer Stern, unter dem Nachthimmel dahin.

Und turmhoch über ihr trieb ein anderer. Sein Körper war kaum größer als der einer Eule. Nur Hals, Schnabel und Beine waren länger. Manchmal stieß er einen dumpfen Ruf aus. Ein Nachtreiher war es. Der wohnte am Libanon und war auf der Fahrt zu einem fischreichen Teiche.

Kikimora hatte solch einen Fremdling nie gesehen. An einem Tümpel schwang er sich ein. Zuvor rief er sie noch einmal an. Da ließ auch sie sich in seiner Nähe nieder.

»Ich bin landfremd und bin mit einem deutschen Schiffe gekommen,« sagte sie und betrachtete sich mit erregten Sinnen den Pilgrim. Er hatte einen Anstrich von Gelehrsamkeit. Focke hieß er. Ja, Focke. Das klang vertrauenerweckend. Auch seine Bewegungen waren nicht dazu angetan, Furcht einzuflößen. Sie erzählte ihm ihre Geschichte.

»Ein bißchen seltsam,« sagte er. »Ich konnte mir auch nicht recht denken, wie Sie in diese Gegend kommen. Mir geht es ähnlich. Das heißt: in Gefangenschaft bin ich nicht gewesen. Ich habe einen Sommer in Holland und einen anderen reisend in der Norddeutschen Tiefebene verbracht. Dort bin ich auch geboren. Das hören Sie an meinem Namen. Ausnahme, meine Liebe, Ausnahme! In Holland kommen viele meiner Sippe zur Welt. Aber in Deutschland halten wir uns in der Regel nur während einer Vergnügungsfahrt auf. Im Frühling geh' ich wieder nach Holland. Für diesmal hab' ich mich leider beschwätzen lassen und bin im Süden geblieben. Es war eine Dummheit. Sehen Sie, ich halte mich über Tag gern in Wäldern auf. Und um ein wenig fischen zu können, flieg' ich oft die halbe, manchmal auch die ganze Nacht hindurch hierzulande. Das ist nicht sehr bequem. Und es fehlt mir dabei die richtige Gesellschaft. Sie sind von Natur doch auch keine Einsiedlerin?«

»Ich denke gar nicht daran!« antwortete Kikimora. »Aber Sie kennen ja meine Erlebnisse. Wohin gedenken Sie in dieser Nacht zu reisen?«

»Pah!« sagte Focke. »Jedenfalls: der Tümpel hier ist ein faules Wasser und hat für mich nicht den geringsten Reiz. Fliegen Sie vielleicht einmal mit an den See Genezareth? Es geht das Gerücht von reichen Fischzügen, die man da machen kann.«

»Fischzüge interessieren mich weniger,« sagte Kikimora. »Und See Genezareth? Ich habe zwar keine Ahnung, aber wenn Sie meinen …«

»Oh, ich denke, ehe der Morgen graut, sind wir dort. Freilich, sputen müssen wir uns. Also los, wenn es Ihnen gefällig ist!«

Hoch empor stiegen sie diesmal. Der Nachtreiher legte eine Geschwindigkeit vor – nein, ganz nach dem Geschmacke Kikimoras war das nicht! Aber Focke war mit den Verhältnissen hierzulande offenbar vertraut. Auch die Landsmannschaft nahm sie für ihn ein.

Im ersten Dämmern des Tages kamen sie an den See. Da hatten sie gleich eine merkwürdige Begegnung. Eine Reihe Zwergrohrdommeln stand am Ufer, Fischer von Beruf.

Sehr komisch sahen diese Fremdlinge aus. Es waren ihrer zwölf und hielten genauen Abstand voneinander. Aber das war nicht das seltsamste an ihnen. Sondern sie sahen aus, als seien sie just aus der gleichen Gießform eines Gipsfigurenmachers hervorgegangen. Reckte einer den Reiherschnabel in die Luft, so taten die andern elf wie er. Und alle auf Kommando. Weil sie den Nachtreiher und seine Gefährtin täuschen wollten, setzten sie sich auf ihre Fußwurzeln und streckten, was darüber war, schräg nach oben. Das geschah bei jedem im selben Augenblick. Als würden sie an einem Faden zur Erde gezogen, kauerten sie hin, das reine Marionettentheater. Und nun sahen sie aus wie zwölf Strandpflöcke. Man konnte denken, die Fischer machten ihre Boote daran fest. Eine Minute später waren zwölf gestorbene Schilfbüschel daraus geworden, die im Seewind wackelten. Und dann reckten sie die Hälse und drehten sie schraubenförmig um ihre Achse.

In der Nähe des einen, der die Reihe der seltsamen Akrobaten eröffnete, ließen sich Focke und Kikimora nieder.

»Ihr wundert euch über meine Gefährtin?« fragte Focke. »Es hat nichts auf sich. Und nun, Gevatter Butorius,« redete er den Nachbar an, »wir haben uns gelegentlich schon kennengelernt; deshalb werden Sie mir antworten. Wie sind die Verhältnisse am See? Wohnt es sich hier leidlich? Gibt es …«

»Pumm!« sagte Butorius. Da spiralten sich die zwölf verrenkten Hälse zurück. Die eingeknickten Stelzen streckten sich. Mit lautlosem Schlage der Flügel strich die wunderliche Gesellschaft über den See.

Kikimora hatte die praktischen Kleider der Zwergdommeln mit weiblicher Teilnahme für derlei Dinge betrachtet. Sehr artig sahen sie aus, und recht wohl geschickt waren sie für den Aufenthalt ihrer Besitzer im Rohr. Auch voller schöner Flecken, wie mit Sternen besprengt und geziert.

»Verrückte Gesellschaft!« sagte Focke. »Denken Sie etwa, man kann mit diesen maulfaulen Weltverächtern in ein Gespräch kommen? Aber jetzt hab' ich Hunger! Am Tage arbeite ich nur, wenn Kinder zu ernähren sind.«

Damit stelzte er bis an den Bauch ins Wasser. Der Morgenstern brannte noch flammend im Osten, und hoch am Himmel hingen einige späte Lampen. Die Nebelfrauen woben ihre Gespinne dicht – von Ufer zu Ufer? Nur wo die gluckernden Wellchen zerbrachen, ließ sich in diesem Wirrsal von Dämmerungen Ufer vermuten.

Kikimora traf eine dicke Wassermaus. »Hören Sie mal,« sagte die, »Sie haben doch nicht etwa schlimme Absichten? Ungeheuerlich, welch ein Gesindel sich hier herumtreibt!«

Da drückte ihr Kikimora schon die krummen Fänge in den Rücken. Die Wassermaus schimpfte erbärmlich.

»Was ist denn los?« rief Focke und schlang einen rotflossigen Seebewohner hinab. »Was ist denn los?«

In behäbigem Stelzschritt tauchte er aus dem Nebel. Ein Möwenschrei erwachte weit draußen auf dem See.

»Ich halte das für eine große Gemeinheit!« schrie die Wassermaus.

»Tja,« sagte Kikimora, »jeder ist sich selbst der Nächste! Bedenken Sie, daß ich vor zirka vier Wochen eine ganz kleine Ratte und heute nacht eine einzige Maus gegessen habe.«

»Was geht denn das mich an? Seien Sie vernünftig! Ich habe Familie. Sie zerbrechen mir ja das Rückgrat.«

»Selbstverständlich,« entgegnete Kikimora. »Sie sind so dick. Ganz kann ich Sie nicht hinunterschlucken.«

Focke sah zu, wie sich Kikimora bei ihrem Mahle abmühte. »Finden Sie das nun eigentlich gut?«

»Ausgezeichnet!« entgegnete sie. »Am liebsten verschlucke ich meine Beute mit Haut und Haar. Das ist am bequemsten. Bedenken Sie …«

»Sie fordern viel,« sagte Focke lachend. »Immerzu soll man etwas bedenken! Nun ja, wir Nachtgesellen sind wohl besinnlichere Leute als jene, die im lichten Tage herumfahren. Da merke ich eben, es wird verdächtig hell. Soviel ich gesehen habe, ist für uns kein ordentliches Quartier in der Nähe. Wir werden also nicht standesgemäß übertagen können. Wissen Sie, solch ein waldloses Land wie dies Palästina ist doch eine recht fragwürdige Erfindung! Und da wir im Sonnenschein nicht gerne reisen, so wollen wir wenigstens die Pfahlbauten unseres Freundes Butorius und seiner Leute aufsuchen.«

Als sie in die Siedlung der Zwergdommeln kamen, rief Butorius ein tiefgefühltes Pumm. Das klang wie das kurze Brummen eines Ochsen oder wie ein Schlag auf die große Trommel.

Mindestens dreißig Stück der Sippe bewohnten die Siedlung im Schilf. Es sah also aus, als wäre ein halbes Schock nach oben zugestutzte Wurzelstöcke da in den Sumpf gerammt, die etliche Jahrzehnte im Wasser gelegen hatten.

Focke hatte Lebensart. »Sie entschuldigen, bitte,« begann er, »wir sind auf der Reise und vom Tag überrascht worden. Wäre ein Wald in der Nähe, so würden wir Sie nicht belästigen. Sagen Sie mal, ist eigentlich viel Leben an diesem See?«

Statt einer Antwort begannen die Dommeln augenblicklich ihr Spiel: Uhrwerke, die ihren selbsttätigen Gang herunterhaspeln mußten. Oder Gelenkfiguren, die dem Faden gehorchten, der sie in Bewegung setzte. Sie wollten die Eindringlinge damit offenbar ängstigen oder irreführen.

»Wenn man das einmal gesehen hat, so macht das keinen starken Eindruck mehr!« sagte Focke. »Sie sind ein feindseliges Volk und höchst unbegabt obendrein. Oder haben Sie immer noch nicht wegbekommen, daß wir keine bösen Absichten haben?«

Er hätte noch eine viel schönere Rede halten können, die Dommeln hätten ihm doch nicht mit einem Laute geantwortet. Unverbrüchlich befolgten sie ihr trappistisches Gesetz, zu schweigen. Nur über das Herz der Mitternacht hinweg wurde in ihren Kreisen gesprochen. Und es fand bei ihnen kein anderes Geschöpf Aufnahme. Jetzt ruhten sie aus von der Arbeit der Nacht; das heißt: bis in die späte Dämmerung des Abends gebärdeten sie sich als Stockhölzer oder als dürre Schilfbündel.

Ihnen gegenüber geriet selbst Focke mit seiner gesellschaftlichen Veranlagung in die Brüche. »Kommen Sie!« sagte er zu Kikimoren. »Wir ruhen dort auf jenem Eiland.« Sie begaben sich nach einem Platz im Röhricht, der war durch die Dommeln künstlich über den moorigen Grund erhöht. Schilfstengel waren zusammengetragen und der Morast zu einem Hügel emporgezogen. Ein Dommelpaar hatte dort seine Kinder aufgeatzt.

Es war lauschig und angenehm kühl im hohen Rohr. Auch herrschte ein rätselreiches Zwielicht. Kikimora war keine Freundin von plätscherndem Gewässer. Aber hier ließ es sich aushalten. Sie betrachtete sich ihren Reisegefährten. Ungewöhnlich hübsch und ritterlich sah er aus trotz dem Anflug von Gelehrsamkeit. Er trug ein dunkelgrünes Barett, von dem rückwärts drei grüne Federn keck hinabwippten. Dann kamen: ein weißer Halskragen und vorn ein weißer Brustlatz, ein grüner Rückeneinsatz und stahlgraue Rockschöße.

Am liebsten hätte Focke noch ein Stündchen mit ihr geplaudert. Seine Bewegungen waren zwar müde, aber das schien nur so. Er war von großer Leistungsfähigkeit.

»Ich bin schon einmal in einer einzigen Nacht vom Libanon zum Toten Meere geflogen,« sagte er. »Gelt, da staunen Sie? Es ist weiter nichts dabei – immer den Jordan lang, wenn Sie wollen. Und dennoch: diese ganze Gegend taugt nichts. Sind sie schon einmal in Holland gewesen?«

Kikimora erkannte: wenn sie ihm antwortete, dann hörte er nicht auf zu schwätzen. Deshalb gähnte sie und klappte mit den Augendeckeln.

»Vor allem fehlt mir die richtige Gesellschaft,« plauderte Focke weiter. »Sie als Landsmännin – na, das war doch einmal ein Erlebnis! Da fällt mir eben ein: könnten wir im Frühjahr nicht zusammen nach dem Norden reisen?«

»Darüber mag ich noch nichts sagen,« entgegnete Kikimora. »Einstweilen bin ich sehr müde. Bedenken Sie …«

»Schon wieder soll ich etwas bedenken?«

»Ja. Bedenken Sie, daß ich vier Wochen sozusagen kein Auge zugetan habe!«

»Reisen Sie vorerst mit mir in den Libanon, meine Liebe! Da können Sie schlafen, so lange Sie wollen.«

Er redete noch eine Weile. Aber Kikimora hörte es nicht. Die roten Schilfwimpel über ihr schliffen im Morgenwinde wie die Fähnlein an den Schiffsmasten. Dabei träumte sie einen schreckhaften Traum. Und wenn das liebenswürdige Bild ihres Retters Jako nicht freundlich hindurchgeblüht wäre, so hätte sie wohl hin und wieder wild aufgeschrien.

Als sie erwachte, konnte sie sich nicht entschließen, mit Focke zu fliegen. Ein seltsames Schicksal waltete über ihr. Das wollte sie auf Abwege drängen. Erst sollte sie vier Wochen lang sich in die Gewohnheiten der Menschen oder eines Papageien aus Senegambien schicken, und nun wollte sie dieser Mann aus Syrerland zu Meilenflügen veranlassen und zu Jagden im Rohr am See Genezareth!

»Lieber Herr Focke, ich muß mich endlich zu mir selber finden,« sagte sie. »Eine Stellung als Reisebegleiterin ist nicht nach meinem Sinn. Sie nehmen mir das, bitte, nicht übel. Aber solch einem Posten widersetzt sich meine Natur. Über die Nordlandfahrt im Frühjahr ließe sich ja reden. Nun, bis dahin ist noch lange Zeit. Ich will mich zuerst einmal über die Lage der Dinge hierzulande unterrichten.«

»Aha!« Focke nickte verständnisvoll. »Nun ja, Sie sind eine junge Frau. Und wenn Sie den Wunsch haben, eine neue Ehe einzugehen, so läßt sich dagegen nicht viel sagen.«

So unterhielten sie sich in ein freundliches Scheidegespräch hinein. Und mit der Abenddämmerung flogen sie auseinander – Schiffe, die sich nachts begegnen.


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