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Vierzehn Tage später schnob der Nordwind über die Insel und blies einen Staubschnee aus beiden Backen, der den Weg in alle Ritzen fand. Das war um die Zeit, in der in allen Gärten der Werft eine Fichte gewachsen ist; die Bäume haben die Boote auf der Herbstfahrt mit vom Festlande gebracht. Mit den Ballen Walderde sind sie nun in den Inselgrund gesenkt worden und schlafen dem Schimmer der Weihnacht entgegen.
Durch das Haus Nomsens schwamm schon der Duft von frischgebackenem Festkuchen, und Antje Nomsen hatte noch allerlei fröhliche Geheimnisse.
Jochen Nomsen trippelte mit neugierigen Augen durch Stube und Küche, legte sein Ohr an jede Tür, lauschte an jedem Schranke: ob das Christkind darin sei.
Das hatte Uwe Nomsen getan: seine traulichen Märchen voll Glanz und Schimmer hatten Klein Jochens Herz berückt; denn Uwe Nomsen war in diesen Tagen wie ein plaudernder Quell und seines Reichtums an schönen Geschichten war kein Ende.
Weil aber Mütterchen noch so viel fröhliche Geheimnisse und doch nur eine Stube hatte, waren »die beiden Männer« – Uwe und Jöching – an diesem Nachmittage daheim übrig. Deshalb sollte Jochen jetzt einmal schlafen. Da mußte der Märchenquell zu springen aufhören, und Uwe Nomsen setzte sich in den Rohrstuhl und schloß die Augen.
»Siehst Du, Jöching, Vater schläft auch!«
»Schläft – auch?« fragte der Kleine zweifelnd.
Da nahm ihn Antje, legte ihn in das Bett, schob die Tür vor, damit ein dämmriges Dunkel um Jöching sei, und begann zu singen:
»Horch, wie der Wind saust, der Wind hat nicht Ruh,
Der hat ja kein schwellendes Bettlein wie du;
Muß sausen und brausen, muß wandern ums Haus,
Nun schlafe, sonst löscht er die Lampe uns aus.«
»Mahm!« lallte Jöching weinerlich, »die Lampe brennt ja noch gar nicht. Es ist noch so früh!«
Da konnte Uwe Nomsen im Stuhl sein Spiel nicht weiter spielen, sprang von seinem Sitz empor und eilte mit herzhaftem Lachen aus der Tür und hinaus in den stöbernden Schnee. –
Die Fäuste tief in die Taschen geschoben, den Rockkragen bis über die Ohren emporgestülpt – so trat Uwe Nomsen an diesem Nachmittag in Frerksens Haus. An seinen Wimpern hingen noch die blitzenden Perlen, die der Wintertag darangeworfen hatte.
»Na, Ipke Tamen?«
Der saß im Lehnstuhl am Fenster und hatte eine Wolldecke um die Beine gewickelt. Seine Hände lagen bleich auf der braunen Hülle – wie verschreckt, weil sie den Tod gefühlt hatten.
Da mußte Nomsen an Lüdde Lürsen denken, dem an der gleichen Stelle dieses Hauses und in dem gleichen Stuhle das Herz gebrochen war. Die Erinnerung wollte seine Freude dämpfen, die ihn von der Schwelle seines Hauses mit dem lachenden Glück über die Schwelle der Krankenstube geleitet hatte.
Er reichte dem Genesenden die Hand und schaute dann eine Zeitlang in den treibenden Schnee. Die Fichte im Garten schlug gerade ärgerlich nach dem Winde, der seine Eisnadeln gegen sie blies. Allein die Freude des Kindes, die an des Vaters Herz gerührt hatte, ließ sich durch den Ernst unter diesem Dache nicht lange verdrängen, und sie begann schon wieder heimlich um Uwe Nomsens Mund zu spielen.
»Drei Tage sind Dir noch Frist gegeben, Ipke Tamen,« sagte Nomsen, »dann mußt Du wieder hinaus, dann mußt Du hinüber und uns die Weihnacht feiern helfen. Du mußt, Tamen!«
»Muß ich?«
»Jawohl; denn Knecht Ruprecht in der grauen Kutte und mit dem Besen, der sonst immer hinter unserer Dielentür liegt, würde Dich suchen; und wenn Du nicht da wärst ...«
Da lächelte der Kranke: er ahnte, daß man auch für ihn eine Freude bereite. »Rupert?« sagte er, »was mag der mit mir wollen?«
Aber Uwe Nomsen wahrte sein Geheimnis getreulich.
Während die Stuben festlich bereitet wurden, eilten die drei Tage vorüber. Und nun waren sie aus allen Häusern zu Jöching Nomsen gekommen, dem einzigen Kinde der Hallig-Werft; denn sie wußten: die Weihnachtsfreude, die schon tagelang mit strahlenden Augen um die Häuser geschlichen ist, die sucht Kinderherzen, die sie selig machen, sucht Kinderaugen, die sie mit ihrem Märchenglanze beschenken kann.
In Nomsens Hause war alles leise, war alles heimliche Freude. Die ward nur einmal laut und das war, wie Ipke Tamen am Arme Frerksens den Steindamm daherkam und in die Stube trat. Da reichten sie ihm alle die Hände hin, und er legte die seinen hinein – so zog das Leben Ipke Tamen am Weihnachtstage wieder zu sich herüber. Jöching Nomsen verstand nicht, warum sich die Leute so über den Mann freuten – das ist ja gar nicht das Christkind, das ist ja Ipke Tamen!
Und während sie noch redeten und den Genesenden beglückwünschten, trippelte Jöching Nomsen wieder auf den Spitzen seiner kleinen Schuhe zwischen den vielen Leuten umher, legte sein rosiges Ohr an die Ritzen des Bettschranks und an den Spalt der Türe zum Pesel, in dem er das Christkind sehen sollte; und er legte seine Hand um das Ohr, damit er in die wärmelnde Luft hineinhorchte, in der es so heimlich weihnachtete – überall war das Glück.
Und weil die liebe Festfreude nicht tausend Kinderaugen blank mit Erwarten zu füllen hatte, nicht tausend Augen und tausend kleine Herzen mit goldenem Licht, so gab sie in dies eine Augenpaar Segen in Fülle, so gab sie in dies eine Herz all ihren Reichtum.
Und nun schlug dies kleine Herz wie eine Feierglocke durch die Dämmerung des sinkenden Tages dem Weihnachtsglanz entgegen.
Der Tag aber ging gar langsam vor den Fenstern vorüber, ging in weißen Schuhen, in weißem Pelz und ließ sich auf die Schultern schneien und auf das Haupt. Da ward er ganz von Flocken bedeckt. Und fielen ihrer immer mehr.
Der Wind aber lehnte, müde von weitem Gange, über die See, an der schmalen Ostseite des Hauses und streifte mit der Hand die weißen Flocken von der Wand wie ein müßiges Kind. Er guckte ab und zu um die Ecke des Hauses, summte ein wenig vor sich hin, bald aber vergaß er sein Lied, ließ sich wieder in das Gesicht schneien und blies nicht einmal – es ist lustig zuzusehen, dachte er. Dann streichelte er wieder die Federn von der Giebelwand, die sich flaumweich darangesetzt hatten.
Endlich ging der Tag die Böschung der Werft hinab und nahm alles Licht mit. Nur den wimmelnden Schnee ließ er der Nacht.
Sie hatten heute bei Uwe Nomsen die Läden noch nicht geschlossen, damit das Christkindchen durch die Fenster sehen könne: wo Jöching sitzt und wie er wartet. Nun war alles leise heimliche Freude.
Nicht einmal die kurzen Tabakspfeifen glimmten in dem trautsamen Düster der Stube. Jung Jochen saß auf Uwe Nomsens Knie: »Wir reiten dem Christkind entgegen!« Und Uwe Nomsens Knie ward ein Pferd, und die Zipfel der beiden Vorderteile der Joppe wuchsen wie Zügel in Jöchings Hände. »Dem Christkind entgegen!«
Nur Hertje Nomsen fehlte, und Binne Bonken war auch nicht da.
Wo sind die beiden?
Da ging draußen ein strahlender Glanz vorüber und Tritte klangen dumpf über das beschneite Pflaster unter den Fenstern.
»Das ist's!«
Die Stille legte allen die Hände auf den Mund, und die Freude stellte noch eine Kerze in die leuchtenden Augen des Kindes.
Draußen ging die Haustür, auf der Vordiele erhob sich ein leises Reden, ein sanftes, liebes Läuten – kling, kling, kling, – auf silbernen Sohlen ging das herein ins Zimmer und klang hinein in das kleine Herz. Und dann war wieder ein heimliches Lachen und ein Flüstern vor der Tür der Stube.
»Kann's auch reden?« fragte Jochen Nomsen.
Er nahm die Rockzipfel des Vaters fester in seine Hände – für alle Fälle ...
Und dann ging die Tür auf und herein flog ein Glanz von strahlendem Kerzenlicht und ein Glanz von goldenem Haar. Christkindchen aber trug den Weihnachtsbaum und stellte ihn mitten in die Stube. Der sah just so aus wie jener, der die Wochen her im Spätherbststurm und Flockentreiben draußen im Gärtlein gestanden hatte, aber er war viel schöner.
Und draußen im Pesel hob ein leises Spielen an auf dem Harmonium, ganz weiche Klänge, wie sie den Flöten sind; und nun sangen sie und sangen alle das fromme Lied von der stillen, der heiligen Nacht.
Jung Jochen legte die Hände aneinander und die Spitzen der kleinen Finger rührten sanft an sein Kinn, die Daumen an die kleine Brust, in der auch ein Weihnachtsglöcklein läutete:
»Kindken Jesus bring mi wat
In min Fat;
Da will ick ok fliitig tö Skuul gung
Un liire wat.«
Das Christkind versteht alle Sprachen, auch hallig-friesisch.
Und dann kamen die Äpfel und Nüsse für das Kind, die Knecht Ruprecht aus seinem Sack in die Stube schüttete. Ruprecht sah zum Fürchten aus; und es war gut, daß sich der Mann mit dem grauen Barte und den schreckhaften Augen alsbald zu Ipke Tamen wendete. Den schalt er, kramte aber aus seinem Rückensack vielerlei nützliche Dinge, so reichlich, daß sie kaum auf des Beschenkten Knien Raum fanden. Die mancherlei Dinge setzten aber Jöching Nomsen nicht besonders in Erstaunen; denn er hatte gesehen, wie Tante Hertje die langen Tage her daran gestickt und genäht hatte. Und Ipke Tamen fürchtete sich auch gar nicht vor Knecht Ruprecht, der so schrecklich in den langen Bart brummte, sondern faßte herzhaft nach seiner Hand, hielt sie lange und sagte dem Alten lachend etwas ins Ohr. Weil Rupert den Kopf so tief in die braune Kapuze gehüllt hatte, mußte er sich ganz nahe zu Ipke Tamens Mund herniederbeugen.
Das Christkind ist doch viel schöner als er, dachte Jöching Nomsen. Und die Augen des Kindes sahen die strahlende Gestalt im schneeweißen Kleide, das in der Mitte von einem goldenen Gürtel gehalten und mit goldenen Sternen bestickt war. Auf dem glänzenden Haar trug Christkind blaue Blumen, noch viel schöner als die, die sommers in dem kurzen Halliggrase blühen.
Und dann flogen die Blicke des Kindes über das goldene und silberne Gespinnst, das um das Grün der Weihnachtsfichte war, und fanden den Weg gar nicht mehr heraus.
Christkindchen sprach nicht viel, während Knecht Ruprecht immer noch mit Ipke Tamen redete. Endlich mahnte es: sie wollten gehen, denn es wäre heut nacht noch viel zu tun für sie.
Da schritten die beiden, die die Weihnacht in das Hallighaus und die Seligkeit in das Kinderheim gebracht hatten, der Tür wieder entgegen. Aber Christkind fühlte, wie ihm zwei stille Augen folgten; in denen war ein froher, stiller Glanz, war ein großes Glück.
Das waren die Augen Jochen Klähns. Die gingen über das weiße Kleid und gingen über das strahlende Haar.
Da neigte sich Jochen Klähn zu Frau Kei Bonken: »Binne sieht aus wie die Frau Holle, so schön ist sie mit dem goldenen Haar und den blauen Leinblüten darin; sie sieht aus wie Freya, die der Erde den Frühling bringt und alle Herzen froh macht.«
Da freute sich auch Kei Bonken der stolzen Schönheit, die von ihrem Kinde ausging. Aber Jochen Klähn vergaß darüber, weiter mit Mutter Bonken zu reden; und das Christkind verstand die stumme Sprache seiner Augen, die ihr sagten: Du bist schön, Binne Bonken.
Da legte die Liebliche dem Knecht Ruprecht, der schon wieder mit Ipke Tamen zu schaffen hatte, mahnend die Hand auf die Schulter. »Komm!« sagte sie. Aber an Jochen Klähn schaute sie vorüber; denn sie konnte diese Augen nicht mehr ertragen – ihr Herz zitterte und bat: Jochen Klähn, laß mich doch gehen!
Dann traten sie hinaus auf die Vordiele und schlossen die Tür. Es war ganz finster. Nur die Augen Jochen Klähns mit ihrer großen Stille und ihrem großen Glück standen noch in dem Dunkel und suchten Freyas Herz.
Nicht lange nachher wie die Männer in Nomsens Stube beim Teepunsch saßen und alle Lichter am Baume noch strahlten, eilte Hertje Nomsen mit geröteten Wangen ins Zimmer. Klein Jochen zeigte beglückt die Gaben, die ihm dieser Abend gebracht hatte und erzählte Tante Hertje von dem wilden Barte des alten Mannes.
»Wo ist Binne Bonken?« fragte Jochen Klähn halblaut.
Da lachte Hertje Nomsen: »Sie wird noch kommen!«
Und die Kerzen der Weihnachtsfichte begannen zu verlöschen; der Zeiger der Uhr rückte; Knudt Klähn war mit Frau Goede schon heimgegangen, und auch Krassen Frerksen mahnte zum Aufbruch, indem sie sorgend auf Ipke Tamen schaute.
Warum kommt Binne Bonken nicht?
Da schüttelte Kei Bonken sinnend den Kopf und ging hinaus.
Aber auch sie kam nicht wieder.