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Eine große schwarze schreiende Wolke hob sich vom Tannengehölz im Nordwesten und stieß flatternd auf die Äcker nieder. Die Frühlingssaat war frisch gesät, und am Tag zuvor war die Egge darüber gegangen. Jetzt hüpften die Krähen haufenweise in der losen Erde umher, pickten die Körner auf, zeterten miteinander, zankten sich um den Platz und krächzten über der bedrohten Saat, daß es weithin zu hören war. Auf dem Fußpfad, der die frischgeeggten Äcker vom Herbstroggen trennte, ging ein einsamer Mann. Der da auf dem Fußpfad ging, war der Eigentümer des Bodens ringsumher, und mit eigenen Händen hatte er die Pferde gelenkt und nicht geruht, eh der ganze Acker geebnet und glatt lag. Sein Name war Håkan; Ekberg hieß er nach seinem Vater, aber gewöhnlich wurde er nur Håkan genannt, wie es in der Gegend Sitte war.
In gewöhnlichen Fällen würde Håkan nicht versäumt haben, umzukehren, eine Büchse zu holen und, ob es gleich Sonntag war, den scheuen Krähen aufzulauern, ein paar Stück zu schießen und sie auf dem Acker aufzuspießen. Denn die Krähen waren seine Erbfeinde von Großvater und Vater her, und er hatte, solange er zurückdenken konnte, mit ihnen um die Saat auf den Äckern und das Korn, das in die Erde kam, gekämpft. Aber heute sah Håkan die Krähen nicht. Kaum, daß er sie hörte. Er achtete auch nicht auf die Herbstsaat, die schön und gleichmäßig dicht zu seiner Rechten aufsproßte und in der Frühlingssonne grün erglänzte. Gerade da, wo Håkan jetzt ging, öffnete sich der schmale Sund des Fjords, über dem sich der Wald auf Björndland dicht und dunkel erhob, und gab einen lichten, weiten Ausblick mit vielen schönen Buchten, wo man tief ins Land hinein sah, weil die Blätter der Laubbäume noch nicht aufgebrochen waren. Aber Håkan sah, wie gesagt, nichts von all dem. Er ging, wie es seine Gewohnheit war, mit gebeugtem Rücken und etwas wiegenden Schritten, aus dem Mundwinkel baumelte ein dürrer Grashalm, den er am Grabenrand abgerissen hatte, und ab und zu griff er sich an den dunkeln Backenbart. In Håkans Gesicht jedoch würde ein Beschauer nicht den gewohnten, derb gutmütigen Ausdruck erblickt haben; ein verbissener, grüblerischer lag statt dessen darauf. Denn Håkan war in Gedanken, und was ihn beschäftigte, war keins von den Dingen, über ein Mann für gewöhnlich nachdenkt. Aus und ein fuhr der Strohhalm, den er im Mund hielt, und die Gesichtsmuskeln kamen nicht zur Ruhe. Manchmal blieb der Mann stehen und hielt den zerkauten Halm nachdenklich vor sich hin, als wär es just dieser Halm und nichts anderes, was seine Gedanken beschäftigte. Nach einer Weile kam der Halm wieder auf seinen alten Platz im Mundwinkel, und wie wenn dies auf irgend eine Weise auf den Gedankengang des Mannes einwirkte, setzten sich gleichzeitig seine Beine wieder in Bewegung, und Håkan ging weiter.
So weit sich die Äcker erstreckten, ging er so, folgte dem Pfad, der um die Ecke des Zauns bog, wo das Türchen ausgehängt war, und kam so hinunter an den Strand, wo der Netzschuppen lag. Grau und zugeschlossen lag er unten an der kleinen Brücke, und am Land waren die Böte aufgezogen und warteten darauf, bis man sie zum Sommer abkratzen und teeren würde. Bloß der flache Kahn wurde so, wie er war, ins Wasser geschoben, sobald das Eis brach, damit die Möglichkeit des Hinausruderns nicht ganz abgeschnitten war. Viel Arbeit lag da und wartete, und wenn man recht nachsah, so hatte sich auch die Brücke auf der Außenseite gesenkt, vermutlich als das viele Eis des Winters gegangen war.
All dies lag vor Håkans Blicken, aber er widmete dem, was er sah, keine Aufmerksamkeit, ließ nur den Strohhalm zu Boden fallen, als Zeichen, daß seine Gedanken seiner nicht länger bedurften. Darauf wandte er um und ging, gebückt, wie er gekommen war, wieder zurück, nach den Äckern hinauf. Er beschleunigte jetzt, während er ging, seine Schritte und schleuderte im Vorübergehen ein paar kräftige Steine nach den Krähen. Schreiend stieg die Wolke wieder auf, mit flatternden Schwingen und dunkeln Körpern den Himmel verfinsternd, und ließ sich im Tannengehölz im Nordwesten nieder, um nach einer Weile, wenn das Feld wieder verlassen und frei daläge, im Sonntagsfrieden wieder zurückzukehren.
Jetzt blickte Håkan auf und wandte seine Augen nach dem Hof vor ihm. Zu oberst auf dem Hügel lag der alte Hof Utängen, so hoch, daß er mit den entlaubten alten Eschen und Ahornen, die ums Wohnhaus her standen, sich vom nackten Himmel abzeichnete, als wäre dahinter gar nichts mehr zu sehen. Auf der andern Seite erstreckten sich jedoch die Äcker weit hin, in weitem Umkreis von Hecken und Wald umschlossen. Wußte man es nicht, so konnte man hier schwerlich auf den Gedanken kommen, daß man sich in den üppigen Schären von Södermanland befand, tief im Süden, wo die Södertelje-Bucht einschneidet. Karger war die Natur und ärmer, wie ein in den reichen Süden versetztes Stück der nördlichen Schären.
Etwas Derartiges dachte auch Håkan, und während er da stand und nach seinem Hof hinaufblickte, stieg es in seinen Gedanken auf, wie viel Arbeit es gekostet hatte, Utängen zu dem zu machen, was es jetzt war. Das Haus selber bot nichts Merkwürdiges, lang und niedrig, wie es war, mit roter Farbe angestrichen, die von Sonne und Feuchtigkeit der Jahre dunkel geworden war. In der Mitte war das Dach geteilt durch zwei kleine Fenster, die hervorstanden, als wären sie erst später angebaut worden, und auf der steingepflasterten rechten Seite der Anhöhe sah man Scheune, Vieh- und Pferdestall und Schweinekober, Remise, Holz- und Werkzeugschuppen. Der ganze Bau hatte nichts Merkwürdigeres an sich, als Hunderte von andern, die in schöner Lage, von gutem Boden umgeben, daliegen, und wo die stille Kulturarbeit des schwedischen Landes getan wird, während die Leuchten der Kultur in Reichstag und Presse miteinander streiten, wie ihre Vorväter dereinst gegen die Feinde des Landes stritten. Aber für den Mann, der jetzt auf dies Anwesen zuschritt, war es merkwürdig genug. Hier hatte sein Großvater einst das Land urbar gemacht, zu einer Zeit, da noch nichts zu sehen war, als natürliche Wiesen und Hecken und dichter, buschiger Wald. Älter war der Hof nämlich nicht. Hier hatte Håkan den Vater fortsetzen sehen, was der Großvater begonnen hatte. Er selber erinnerte sich noch daran, wie die neue Scheune erbaut, wie das Wohnhaus vergrößert, wie der Fahrweg nach dem Dorf gemacht ward, zu dem der Hof ursprünglich gehörte, und wie die Äcker, über die er soeben gegangen war, zum ersten Mal umgegraben, ausgereutet, von Steinen gesäubert und gedüngt wurden, so daß der Pflug zum erstenmal Furchen in die jungfräuliche Erde schneiden konnte. An all dies und an noch viel mehr konnte Håkan sich noch ganz deutlich erinnern. Er hatte auch seine Gründe, gerade jetzt daran zu denken, während er auf den abgenützten Stein vor der Treppe trat, um welche die Fliederbüsche ihre kahlen Zweige, an denen die Rinde anfing, von Sonne und Regen weich zu werden, ausstreckten.
In der Küche, wo Schüsseln und Teller, glänzend vor Sauberkeit und in großer Anzahl, auf den Wandbrettern umherstanden und wo auf dem offenen Herd der große Kartoffeltopf über dem Feuer kochte, saß Håkans Weib, die rundwangige Margareta und wartete darauf, daß die Kartoffeln fertig würden, damit sie Platz für den Speck bekäme. Einsam saß sie hier innen, denn es war Sonntag, und heute war am Gesinde die Reihe gewesen mit dem Wagen und den jungen Gäulen zur Kirche zu fahren. Einsam ging sie ab und zu, und auch auf ihrem gesunden, gutmütigen Gesicht mit der kräftigen Nase und den lebhaften Augen, die in ihrer Jugend schön genug gewesen waren, mehr als einen zu betören, noch neben Håkan, der schließlich hängen blieb, war zu sehen, daß etwas Außergewöhnliches los war, und daß dies auch dem herzhaften Bauernweib ganz besonders zu denken gab.
Als der Mann eintrat, tat die kluge Frau jedoch nicht dergleichen, als ob auch ihre Gedanken ebenso in Anspruch genommen wären, wie die seinen. Daß ihr Alter am Sonntagmorgen ausgegangen war, um in Ruhe zu überlegen, das wußte sie wohl. Daß er just an das dachte, von dem sie selber wünschte, es möchte ihn beschäftigen, wußte sie auch. In zwanzig Jahren des Zusammenlebens in Arbeit und Sorge, Gedeihen und Freude, großen und kleinen Kümmernissen, Enttäuschungen, Freuden und Hoffnungen hatten es die Gedanken dieser Gatten gelernt, sozusagen in gleichem Takt zu gehen, auch wenn die Gemüter in verschiedenartigen Tonarten spielten, so daß sie einander nicht leicht störten oder beunruhigten. Ebensowenig war es möglich, daß der eine das Stillschweigen des andern mißverstehen konnte. »Wenn Håkan schweigt, weiß ich manchmal eher, was er will, als wenn er etwas sagt,« konnte Margareta sagen. Und als sie jetzt ihren Mann am Tisch beim Fenster sitzen und, ohne zu reden, durchs Fenster hinausblicken sah, konnte sie in seinem ruhig gewordenen Gesicht lesen, daß das, mit dem er eben zuvor gekämpft, sich zur Ruh gelegt hatte, und daß, wenn Håkan jetzt schwieg, es nur darum war, weil er nach dem rechten Wort suchte und sich nicht übereilen wollte.
Margareta war deshalb nicht im mindesten verwundert, als der Mann, ohne die Augen nach ihr hinzuwenden, und in einer Weise, als mache er bloß in seinen eigenen Gedanken weiter, langsam sagte:
»Du sollst es so haben wie du willst, Margareta. Und ich hab' keinen Augenblick daran gedacht, dich dran zu hindern. Ich hab' nur Zeit gebraucht, es mir klar zu machen, daß es wirklich so ist, wie du sagst. Der Geiz ist nicht meine Sünde, und ich habe auch nichts gegen deine Familie und nichts gegen den Jungen.«
Wohl hatte Margareta gewußt, daß ihr Alter so zu ihr sprechen würde, wie er es jetzt tat, und wohl wußte sie, daß, wenn sie sich ernstlich etwas wünschte, Håkan nicht gern Nein sagte. Aber dennoch kam diese Einwilligung über sie wie etwas, das mehr wert war als alles, was sie während ihrer langen Ehe je empfangen hatte, und sie konnte sich nicht helfen – ihr stiegen die Tränen in die Augen, als sie antwortete:
»Du bist immer gut gegen meine Familie gewesen, Håkan. Und du hast es mir nie schwer gemacht, dich um etwas für sie zu bitten. Meine Schwester ist recht elend dran, und mein Schwager in seiner Art auch; arm sind sie, geerbt und erarbeitet haben sie nichts, und daß er ein jämmerlicher Tunichtgut ist, das will ich gar nicht leugnen. Aber mitansehen, wie die Kinder es hatten – –, wenig zu essen, noch weniger anzuziehen und all der Schmutz ringsum – das hab' ich nicht aushalten können, als ich neulich dort war. Es ist auch nicht leicht für einen armen Taglöhner, der gar nichts hat. Und stammt er von bessern Eltern her und ist heruntergekommen, so ist das noch schlimmer, denk' ich mir. Wenn wir nun das Kind nehmen, so haben wir getan, was wir können, und keiner kann mehr verlangen.
»Nein,« sagte Håkan. »Man soll Gutes tun, so weit man kann, aber nicht weiter. Wer gibt, daß er selber betteln muß, dem gehören Prügel im Überfluß.«
»Ja,« antwortete Margareta. »Aber: Gibt einer gar nichts her, dem gehören der Prügel noch hundertmal mehr.«
»Das ist auch wahr,« meinte Håkan. »Aber jetzt will ich dir sagen, warum ich so bedenklich war. Arbeiten hab' ich mein Lebtag müssen, und ohne Arbeit hab' ich nichts erreicht. Die Arbeit hat uns das gegeben, was wir haben, und was wir da draußen sehen, ist mein Werk, wenn ich so große Worte brauchen darf, und vor uns meines Vaters und meines Großvaters. Und daß einer, der nach mir kommt, das zerstört, das will ich nicht.«
»Ich denke, wir werden den Jungen schon arbeiten lehren, wenn er zu uns kommt,« wandte Margareta ein.
»Das denk' ich auch,« fuhr Håkan fort. »Aber der Junge ist schon zehn Jahre alt, und wo er seither war, hat er es sicherlich nicht gelernt. Weder sein Vater hat es ihn gelehrt noch seine Mutter. Von allen deinen Geschwistern hat keins die Kunst verstanden, außer dir.«
Dies letztere enthielt eine scharfe Bemerkung und zugleich ein versöhnendes Zugeständnis. Margareta verstand und schätzte beides. Aber sie hatte ihre Gedanken jetzt ausschließlich auf das gerichtet, was sie gewinnen wollte, und hatte darum keine Lust, weiter auf dies Thema einzugehen, das, wie sie aus Erfahrung wußte, ein heikles war. Sie stellte deshalb die Pfanne mit Speck vom Feuer, um eine Weile ungestört zu sein, setzte sich ihrem Alten gegenüber und sagte:
»Ich will dir etwas sagen, Håkan, was du nicht weißt. Als ich dich zuerst darum gebeten habe, meiner Schwester Kind hierher nehmen und es zu dem meinen machen zu dürfen, da hab' ich dir nichts weiter gesagt, als daß ich meinte, wir sollten das tun, weil der, der da hat, dem helfen muß, der da nicht hat. Sonst wär' ja auf der Welt niemand, der gibt, und niemand, der empfängt. Aber wenn du mir nun darin meinen Willen tust, machst du mich froher, als du mich je hast machen können, seit wir Hochzeit gehalten haben.«
Margareta lachte leise vor sich hin und sah verlegen aus über das Ungewöhnliche, das sie an derartiges erinnerte. Sie versuchte aber, diesen Eindruck zu verwischen, sah Håkan in die Augen und fuhr fort:
»Ja ja, das ist lange her jetzt. Aber du mußt wissen, daß es für mich alle die Jahre her ein schwerer Kummer gewesen ist, daß wir keine Kinder haben. Ob es an dir lag oder an mir, das weiß niemand. Aber für mich ist es gewesen wie ein Unglück und wie eine Schande. Viel bittere Tränen hab ich deshalb in den ersten Jahren und auch später noch geweint. Ich hätte nie gedacht, daß ich von so etwas mit dir reden könnte, und ich hätt' es auch nie getan, wenn du mir nicht jetzt das Kind geschenkt hättest, um das ich dich gebeten habe. Mein wird es ja doch sein, wenn auch eine andere es geboren hat. Aber ich habe dich nicht nur aus Barmherzigkeit gebeten, sondern darum, weil ich nicht länger ohne Kind sein konnte, und die ist gewiß keine echte Frau, die das kann. Jetzt weißt du es, Håkan, und jetzt ist nichts weiter über die Sache zu sagen.«
Damit verließ Margareta ihren Mann und schob die Speckpfanne wieder über das Feuer. Håkan saß und sah sie an und wunderte sich, ob es das Feuer wäre, das sie so rot machte. Aber er sagte nur:
»Wenn du an dem Jungen nur das kriegst, was du dir wünschst.«
Damit schwieg er, und die Sache, die zwischen den Ehegatten verhandelt worden war, war nun abgetan. Lange aber machte Håkan sich Gedanken über das Seltsame, daß sein Weib ihre ganze Ehe hindurch einen so schweren Kummer gehabt, von dem er nichts gewußt hatte. Für ihn war das etwas so ganz Neues, daß er lange darüber nachdenken mußte, eh er ernstlich begriff, daß das, was sein Weib ihm über sich selbst mitgeteilt hatte, die buchstäblichste Wahrheit war. Wohl hatte auch Håkan seinerseits sich immer einen Sohn gewünscht, und wohl hatte er es oft bitter empfunden, daß, was er gesammelt und erarbeitet hatte, dereinst in fremde Hände übergehen sollte. Aber Verzweiflung über diese Enttäuschung hatte er nie empfunden, und daß ein fremdes Kind ihm das eigene ersetzen könnte, das hatte er sich nie träumen lassen. Wenn er jetzt an den Knaben dachte, der kommen sollte, ward er selber in seinen eigenen Augen gleichsam älter, und er sah diesem Ereignis mit einer Art von unheimlichem Unlustgefühl entgegen, als ob er aus freiem Willen den in sein Haus aufnähme, der ihn selbst eines Tages verdrängen würde.
So kam Per, Margaretas Schwestersohn, im Alter von zehn Jahren in das Haus der Tante, und nach Ablauf eines Jahres adoptierten Håkan und seine Frau ihn als eigenen Sohn. Pers Vater hieß Olof, und er hätte deshalb eigentlich nach dessen Namen genannt werden und mit Zunamen Olofsson heißen sollen. Aber Håkan sagte, was er tue, das wolle er nicht nur halb tun. Darum erhielt der Knabe den Namen Per Håkansson Ekberg, als wäre er das wirkliche Kind der Ehegatten.
Per selber fühlte sich nie anders wie als Sohn des Hauses bei Håkan und Margareta. Allerdings nannte er sie nicht Vater und Mutter. Das konnte er nicht, solange seine eigenen Eltern lebten, und als seine Mutter starb, war er so an Tant' und Oheim gewöhnt daß etwas anderes gar nicht in Frage kommen konnte. Aber als Sohn fühlte er sich trotzdem, und als Sohn ward er auch behandelt. Pers Vater zog dann landeinwärts und wurde Knecht auf einem Herrenhof. Und der Knabe vergaß bald beinahe, daß er richtige Eltern gehabt hatte über den neuen, die er jetzt besaß.
Der Unterschied zwischen dem Heim, aus dem Per gekommen war, und dem, das nun sein ward, war in der Tat so groß, daß es sonderbar gewesen wäre, wenn der Knabe in dem Haus, in das er nun gekommen war, Heimweh gehabt hätte nach dem, aus welchem er kam. Denn es war das Haus eines Trinkers, das er verließ, und was er da gesehen hatte, hatte ihn frühreif und scheu gemacht. Mit einem eigentümlichen, schlaftrunkenen Gefühl nahm das Kind anfangs alles, was es täglich erhielt, als eben so viele Wohltaten entgegen. Er war nie gewöhnt gewesen, sich satt zu essen. Solang er zurückdenken konnte, war sein erster Gedanke immer gewesen: »Hat Mutter heut etwas für mich zu essen? Oder muß ich hungern?« Darum lief er in der ersten Zeit voll Verwunderung umher in dem Gedanken, wie lang es wohl dauern würde, bis er eines schönen Tages den Bescheid bekäme, er müsse versuchen, seinen Hunger zu bezähmen und warten, bis der Oheim nach Hause käme.
Vor seinen Kleidern, die ganz waren und schmuck, wie er sie nie zuvor besessen hatte, fürchtete er sich ein bißchen, und das erste Mal, als er ein Loch in seinem Ärmel fand, versteckte er sich in der Scheune. So gewöhnt war er an Prügel, daß er sich nicht getraute, herauszukommen, obwohl er hörte, wie Tant' im ganzen Hof herumlief und voller Angst nach ihm rief. Als man ihn endlich fand, war der Knabe so erschrocken, daß er auf keine Frage zu antworten vermochte, und erst, als er in die Stube trat, bemerkte Tant' das Loch am Ellbogen.
»Zieh deinen Rock aus. Junge,« sagte sie ganz ruhig, »damit ich es flicken kann.«
Da brach der Knabe in unaufhaltsames Weinen aus. Denn er hatte ja Prügel erwartet, und der Schreck, der jetzt umschlug, brachte den Knaben ganz außer sich, der ungewohnten Tatsache gegenüber, daß man ihm half und ihn nicht schlug.
Da verstand Margareta alles.
»Sind sie so hart gegen dich gewesen?« sagte sie, legte das Wams, an dem sie schon angefangen hatte, zu nähen, fort, nahm den Jungen auf die Kniee und tröstete ihn.
Von dem Tag an war in Per eine solche Liebe für Tant', daß er nicht wußte, was er ihr nur zuliebe tun sollte, und nie war er froher, als wenn er mit ihr gehen und sie an der Hand halten durfte. Die lebhafte, frische Bäuerin, die so hurtig arbeitete und nie des Stillesitzens und Ausruhens zu bedürfen schien, ward dem Knaben nicht nur eine Mutter, sondern auch ein Beispiel. Sehr selten nur ermahnte sie ihn. Aber Margareta hatte eine Art, sich Gehorsam zu verschaffen, die besser wirkte als Worte. Erstaunt über all das Neue, in das er hineingekommen war, ging Per umher und wunderte sich bei sich selbst, wie es sein kann, daß manche es so gut haben, während andere kaum haben, was sie brauchen. Einmal, gleich nachdem er ins Haus gekommen war, stand er da und sah sich nachdenklich um, als grübelte er über etwas nach. Tant' merkte es und fragte:
»An was denkst du. Per?«
»Ich wundre mich, wie das alles hier so sauber sein kann,« sagte der Knabe.
»Das ist so, weil Ordnung hier ist,« antwortete Tant'. »Ohne die gedeiht nichts.«
»Aber einer, der nichts hat, nicht einmal zu essen, kann der auch Ordnung halten?« fragte Per.
Da verstand Tant', daß der Knabe an sein eigenes Vaterhaus dachte, und sie wollte vor dem Kind nicht die Eltern heruntersetzen. Darum antwortete sie:
»Wer es so hart hat, wie deine Mutter es gehabt hat, kann das nicht so, wie ein anderer.«
Per antwortete nichts, aber er sah dankbar aus, als ob es ihn freute, daß er nichts Schlechtes von seinen Eltern zu denken brauchte. Tant' aber wunderte sich bei sich selber, wie das Kind dazu kam, an so etwas zu denken und so klug zu fragen.
Margareta hatte im Anfang nicht bedacht, wie gewaltsam all das Neue, worin er jetzt lebte, über Per gekommen sein mußte, und wie vorzeitig eine derartige Veränderung ein Kind entwickeln kann. Jetzt verstand sie es, und dies Bewußtsein band sie stärker als alles andere an den Knaben. Mit stiller Ruhe nahm Tag für Tag das Gefühl sie mehr gefangen, daß sie nun auf ihre alten Tage das besaß, was das Schicksal ihrer Jugend verweigert und wonach sie so schmerzlich verlangt hatte, solange sie zurückdenken konnte. Tant' lebte dabei aufs neue auf und ward wie verjüngt dadurch. Es durchleuchtete sie so, daß Håkan nicht umhin konnte, sich darüber zu wundern. Obgleich er nicht viel Zeit hatte, darüber nachzugrübeln, achtete er doch darauf, wie auf alles, was um ihn her vorging, und das Beste daran war, daß er seiner Frau die Freude gönnte, die er selber ihr nicht hatte verschaffen können. Ja, er teilte sie. Denn sogar Håkan sah mit milden Augen auf den Knaben und wollte ihm wohl, obgleich er sich nicht soviel mit dem Kind beschäftigte, wie Tant'. Margareta merkte es und freute sich darüber. Eines Abends, als der Knabe schlief und sie beide zur Ruhe gehen wollten, sagte sie darum:
»Ist es nicht besser jetzt als damals, als wir niemand hatten?«
»Der Junge ist brav, das ist gar keine Frage,« antwortete Håkan.
Das war Per auch. Er war brav. Was aber sein ganzes Leben sowohl in der Kindheit und Jugend, wie auch später als Mann bestimmte, das war, daß er unter der Armut gelitten hatte, als er klein war, und daß er zu all dem, was er nun besaß, gekommen war, ohne einen Finger zu rühren. Die Erinnerung hieran machte ihn gut gegen andere und legte über sein ganzes Wesen etwas Helles und Munteres, das niemand hinter dem magern Kind mit der grauen Gesichtsfarbe und den ärmlichen Kleidern, das zu Margareta und ihrem Mann ins Haus gekommen war, gesucht hätte. Die Armut, die er erprobt hatte, machte, daß er alles würdigte, was er nun besaß. Die Armut, die ihm im Gedächtnis saß, machte ihn fleißig in der Schule, weil er früher nicht hatte lernen dürfen; denn oft hatte er keine Schuhe gehabt zum Ausgehen. Die Armut, die er gekostet hatte, machte ihn arbeitsam, weil er sich davor fürchtete, in das Elend zurückzusinken, das seine Kindheit freudlos gemacht hatte. Die Armut, die er nie zu vergessen vermochte, machte ihn auch dankbar denen gegenüber, die ihn von der Last befreiten, die seine Kindheit bedrückt hatte.
Für Håkan und Tant' hegte Per eine Zuneigung, die eigentlich stärker, wenn auch von anderer Art war, als die, die ein Mensch gewöhnlich für seine Eltern hegt. Ein Sohn ist mit seinen Eltern durch das Band des Blutes verbunden, und wenn sie ihn gut behandeln und er selber eine dankbare Natur ist, so ist er dafür erkenntlich – bis zu einem gewissen Grad. Aber es findet sich in diesem Gefühl etwas von dem Nebengedanken: »Ich bin ja doch ihr Kind, und, was sie für mich getan haben, das waren sie verpflichtet zu tun.« Pers Gefühl für die Pflegeeltern war ein ganz anderes. Je älter er ward, desto mehr erstarkte in ihm das Gefühl, daß sie alles, was sie getan hatten, freiwillig getan hatten, und daß nicht ein Ehepaar unter tausenden gehandelt hätte, wie sie. In dieses Gefühl lebte Per sich um so stärker ein, als weder Håkan noch Tant' ihn je daran erinnerten, und nie war er so zufrieden mit sich selbst, als wenn er wußte, daß die Eltern mit ihm zufrieden waren.
Per machte die Schule durch, und es kam die Zeit, da er zum Pastor in den Einsegnungsunterricht ging. In einem neuen schwarzen Anzug stand er dann zwischen den andern Kindern vor dem Altar, antwortete auf die Fragen und legte das Gelübde ab, das die Kirche fordert. Håkan und Tant' begleiteten ihn zur Kirche und alle drei gingen wie Eltern und Kind nachher heim. Dann kam die Jugendzeit. Per lernte Tabak kauen und einen ordentlichen Zug tun. Er ging auf die Scheune, wo die Jugend tanzte, und die Mädchen zeigten sich nicht unfreundlich einem Burschen gegenüber, der Håkan Ekbergs Hof erben sollte. Per legte über den Achseln aus und wurde ein stattlicher Jüngling, mit einigen zwanzig Jahren hatte er seinen ersten Schatz, und sein Leben unterschied sich in nichts von dem seiner Altersgenossen.
Eins gab es aber doch, was in dieser Zeit Per störte und beinah kränkte. Er grämte sich nämlich in aller Heimlichkeit, weil ihm schien, alles auf dem Hof wäre schon so gut imstande, daß für ihn nichts mehr zu tun übrig bliebe. Die Ernte, die einkam, reichte, wenn es kein allzu schlechtes Jahr war, und mehr Vieh, als da war, konnte der Hof gar nicht füttern. Aber Per hatte eine Idee – eine Idee, die seine allereigenste war und die ihm die Hoffnung gab, daß auch er vermöchte, was jeder Mann will, nämlich, einen neuen Weg bahnen und seinen selbständigen Einsatz in die Arbeit anderer zu machen. Eines Sonntags, als er allein mit Håkan war, ergriff er die Gelegenheit und sagte es dem Oheim.
»Wie wär' es, wenn Ihr mir eine Schute kauftet, und ich lernte sie führen, und führe dann im Sommer Frachten?« sagte Per. Das war Pers Plan, über den er so lange nachgegrübelt hatte, und er fühlte, wie sein Herz klopfte, während er auf die Antwort des Oheims wartete. Håkan saß eine Weile, wie es seine Gewohnheit war, ohne zu antworten. Dann stand er auf und gebot Per, mit ihm hinauszukommen. Es war ein Sonntag im Herbst, und draußen auf den Feldern standen die Stoppeln des gemähten Korns und warteten auf den Pflug. Wie es seine Gewohnheit war, nahm Håkan einen Grashalm vom Feldrain und begann, daran zu kauen. So ging er vor dem Pflegesohn her, und Per konnte seine Augen nicht von dem Grashalm wenden, der sich zwischen des Alten Lippen vor- und zurückschob und die ganze Zeit aus seinem Munde hing.
Håkan ging von Acker zu Acker, von Feld zu Feld. Dann verließ er die Felder und schlug den Weg zum Strand hinunter ein. Dort öffnete er den Netzschuppen und wies Per das große Schleppnetz, die kleineren Netze, Reusen und Strömlingsgarne. Nachdem er dies getan hatte, nahm er den Jüngling mit sich hinaus in die Hecken und tief hinein in den Wald. Bei allem, was sie besahen, sprach er mit Per und was er sagte, war dies:
»Da liegt Acker neben Acker und Wiese an Wiese. Es sind genug Steine da, die noch nicht weggeschafft sind. Jedes Frühjahr und jeden Herbst wartet neue Arbeit, die getan werden muß, wenn man ernten will. Jeden Sommer wächst das Korn, das eingebracht werden muß. Auf den Wiesen wächst Gras und Klee, die gemäht werden müssen, und im Wald gibt's Holz zu hauen und Bäume zu fällen. Auch abgeschwendetes Land liegt da, das gereutet und zu Feld gemacht werden kann. In der Hütte drunten hängen Netze und Angeln, Fisch und Strömling gibt's genug im Meer, jedes zu seiner Zeit, und wer all das wohl in acht nimmt, der braucht nie Not zu leiden.« Das sagte Håkan nicht alles auf einmal. Er sagte es stückweise und mit Unterbrechungen, so wie das, von dem er sprechen wollte, ihm gerade unter die Augen kam. Wenn er stehen blieb, um zu sehen und zu reden, nahm er den Grashalm aus dem Mund. Wenn er gesagt hatte, was er wollte, kam der Halm wieder auf seinen alten Platz im Mund zurück und Håkan ging weiter. Schweigend und sich über die lange Wanderung und ebenso über die ungewohnte Rede verwundernd, folgte ihm Per. Aber über dem ganzen Aussehen des Oheims lag etwas, das machte, daß der Jüngling es nicht wagte, ihn zu unterbrechen, oder etwas von dem zu sagen, was er selber dachte oder meinte. Håkan ging von Ort zu Ort; sein ganzes Leben und alles, was er in dessen Verlauf getan hatte, war es, was er auf diesem Gange schützen wollte, damit es nicht zerstört würde.
Nach mehrstündiger Wanderung kamen Håkan und Per wieder nach Hause. Da lag der alte Hof, voll von Blättern der alten Eschen, die der letzte Sturm herabgefegt hatte. Håkan blieb am Zaun stehen und deutete auf die Laubhaufen.
»Wenn sonst nichts zu tun ist, kann man die wegschaffen, und alles ums Haus her schmuck machen, daß die Leute, die vorbeigehen, auch sehen, daß hier Menschen wohnen.«
Per nickte zum Zeichen, daß er gehört und verstanden hatte, antwortete aber nicht. Da fuhr Håkan fort:
»Was willst du denn mit der Schute?«
Da wagte Per zum ersten Mal zu antworten. Er blickte auf und sagte:
»Es ist ein schlechter Verdienst, wenn man nur Landwirtschaft hat.«
»Das mag vielleicht sein,« sagte Håkan bedächtig. »Aber hast du Geld zu dem Boot, he?«
Da ward Per kühner. Denn er hatte lange überlegt, und er wußte, wenn er jetzt nicht mit der Antwort herauskam, so konnte er lange auf eine neue Gelegenheit warten. Darum antwortete er:
»Es liegt keine Hypothek auf dem Hof. Er ist schuldenfrei.«
Håkan zuckte zusammen, als hätte ihn jemand gestochen, und ließ den Grashalm zu Boden fallen. Per aber fuhr fort:
»Das Boot zahlt das zurück und noch mehr als das. Ich hab' es ausgerechnet.«
Da richtete sich Håkan auf und sah Per fest in die Augen.
»Dann rechne noch einmal,« sagte er, »damit du siehst, daß du warten mußt, bis du Geld in der Hand hast. Und wenn du das einmal hast, so gibst du es nicht wieder her.«
Per fühlte, der Widerstand, auf den er traf, war nicht leicht zu überwinden. Aber er wollte sich doch, so gut es ging, verteidigen, und darum sagte er:
»Sie sagen, es sollen schwere Zeiten kommen für die Landwirtschaft.«
»Was du einmal kriegst, reicht, solang du lebst,« erwiderte Håkan scharf. »Es hat auch für mich gereicht.«
Damit ging er ins Haus und ließ Per allein. Per ging wieder zurück durch das Pförtchen und wanderte in der klaren Herbstluft den Weg entlang, der nach dem Dorf zu führte. Als er an die Wegbiegung kam, sah er Utängen wie entkleidet und nackt zwischen den kahlen Bäumen sich vom kaltblauen Himmel abheben. Die kleinen Luken auf dem Dach starrten ihn an wie zwei erschrockene Augen. Da ward ihm mit einem Mal, als wäre der ganze Hof lebendig geworden und finge an zu sprechen. »Bist du nicht mit mir zufrieden, so wie ich bin?« schien er zu sagen. »Verlang' nicht zu viel von mir. Mehr als ich geben kann, kann ich eben nicht. Nur einem, der treu ist dem, was ich gebe, bin auch ich treu.« Unruhig und unzufrieden mit dem, was geschehen war, ging Per weiter. Aber er war gedankenvoll nach dem, was ihm heut widerfahren war, und es blieb dies das erste und letzte Mal, daß er es wagte, mit dem Oheim von einer Hypothek auf dem Hof zu sprechen.
Aber Håkan vergaß das Gespräch mit dem Schwestersohn seines Weibes, den er in seinem Haus wie ein Kind aufgenommen hatte, nicht. Wohl wußte der Alte, daß niemand ihn je zu etwas zwingen oder verlocken könnte, was er selbst nicht wollte, aber etwas von der Sicherheit, die seiner Arbeit Kraft gab, war doch von diesem Tag an von ihm gewichen. Manchmal konnte es ihm vorkommen, als wäre das, was er besaß, nicht länger sein, und wenn er hinter dem Pflug herging oder im Schuppen arbeitete, dachte er manchmal an die Zukunft. Er, der in der Mühsal vieler Jahre vergessen hatte, daß er kinderlos war, konnte es plötzlich entbehren, daß er nicht einen Sohn seines eigenen Blutes hatte, einen Bauern von Bauernstamm, der die Erde liebte. Wenn Håkan an Winterabenden vom Wald heimkam, und das Licht, das aus dem Küchenfenster, hinter dem sein Weib mit dem fertigen Essen wartete, auf den Schnee fiel, ihn im Warmen willkommen hieß, da ward manchmal das ganze niedrige Haus, das in der Dämmerung gedrückt aussah, in Håkans Augen dunkel und fremd. »Wofür hab' ich mein ganzes Leben lang gearbeitet?« dachte Håkan dann. »Was wird schließlich aus allem, was ich tue?« Und auch ihm kam es manchmal vor, als redete das alte Haus zu ihm und sagte: »Ich bin jetzt alt. Ich tauge nichts mehr. Wenn du einmal fort bist, ist niemand mehr da, der weiß, wie es hier gehalten ward. Es wird nie wieder wie früher.«
An einem Winterabend offenbarte Håkan seine Gedanken seinem Weibe. Mehrere Monate waren schon vergangen seit der Unterredung, die er und Per miteinander gehabt hatten.
»Per hat Großes im Sinn,« sagte Håkan. »Hat er dir nichts gesagt?«
»Nein,« antwortete Tant'. »Ich weiß von nichts.«
Da tat Håkan einen Atemzug der Erleichterung. Denn bei sich selber hatte er gefürchtet, Per hätte die Tante zu seiner Vertrauten gemacht und hätte sie auf seiner Seite gehabt, eh er mit seinem Vorschlag herausgerückt war. Nun erzählte er, was Per vorgeschlagen und wie er selber geantwortet hatte.
Tant' ward nachdenklich, als sie dies hörte. Auch sie wurde von einer Beklemmung erfaßt bei dem Gedanken an die Zukunft, und sie begann, voraus zu blicken, wie es der Mann getan hatte. Gegen ihre Gewohnheit ließ sie die Geschäfte, die sie vor hatte, ruhen, und setzte sich neben den Mann auf die Bank.
Da saßen die beiden Alten nebeneinander, ohne zu sprechen, und fühlten beide, daß die Jahre schwer auf ihnen lagen. Vor ihnen war nicht mehr viel zu sehen. Alles, was Wert hatte, lag hinter ihnen, und über das, was dereinst kommen würde, hatten sie keine Macht.
»Es tut uns ja nichts,« sagte Margareta, »wenn wir einmal im Grab liegen.«
»Glaubst du?« meinte Håkan. »Es ist doch gut, wenn man weiß, daß das, wofür man arbeitet, bleibt.«
»Lange bleibt es ja doch nie,« lautete die Antwort der Frau. Håkan saß eine Weile, als hätte er nichts gehört. Dann sagte er langsam, als besänne er sich angestrengt auf jedes Wort:
»Als mein Vater starb, hat er gewußt, daß alles so bleiben würde, solange ich lebe, und vielleicht auch länger. Er hat es gesagt, eh er starb. Und er hat mir einmal erzählt, daß sein Vater im gleichen Glauben gestorben ist.«
Margareta saß und dachte darüber nach, ob sie den Mann daran erinnern sollte, was der Pastor gesagt hatte, daß der Mensch sich keine Schätze sammeln soll auf Erden. Aber sie brachte es in dieser Stunde nicht heraus. Ihr war, als paßte es nicht. Wofür hatten sie und Håkan denn gelebt, wenn der Mensch das nicht durfte? Konnte sie Håkan sagen, daß seine Schätze nicht in der Erde lägen? Margareta hatte nie zuvor so gedacht. Denn ihr Gedankengang war kein aufrührerischer. Aber als hätte der Mann ihre Gedanken gehört, sagte er plötzlich still und ruhig:
»Vielleicht ist es wahr, was der Pastor sagt, daß man lernen muß, zu sterben, solang man noch lebt?«
Diese Worte waren wie etwas, was keins von ihnen auf eigene Hand hatte finden können, und vor dem sie darum beide innehielten, ohne weiter zu fragen. Sowohl Håkan wie sein Weib fühlten dies, und keins von ihnen wagte eine Einwendung. Und vielleicht gerade deswegen konnten sie vor diesen dunkeln Worten innehalten und Trost in ihnen finden.
Aber noch während dies Gefühl sie beherrschte, gingen Margaretas Gedanken weiter und suchten eine mehr irdische und näherliegende Hoffnung; und deshalb sagte sie:
»Per hat sich den Gedanken sicher aus dem Kopf geschlagen, als er gehört hat, daß du nicht willst.«
Als Tant' diese Worte sagte, glaubte sie selber daran, obgleich sie ursprünglich nur gesagt waren, um das Gemüt des Mannes zu erleichtern. Sie stand auf und ging wieder an ihre Arbeit. Håkan aber saß lange still und blickte ins Feuer, das durch die Klappen des neuen eisernen Herdes glühte, den Per in der Stadt gekauft hatte. So wie früher sah man das Feuer nicht, meinte Per. Aber das Essen wurde ja besser, und weniger Holz brauchte man auch.
Es war ein großer Tag in der ganzen Umgegend, als Håkan Ekberg sich zum Sterben legte, ein Tag, an den die Leute noch lange dachten, und gar viele waren es derer, die kamen, um nach ihm zu sehen, während er krank lag. Denn Håkan war in seiner Gegend ein angesehener Mann, und alle, die ihn kannten, schätzten seine Tüchtigkeit in der Arbeit und wußten, daß das Wort, das er einmal gegeben hatte, nie gebrochen ward.
Darum fühlten alle, wenn er einmal fort wäre, würde es leer werden, und wer nur konnte, kam, um Håkan noch einmal zu sehen, ihm zu danken und ihm Lebewohl zu sagen. Keiner konnte lange bleiben. Denn der Kranke ließ es nicht zu. Aber jeder, der herauskam, ging schweigend seiner Wege, die Alten, indem sie an den Tag dachten, da sie selbst so liegen würden, die Jüngeren voll Wunderns und gleichsam erleichtert, wenn sie das Krankenzimmer verlassen hatten. Bei allen aber hatte das, was sie gesehen und gehört hatten, einen Eindruck hinterlassen, und alle erzählten sie davon. Es war wie eine ungedruckte Lobrede im Munde des Volkes.
»Immer hab' ich geglaubt, ich würde von uns beiden zuerst gehen,« sagte Tant' in diesen Tagen. »Ich kann es nicht begreifen, daß es wahr ist, daß Håkan stirbt, und nicht ich.«
Tant' dachte nicht an das, was kommen würde, nur daran, daß Håkan jetzt starb. Mit jedem Tag, der ging, ward ihr auch das wirklicher und natürlicher, und während der ganzen Krankheitszeit ihres Mannes freute sie sich über jeden einzelnen, der kam. Je mehr kamen, um den Kranken zu besuchen, desto größer ward, meinte sie, Håkans Ehre. Gar viele kamen auch, und es wären noch mehr gekommen, wäre nicht der Hof so einsam und weit vom Dorf, zu dem der Besitz gehörte, gelegen gewesen. Margareta gönnte ihrem Mann all die Ehre, die ihm nun erwiesen wurde, und sie war glücklich, daß er doch so lange lebte, daß er sich selber daran freuen konnte. Und es war gut, daß sie immer so viel zu tun hatte, so daß sie sich selbst nicht nachgeben und sich grämen konnte. Der Kummer und mit ihm die Einsamkeit kam bald genug.
Daß Håkan am Leben bleiben würde, darauf hoffte Tant' von der ersten Stunde seines Krankseins an nicht mehr. Alt war er ja nicht, nur wenige Jahre über sechzig. Aber nie vorher, so lange sie ihn kannte, hatte er sich zu Bett gelegt, und als dann die Tage vergingen, ohne daß sich das Übel gab, und er selber nie davon sprach, daß es besser werden könnte, da wußte sie, – das war der Tod, der kam, und sie nahm diese Gewißheit mit derselben einfachen Ruhe, wie die Tatsache, daß der Herbstfrost, wenn er kam, die Erde hart und kalt machte und das letzte Grün in seine funkelnde Decke hüllte.
Tant' ging umher und sorgte dafür, daß alle, die kamen, bewirtet wurden, und jedem einzelnen dankte sie, wenn er ging, ganz besonders. Bei Håkan drin zu sitzen – dazu kam sie nicht oft; sie dachte auch nicht daran. Der Kranke mochte am liebsten schlafen, wenn er allein war, und wenn er wachte, war immer irgend ein Besuch zur Hand, den man nicht warten lassen konnte. Zuletzt kam niemand mehr, und da wußte die ganze Gegend, daß es nun zu Ende ging mit Håkan. Und wer vorüberging, sah verstohlen nach, ob nicht die weißen Laken vor den Fenstern hingen.
Für Per wurden diese Tage zu unvergeßlichen, denn in ihnen eröffnete sich ihm der unerwartete Ausblick auf eine ganz neue Welt, in die er, eher als er geglaubt hätte, eintreten und in der er auf eigene Verantwortung hin wirken sollte.
»Jetzt mußt du mir mit allem helfen,« sagte Tant' eines Tages, als sie vor der Krankenstube zusammentrafen.
»Das werd' ich!« meinte Per.
Aber er konnte der Tante nicht sagen, was er selber dachte und fühlte. Es hätte gerade so geklungen, meinte er, als wäre er froh, daß der Oheim beizeiten ging. Aber als Per all die Menschen sah, die da kamen und gingen, da fragte er sich: »Werden es auch einmal so viele sein, die nach mir fragen, wenn ich an der Reihe bin?« Es war, als riefe ihn all diese Achtung vor dem Sterbenden mit warnenden Stimmen und wollte ihn hindern an dem, woran er doch immer dachte.
Per saß drin bei dem Oheim, so oft er konnte, und als er sah, daß das Ende nahe war, wünschte er, der Sterbende würde ihm noch etwas sagen. Denn die Unterredung über die Erde und das Boot wollte dem jungen Mann nicht aus dem Kopf, und es war ihm ganz seltsam zumut, daß er den Oheim nun nicht mehr sollte fragen können, ob das, was er gesagt hatte, sein letztes Wort wäre. Zweimal hatte Per versucht, diese Frage zu stellen, aber beide Male war ihm das Wort auf den Lippen stecken geblieben, gleichsam, als wagte es sich nicht heraus. »Was ich zu sagen habe,« dachte Per, »paßt nicht zum Tod.«
Dennoch wünschte Per in seinem Sinn, daß der Oheim von selbst etwas sagen sollte, und weil er das wünschte, saß er drin bei dem Sterbenden, so oft er konnte. Håkan schien es indessen vergessen zu haben. Bloß einmal, als Per bei ihm saß, sah der Alte auf, und sein Blick wurde unruhig.
»Bist du allein da?« sagte er. »Wo ist Tant'?«
Da rief Per leise nach Tant', und Margareta kam. Håkan wandte den Kopf und sah seine Frau an, als wolle er sprechen, und die Unruhe auf seinen Zügen glättete sich. Aber er sagte nichts, schloß nur die Augen und lag still und regungslos, wie zuvor. Margareta glitt wieder hinaus, und Per saß aufs neue allein mit seinen Gedanken, und grübelte darüber nach, was die Unruhe in diesem müden Blick wohl zu bedeuten hätte.
Ein paar Stunden später starb Håkan, und als es geschah, war Per eben wieder in die Stube gekommen. Aufs neue saß er allein drinnen, und er war es, der Tant' bitten mußte, hereinzukommen, um zu sehen, daß alles zu Ende war.
»Jetzt sind nur noch wir beide, du und ich, auf dem Hof,« sagte Tant'. »Es ist gut, daß Håkan dich mir gegeben hat.«
Zum erstenmal machte sich Per bei diesen Worten Gedanken darüber, daß es die Tante war, der er es zu verdanken hatte, daß er nun einen eigenen Hof besaß, und daß der Oheim ihn sich vielleicht nie an Sohnes Statt gewünscht hatte. Es war ihm sonderbar zumute, als er jetzt daran dachte, während er dastand und den Toten betrachtete, der ihm nichts mehr sagen konnte.
Ihr ganzes Leben lang hatte Margareta sich in allen Dingen auf ihren Mann verlassen. Er hatte für sie beide bestimmt, für sie beide gedacht, gehandelt, wenn es galt, in allem geschaltet und gewaltet. Nun, da er fort war, fühlte sich Margareta alt, und sie übergab Per den Hof als Eigentum, weil sie sich außerstande fühlte, die Verantwortung zu tragen. Ganz, wie sie früher geglaubt hatte, daß alles, was der Mann wollte und dachte, gut und recht sei, so glaubte sie jetzt auch, wenn Per Neuerungen vorschlug und handelte und schaffte und ordnete, und sie arbeitete auf die gleiche Weise mit dem Pflegesohn, wie sie es immer mit Håkan zu dessen Lebzeiten getan hatte.
»Du sollst es nie bereuen, daß du mir den Hof noch bei deinen Lebzeiten gegeben hast,« sagte Per. »Wie eine Mutter bist du zu mir gewesen; das vergeß' ich dir nie.«
Es konnte auch niemand sagen, daß Per das je getan hätte. Aber immerhin ein Unterschied war da; es war ein neuer Herr auf den Hof gekommen, und der Wille des neuen war mindestens ebenso stark, wie der des alten. Einen starken Willen über sich zu fühlen, das war jedoch gerade das, wobei Margareta sich immer am wohlsten befunden hatte; solang sie ihn fühlte, war sie zufrieden; und arbeiten – das tat sie immer. Ohne das konnte sie nicht leben. Alles ward jedoch anders jetzt. Solang Per und Tant' allein waren, war Margareta mit allem zufrieden, so wie es war. Weil man sie nie hatte Mutter nennen können, hatte ihr Mann, der seine Frau nie anders rufen hörte, als Tant', auch angefangen, sie so zu nennen. Per sagte Tant', und die Knechte und Mägde sagten Tant', wie es bei den Bauern zwischen Hausfrau und Gesinde Sitte ist. Nach und nach begannen selbst Fremde Tant' zu sagen. Ihr Name kam auf diese Weise ganz außer Gebrauch, und Margareta ward die Tant' der ganzen Gegend. Daß sie Margareta hieß, daran dachten weder Bekannte noch Unbekannte mehr. Sie war und blieb Tant' auf Utängen, zusammengewachsen mit dem Hof und allem, was dazu gehörte. Nur einmal im Jahr erinnerte man sich ihres Namens, und zwar am Margaretentag, dem zwanzigsten Juli. Da kamen Bekannte von nah und fern, von morgens bis abends, und wurden mit Kaffee und allem möglichem anderem, Feuchtem und Trockenem, bewirtet. So war es gewesen, solange Håkan lebte, und diese Sitte blieb bestehen, solange Margareta rüstig war und Besuche bei sich sehen konnte. Denn Tant' war im ganzen Kirchspiel hoch angesehen, und hatte zahlreiche Freunde, nah und fern.
Tant' war jedoch schwächer im Zusammenleben mit Per, als sie es mit Håkan gewesen war. Das hatte mancherlei Ursachen. In Pers Willen und ganzem Wesen war etwas, das sie mehr bezwang, als irgend etwas, das sie zuvor gekannt hatte. Der Wille, der Tant' jetzt lenkte, war gewiß nicht fester als der Håkans. Aber der, dem dieser Wille zu eigen war, wußte mehr, was er wollte und wünschte, und außerdem war er jünger. Einem alten Menschen gegenüber bedeutet das viel. Er fühlt sich gleichsam ratlos und auf den Kopf gefallen vor einer jungen Kraft, die jeden Augenblick mit neuen Einfällen kommt. Per wußte so vieles, was getan werden konnte, und hatte so viele neue Ideen über den Boden und die Bewirtschaftung des Hofs. Mit allem kam er zu Tant', und da Tant' dann nichts anderes zu sagen wußte, als daß, ihrer Meinung nach, alles, was er ihr erklärte verständig und gut klang, so ward viel Neues geschaffen und die Veränderungen waren groß. Nur eins beunruhigte Tant', und das war, daß alles so schnell gehen und auf einmal getan werden sollte. Tant' war von dem allem wie betäubt, und wenn sie allein mit sich selber war, versuchte sie mehr als einmal nachzudenken: »Was hätte wohl Håkan zu dem oder jenem gesagt, wenn er am Leben geblieben wäre?« Manchmal kam es Tant' dann vor, als ob viel von dem, was jetzt geschah, dem Toten ganz sicher zuwider gewesen wäre. Aber wer konnte ihr darüber Gewißheit geben? Ein toter Mann ist fort, und wer versucht, sich nach seinem Willen zu richten, der hat nicht viel, woran er sich halten kann. All diese Gedanken machten Tant' schwach. Und während sie sich meist unsicher fühlte, kam Per immer wieder mit neuen Angelegenheiten. Er redete und focht mit den Armen. Er war ganz froh und glücklich, daß er alles so gut ausgerechnet hatte, so daß es ganz sicher gelingen mußte. Dann fühlte Tant' sich von Pers Jugend und Glauben überwältigt, und er sprach auch so rasch, daß sie nie Worte fand für das, was sie selber hätte sagen mögen.
»Du mußt ganz tun, wie du magst, Per,« sagte sie darum schließlich. »Der Hof gehört ja doch dir, und wenn es uns ungeschickt geht, so bist du's, der darunter leiden muß.«
Aber Per war ganz und gar nicht zufrieden, wenn Tant' so antwortete. Er legte Wert auf das, was er vorschlug, und war immer ganz glücklich darüber. Darum wollte er auch bei der Tant' auf Unterstützung und kräftigen Beifall rechnen können.
»Ich frage dich doch, weil ich hören möchte, was du denkst,« sagte er verstimmt. »Nie möchte ich etwas tun, was du nicht willst.« Dann konnte Tant' nicht länger widerstehen, sondern ergab sich auf Gnade und Ungnade und sagte, so überzeugt als möglich, alles wäre so, wie es sein sollte. Wenn sie das gesagt hatte, glaubte sie es auch selber und war glücklich, daß Per in allen Stücken so richtig und klug handelte.
Auf diese Weise wurde der Viehstall umgebaut, und das alte Wohnhaus erhielt noch ein neues Stockwerk, besser und bequemer, als das untere. »Da sollst du wohnen, Tant', wenn du alt wirst!« sagte Per, »und sollst es gut haben, solang du lebst. Und im Sommer vermieten wir das Haus, daß wir Zinsen kriegen vom Geld.« Dann wurde eine Erntemaschine angeschafft, damit man die alten Sensen mit all der Hilfe, die nötig war, um sie während der Ernte in Gang zu halten, nicht mehr brauchte. Ein neues Großnetz wurde auch gekauft, weil es sich nicht mehr verlohnte, das alte auszubessern. Und als der alte Jan Jansson starb, kaufte Per seinen Hof, der zwischen seinen Grundstücken und denen des Dorfes lag, so daß das ganze Gebiet des Hofs sich jetzt auf beiden Seiten von der östlichen Landspitze und bis hinunter zur See erstreckte.
Zu dem allem war Geld nötig, und Per konnte jetzt nicht mehr sagen, daß keine Hypothek auf dem Hof stehe. Denn so weit konnte ja das, was Håkan an barem Geld hinterlassen hatte, nicht reichen. Das war ja doch klar. Anleihen waren notwendig, große Anleihen. Und der Tante graute oft, wenn sie an die Zinsen dachte. Wie gefräßige Tiere stellte sie sich die vor, die saugten und aussaugten, der Erde ihren Saft, und allem, was darauf wuchs, seine Kraft. Aber Per bewies ihr deutlich und klar, daß alles war, wie es sein mußte, und daß nur der, der zur rechten Zeit zu wagen versteht, gewinnt. Und Tant' glaubte seinen Worten und sagte:
»Es wird schon so sein, wenn ich es auch nicht gewöhnt bin.« Als aber Per schließlich vorschlug, nun wäre die Zeit gekommen, ein Boot zu kaufen, da erschrak Tant' und sah den Schwestersohn aus großen Augen an. Das wußte sie doch, das hatte Håkan nie getan. Denn sie konnte nie vergessen, wie er gewesen war, bloß weil Per einmal davon gesprochen hatte. Sie saß und faltete die Hände und wiegte sich hin und her.
»Hast du das noch immer nicht vergessen?« sagte sie.
»Woher weißt du, daß ich je daran gedacht habe?« fragte Per.
»Håkan hat mit mir darüber gesprochen, darum weiß ich es,« sagte Tant'. »Gegen nichts war er mehr, als gegen das!«
Da ließ Per die Sache fallen und redete nicht mehr davon. Aber am nächsten Tag kam er auf seinen Vorschlag zurück, und drehte und wendete ihn mit allen Gründen für und wider hin und her, so daß er Tant' doch dazu brachte, ihm zuzuhören. Denn er bewies ihr, daß, als Håkan gegen das Segeln gewesen wäre, all die Veränderungen, die jetzt gemacht waren, noch nicht existiert hätten. Auf dem Hof waren damals keine Schulden, es gab nichts abzuzahlen.
Per rechnete alles zusammen, was sich nun angehäuft hatte, er machte es noch ärger, als es war, und zum erstenmal ließ er vor Tant' durchblicken, daß auch er ab und zu seine unruhigen Stunden hatte. Aber er wußte auch, daß es just das Boot war, was er brauchte, um alles in Gang zu erhalten.
»Man muß doch weiter sehen,« sagte Per, »und etwas wagen. Wenn man vom Bodenertrag leben soll, da kommt am Ende nichts dabei heraus; und nur hingehen und ernten, was andere gesät haben, das kann ich nicht. Dabei ist mir nicht wohl.«
Tag für Tag sprach Per hierüber mit der Alten, und diesmal mußte er lange reden. Denn in Tant' saß tief die Erinnerung daran, daß Håkan gegen diesen Gedanken mit dem Boot gewesen war. Aber je länger Per mit ihr redete und je öfter er auf seine Idee zurückkam, desto mehr erlangte, wie gewöhnlich, sein junger Wille die Herrschaft über ihren alten. Wenn Tant' allein war mit sich selbst, dann klangen ihr alle Worte Pers in den Ohren, und je öfter sie sie hörte, desto größer ward die Macht, die sie über ihren Sinn erhielten. Håkan war so weit fort jetzt. Ihn konnte sie nicht hören. Aber Per konnte sie hören, sie hörte ihn nicht nur, wenn er zu ihr sprach, sondern auch nachher, und Tant' hatte für Per die wunderbare Liebe, die über unfruchtbare Frauen kommt, wenn sie auf ihre alten Tage ein Kind annehmen. Man sagt, eine solche Liebe mache den Menschen schwächer als irgend eine andere. Als darum Per mit seinen Ideen von einem Boot und Frachten, von Verdienst und Geldgewinn herausrückte, da holte Tant' ihr Sparkassenbuch hervor, das sie in der Chiffonière versteckt hielt, und das Håkan in all den Jahren für sie geführt hatte, damit sie nicht Not zu leiden brauchte, im Fall irgend etwas passierte.
»Nimm es,« sagt Tant', »und tu mit dem Meinen, was du willst. Du kannst es besser brauchen, als ich. Und so lang ich lebe, hab' ich ja doch bei dir, was ich brauche.«
Per nahm das Buch und wandte die Blätter um. Zwar wußte er, daß Tant' ein Sparkassenbuch hatte, und mehr als einmal hatte er daran gedacht, wenn er sich an Fremde wenden und von ihnen entlehnen mußte, um alles so weit zu bringen, wie es nun war. Aber er hatte nie gedacht, daß Tant' für ihn tun würde, was sie jetzt tat. Und als er jetzt in das Buch blickte, standen da Zahlen, um die er nie zu bitten gewagt hätte, vor seinen Augen. Groß war die Summe nicht, aber für ihn war sie ausreichend und immerhin größer, als er je geglaubt hätte. Leicht gerührt, wie er war, sprang er vom Stuhl auf und umfaßte Tant', wie als Kind, wenn er seinen Willen durchgesetzt hatte.
»Das sollst du nie bereuen, Tant',« versicherte er. »Das glaub' nur!«
Dies geschah im Herbst, und als der Frühling kam, lag Per Ekbergs Schute gut geborgen in der Bucht unter dem Hof. Der Rumpf war braun, mit einem schwarzen Ring darum und weißen Bändern, die das Braun zerteilten und über den schwarzen Ring gingen. Auch neue, feine Segel hatte sie, und am Hintersteven stand, mit weißen Buchstaben gemalt, der Name Margareta. Das war das mindeste, was er für Tant' tun konnte, meinte Per.
Diesen Sommer ward indessen nicht viel aus dem Segeln. Denn Per trug sich mit Heiratsgedanken, und wenn ein Mann das tut, so wird nicht viel anderes getan, wenigstens nichts, was von alten Gewohnheiten abweicht. Die Liebe kam indessen nicht im Handumdrehen über Per; auch konnte man wiederum nicht sagen, daß er sich lange damit herumgetragen und bedacht hätte. Das Mädchen war die Tochter eines wohlhabenden Bauern mit vielen Kindern und Per hatte sie oft gesehen. Sie wohnte im Dorfe Svalbols, das landeinwärts auf der andern Seite des Waldes lag, und ihr Name war Tekla. Per hatte oft mit ihr getanzt und holte sie sich beim Tanzen gern, weil sie gut tanzte.
Da geschah es eines Abends gegen Ende Juni, daß Per ihr an der Stelle begegnete, wo sein Hof sich gegen die See niedersenkte. Sie war auf Besuch fort gewesen und ging jetzt nach Hause. Weil der Weg zum Gehen weit war und Per selber nichts dagegen hatte, ein Mädchen zu begleiten, erbot er sich, sie hinüberzurudern.
Als sie dann im Boot saßen, sah Per zum erstenmal, wie schön Tekla war. Dunkles Haar hatte sie, und Augen mit langen Fransen und großen Pupillen. Ihre Wangen waren rot und weiß, und ihr Wuchs war geschmeidig und kräftig. Sie lachte oft, und dabei leuchteten ihre weißen Zähne hinter den roten Lippen auf, während die Augen ganz dunkel wurden, so daß man ihre Farbe nicht mehr erkennen konnte. Per sah dies, während sie ins Boot stiegen. Später konnte er nicht mehr viel unterscheiden. Denn es war Halbdämmerung draußen, hell und doch nicht hell, Nacht und doch nicht nachtdunkel. Golden und rot floß der Himmel mit dem Waldrand zusammen, und das Wasser, über das sie ruderten, leuchtete in dunkeln Farben. Auf dem Hügel sah man im Vorüberrudern Utängen mit Stall und Scheunen gegen den Abendhimmel stehen. Schweigend und still lag es da; das Grün der Bäume schwand gleichsam in eins mit der schweren Farbe der dunkeln Gebäude, und aus einem einsamen Fenster blinkte der Widerschein der Abendröte über das matte Grün. Beide sahen, wie schön Utängen lag, aber keines sprach. Still war es überall, und um sie erhoben sich hoch die Ufer. Der Tannenwald stand so wundervoll ruhig über dem Wasser, und in der halblichten Helle fuhren die Seeschwalben vorbei, mit raschen Bewegungen über das Wasser streichend.
Tekla saß die ganze Zeit über in derselben Stellung, mit an sich gerafften Kleidern und leise gesenktem Kopf. Per dachte daran, wie er sie hatte ins Boot steigen sehen, und die ganze Zeit meinte er zu sehen, wie schön sie da gewesen war. Fast ohne es zu wissen, begann er zu sprechen. Und als er einmal angefangen hatte, erzählte er von sich, wie er nun den Hof hätte, wie viel Neues er eingeführt, daß er anfangen wollte, zu segeln, und alles, was er erhoffte. Als sie anlegten, machte Per das Boot fest und begleitete Tekla. Auf den Feldern, über die sie gingen, duftete der weiße Klee, und aus dem Hag, wo der helle Schein der Juninacht die Vögel wach hielt, tönte ab und zu ein sachtes Zwitschern.
Still und schlafend lag das Dorf Svalbols vor ihnen. Die Dämmerung verdichtete sich auf dem Grund der Talsenkung, wo die Gebäude am dunkelsten lagen, während man die höchstgelegenen Häuser deutlich, fast wie bei Tag, unterscheiden konnte. Da blieben beide stehen, und ihre Augen lachten sich an. Tekla sagte Gutenacht und ging allein heimwärts; denn es brauchte niemand zu sehen, daß sie so spät noch Gesellschaft gehabt hatte. Per stand am Zaun und sah die schöne, ein bißchen schwere Gestalt des Mädchens auf dem Weg weitergleiten und hinter der Hecke des väterlichen Hofes verschwinden.
Seitdem trafen Per und Tekla sich oft, und es dauerte nicht lang, eh Tant' erfuhr, wo es Per hinzog. Ihn fragen, wie es mit ihm stand, das tat sie nicht. Denn das war nicht Tant's Art. Aber sie brauchte nicht lang auf Bescheid zu warten. Denn Per war so daran gewöhnt, alles mit Tant' zu besprechen, daß er, eh er richtig um Tekla warb, zu Tant' kam und ihr erzählte, zwischen ihm und Tekla stünde es nun so, daß er glaubte, er könne das Mädchen bekommen, wenn er sie fragte.
»Aber erst möcht' ich wissen, was du dazu meinst, Tant'!« fügte er hinzu.
»Ich kann wohl nur eins dazu meinen,« antwortete Tant'.
»Ich hab' gedacht,« begann Per – »du hast nun so lange Jahre hier allein gewirtschaftet –«
Aber Tant' wollte ihn nicht zu Ende hören. Sie unterbrach ihn mitten im Satz und sagte:
»Ich bin nicht mehr das, was ich früher war. Arbeiten kann ich schon; aber alles bewältigen, was hier zu tun ist, das kann ich nicht. Und wenn du erst anfängst zu segeln, so muß ein junger Mensch hier sein, der nach allem sieht, während du weg bist. Wenn der Hof ohne Herr ist, so muß wenigstens eine Hausfrau da sein, und das eine, die tüchtig ist und kräftig.«
Und Per war zufrieden. Denn er hatte gefürchtet, die Alte, die so lange die Zügel in der Hand gehabt hatte, würde sie nicht loslassen wollen, solang sie lebte. Und Tant' war noch viel zufriedener. Denn die Gewißheit, daß Per sich jetzt verheiraten und eine Frau ins Haus bekommen würde, wälzte ihr gleichsam einen Stein vom Herzen. Jetzt brauchte der Hof nicht länger vernachlässigt, die Feldgeschäfte nicht versäumt werden, der Boden würde seinen Ertrag bringen, auch wenn der Herr fort auf der See war.
»Das hab' ich ja immer gesagt,« meinte Tant'. »Eine Hausfrau gehört ins Haus, wenn es mit all dem Neuen gut gehen soll.«
Vierzehn Tage darauf hielt Per um Tekla an, und es bedurfte nicht vieler Worte, eh die jungen Leute einig waren. Tekla ging selbst mit hinüber zu Tant', und Tant' wußte nicht, was sie ihr nur alles zuliebe tun sollte. Sie selber führte das Mädchen überall herum, zeigte ihr die Felder und den Stall, erklärte ihr, wie alles gemacht werden sollte und ward nicht müde zu sprechen und die künftige Söhnerin zu rühmen. Denn so nannte Tant' Tekla, und so fühlte sie ihr gegenüber.
»Was du für eine schöne Frau kriegst, Per!« sagte Tante. »Es gibt nicht viele, die so eine kriegen.«
Tekla lächelte und sah bei dem Lob verlegen aus. Aber sie war ja gewöhnt, ihr Aussehen rühmen zu hören, und sie wußte wohl, daß sie die Schönheit der Gegend war, nach der manch einer geschaut hatte, wenn auch vor Per keiner etwas bei ihr erreicht hatte. Mit ihren frischen roten Wangen, den dunkelblauen Augen und dem frischen, vollen Wuchs besaß Tekla auch gerade die Art von Schönheit, die einen Bauern betören kann. Und sie war sich der Vorzüge, die sie zu bieten hatte, wohl bewußt. Aber sie war doch im Herzen froh, daß Tant' das gesagt hatte. Denn Tekla merkte daran, daß Tant' zufrieden war.
Und ohne mit Tant' gut zu stehen, hätte es Tekla nie gewagt, mit ihr zusammenzuleben. Denn Tant' galt dafür, daß sie im Hause die Herrschaft hätte, und das weiß ja jeder, daß es nicht leicht ist für eine junge Hausfrau, zu ihrem Recht im Hause zu kommen, wenn vor ihr eine alte dasitzt, die ihr entgegenarbeitet. Nun aber war Tant' ja eitel Sonnenschein ihr gegenüber und fühlte sich ganz und gar nicht verdrängt. Darum ging Tekla froh nach Hause, und Per begleitete sie.
Tant' kam auch selbst zu Teklas Eltern und hielt für Per an, und das geschah mit großer Feierlichkeit und ward auch ebenso aufgenommen. Denn Tant' und Per hatten ihre Ehre zu wahren, und Tekla und ihre Familie hatten die ihre. Beide Parteien führten Namen, die in der Umgegend einen guten Klang hatten, und weder Per noch das Mädchen, das er zur Frau begehrte, kamen mit leeren Händen. Nach den üblichen Bedenken, Erwägungen, Komplimenten und gegenseitigen Artigkeiten ward das Verlöbnis eingegangen, und es ward bestimmt, daß die Hochzeit im Winter sein sollte, ehe die Arbeit mit der Frühlingssaat beginnen und Per zur See gehen würde.
Und es ward Hochzeit gehalten, und es währte eine ganze Woche, eh alle Festlichkeiten mit Nachfeier und Nachbarschaftsbesuchen vorüber waren. Als aber Per endlich seine Frau heimgeführt hatte und Tant' und er eine Weile allein waren, sagte Tant':
»Jetzt bin ich ganz ruhig deinetwegen, Per. Denn jetzt hast du eine Frau im Haus, die da weitermacht, wo ich aufhöre. Aber du mußt sie von Anfang an zur Arbeit anhalten. So hat es Håkan auch mit mir gemacht. Und das hat uns beiden Nutzen gebracht.«
Per war so glücklich, daß er alles versprochen hätte, um was Tant' ihn gebeten hätte. Einen eigenen Hof hatte er, ein verheirateter Mann war er in jungen Jahren, seine Frau war so schön, daß alle sich umsahen, wo die beiden gingen, und unten an der Brücke lag die Schute und wiegte sich an doppelter Ankerkette.
Fast ärgerte es Per jetzt, daß er nicht mit dem Taufen der Schute gewartet hatte, damit er ihr ihren Namen nach seiner Frau hätte geben können. Aber geschehen war geschehen, und den Namen eines Schiffes ändern – das hat noch nie Glück gebracht. Und auf jeden Fall hatte er ja doch der Tante Hof und Frau und auch das Boot zu danken, und da war's auch nicht zuviel, wenn ihr Name auf dem Hintersteven stand.
Die Schute war Pers Leben, und nachdem er erst einmal mit ihr hinausgesegelt war, war er nicht oft daheim, außer während der Zeit, da Eis lag und das Segeln unmöglich war. Freilich war es im Anfang recht schwer, so viel von der Frau fort zu sein, während alles noch so neu war. »Aber wenn man sich ein Schiff hält, muß man auch segeln,« meinte er, »und immer zärtlich sein darf man auch nicht, sonst wird das bald alt.« Wenn er auf See war, vergaß Per auch alles andere vor Arbeit, und es war geradezu ein Wunder, sagten die Leute, wie rasch dieser Bauer, der nie zur See gewesen war, es lernte, Schiffer zu sein. Mit Ruder und Segel hatte er natürlich immer umzugehen gewußt, aber als er begann, gab es doch mehr als einen, der sagte: »Du kommst mit der Schute sicher nicht nach Stockholm, ohne daß du die Tannenklippe mitnimmst.« Aber all das hörte auf, als Per eine Reise nach der andern, nordwärts und südwärts, machte, ja, einmal sogar nach Oskarshamn fuhr und auch von dort glücklich heimkehrte.
Denn Per Ekberg war ein Mordskerl! Alles was er unternahm, ging leicht und spielend, und auch mit dem Handel und den Frachten ging es ihm gut. Auf dem Hof ging freilich nicht alles so, wie es sollte. Denn das Auge des Herrn tut die halbe Arbeit, heißt es. Und man konnte wohl sehen – wenn auch zur See viel gewonnen ward, so verlor dagegen der Boden etwas. Es gab Leute, die meinten, er verlöre sogar zu viel.
Aber Per nahm seine Frachtgelder ein und rechnete zusammen, was er im Sommer verdient hatte. »So viel könnte ich bei der Landwirtschaft nie verdienen,« das war der Schlußsatz, zu dem er immer kam. »Wenn der Winter kommt, muß man daheim herumliegen,« sagte er weiter. »Und dann kommt die Erde zu ihrem Recht, wie es sich gehört.«
Tant' ging zwischen all dem umher, und die Jahre verrannen so rasch, daß sie sie kaum zählen konnte. Sie vermochte nie zu lernen, daß es recht und in Ordnung sein kann, der Erde die Arbeit zu entziehen und sie in Handel und Seefahrt zu betätigen. Es mochte ja eine neue Zeit gekommen sein; denn es machten es ja viele so. Aber sonderbar war es doch, meinte sie, Frauen und gemietetes Volk die Erdarbeiten verrichten zu sehen, während alle Männer zur See waren. Beim Tanz in der Scheune fehlte es ebenso an Männern, wie auf dem Feld, und die Mädchen sehnten sich darum nach dem Winter, wenn die Burschen heimkamen und es wieder lebendig ward. Es war wie im Krieg, meinte Tant', und sie sprach es auch aus.
Als Tekla ins Haus kam, sagte Per zu Tant':
»Jetzt wollen wir die Stuben droben in Ordnung machen, daß du hinaufziehen kannst, wann du magst. Und dann sollst du Ruhe haben auf deine alten Tage und bloß sitzen und zusehen, wie wir Jungen arbeiten.«
Aber Tant' meinte, erst müßte wenigstens ein Sommer vergehen, damit Tekla sich an alles, was ihr nun neu war, gewöhnen könne. Und dabei blieb es auch, denn – wie es nun auch zugehen mochte – Tant' kam nie in die neuen Stuben im obern Stockwerk, wo sie in Ruhe sitzen sollte. Tant' war unten nicht zu entbehren. Tant' mußte bei allem dabei sein, und Tant' wurde von allen um Rat gefragt, von den Leuten auf dem Hof und von Fremden, wann sie etwas wissen wollten. Tant' kochte und überwachte den Stall. Tant' besorgte das Geschirr, Tant' wies die Leute an und sah nach, daß das, was geschehen sollte, auch geschah. Es gab manche, die behaupteten, für Tekla wäre es nicht leicht, Hausfrau zu sein. Nichts dürfe sie tun. Denn Tant' täte alles, wie vorher. Andre wieder schoben die Schuld auf Tekla und meinten, sie sähe es recht gern, daß ein anderer arbeitete, wenn sie es nur nicht brauchte. Mit diesen Vermutungen hatte jedoch keiner recht. Tekla tat, was ihre Pflicht war, und als Kinder kamen, hatte sie damit viel zu schaffen, noch eh sie geboren waren und auch nachher.
Die Sache war – Tant' konnte sich nicht zur Ruhe geben, weil sie sich immer einbildete, irgend etwas müßte schief gehen. Alles um sie her war so neu geworden, daß es war, als kenne sie sich selbst nicht mehr wieder. Sogar das Haus war gleichsam neu, seit es angebaut und um ein ganzes Stockwerk höher geworden war. Es war noch gut, daß sie wenigstens darin ihren Willen durchsetzte, daß Per es nicht von Grund aus niederriß. So hatte sie doch noch den alten Boden unter den Füßen, und den brauchte Tant'. Aber fremd war ihr all das neue doch, und darum mußte sie von morgens bis abends arbeiten, bei allem dabei sein, alles mit eigenen Augen sehen. Es war, als hoffte sie, auf diese Weise doch schließlich mit zu kommen, so daß sie alles richtig verstehen und auf die Zukunft hoffen könnte.
Tant' selber sprach mit keinem Menschen von dem, was sie dachte, und am wenigsten mochte sie mit Per darüber sprechen. So selten, wie er daheim war, mußte er dann doch wenigstens seine Ruhe und seinen Frieden haben. Er war nun einmal ihr großer Junge, und so gut, wie mit ihm meinte sie es mit keinem Menschen sonst.
Um all das drehten sich Tant's Gedanken, und während sie daheim umherschafft und denkt, segelt Per von Hafen zu Hafen, nimmt Frachten ein und liefert sie ab, kauft und verkauft Holz. Wenn ihn der Weg an seinem Hof vorbeiführt und der Wind nicht gerade besonders gut ist, legt er an und bleibt einen Tag oder zwei daheim. Manchmal möchte er doch die Seinen sehen, und wenn auch nicht alles besorgt wird, wie es sollte und müßte, so will er doch mal ab und zu nachsehen und sich in Erinnerung bringen. Wenn er wieder fort ist, bleibt Tekla allein mit den Kindern. Und die Verantwortung für den Hof hat der Oberknecht.
Tant' aber geht überall herum mit ihren Gedanken, und nichts im Haus wird getan, ohne daß sie bei der Arbeit mit Hand anlegt. Sie ist alt und grau. Und sie selbst sagt, sie sei gebrechlich. Aber die andern wundern sich darüber, wie sie noch zu allem die Kraft hat.
Seltsam ist's, sie in Regen und Sonnenschein, immer im selben Arbeitskleid, über den Hügel wandern zu sehen, hinunter zum Heck, das die Nebengebäude vom Hof trennt. Die alten Eschen und Ahornbäume stehen, wie sie immer gestanden haben, und dieselben Fliederbüsche, die geblüht haben, als sie als Braut einzog, wachsen noch um den Altan. Sonst aber ist alles um sie her neu, und wohin sie blickt, ist es, als käme die See ihr immer näher und nähme ihr von ihrem Boden, so wie sie ihn in der Erinnerung hat, etwas weg.
»Ich weiß nicht, wie das ist,« kann sie oft sagen. »Jeden Herbst sind volle Vorratstonnen da. Aber wenn das Frühjahr kommt, sind sie leer. Nichts bleibt übrig zum Verkaufen und Verdienen. So war's früher nicht.«
Daß mehr Geld einkommt, als zu Håkans Zeit, das sieht sie. Aber wo es bleibt, das weiß sie nicht. Das auszurechnen ist für einen alten Menschen wie sie nicht so leicht. Aber soviel weiß sie doch – viel geht weg für die Zinsen, die den Saft aus der Erde saugen, und für etwas anderes, was Amortisation genannt wird. Um sie her wird der Kampf gekämpft, der in ganz Schweden gekämpft wird – der Kampf der neuen Erwerbsquellen gegen die alten. Mitten in der Periode der Industrie, in der das Großkapital den Boden sich unterjochen will, arbeiten die kleinen Grundbesitzer mit dem Aufgebot all ihrer Kräfte, um sich die Scholle zu erhalten, auf der sie einst eine Heimat gefunden haben. Um dies Ziel zu erreichen, sind sie gezwungen, ihre Kräfte zu zersplittern, können nicht mehr, wie früher, zäh und eigensinnig sich an eins halten. Von der Erde, die nicht mehr reichlich und rasch genug gibt, wenden sie sich zu anderem, weil sie darnach streben, sich unabhängig vom Boden zu machen, der viel fordert und nur langsamen Gewinn gibt. Geld ist jetzt das Ziel geworden, und es sind ihrer gar wenige, die dies Ziel zu dem ihrigen machen können, ohne Sklaven des Geldes zu werden, obgleich sie alle hoffen, seine Herren und Könige zu sein.
Auf ihre Weise versteht Tant' das auch. Aber sie kann nicht vergessen, daß die Erde leidet, und so oft sie daran denkt, leidet sie mit ihr. Denn die Erde ist ein gestrenger Herr, das weiß sie. Und niemand kann zwei Herren dienen. So sagt die Schrift; und die Schrift hat recht.
Tant' hat all das ihre weggeschenkt. Aber trotzdem kann sie nicht vergessen, daß das, was rings um sie her wächst und steht, ihr gehört. Es ist, als dächte sie, sie müsse dereinst Rechenschaft geben für Grund und Gebäude, Vieh und Gerätschaften. Vielleicht trifft sie auch Håkan, wenn sie gestorben ist, und was soll sie ihm antworten, wenn er sie fragt: »Was hast du aus all dem gemacht, was mein war?« Darum kann Tant' sich auch nie von dem, was auf dem Hof getan und getrieben wird, abwenden – weder mit Auge noch mit Hand.
Sie kommt nie aus dem Nachdenken heraus, und nie kommt sie in die beiden Stuben, wo sie in Ruhe und Frieden bis an ihr Lebensende sitzen und zusehen soll, wie die Jungen arbeiten. Es ist mit ihr, wie mit so vielen Alten in dieser Zeit der Hast. Sie kann das, was sie jetzt um sich her sieht, nicht mit dem vereinen, was einst war und in ihrem Gedächtnis noch lebt. Denn die Veränderung ist gar so gewaltsam und schnell vor sich gegangen. Darum geht Tant', so alt sie ist, vom Stall zur Küche, von der Küche zum Keller. Darum backt sie und wäscht und schaltet und waltet nach bestem Vermögen. So lang sie das tut, denkt sie an nichts, als an das, was eben vor ihr liegt, und es ist, als wären die alten Zeiten zurückgekehrt. Wenn sie diese Arbeit aufgäbe, so würden ihre Gedanken und die Unruhe ihr keinen Frieden lassen.
So kommt der Frühling nach dem Winter, der Sommer nach dem Frühling, und eh man sich's gedacht, liegt wieder Eis, und der Winter ist dem Herbst gefolgt. Das Eis legt sich zwischen die Inseln, die Leute sind wieder daheim, auch die Schute ist ins Winterquartier eingezogen, die Schute, die Tant's Name in den Schären herumtragen wird, noch lang nachdem Tant' gar nicht mehr da ist.
Der Winter ist Tant's beste Zeit. Da wird alles um sie her so ruhig, da geht kein Dampfer, da wird draußen und drinnen gearbeitet wie vor der Zeit, in der die Menschen angefangen haben, ihre Gedanken von der Erde zu wenden. Wenn das Eis liegt, legt sich auch Tant's Unruhe, und sie fängt an, davon zu sprechen, daß sie die Stuben herrichten will, die ihr gehören und für sie bereit stehen. Aber so weit kommt Tant' nie. Dazu ist der Winter nie lang genug. Früher oder später kracht immer das Eis, und der Frühling kommt.