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Ein weiter Weg war's bis zum Rohrsumpf. Erst mußte man durch den tiefen Wald, auf schmalem Steig, der sich zwischen hohen Föhren hinschlängelte und stückweis über kahlen Bergrücken ging. Wo der Bergrücken sich senkte, fing das Torfmoor an. Auf den Erdhügeln erhoben sich kleine Zwergkiefern, und wenn die Waldmyrte blühte, war die Luft voll würzigen Duftes, der die Insekten herlockte. Auch über das Moor war's ein gutes Stück, und wenn der Berg wieder anstieg, und man von seinem Kamm den Wald sich lichten und das Wasser spiegelklar und ruhig zwischen den tannenbekleideten Ufern liegen sah, war man immer noch nicht dort. Denn das Häuschen lag auf der andern Seite des Wassers. Wollte man zu Fuß hin, so hatte man noch einen weiten Weg. Blieb man am Ufer, dort, wo das Gütchen mit seinen kleinen Äckern und dem Nadelwald im Kranz darum, dem schiefhängenden Stall und dem niederen Wohnhaus zu sehen war, und rief man laut genug hinüber und nahm sich Zeit zum Warten, dann kam auf der anderen Seite ein kleiner, krummer Alter in roter Mütze und wollenem Wams heraus, ging vorsichtig über die Steinböschung und stieß einen wackligen Kahn ins Wasser, um den Rufenden überzuholen.
Ward man dann über den kleinen See gerudert, so mußte man sich drüber verwundern, daß er der Rohrsumpf hieß. Denn Sumpf vermochte man nirgends zu entdecken, nur einen kleinen See, der licht und freundlich wirkte nach dem langen Spaziergang im Waldesdämmer, unter den dichten Tannen, die voll hingen von langen, grauen, zottigen Flechten. Auch Schilfrohr gewahrte man nicht gleich. Die Ufer bestanden aus harten Klippen, unter denen die Tannen, die in der Erde über ihnen wuchsen, sich in dem stillen See spiegelten. Bloß ganz hinten in der Bucht, wo der See einen Bogen um den Berg macht, stand im Spätsommer eine dichte grüne Schilfbank, in der jedes Frühjahr ein paar Wildenten ihr Nest bauten, und, wenn die Jungen ausgebrütet waren, ungestört auf dem ruhigen Wasserspiegel umherschwammen.
Jakob, der zusammengekauert an den Rudern sitzt und den Ankommenden übersetzt, hat nämlich nie mit der Büchse schießen mögen. Wenigstens sagt er das selber, aber darum braucht es ja, wie so manches andere, noch nicht wahr zu sein. »Als ich jung war,« sagt er, »hab' ich es freilich versucht. Aber ich hab es nie soweit gebracht. Denn ich habe eine Art Gebrechen gehabt. Ich hab' nie lernen können, ein Auge zuzudrücken. Darum ist es mit dem Schießen nichts geworden. Jetzt freilich kann ich sie zudrücken, alle beide. Aber jetzt bin ich zu alt, um es zu lernen. Und darum muß es mit der Sache eben bleiben, wie es ist.« Die Wildenten wissen auch, daß niemand sie bedroht. Unbekümmert um das Boot, das einherrudert, schwimmt die Entenmutter mit ihren flüggen Jungen bis vor zur Landungsbrücke. Dort suchen sie nach Fischabfällen und Kartoffelschalen, schnattern, tauchen, schwatzen miteinander und führen sich ganz als Haustiere auf. Jakob muß die Frechsten verscheuchen, als er anlegen will.
So hat Jakob viele über den See gerudert, und wenn ihre Zahl schließlich groß geworden ist, so ist das nicht zu verwundern. So lang schon wohnt er in dem Häuschen am Rohrsumpf, daß niemand mehr sagen kann, wann er dort hingezogen ist – kaum wohl er selber. Im allgemeinen kommt nicht oft jemand Fremdes hin. Dazu ist der Weg zu weit und der, der am Rohrsumpf wohnt, hat nicht viel zu bieten. Oder richtiger – als er lebte, hatte er das nicht. Denn jetzt ist Jakob schon lange tot und sein Weib auch. Das Haus ist verfallen, die Äcker sind von Unkraut überwachsen und werden wieder zur Wildnis. Denn an einen so abgelegenen und einsamen Ort, wie der Rohrsumpf es ist, zieht jetzt niemand mehr, der frei wählen kann. Früher gab es in der Welt mehr einsamkeitsliebende Menschen, die die Einöde nicht fürchteten.
Jakob und sein Weib waren zwei wunderliche Sonderlinge, wie man sie noch ab und zu tief im Wald, fern von den Wohnstätten anderer, findet, und hätten sie von all ihren Schicksalen erzählen wollen, sie hätten sicher seltsame Dinge berichten können. Denn Martina war eine von denen, die die Waldfrau und den Wassermann gesehen haben, auch was die Irrlichter bedeuten, die über dem Torfmoor leuchten, konnte sie erzählen, wenn sie wollte, und für alles, was im Wald flüsterte und wisperte oder klagte und stöhnte, wenn die Winternacht sternklar und kalt über dem zugefrorenen See lag, hatte sie Augen und Ohren. All dies kannte Martina sehr gut, und sie vermochte alle Zauberei weit klarer und richtiger zu deuten, als irgend sonst etwas, das ihr in ihrem einförmigen Leben begegnet war. Am besten aber verstand sie doch die kleinen Wesen, die in Busch und Dickicht ringsum lebten und webten, sie im Wald auf den rechten Weg führten und erst von ihr schieden, wenn sie den Schlüssel von seinem langjährigen Platz im Ritz unter dem Fenster nahm. Dann huschten sie alle auf leichten Füßen fort, froh, daß sie so weit hatten mitkommen dürfen. Und wenn dann weit in der Ferne der Wolf unter den beschneiten Tannen heulte, wußte Martina, wem sie es zu danken hatte, daß sie mit heiler Haut heimgekommen war. Jakob hörte immer schweigend zu, wenn sein Weib so etwas erzählte, und manchmal geschah es, daß er bekräftigend nickte, wie um ihren Worten die Unterstützung zu geben, die sie verdienten und vielleicht brauchten. Oft aber tat er auch gar nicht desgleichen, saß bloß und starrte vor sich hin, als sähe er, was keiner sonst sehen konnte, und bei solchen Gelegenheiten geschah es, daß sein Antlitz einen strengen, fast erbitterten Ausdruck annahm, als wollte er sagen: ›Warum sprichst du über so was vor Menschen, die selber nie etwas sehen? Was wissen die vom Wald!‹
In seiner Jugend war Jakob Kohlenbrenner gewesen, und damals hatte er immer gerade so viel verdient, daß er andern nicht zur Last zu fallen brauchte. Martina hatte Beeren gesucht, Spankörbe verkauft, drunten im Ort an Weihnachten und Ostern in den Häusern ausgeholfen, und weit im Umkreis hatte man sie gekannt. Denn sie gab stets volles Maß, ihre Beeren waren immer schön und frischgepflückt, nie brauchte man bei ihr zu befürchten, wenn man den Korb ausleerte, unten unreifes Zeugs zu finden. Ihre Körbe waren gut geflochten und haltbar, und im Backen und Schlachten war Martina sehr erfahren, so weit entfernt von bewohnten Gegenden sie auch lebte. Es ward ihr auch nie ein Weg zu lang, und wenn sie auch nicht viel von dem wußte, was in Büchern steht, so hatte sie dafür um so mehr anderes, das sie jedem, der es hören mochte, gern erzählte.
Im übrigen war auch Jakob keiner von denen, die man alle Tage auf der Straße findet. Er hatte die Tiere des Waldes in Schlingen gefangen, sie auch geschossen, seinen eigenen Worten zum Trotz. Es gab Leute, die wissen wollten, es habe, so lang er jung war, niemand gegeben, der sicherer zielte und flinker bei der Hand war im Schießen, als Jakob. Seinen alten Vorderlader hielt er hinter dem Bett versteckt, und die Geschichte, daß er in seiner Jugend das eine Auge nicht zudrücken konnte, war sicher nur erfunden, weil Jakob sich die Zeit zu seiner Jagd selbst wählen mochte und sich nie in die Einschränkungen finden konnte, die ein kleinliches Jagdrecht den Bürgern auferlegt. Mit einem Wort, Jakob hatte sich in den alten Zeiten wacker durchgebracht, und drei Söhne waren aus dem kleinen Haus am Rohrsumpf hervorgegangen und Arbeiter geworden in Gegenden, wo es mehr zu verdienen gab und wo keiner mehr hörte, was der Wald flüsterte.
Von diesen Kindern redeten Jakob und Martina anfangs an den langen Winterabenden, wenn es so still um sie ward und nie ein Mensch auf Besuch kam. Aber die Jahre gingen ihren Gang, das Torfmoor und der See unter ihren Fenstern froren viele Male zu, und viele Sommer hindurch kamen und zogen die Wildenten. Um die beiden Alten war es still, als hätten nie Kinder auf der Böschung zum See hinunter gespielt, und je länger diese Stille währte, desto enger schlossen Jakob und Martina sich aneinander an, vergaßen, daß es außer ihnen noch eine Welt gab und fanden es nur in der Ordnung, daß niemand an sie dachte, die selbst längst alle andern vergessen hatten.
Der Wald sang den beiden Alten sein Lied, und das wenige, was sie vom Leben verlangten, hatten sie auch, bis Jakob eines Tages einmal im Bett bleiben mußte. Was für eine Krankheit es war, an der er litt, wußte keins von beiden; sie hatte damit angefangen, daß, wenn er einen weiten Weg machte oder lang stand, ein sonderbarer Schmerz in den Beinen ihn befiel, und eines Morgens, als er aufwachte, konnte er nicht mehr auf den Beinen stehen, sondern mußte zu Bett bleiben.
»Jetzt mußt du für uns sorgen, Martina,« sagte er. »Wenn ich wieder aufstehen kann, kannst du ausruhen.«
Manches begann nun nach und nach zu fehlen. Es kam kein Wild vom Wald mehr ins Haus, keine Fische wurden aus dem See geholt. Auch das Holz lief nicht von selber heim und eine männliche Hilfe, um ein Loch ins Eis zu hacken, fand sich auch nirgends. Aber am schlimmsten war's mit dem Futter für die Kuh. Martina zog mit der Sichel aus und schnitt und trug heim, was sie konnte. Aber all dies ward ihr immer schwerer. Mehr als einmal saß sie lange Stunden draußen im Wald und weinte, weil sie daheim nicht weinen wollte. Jakob lag und lag, und es ging überhaupt nur, weil er stets geduldig und gut war. Sonst hätte Martina es nicht ausgehalten.
Zuletzt geschah ihnen das größte Unglück, die Kuh krepierte in einem Winter aus Mangel, und nun hatte Martina keinen andern Ausweg mehr – sie mußte nach dem Ort hinunter und betteln. Es kam sie hart an, sie, die nie zuvor einen Menschen um etwas gebeten hatte. Klein und zusammengekrümmt sah sie aus, und rasch ging sie, und wo sie auch hinkam, blieb sie so kurz sie nur konnte, ohne unhöflich zu sein. Denn Martina hatte keine Ruhe, solang sie draußen war. Daheim lag Jakob, und vermochte nicht einmal durchs Zimmer zu gehen, um sich Feuer anzuzünden, wenn es abends kalt wurde. Und außer dem bißchen, was sie ihm ans Bett gesetzt hatte, als sie ging, hatte er nichts zu essen. Vergrämt und kummervoll sah Martina aus, wie sie so dahinwanderte; in der Hand trug sie die Milchflasche und auf dem Rücken den Bettelsack, so daß die Hunde durch die Hecken auf den Weg herausschossen und bellten, wenn sie vorüberging.
Zwei Jahre lang wanderte Martina so, und in all der Zeit ward es mit Jakob nicht besser. Es wurde auch nicht schlimmer. Zuletzt war kein Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht, Sommer und Winter, Sonnenschein und Regen. Es war nichts als ein einziger, langer Tag voll Elend, der kein Ende hatte.
»Wenn ich nur sterben könnte,« pflegte Jakob zu sagen. »Dann würd' es doch besser für dich.«
Da ward Martina so schwach, daß sie die Tränen beim besten Willen nicht zurückhalten konnte.
»Was soll denn aus mir werden, wenn du stirbst?« sagte sie. Bei sich selber fühlte sie ja – so schlimm, wie es jetzt war, konnte es nicht bleiben. Aber das ihm zu sagen, der dalag und sich nicht helfen konnte, das vermochte sie nicht.
An einem Sommertag kam Martina vom Ort und wollte heim. Viel hatte sie nicht bei sich. Denn die Menschen werden es müde, dem zu geben, der oft um Hilfe bitten muß. Und Betteln ist ein schweres Handwerk für den, der keine Freude am Leben hat. Der Sack, den sie auf dem Rücken trug, war darum leicht zu tragen, und die Milchflasche, die die kleine Alte in der einen Hand hielt, war auch nicht schwer. Die Sonne brannte heiß, als Martina über das Torfmoor ging. Auf den Erdhügeln reiften die Multbeeren, und fern in den Tannen pfiff der Schwarzspecht. Als sie weiter ging, mußte Martina sich bücken, um nach den unreifen Preißelbeeren zu sehen. Sie ging rund um ihren altgewohnten Platz, beugte sich über die Erdhügel, und schaute und schaute. Oh, wie viele es gab! Und wie viele reife Blaubeeren! Nur sie, – sie konnte sie nicht mehr pflücken und verkaufen, wie früher; sie wanderte im Ort umher und bettelte, weil sie nicht die Kraft hatte, zu gleicher Zeit einen kranken Mann zu versorgen und für sie beide zu arbeiten. So still war es hier, so einsam! Martina ließ den Sack fallen, stellte die Flasche ab und setzte sich. So müde war sie, müde des ganzen Lebens! Wenn jetzt die Waldfrau käme und ihr etwas schenkte! Oder der, dessen Namen sie nicht einmal ausdenken mochte, er, der immer bereit war, wenn ein Mensch wirklich in Not war! Warum kam er nicht jetzt? Warum sah sie nichts? Sie, die so viel gesehen hatte? Warum hörte sie jetzt nicht einmal das kleine Volk im Dickicht rauschen, sie, die früher so viel gehört hatte? Warum schwieg der Wald? Und warum gab es keinen Menschen, der mit ihr heimging und sah, wie es da stand, ihr in ihrer Not half und ihr das ein bißchen erleichterte, was so ein altes Weib nicht allein zu tragen vermag? Aber der Wald rings um Martina schwieg. Sie hörte den Auerhahn ferne lärmen und mit den Flügeln gegen die Zweige der Kiefern schlagen, um in die Höhe zu kommen. Sie hörte die Tauben gurren mit ihrem scharfen, knarrenden Laut, und den seltsamen Vogel, dessen Namen sie nie gehört hatte, schreien wie ein Mensch in Not. Aber sonst war alles um sie her still. Der Wald schwieg, sie sah nichts, als Bäume, Tannennadeln, Sonnenschein, Mücken, Moos und graue Flechten. Die Luft zitterte vor Hitze, und alles stand so still um sie her, daß sie sich fürchtete.
Und Martina, die ihr ganzes Leben lang im Wald gewohnt hatte, die den Fuchs in den Winternächten hatte schreien hören und den Wolf wie ein graues Phantom in der bitterkalten, sternklaren Winternacht um den verschlossenen Stall hatte schleichen sehen, fürchtete sich zum erstenmal in ihrem Leben davor, allein im Wald zu sein. Es war, als stünden die Bäume zu nah auf ihr, als würde es zu still um sie her, zu leer, zu öde, zu ruhig. Zitternd erhob sie sich, um zu gehen. Zitternd hing sie den Sack über ihre Schultern und nahm die Milchflasche zur Hand. Zitternd stand sie und horchte auf dies tiefe Schweigen, das wie ein einziges, schweres, von keinem Laut unterbrochenes Seufzen klang. Ihrer eigenen Schritte unsicher ging sie weiter und blieb nicht eher stehen, als bis sie das Ufer erreicht hatte, wo der morsche Kahn lag. Hastig stieg sie ein und stieß vom Land ab. Aber ihr deuchte, um sie her wäre es wie Hände, die sie greifen würden, sobald sie sich umwendete. Die Knorren im Wald, die Baumwurzeln, die Steine, die alten, verwitterten Bäume, die moosbewachsenen Felsblöcke und die Wachholderbüsche, die rund und buschig zu äußerst auf dem Berghang wuchsen, alle hatten sie Leben, und alle schwiegen sie, schwiegen so, daß sie die Luft mit ihrem Schweigen erfüllten und sich zu abscheulichen Götzenbildern wandelten, die in steinernem Schweigen ihre Not angrinsten. Rasch ruderte Martina über den langen, schmalen See. Sie hörte die Wildenten, die ihr Quarr-quarr hinter ihr her schrieen, die Wildenten, die Jakob nie das Herz gehabt hatte zu schießen. Aber sie wandte sich nicht um, um nach ihnen zu sehen, sondern zog den Kahn ans Land und lief mehr, als daß sie ging, an den Erlen am Ufer vorbei und hinauf nach dem Haus. Es war, als wenn das Schweigen des Waldes hinter ihr herriefe und sie vorwärtsjagte.
Im Haus lag Jakob in seinem Bett, wie er nun zwei Jahre lang gelegen hatte. Als Martina eintrat, schlug er nicht einmal die Augen auf, und, noch immer am ganzen Körper von dem Waldesentsetzen zitternd, ging die Frau zum Herd, füllte ihn mit Reisig und Zweigen und zündete Feuer an. Es leuchtete auf in dem dämmrigen Raum, in den die kleinen Fenster nur so wenig Tageslicht einließen. Aber bis hin zu dem Winkel, wo Jakobs Gesicht lag, drang der Feuerschein nicht, und von dem Platz aus, wo Martina saß, vermochte sie nicht zu sehen, ob der Kranke noch immer schlief oder wach war.
»Bist du's, Martina?« klang plötzlich Jakobs Stimme aus der Ecke hinter dem Fenster. »Du bist lang ausgeblieben.«
»Ich war müde und hab im Wald gesessen und ausgeruht,« erwiderte die Frau. »Wie ist es dir heut gegangen?«
»Wie alle Tage,« kam die Antwort.
Jakobs Stimme klang so klar und mild, daß Martina näher gehen und ihn ansehen mußte.
»Ich glaube, ich hab' eben eine Weile geschlafen,« sagte der Alte. »Das kommt daher, daß ich so lang allein gelegen und gedacht habe.«
»An was hast du denn gedacht?« fragte Martina.
Sonderbar! Es war, als hätte der Wald sie bis ins Haus verfolgt und das Entsetzen mit sich gebracht.
Jakob wandte den Kopf, um besser zu sehen. Jetzt fiel der Feuerschein über sein Gesicht. Es war mager und grau, wie das eines Menschen, der das Licht der Sonne lange nicht gesehen hat. Aber die alten Augen glänzten.
»Ich möchte gern die Sonne noch einmal sehen, eh' ich sterbe,« sagte er. »Ich habe die Sonne immer so gern gehabt, und den stillen See draußen mit dem Wald. Glaubst du, du könntest mich so weit tragen, wenn ich selber helfe, so gut ich kann?«
Martina ging zu ihm hin und setzte sich auf den Bettrand.
»Was willst du draußen? sagte sie.«
Jakob sah sie an mit Augen, die auf einmal ganz seltsam klar wurden.
»Ich will sterben,« sagte er. »Und du sollst mir helfen. Du brauchst dich nicht zu fürchten, weil ich dich darum bitte. Es kann nicht so schwer sein, zu sterben. Leben kann ich doch nicht länger. Und wenn ich fort bin, brauchst du nicht mehr im Ort herum zu gehen, und für meinen Unterhalt zu betteln.«
Wieder deuchte es Martina, als wäre das Entsetzen aus dem Wald ihr ins Haus gefolgt. Sie faltete die Hände. Es waren dürre, alte, eingeschrumpfte Hände. Sie verstand, was der kranke Mann wollte; lang, eh es gesagt war, deuchte Martina, hatte sie Jakob bitten hören, wie jetzt; und durch das Fenster sah sie, wie die Sonne schien und wie still der Rohrsumpf lag.
»Du sollst mir in den Kahn hinunter helfen,« sagte der Alte, »und ihn in den See hinausschieben. Dann sollst du wieder heim gehen und nicht weiter sehen.«
Jakobs Augen suchten die seines Weibes, unruhig, wie die eines Kindes, wenn es um die Erfüllung seines höchsten Wunsches bittet. Und wie Martina so da saß, kam es ihr vor, als könnte es gar nicht anders sein. Das war es, womit der Wald sie erschreckt hatte, an dies hatte sie gedacht, als sie dort saß, wo das Torfmoor aufhörte und der Weg unter den Tannen emporstieg.
»Wann möchtest du es?« sagte sie, und Tränen tropften aus ihren alten Augen.
»Jetzt scheint die Sonne,« sagte Jakob.
Und seine Stimme klang ungeduldig, wie die eines Kindes, das nicht warten will.
»Zwei Jahre lang hab' ich hier gelegen und nur an das gedacht.«
Da setzte sich Martina ans Fenster und dachte nach, so gut ihr Verstand es zuließ. Viel hatte sie nie in Büchern gelesen und viel wußte sie auch nicht. Lange saß sie so, und Jakob lag still und störte ihre Gedanken nicht.
Zuletzt stand Martina auf und sah, daß die Sonne noch am Himmel stand. Da nahm sie, ohne etwas zu sagen, ihren alten Mann, mit dem sie länger als ein Menschenalter zusammengelebt hatte, und richtete ihn im Bett auf. Hierauf trug sie ihn aus dem Haus und setzte ihn auf die Treppe. Er war mager und dünn geworden und war nicht schwer zu tragen. Da saß nun Jakob und sah auf Sonne und Wald und See und alles, was einst sein gewesen war.
»Wenn du jetzt kannst, so hilf mir weiter,« sagte er endlich.
Da trug Martina den Ärmsten hinunter an den Strand und setzte ihn in den Kahn. Aber als sie das getan hatte, sank sie zusammen, nahm Jakobs Hand und vermochte nicht zu sprechen.
»Schiebe jetzt den Kahn hinaus,« sagte Jakob leise, »und wenn du es getan hast, so geh wieder ins Haus hinauf und bleib' nicht hier. Nimm dort das Buch und lies darin. Gott wird es schon verstehen, er, der weiß, wie es mir und dir ergangen ist.«
Da nahm Martina Jakobs Hand und drückte sie zum Abschied. Dann stieß sie den Kahn vom Land und wartete am Ufer, bis er in tiefes Wasser hinaus kam. Hierauf ging sie allein den Hügel hinauf, und als sie in die Stube kam, nahm sie ein altes Buch und versuchte, darin zu lesen. Es war nicht die Bibel. Es war Thomas a Kempis. Aber für Martina waren diese beiden Bücher eins, und irgend welche andere hatte sie nie besessen.
Halblaut las die alte Frau die unfaßbaren Worte des Buches. Es ging langsam und holprig, und die wohlbekannten Worte, die sie fand, waren ihr fremd. Zu ihrer Zeit lehrte man in den Schulen nicht viel, und das meiste von dem, was Martina gelernt hatte, hatte sie längst wieder vergessen. Ihre Gedanken wanderten über die Worte weg, und doch fand sie eine Art Trost in diesen fremden Worten, vielleicht gerade deshalb, weil sie so wenig von ihnen verstand. Als sie genug gelesen hatte, stellte sie das Buch sorgsam auf das Regal zurück. Dann ging sie wieder hinaus auf den Hügel und sah, daß der Kahn leer auf dem Wasser schwamm. Da setzte sich Martina am Ufer nieder, und was sie da dachte und sah, war mehr, als sie selber erklären konnte. Aber sie glaubte, daß sie an Jakobs Seele, an sich selber und an alles dachte, was sie beide miteinander erlebt hatten. Fromm und einfältig betete sie ein Vaterunser über dem stillen Wasser, in dem sich der Wald spiegelte. Und als sie das getan hatte, ging sie wieder ins Haus hinauf, hängte reine Laken vor die Fenster und streute Tannenreis auf den Weg, der von der Treppe zum See führte.
Hierauf ging sie zu Bett und schlief zum erstenmal allein in dem Häuschen am Rohrsumpf.
Als Martina später in den Ort hinunter kam, um Hilfe für die Auffindung von Jakobs Leichnam und das Begräbnis zu holen, erzählte sie ganz einfältig alles, wie es wirklich zugegangen war. Aber alle glaubten, sie erzähle ein Märchen. Erst als die, die mit ihr gingen, die Laken vor den Fenstern sahen und fanden, daß der Weg von der Haustreppe zum See hinab bestreut war, konnten sie glauben, daß das Seltsame, das sie berichtet, Wirklichkeit war. Und als Jakobs toter Körper zuletzt angekleidet in dem Bett lag, in dem Jakob selbst so lange Jahre krank gelegen hatte, da standen viele um ihn herum, mehr als je zuvor in dem niedern Häuschen versammelt gewesen waren.
Und alle begriffen, daß niemand zu wissen brauchte, was hier geschehen war. Was geschehen war, war das Geheimnis des Waldes, und keiner von denen, die es kannten, verriet, was er gesehen und gehört hatte, oder erzählte es im Ort. Denn was Martina getan hatte, das hatte sie aus Einfalt und Not getan. Und es paßte nur hierher, wo der Wald sich meilenweit erstreckte, und wo der schweigende See den Wald widerspiegelte.