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Er hatte in der letzten Zeit fünf Pferden des gräflichen Stalles die Schweife abgeschnitten. Heute erwischten sie ihn endlich. Mehrere Burschen hatten ihm aufgelauert, während die anderen teils ausgefahren, teils zur Schwemme geritten waren. Sie sahen es von ihrem Versteck aus, wo er in den wohlversperrten Stall kam. Von einer uralten Parklinde kletterte er auf das Dach. Dort hob er einige Ziegel aus und war auf dem Futterboden, von wo er auf einen der leeren Pferdestände herab hüpfte.
Heute wollte er flugs einen jungen, braunen Hengst des Schweifes berauben.
Sie fingen ihn dabei mühelos ab. Ihre Übermacht einsehend, versuchte er keine Gegenwehr. Er war höchstens achtzehn Jahre alt, und von seiner Verwilderung abgesehen, ein bildhübscher Bursche. Sein Mienenspiel drückte zunächst eine ohnmächtige Wut aus, die ihm bald helle Tränen in die seltsam heißen, schwarzen Augen trieb.
Diese Tränen schienen nun aber erst sein gesamtes Empfinden zu erweichen. Als sie auf seine Wangen traten, war er auch schon zusehends von einer schmerzvollen Trauer über sein Geschick erfüllt. Er senkte jetzt den Kopf.
Die Burschen bekundeten erst nur ihre Freude an dem Fang und die Neugier. Einer von ihnen erkannte in dem Dieb einen einstigen Schulkameraden und hatte deshalb, wie es schien, von allen das größte Vergnügen.
Er gab den eifrig Zuhörenden offen und ungescheut gewissenhafte Auskunft über den Gefangenen.
»Es ist der scheue Maxl«, sagte er. »Der ist so aufgewachsen wie ein herrenloser Hund. Es hat ihm nie wer getraut – und er auch niemandem. Wenn man seinesgleichen auch einmal gern streicheln möchte, so darf man das doch nicht wagen. So was versteht's nicht, wie man's meint – und schnappt dann gleich.«
Einige wollten es nun vor allem wissen, was Max mit den Pferdeschweifen getan habe.
»Verkauft hab' ich sie«, gestand er auf vieles grobe Drängen, ohne den Blick zu erheben.
»Das wird dir teuer kommen«, sagte einer.
Ein anderer lachte darauf.
»Der ist ja froh, wenn er eingesperrt wird, hat ja noch nie einen rechten Unterstand gehabt. Tüchtig durchhauen sollen wir ihn, das wär' das Richtige.«
Etliche stimmten bei:
»Jawohl! Peitschen sollte man ihn, bis er keinen Fetzen Haut mehr am Leib hätt'. Und dann mit Rossstriegeln abfrottieren und mit Rossstaub einpudern.«
»Tun wir das!« riefen einige von ihnen.
Die Besonnenen ließen es aber nicht zu. Man müsste jedenfalls warten, bis der Stallmeister nach Hause kam.
Aber zwei waren nun neugierig und verlangten von Max zu wissen, ob er lieber geprügelt oder eingesperrt werden wollte.
»Prügelt mich lieber«, sagte er plötzlich auf ihre Fragen.
Da wurde nun viel gestaunt, gelacht und gespaßt.
»Das hätt' ich euch gleich sagen können«, behauptete Maxls Schulkamerad. »Er fürchtet nichts so sehr als das Eingesperrtwerden. So schlecht ihm die Freiheit, in der er bisher gelebt hat, angeschlagen haben mag – er liebt sie doch über alles. Es kommt eben darauf an, gegen was einer am meisten abgestumpft ist.«
Einige hofften nun wirklich wieder auf die Exekution, die ihnen ein großes Vergnügen gemacht hätte, aber sie wollten damit noch warten, bis der Stallmeister kam. Max wurde vorläufig mit einigen Strickhalftern recht fest und sorgfältig an den Brustbaum eines der leeren Pferdebestände gebunden.
Dann gingen die Burschen in die Kantine.
Einen ließen sie zur Bewachung des Gefesselten zurück, einen, den man wegen seiner etwas allzu großen Gutmütigkeit zu vielem verwendete, wozu sich andere nicht verwenden ließen – den großen, dicken, weichherzigen Lambert.
Sie gaben dem guten Jungen noch eine Peitsche mit dem Befehl:
»Wenn er sich nur rührt – so musst du dreinhauen!«
Eine Weile lehnte Lambert dem Unglücklichen gegenüber an der Wand und war voll Mitleids. Er konnte in seinem Herzen unmöglich auch nur die mindeste Entrüstung gegen Max aufbringen und verstand nicht, wie das die anderen konnten. Er begriff überhaupt die anderen sehr oft nicht.
Und er war gerade gescheit genug, um nicht das zu glauben, was er nicht begriff. Lambert wurde niemals so leicht ungerecht, als wenn er von Zuneigungen beeinflusst war. Er war sich dessen auch bewusst, dass er einem Menschen, der ihm einmal gefiel, allzu vieles nachzusehen vermochte. Und Max machte einen ganz außergewöhnlichen Eindruck auf ihn.
Er erkannte es augenblicklich an dem Wesen des Gefangenen, dass dieser schon längst sehr nötig etwas brauchte, was ihm jetzt in der umliegenden Mitwelt nur gerade er allein geben konnte – Freundschaft. Und gleichzeitig wusste er es auch, dass es ihn sehr glücklich machen würde, dem anderen ein Freund werden zu können.
Max las dem Lambert alles vom Gesicht. Er vergaß nahezu sein ganzes altes und neues Elend, wie er diesen Menschen ansah; er ahnte, dass er plötzlich mehr Ursache zum Freuen und Hoffen hatte als bisher in seinem Leben.
»Wenn du auch gestohlen hast«, hob Lambert zu reden an, »schlagen lass ich dich doch nicht. Und auch nicht einsperren. Es tät' dir gewiss zu viel Unrecht geschehen. Und das lass ich nicht zu – auf keinen Fall. Fürcht' dich nimmer.«
Max sah ihn voll Staunen und Bewunderung an.
»Nein«, antwortete er dann, »ich fürchte mich jetzt nimmer. Auch nicht mehr vor dem Eingesperrtwerden. Ich hab' jetzt auch im Arrest so was Schönes zu denken. An Sie will ich denken.«
»Du darfst nicht in den Arrest, und wenn mich das meinen Posten kostet«, sagte Lambert. »Ich mach' dich jetzt los und du läufst davon. Wie ich's verantwort', das weiß ich schon.«
Max erschrak nahezu.
»Nein, nein«, sagte er. »Da bin ich schon lieber eingesperrt als frei und in der Angst um Sie. Ich will jetzt sonst gar nichts mehr, als Sie nach meiner Strafe wiedersehen dürfen. Ich verlange aber nicht, dass Sie dann mit mir verkehren sollen; das geht nicht. Sie sind im gräflichen Dienst und ich bin ein Pülcher.«
»Du musst ja keiner bleiben«, meinte Lambert.
»O ja«, antwortete Max. »Ich mach' gar keinen Versuch mehr, ein anderer zu werden. Es liegt schon gar zu viel zwischen mir und den Leuten, viel mehr, als sich jetzt noch ausgleichen lässt.«
Lambert schüttelte den Kopf.
»Wenn du mein Freund werden kannst, so kannst du auch noch vieler Leut' Freund werden.«
»Nein«, entgegnete Max. »Ich hab's ja schon gesagt, dass ich vor der Welt Ihr Freund nicht werden kann. Ich möcht' die Verachtung nicht ansehen, die Sie wegen der Freundschaft zu ertragen hätten. Mich freut Ihr gutes Wollen mehr als mich Ihre Bemühungen freuen könnten, die ja vergeblich wären.«
»Ich will sehen, ob die vergeblich sind«, sagte Lambert.
Dabei hatte er nun auch schon die Stricke von dem Leib des andern gelöst. Dann nahm er die kleine Barschaft, die er bei sich hatte, und schob sie dem Max in den Hosensack.
»Widersprich mir nicht«, sagte er. »Es nützt dir nichts. Du wirst mir jetzt in allem folgen. Du kriegst halt jetzt zunächst einen Herrn, weil du dich für einen Freund zu schlecht hältst. Das Weitere wirst du schon sehen. Jetzt mach' dich davon, schnell! Ich werd' schon dafür sorgen, dass sie dich nicht verfolgen.«
Max vermochte dem Willen des anderen nicht mehr zu widerstehen. Er packte nur wie in mächtig überwallenden Gefühlen die Hände Lamberts und presste die Lippen darauf.
Dann half Lambert ihm nach dem Futterboden hinauf, von wo Max wieder durch das Dach in das Freie hinausschlüpfte.
Seinen Kameraden sagte dann Lambert ganz einfach die Wahrheit.
»Ich hab' ihn freigelassen. Ich war überzeugt, dass ihm zu Unrecht geschehen wäre. Macht jetzt, was ihr wollt. Wenn ihr wollt', so prügelt mich an seiner statt. Ich lasse mir alles gefallen. Nur verfolgt ihn nicht.«
Und er vermochte es wirklich mit seinen Bitten, dass sie Max nicht verfolgten. Er war ihnen allen schon irgendwie gefällig gewesen, und sie hatten ihn hinlänglich gerne, um ihm jetzt verzeihen und nachgeben zu können. Dass er da einen sehr dummen Streich gemacht hatte, davon waren sie freilich überzeugt, und sie überhäuften ihn auch nicht wenig mit Spott. Aber er war glücklich, dass sie ihm seinen Streich derart durchgehen ließen.
Von Max bekam er etliche Tage nichts weiter zu hören.
Aber eines Morgens fand er auf dem Fenster seiner Schlafkammer einen Strauß prachtvoller, frischer Rosen.
Da musste er zunächst lächeln. Diese Art Dankbarkeitsbezeigung kam ihm zu kindlich vor. Aber sie erfreute ihn doch. Er drückte das Gesicht völlig zärtlich in die wunderbar duftenden Blumen. Erst dann sagte er es sich, dass Max die Rosen gestohlen haben musste.
Und da ärgerte er sich über ihn.
»Der meint nun gewiss, dass ich Stehlen überhaupt für kein Unrecht halte«, sagte er sich.
Und er konnte es kaum erwarten, Max recht gründlich eines Besseren belehren zu können. Aber Max ließ sich nicht sehen.
Am nächsten Morgen lagen wieder Rosen auf Lamberts Fenster und am darauffolgenden Morgen abermals. Lambert hatte Mühe, die vielen Blumen vor den Kameraden zu verbergen. Er glaubte fast, dass Max närrisch sei. Es gelang ihm nicht, des Burschen habhaft zu werden. Das erfüllte ihn mit Ärger und Schmerz. Eines Morgens sah zufällig ein zur Arbeit gehender Gärtnerjunge einen der Rosenstöcke auf Lamberts Fenster. Das hatte zur Folge, dass dann der alte Gärtner einer naheliegenden Villa zu Lambert kam.
Der Alte wollte zunächst der Sache im Guten auf den Grund kommen. Und da vertraute ihm Lambert alles. Dabei erfuhr er nun, dass schon alle Gärtner und Villenbesitzer der Umgebung über die frechen Blumendiebstähle außer Rand und Band waren.
»Ich werde morgen dem Burschen einen Brief auf das Fenster legen«, sagte er dem Gärtner. »Verlassen Sie sich darauf, der stiehlt Ihnen keine Blumen mehr.«
Der Gärtner wollte es zufrieden sein.
Freilich hätte er auch den Max gern bestraft gesehen. Aber auf Lamberts Bitten wollte er schweigen, falls nun die Rosendiebstähle wirklich aufhörten.
Es wunderte ihn auch, dass sich Lambert, den er doch als einen anständigen Burschen kannte, für einen Dieb so stark in das Mittel legte.
»Ich hab' ihn halt' so gern«, gestand Lambert. »Wenn ich ihn doch zu einer ehrlichen Arbeit bewegen könnt'! Aber ich seh' keine Möglichkeit. Es fehlt ihm aller Wille zu einer Besserung.«
Während er diese Worte sprach, hatte er einen Einfall.
»Vielleicht könnten Sie mir helfen, ihn auf einen anderen Weg zu bringen«, sagte er dem Gärtner. »Was meinen Sie, wenn ich nun in dem Brief ungefähr so an ihn schieb: Du ahnst es nicht, was du mir mit den Blumendiebstählen für Unannehmlichkeiten bereitest. Gestohlenes lass' ich mir nicht schenken. Wenn du mir Blumen brächtest, die du dir verdient hast, das tät mich noch mehr freuen als mich deine abscheulichen Räubereien schmerzen. Der Gärtner N. hätt' Arbeit für dich. Er tät dir als Arbeitslohn Blumen für mich geben…« Lambert unterbrach sich. »Würden Sie das?«
Der Alte nickte:
»Ja, gern.«
Und so fand Max am nächsten Morgen wirklich einen Brief auf Lamberts Fenster, als er abermals einen ganzen Haufen geraubter Blumen dahin brachte.
Da ließ er es. In einigen Tagen aber lag wieder ein frischer Rosenstrauß auf Lamberts Fenster. Und dabei war ein Zettel mit den Worten: »Die sind verdient.«
Jetzt brachte Lambert voller Rührung und Jubel die Rosen zu seinem Gesicht und küsste sie.
Max arbeitete nun wirklich.
Solange der Sommer währte und Rosen blühten, konnte er nun doch unmöglich zu arbeiten aufhören.
Die Blumen wollte er um keinen Preis auch nur einen Morgen auf Lamberts Fenster fehlen lassen.
Und als der Winter kam, vermochte er nicht mehr gut sein altes Lumpenleben aufzunehmen.
Er hatte das Arbeiten um die Blumen gar zu schön gefunden und war dabei, ohne es recht eigentlich zu wissen und zu wollen, unter »die anständigen Leute« gegangen.
In den guten Kleidern, die er sich jetzt so nebenbei verdient hatte, mochte er sich im Winter schamhalber nicht mehr als Tagedieb herumtreiben. Er gefiel sich darin zu sehr, wenn er an sich herabsah.
Übrigens ließ ihn der Gärtner nun nicht mehr los, sondern dingte ihn für die Treibhausarbeit auf.
»Ihr Freund muss doch auch im Winter Blumen haben«, sagte er. »Im Winter wird er sich erst recht an ihnen erfreuen.«
Eines Tage hatte dann Max doch die sichere Empfindung, dass sich Lambert nun seiner nicht mehr schämen müsste. Und da ging er zu ihm hin.