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Scholarenfahrt

So wie dieses Wirtshaus gefiel dem Studenten noch keines auf der Reise. Die alte braungetäfelte Stube war so fein in dem grünen Dämmerlichte, das durch die vor den Fenstern stehenden Linden brach. Zwischen den Baumstämmen sah man den Strom glitzern, und durch eine große Lücke im Lindendache dräute eine alte, zerfallene Felsenburg herein. In der Stube ging eine blondköpfige, rosige, mollige Schenkin herum. Die sah, sooft es nur recht tunlich schien, nach dem schlanken, braunen Burschen, welcher ihr von seinem Sitze in der vorderen Stubenecke den Blick auf Schritt und Tritt folgen ließ. Sobald es aber nicht dringend einen anderen Gast zu bedienen galt, saß das Mädchen auch schon jenem Menschen am Ecktische gegenüber, und um schickliche Anreden herrschte dabei niemals Not. Ganz im Lichte des mittleren Stubenfensters saß ein anderer Bursche von fast mädchenhaft zarten, weichen Leibesformen. In dem vollen, milchweißen, etwas müden Gesichte hatte er ganz wundervolle, träumerische Blauaugen. Die ließ er zuweilen mit seltsam traurigem Ausdrucke auf dem Pärchen am Ecktische verweilen. Wenn er aber im Entferntesten Gefahr lief, von den beiden auf einem Blick ertappt zu werden, sah er schleunigst mit einer eigentümlichen, stolzen Scheu auf die Burgruine hinüber. Einmal erwischte ihn der Student dennoch auf dieser Augenflucht, um ihn auch gleich förmlich gefangen zu nehmen mit dem schwarzen, lodernden Brandgeschau. Der junge, feine Mensch erglühte über und über, was ihn aber fast ebenso zornig über sich selbst wie über den anderen machte. Mit einer möglichst feindseligen, stolzen Miene suchte er wieder das alte, kaltfremde Verhältnis herzustellen. Aber da redete ihn der andere auch schon mit seltsam inniger, fröhlicher Stimme an: »Geh', schäm' dich nicht, mich anzusehen! Bin so übel nicht! Das sollst du auch gleich finden, wenn du herüber kommst zu mir. Ich sitze nicht gern allein. Du ja auch nicht – ich seh' dir's an – so spröd du auch tust. Das Weib dort hat auch so wenig Zeit für mich, es muss notgezwungen so tun, als ob es sich noch für andere Leute hier interessierte. Na, komm' doch – bist ja ein fahrender Scholar wie ich, da gibt's kein Leugnen – wenn du auch keine Karte mit einem Ritterwappen im Sack trägst, die du mir jetzt gerne herüberwürfest. Nur heut' fordere mich nicht! Ich heiße Mickl Schönauer und bin ein Sohn einer verwitweten Schustermeisterin, die mir bisher keine Visitkarten mit unserem Familienwappen kaufen wollte. Gelt, du bist bös, weil ich dir Du sage? Bin halt eben in der Stimmung, in der ich jedem Du sag', der mir gefällt wie du. Glaub' mir's, dem Hundertsten von deinesgleichen wäre die Ehre nicht geschehen – aber wenn du's für keine nimmst, so verkehr' ich auch willig nach den Regeln der Konvention mit dir. Nun?«

Der Stolz des anderen erwies sich nun als recht leicht überwindlich. »Wenn du dies Duwort so schmeichelhaft motivierst«, sagte er lächelnd, »da muss ich dir wohl hierin gleich nachkommen.«

»Also doch!« rief Mickl ein wenig verwundert und recht sehr erfreut. »Ich gefall dir nämlich auch, gelt?«

»Ja. Zwar weiß ich nicht, wie du im entgeisterten Zustande bist«, scherzte der andere, langsam zu dem Ecktische tretend.

Mickl lachte: »Dass mich doch jeder, mit dem ich einmal ehrlich bin, zuerst für betrunken hält! Schau mich doch einmal genau an! So. Fürchte nur meine Augen nicht! Bist ja doch kein Frauenzimmer. Na! Beim wievielten Glase sitze ich heut'?«

»Beim ersten?« rief nun der andere hocherstaunt.

»Beim dritten doch. Aber gelt, betrunken bin ich nicht?«

»Auf Ehre, nein!«

»Aber vakanzmäßiger aufgelegt bin ich als du. Sag' mir doch deinen Namen.«

»Adolf Walberg. Du kannst aber Adi sagen wie die Meinen.«

»Wie? Nicht einmal Freiherr bist du? Woran fehlt es dir denn nachher? Ich meinte, du hast die Baronskrankheit. Oder ist dein Papa Millionär?«

Adi nickte.

»Na – das ist ja dasselbe, du armer Junge!«

Adi sagte nichts, aber er rückte dem anderen auf der Bank näher.

»Und du hättest auch gerne das Poetische einer Schülerfahrt kennen gelernt! Ich seh' dir's an. – Darauf zogst du aus.«

Adi seufzte.

»Da mops' ich mich nun seit drei Wochen auf dem Lande herum. Aber morgen mach' ich meinen Wegrest per Bahn. Nichts hab' ich gefunden; nichts in den Wirtshäusern, nichts auf der Straße. Ist das noch ein Land für eine Scholarenfahrt? Kann man da wirklich noch Jugenderinnerungen sammeln? Was soll ich einmal von meiner Studentenzeit erzählen? Hie und da schloss ich mich an dieser Reise einem Kollegen an. Aber ich glaube, es war ein jeder noch blöder als ich.«

»Du Armer! Hast wohl noch gar nicht einmal durchgebracht, was dir Mama mitgab?«

»Wahrhaftig nicht.«

»Siehst du – das brachte ich gleich auf der ersten Station durch.«

»Und dann?«

»Lebt' ich wie ein fahrender Schüler.«

»Geht denn das wirklich noch?«

»Wunderbar! Nur muss man den fahrenden Schüler nicht markieren wollen, sondern wirklich einer sein. Die Leute merken es gleich, wenn man wirklich einer ist, und geben dann dem mittelalterlichen Publikum gar nichts nach. O, wie viel des allerlustigsten Verständnisses finde ich überall! Wie hassen mich die Spießbürger auf den ersten Blick, wie fürchten mich die Wirte, und wie gucken mir die Weiber nach! Und über alles geht die Liebe der Schenkinnen! Es besteht ein ewig reizvolles, unbeschreiblich poesiereiches, über aller gewöhnlichen Minne erhabenes Verhältnis zwischen allen echten Studenten- und Schenkinnenherzen! Du Armer aber machst gewiss keiner Schenkin warm, außer ein wenig mit deinem Trinkgelde.«

Adi schüttelte traurig den Kopf.

»Nein, darauf muss ich verzichten. Aber glaube mir, ich verzichte mit großer Wut und Bitterkeit darauf. Nur einmal möchte ich mich so unterhalten wie du mit dem Mädel da. Zu dir ist sie um so viel anders als zu allen anderen Leuten. Mit welcher Liebe zur Sache müht sie sich dir gegenüber, den echten, feinen, alten Schenkenton zu treffen! Wie herrlich sie auf den Verkehr mit deinesgleichen eingeübt ist! Ich hörte Euch lange bewundernd mit einem unsäglichen Neide im Herzen zu. Dir zeigt das Mädel, was es kann. Mir gegenüber würde sie niemals derart auftauen und auch keine andere. Davon werde ich niemals etwas genießen, niemals! Ist das nicht traurig? Mir wissen alle diese Leute, mit denen man wahrhaftig fröhlich sein kann, nichts zu sagen – ich pfeif' auf so eine Jugend!«

Adi wollte eigentlich nicht sentimental sein. Und es glänzte dennoch feucht in seinen Augen. Mickl wusste das Letztere, ohne dass er es anzusehen brauchte. Er empfand ein tiefes Mitleid für den armen Millionärssohn. Von Gefühlen überwältigt, erhob er sich und ging hinaus. Er wusste, dass er jetzt die Schenkin in dem kleinen Gastgarten hinter dem Hause traf. Es gelang ihm bald, sie in einen Winkel zu ziehen.

»Höre, Lorchen«, sagte er dort. »Du musst mir heute etwas Großes zu Liebe tun. Da ist so ein armer Junge, dessen Unglück mir das Herz zerschneidet.«

»Wie?« fragte sie befremdet. »Das ist doch ein Kavalier.«

»Ja, eben. Millionärssohn wider Willen ist er. Den unterhältst du mir heute recht zünftig. Er hat sich in dich verkeilt.«

»So? Dem Blödl soll ich mich heute widmen, wo du morgen weiterziehst. Warum denn nur?«

»Weil er dringender einmal eines Auflebens bedarf als ich.«

»Wie dir aber die Barmherzigkeit mit dem über unseren Verkehr gehen kann?«

»Sie soll auch dir drüber gehen.«

»So? Na, werd' ihn mir nun genau ansehen. Gewiss find' ich auch was an ihm, weil er dich so bewegt. Also seine Flamme soll ich heut' sein! Aus Barmherzigkeit soll ich ihn zum Narren halten und vielleicht für sein Leben lang unglücklich machen.«

»Geh', Lorchen, bilde dir nicht gar so viel ein.«

»Na freilich. Dich macht keine mehr unglücklich, außer die – letzte, die Rächerin der anderen. Aber du sollst heute sehen, was ich dem antu, weil du's willst.«

»Nur zu. Ich tröste ihn morgen. Er wird glücklich abziehen. Ihm ist es um eine Erinnerung zu tun.«

»Ich versteh' dich schon. Na, die soll er haben.«

»Und siehst du, Lorchen, hier ist der letzte von den drei Talern, die mir unlängst ein Pfarrer zusteckte, dem ich bis zum Messläuten Gesellschaft leistete.«

»Was?« fragte sie höchlich überrascht. »Du zahlst deine Zeche – das heißt, du sagst mir die Liebe auf?«

»Gott behüte! Bring' du dir meine Zeche wie bisher ehrlich an Borten ein, die du anderen Gästen machst, mit dem Taler zahl' ich die Zeche meines Freundes.«

»Ah – du zahlst für den Millionär?«

»Rührende Idee!«

»Verstehst du sie denn?«

»Wie jede von dir. Ich soll ihn wie einen Fahrenden behandeln, an den ich mein Herz hing. Ich soll ihm den höchsten Liebesbeweis einer Schenkin erbringen – ihn nämlich zechfrei gehen lassen. Na gut. Wenn dir eine gar so große Liebe damit geschieht. Deinen Betteltaler behalte. Vielleicht ist's auch der Junge wert, dass ich ihn zechfrei halte.«

»Nimm den Taler!«

»Ja – damit du dir einbilden darfst, du hast einen Millionär damit glücklich gemacht. Das will ich mir nun einbilden dürfen, wenn ich ihm die Zeche schenke.«

»Na meinetwegen. Gott segne dir das mir geraubte Bewusstsein.«

»Lorchen!« rief da jemand im Garten. Da sauste sie davon. Bald darauf kam sie in die Stube, tat aber, als ob sie nun Adis wegen ihr Lieblingsplätzchen meiden müsste.

»Scheu' dich nicht«, sagte Mickl zu ihr. »Das ist ja auch ein Student. Und ein feiner. Sieh ihn doch einmal an!«

Sie kam mit einem verwunderten Gesicht daher und blickte dann sehr forschend und angelegentlich in Adis Augen.

»Meiner Treu!« rief sie hernach scheinbar ganz glücklich überrascht und klatschte in die Hände. »Dass mir der nicht gleich auffiel!? Na, nichts für ungut! Sie schüttelte ihm die Hand und rückte sich dann einen Stuhl an seine Seite. »Es lässt sich ja noch was einbringen, nicht wahr?«

Der gute Adi hatte keine Ahnung, wie er hier betrogen wurde. Er sah das sich lächelnd herüber beugende Weib mit leuchtenden Blicken an. »Ja«, stammelte er in beginnender Glückseligkeit, »es lässt sich noch was einbringen.« Und Mickl sah und hörte den beiden voll Vergnügen zu. Er fühlte, wie schön es ist, jemanden ganz eigennutzlos beglücken zu können.

Adi verbrachte die schönsten Stunden seines Lebens. Und wenn er am anderen Morgen auch mit nassen Augen von der Schenkin Abschied nahm, welcher er nun übrigens bis in das tiefste Herz erbarmte, so zog er doch am Arme des besten Freundes weiter, den er im Leben fand. Er hatte nun eine süße, reizvolle Erinnerung an seine Scholarenfahrt und blieb immer stolz darauf, dass er auch einmal als »Fahrender« von einer liebenden Schenkin zechfrei gehalten wurde. Und Mickl hütete sich, ihm den schönen Wahn zu zerstören.


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