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Die ihn liebten

Jetzt zaust der Ostwind den schwarzen Wolkenvorhang, an welchem Himmel und Erde zu enden schienen. Und er fegt eine endlose Menge schwerer Nebelfetzen über das Land, aus denen noch förmlich die Finsternis trieft, welcher sie entrissen sind. Aber ohnehin macht sie das Licht rein und weiß. Im Westen stauen und verdichten sie sich wieder und sinken in schweren Massen zur Erde. Auf dem breiten Streifen Ackerbodens, der zwischen der Waldwildnis und dem Strome liegt, vermengt sich der Rauch der brennenden Queckenhaufen mit dem Nebel, so dass die Leute von Kenow, welche dort mit der Aussaat des Winterroggens beschäftigt sind, einander nicht auf zehn Schritte zu sehen vermögen. Aber das allergeringste von dem, was ihnen die Aussaat erschwert: Sie müssen heuer selber Pflug und Eggen durch den Lehmboden ziehen. Der Hunger zwang sie, die Zugtiere zu schlachten. Nur Staukin, der Ortsrichter, hat noch eine alte Mähre. Aber er borgte sie so lange den Nachbarn, die viel Arbeit und wenig Futter für sie hatten, bis sie hinfiel. Wenn sie morgen nicht aufzustehen vermag, soll sie abgeschlachtet werden. Jung und alt freut sich nun schon auf das Fleisch, welches ja der Richter schandenhalber nicht für sich allein behalten kann. Und die alte Bumba hat noch eine Ziege. Das Vieh will nicht viel weniger als eine Kuh. Der Alten wird es schwer, die viele fette Milch in ihrem Magen unterzubringen, aber sie schenkt keinem Menschen einen Tropfen davon. »Ich mein' es Euch gut, wenn ich Euch nichts gebe«, sagt sie ganz ernsthaft zu den Bettelnden. »Je früher Ihr verhungert, desto besser für Euch, denn verhungern müsst Ihr doch.« Selbst ihrer Schwestertochter gibt sie nichts für deren kranken Knaben. »Lass ihn sterben«, sagt sie. »Es ist besser, wenn er jetzt stirbt, als wenn ihn später die Herren peinigen und morden. Es wäre gut, wenn alles stürbe, was zur Knechtschaft geboren ist.«

Man darf nicht niederschreiben, was die alte Bumba spricht. Im Vergleiche zu ihr ist der Teufel ein Schaf. Der Isprawnik wollte sie schon einmal totpeitschen lassen. Aber da redete sie ihm so unerhört schandhaft zu, dass er glaubte, sie müsse ein Narr sein. Darum ließ er sie laufen. Der junge deutsche Dorfschulmeister schreibt heimlich auf, was er von ihr hört, und er meint, wenn ein Mensch kein Narr ist, so ist dieser Mensch die alte Bumba.

Der Ortsrichter gibt ihr auch in vielen Dingen recht, obwohl er sich das den Herren gegenüber nicht anscheinen lässt. Gestern hatte er aber doch einen Streit mit ihr. Sie wollte die Leute von der Aussaat des Winterkornes abreden. »Euch hungert und Ihr gebt Euer letztes Korn der Erde!« schrie sie. »Ihr sorgt für das nächste Jahr, anstatt für heute und morgen.«

»Lasse sie säen«, sagte der Richter. »Solange sie säen, hoffen sie noch.«

»Und, solange sie hoffen, irren sie«, entgegnete die Alte. »Sie haben immer auf eine fröhliche Ernte gehofft. Und immer haben die Herren geerntet. Und sie haben doch immer wieder gesät. Endlich setzt die Hungersnot diesem Narrenwerke ein Ziel, und das ist gut. Sie werden alle hinfallen, ehe sie die Saat keimen sehen.«

»Gut«, sagte der Richter. »So werden sie doch mit dem Bewusstsein hinfallen, für diejenigen gesät zu haben, die arm und hungrig aus dem Kriege heimkommen. Die modernden Hände derjenigen, die gesät haben, werden von den Erntenden geheiligt werden.« »Geködert werden«, verbesserte ihn die Alte. »Die Herren werden höhnend ernten wie immer. Es wäre doch besser, die heimkehrenden Krieger fänden die Äcker unbestellt und müssten das Brot einmal nicht dort suchen, wo es wächst, sondern wo es gespeichert liegt.«

»Sei still«, sagte der Richter. »Die Speicher werden sich durch ein Wunder auftun, ehe sie der Hunger sprengen muss. Ich habe gewisse Zeichen dafür. Eines, von dem ich zu Dir reden will, ist dasjenige, dass morgen die Fürstin Anna Katharina in unser Dorf kommt. Sie hat von der Hungersnot gehört.«

»So? Hat sie?« brummte die Alte. »Das ist freilich ein Wunder, dass so schöne Ohren etwas so Hässliches hören. Aber Deine Anna Katharina wird die Hungersnot nicht enden.«

»In unserem Dorfe wohl.«

»Nein. Am allerwenigsten in unserem Dorfe.«

Der Richter lachte. »Von Dir wird sich niemand daran hindern lassen, von dieser großen Wohltäterin etwas anzunehmen.«

»Vielleicht doch«, meinte die Alte. »Wer Dir für Deine Freundschaft mehr gibt, der hat sie, nicht wahr?«

»Allerdings«, gestand er. »Gibst Du mir vielleicht mehr dafür als die Fürstin?«

»Ich nicht. Aber gestern ist einer zu mir gekommen, der Dich und die Dorfleute der Fürstin vor der Nase wegkaufen will.«

Da wusste der Richter, wessen er sich zu versehen hatte.

Leo, der Tochtersohn der Alten, war gestern in das Dorf gekommen. Man hatte den seltsamen jungen Menschen hier noch nicht gesehen. Aber gestern hörte man ihn plötzlich in der Hütte der Alten seine Geige spielen. Wer jemals von ihm erzählen hörte, erkannte ihn gleich an seinem Spiele. Es war unmöglich, dass ein anderer so spielen konnte. Die Leute umkreisten die Hütte und brannten gleich vor Begierde, den Menschen in Wirklichkeit zu sehen, von dem man bei diesem Spiele träumen musste. Aber er ließ sich nicht blicken. Und ungeladen in die Hütte der Bumba zu treten, war nicht ratsam. Die Alte besaß keinen Funken Gastfreundschaft. Am Abend wollte man aber einige wildfremde Menschen gesehen haben, die aus der Waldwildnis kamen und in der Hütte verschwanden. Leo war noch nie zuvor bei seiner Großmutter gewesen. Die beiden sahen sich gestern zum ersten Mal in ihrem Leben. Er war der einzige Sohn ihrer Tochter Mascha, die in Sibirien starb. Mascha hatte ihn in Moskau kennen gelernt, wohin sie als Dienerin des Gutsfräuleins kam. Die Liebe der beiden ließ sie auch in Sibirien miteinander glücklich sein. Dort in der kalten arktischen Nacht in der bitteren Armut ward ihnen ihr schöner, feiner Sohn geboren, der dem Leben des unglücklichen Freiheitsdichters das letzte Licht wurde, als man Mascha in Schnee und Eis begrub. Schon der vierte Winter der Verbannung hatte sie umgebracht. Leo konnte sich seiner Mutter nur traumhaft erinnern.

Die Verbannten liebten und hegten ihn wie ihren größten Schatz. Sie verehrten den alternden Dichter wie einen Heiligen und übertrugen diese Verehrung auf sein Kind. Der Alte erzog den Knaben für die Demut und die Freiheit zugleich. Er legte alle seine glühenden, blühenden Lieder in diese junge Seele. Freilich, diese Lieder durfte man dort nicht singen. Aber Leo wusste sie bald auf einer alten Geige zu spielen, die ihm ein ahnungsloser Aufseher schenkte. Er verstand aus seinen Tönen Worte zu machen, die machtvoll in jedes Herz drangen. Er wurde mit seiner Geige den Verbannten der letzte Engel und der letzte Prophet. Es fiel ihm schwer, von ihnen zu gehen, als der alte Dichter starb. Aber er hatte dem Sterbenden versprochen, dessen Lieder in die Welt zu tragen. Als er seine raue Heimat verließ, wurden aber durch die Verwendung einer einflussreichen Künstlerin einige junge Leute frei, die wegen Volksaufwiegelung in das Bergwerk gekommen waren. Unter ihnen befand sich auch die Studentin Maria Skalin. Leo hatte dieses seltsame Mädchen durch eine lange Zeit jeden Tag gesehen, wenn es mit den anderen Sträflingen vom Bergwerke in das Gefängnis geführt wurde. Er setzte sich gerne an den Weg dieser Unglücklichen und spielte ihnen ein Lied.

Einmal war Maria Skalin plötzlich vor ihm niedergefallen und hatte seien Füße geküsst, wofür sie vom Aufseher einen tüchtigen Hieb bekam. Seither durfte auch Leo nicht mehr an dem Wege der Sträflinge spielen. Der erste Gang der Freigewordenen galt jetzt dem Dichtersohne. Er erfuhr nun, mit welcher Schwärmerei sie an ihm hingen. Zwei junge Männer zeigten sich ganz besonders für ihn begeistert. Sie trugen ihm auf eine so feine und dabei eindringliche Art ihre Freundschaft an, dass er in seiner Schlichtheit kaum geziemend darauf zu antworten wusste. Sie wollten nun mit ihm gehen, sein Führer in der ihm fremden Welt sein und ihr ganzes Leben seinen Diensten weihen.

»Wir wissen nichts Besseres zu tun, als Dich zu begleiten, wenn Du durch unser Vaterland ziehst, um die Freiheitslieder Deines Vaters zu spielen«, sagten sie. »Du brauchst zur Erfüllung Deiner Mission unsere Freundschaft, und wir weichen nicht mehr von Dir. Andere könnten Dich an Dir und an Deinem wahren Lebenszwecke irre machen. Du bist bestimmt, die Menschen mit Deinen Liedern zur Revolution zu entflammen, die wir nicht predigen dürfen.«

Leo wäre gern allein gegangen, aber sie ließen nicht von ihm ab und übten einen Bann auf ihn aus, dem er sich nicht zu entziehen vermochte. Auch Maria Skalin folgte ihnen. Sie war die Braut des einen, Alexander Tscherows, mit dem sie drei Jahre lang an einem Karren zog. Die Gefangenschaft hatte diese Menschen nicht im Mindesten zermürbt, sondern sie in ihrem Hasse gegen die Gewalthaber erst recht bestärkt. Sie wollten nun Rache nehmen und erblickten in Leo ihr erstes Werkzeug. Bei dem Volke fanden sie gleich das erwünschte Verständnis. Die Konzerte Leos wurden zu politischen Versammlungen, gegen welche die Polizei nicht gut einschreiten konnte. Leo fühlte bald, dass seinem Spiele auch solche zujubelten, die es in Wirklichkeit gar nicht verstanden, und er fühlte bald, dass sich Menschen seine Freunde nannten, mit welchen er nichts gemein haben wollte. Nach einem jeden Konzerte pflegten alle Zuhörer zu ihm zu kommen und ihm während eines Kusses die Worte zuzuraunen: »Ich habe Dich verstanden und werde Dir folgen, wenn Du rufst.« Er sah, dass ihn seine drei Freunde zu etwas anderem machten, als er wollte, und kam sich vor wie in einem wüsten Traume. Aber er war zu schwach, sich gegen den Willen der drei leidenschaftlichen Menschen aufzulehnen. Sie maßten sich Rechte über ihn an, die er ihnen nicht nehmen konnte. Als sie auf der Reise an dem Heimatorte seiner Mutter vorüber kamen, hatte er das Verlangen, hier einige Tage ausruhen zu dürfen. Seine Freunde folgten ihm aber auch nach Kenow und zu seiner Großmutter. Er kam der alten Bumba nun gerade recht, und sie sagte es ihm auch gleich.

»Gut, dass Du gekommen bist. Denke Dir nur, die Dorfleute wollen jetzt aus einer Hand fressen, von welcher sie nur immer geschlagen wurden. Morgen kommt die Fürstin Anna Katharina, um die Hungersnot zu sehen und das Elend mit einem Bissen hinzufristen. Wirklich helfen will sie doch nicht. Es liegt doch nur ledig Grausamkeit in dem Wohltun der Reichen. Wer wohltun will, kann nicht reich bleiben. Das ist kein gutes Werk, das man zu seiner eigenen Verherrlichung und zur Erhöhung seines Stolzes tut. Die Fürstin mag sich tatsächlich damit schmeicheln wollen, uns eine Helferin zu werden, aber wir wollen ihr zeigen, dass das noch lange kein wirklicher Wohltäter ist, der sich mit dem Glanze eines solchen zu umgeben vermag. Sie soll hier gedemütigt werden, wie sie es verdient und alle von Ihresgleichen. Die Dorfleute sollen einmal zeigen, dass sie auch ihren gerechten Menschenstolz haben dürfen. Sie sollen den gereichten Bissen nicht annehmen. Da wird sie bei einem Funken Verstandes erkennen müssen, was an ihr und an ihrem Wohltun ist. Wir wollen sie recht schön heimschicken, diese edle Fürstin. Was ich dazu von Deinem verdienten Gelde nötig habe, wird wohl angewendet sein, glaube mir das.«

»Nimm davon, was Du brauchst, nimm alles«, sagte Leo. Es war ihm nur darum zu tun, die Hungersnot zu lindern, nicht aber um der Fürstin feindselig zu begegnen. Er vermochte Menschen, die er nicht kannte, nicht im Vornhinein mit seinem Hasse zu verfolgen. Seine drei Freunde, welche den reichen Erlös der Konzerte verwalteten, waren mit Freuden dabei, der Fürstin die böse Zurückweisung widerfahren zu lassen. Die Bumba nahm einen beträchtlichen Teil des Geldes und ging damit herum. Und wer von ihr etwas annahm, versprach ihr, morgen von der Fürstin nichts zu nehmen. Die meisten nahmen auch wirklich lieber von ihr als von der Fürstin und freuten sich darauf, die Letztere abweisen zu können. Am Abend des Tages umscharten sie das Häuschen der Alten und wollten Leo sehen. Da kam er auf das Drängen seiner Freunde heraus und spielte den Leuten ein Lied. Und diese einfachen Menschen verstanden ihn. Sie fielen vor ihm nieder wie vor einem Heiligen. Die Fürstin kam am nächsten Mittag. Der Richter hatte die Leute gebeten, Kränze auszuhängen, aber sie taten es nicht. Er wollte auch, dass sie in ihren guten Kleidern die Fürstin empfingen. Aber sie blieben in ihren Werktagslumpen. Es gab sich niemand dazu her, bei der Anfahrt der hohen Dame die drei Böller abzuschießen. Er musste das selber tun und hatte es dann eilig, rechtzeitig an den Wagen zu kommen, als dieser stehen blieb. Die Fürstin kam mit der Gutsfrau, bei welcher sie einige Tage lang als Gast zu verweilen gedachte. Sie hatten sich ihren Empfang im Dorfe tatsächlich hübscher vorgestellt. Außer dem Richter kam niemand zu dem Wagen. Die Leute waren an den Fenstern und Türen, als ob es etwas Lustiges zu sehen gäbe.

Die Fürstin war eine Schönheit. Aus ihrem feinen Gesichte sprachen Gemüt und Geist. Sie schien eine Weile erschrocken und erstaunt.

Aber die Gutsfrau fuhr den Richter gleich in hellem Zorne an.

»Warum hast Du die Leute nicht bestellt?«

»Ich habe sie bestellt.«

»Warum kommen sie nicht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich will sie selber fragen gehen«, sprach die Fürstin und verbot es der Gutsfrau und dem Richter, ihr zu folgen. Sie stieg aus dem Wagen und ging auf eine Hütte zu, vor welcher einige Weiber und Kinder standen.

»Ihr wisst doch, weshalb ich gekommen bin?« fragte sie.

»Ja«, entgegnete eine Alte. »Wir wissen es ganz gut, weshalb Du gekommen bist.«

»Euch geht es schlecht, nicht wahr?«

»Ja, recht schlecht. Wenigstens bis jetzt ging es uns schlecht genug. Und Du kommst spät mit Deiner Frage.«

»Ich will etwas zur Linderung Eurer Not beitragen«, sagte Anna Katharina.

»Wir nehmen nichts von Dir«, sagten die Weiber und gingen von der Fürstin fort. Sie war von den einfachen Worten wie von Keulen getroffen.

»Ich habe Euch nichts getan«, verteidigte sie sich schon hinter dem Rücken der Weiber. »Ich nicht. Oder doch – doch?« Ihr Blick fiel auf einige hohläugige, elend aussehende Kinder, die neugierig stehen geblieben waren. Die Kleinen sahen teils verstört, teils verwundert auf sie.

»Gewiss hast Du uns viel getan«, sagte vorwurfsvoll ein kleiner Junge. »Weil Du eben für Tausende isst. Du und die Deinen, ihr esst ein jedes für Tausende, sagt Mutter. Und darum müssen wir hungern. Schäme Dich, so viel zu essen. Pfui!« Und als nun die Kinder die Hilflosigkeit der armen Fürstin sahen, wiederholten sie alle mit Verachtung das »Pfui! Schäme Dich!«

Dann fuhren sie fort. »Die frisst für Tausende und will dabei fein sein.«

»Aber Euch habe ich doch nichts genommen«, wandte sie schüchtern, bereits den Tränen nahe, ein.

»O doch, doch«, behaupteten sie. »Was Du mehr nimmst, als Du sollst, das nimmst Du den Hungernden, sagt Vater. Und Gott spricht: Ich habe Dir nur einen Magen für Dich, aber ein Herz für alle gegeben. Verstehst Du das? Hast Du denn keine Eltern, die Dir das sagen?«

So und noch viel stärker redeten sie in ihrer Unschuld auf sie ein. Und sie setzte sich auf einen Holzklotz, schämte sich und weinte. Als die Stimmen um sie verstummt waren, tönte ein wundersames Geigenspiel an ihr Ohr. Es hatte sie in ihrem ganzen Leben nichts so ergriffen, getröstet und erhoben als dieses Spiel, und sie wusste gleich, dass es dem galt, was sie fühlte. Sie eilte den Tönen entgegen, stieß eine morsche Brettertür auf und stand dann vor Leo. Und nach einem einzigen Blick in seine Augen lag sie vor ihm auf den Knien und presste ihr Gesicht an seine Füße, wie damals das kettenbeladene Weib in Sibirien.

»Das Lied der Freiheit ist auch das Lied der Versöhnung«, sprach sie dabei. »Und Du spielst es – sonst niemand. Du bist ein Heiliger. Und Du erbarmst Dich meiner.«

Er erbarmte sich wirklich, hob sie auf, nahm sie an seine Brust und küsste sie. In ihm war nur reines Erbarmen. In sie aber kam die Liebe. Das sah und erkannte Maria Skalin, die heimlich in die Stube getreten war. Sie riss die Fürstin aus seinen Armen. »Berühre ihn nicht«, sagte sie. »Tue Deine schlechten, räuberischen Hände weg von dem Reinen und Gerechten.« Und sie stieß die Fürstin aus der Stube.

Dann stand Maria mit wutglühenden Blicken Leo gegenüber.

»Du liebst sie!«

Da regte sich Leos Unwillen gegen das in der Leidenschaft rücksichtslose Weib. Obwohl er für die Fürstin noch durchaus nicht das empfand, dessen ihn Maria verdächtigte, sagte er doch halb aus Trotz: »Ja, ich liebe sie. Sie ist auch wohl eher liebenswert in ihrer Erkenntnis, als Du in Deinem blinden Zorne.«

»Das hättest Du mir nicht sagen sollen«, sprach Maria. »Du ahnst doch, wie ich Dich liebe – oder nicht?« Leo ahnte ihre Liebe schon seit ihrer ersten Begegnung. Und er fürchtete sich vor dieser Liebe. Maria schien ihm nicht sanft und gut genug. Er hielt es für ein Glück, dass sie schon die Braut eines anderen war. Nun empörte es ihn, wie sie das alte Verhältnis über den Haufen warf.

»Schweig von dieser Liebe, wenn ich Dich nicht verachten soll«, sagte er. »Denk an die Treue, die Du Alexander Tscherow schuldig bist.«

»Der weiß längst alles«, ertönte da eine dritte Stimme. Alexander war in die Stube getreten. »Ich und meine Braut sind immer im Klaren miteinander gewesen. Nur insofern nicht, dass sie immer noch ein wenig auf Deine Liebe hoffte, während ich wusste, dass sie mir bleiben würde. Auf Dich konnte und durfte ich doch nicht eifersüchtig werden. Glaube mir, wenn Du sie gewollt hättest, wäre ich willig zurückgetreten. Dir hätte ich alles geopfert. Aber ich wusste, dass Du sie nicht willst. Und dass sie Dich liebt, das verzeihe ich ihr. Eine andere Liebe würde ich ihr nicht verzeihen. Das soll Dir sagen, wie ich Dich selbst liebe.«

Und nach Alexander schloss ihn der andere der Freunde, Paul Draschnor, der ebenfalls eingetreten war, in die Arme.

»Zwischen uns darf aus keinem Grunde eine Feindschaft aufkommen!« sagte Paul. »Wir müssen alle unsere eigenen Interessen demjenigen unserer Freundschaft unterordnen. Das ist unser erstes Prinzip, durch das wir auch unseren großen Sieg erreichen werden. Aber Du bist uns für diese Freundschaft die gleiche schuldig. Und weil Du uns durch nichts so schmählich als durch irgendeine Versöhnlichkeit gegen die Fürstin, welche doch hier die leibhaftigste Repräsentanz unserer Todfeinde ist, verraten kannst, so fordern wir, dass Du gut machst, was Du da bereits an uns und an Dir selbst gesündigt hast. Du hast die Fürstin aufgehoben und geküsst. Du hast damit das verziehen, was uns die Ihrigen angetan haben. Dabei wollen wir es nicht bewenden lassen. Das schwören wir bei allem unschuldigen Blute und bei dem Angedenken Deines Vaters. Du wirst in dem Wahne hinziehen, Dich versöhnt zu haben. Sie soll erfahren, dass Du Dich an Dir irrtest und den Irrtum bereust, dass Du sie nicht lieben, sondern hassen willst.«

Leo schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, das wäre ja lauter Lüge. Ich will sie gar nicht hassen. Ich kann überhaupt nicht hassen wie ihr.«

»Das ist traurig«, sprach Alexander. »Aber wir haben gottlob das Recht, Dich mit allen Mitteln zu dem Widerrufe jenes Versöhnungsaktes zu zwingen. Wir dürfen Dich als Deine berufenen Freunde und Wächter nicht vergessen, wenn Du Dich selber vergisst. Ehe wir Dich durch Deine wahnsinnige Güte an unseren Feinden zu Schanden werden lassen – eher töten wir Dich.«

»Ja!« wiederholten nun Paul und Maria. »Eher töten wir Dich.«

»So tut es nur!« sagte Leo. »Ich werde nicht anders, als ich bin, und widerrufe nichts, was mein Herz billigt. Die Fürstin hat meines Erbarmens bedurft, und es soll ihr zugutekommen.«

Da wurde der Eifer der drei Verbündeten furchtbar groß und wild. Und Leo brachte sie vollends zur Raserei, als er sich ihrem Begehren standhaft widersetzte. Sie waren lange unschlüssig, was sie nun mit ihm anfangen sollten.

»Wenn doch unsere Liebe für Dich Feuer würde, in dem wir Dich verbrennen könnten!« rief Alexander verzweifelt aus.

Und Paul packte ihn, der ihm bisher ein Heiliger gewesen war, in einem Anfalle von Tollwut an und rief:

»Willst Du gehorchen oder nicht?«

Aber Leo blieb bei seinem Willen, und als sie ihn noch viel fanatischer bedrängten, sagte er sich in hellem Zorne mit recht beredten Worten von ihnen los. Aber sie behaupteten Ansprüche an ihn zu haben, die er durch keine Gewalt zunichtemachen könne, und schwuren, ihm nimmermehr die Freiheit zu geben, nach der es ihn nun verlangte.

»Du gehörst uns mit Leib und Seele!« sagten sie. »Und ehe wir Dich bei unseren Feinden sehen oder nur mit ihnen fühlen lassen wollen, töten wir Dich. Ja, Du musst nach unseren Gesetzen sterben, wenn Du uns verraten und nicht für unsere Sache leben willst.«

Da lachte er sie aus und lief durch die Hintertür der Hütte in den nahen Wald. Sie folgten ihm. Weit drinnen in der schon nächtigenden Wildnis holten sie ihn ein. Alexander stürzte sich mit einer wahren Bärenwut auf ihn und riss ihn nieder. Dann banden sie ihm mit ihren Leibgurten Hände und Füße.

»Du sollst sehen, dass Du nicht Dein eigener Herr bist, dass unser Recht auf Dich größer ist als Dein eigenes auf Dich.«

»Davon werdet Ihr mich nie überzeugen!« sagte er.

»Du bist Blut von dem Blute des Dichters, der unser Eigentum war, und was sich in Dir gegen uns empört, das dürfen wir abtöten.«

Leo fürchtete nun wirklich für sein Leben, das er nicht wenig liebte. Er kannte den schrecklichen Fanatismus dieser drei Menschen.

»Wie kann man so roh und grausam sein und dabei die Freiheit predigen wollen!« rief er. »Wie durftet Ihr Erbärmlichen Euch meine Freunde nennen!«

»Wir sind Deine Freunde. Du aber bist Dein Feind«, sagten sie. »Willst Du schwören, uns zeitlebens getreu zu bleiben und mit keinem Gedanken mehr von unserer Gesinnung abzufallen?«

»Nein«, sagte er. »Eure Gesinnung ist Wahnsinn und Tollwut. Ich möchte Euch bedauern, muss Euch aber verabscheuen. Ich kann nicht anders.«

»Glaubst Du denn nicht daran, dass Du damit Dein Todesurteil sprichst?« fragte ihn Alexander.

»O gewiss«, sagte Leo. »Ihr glaubt ja daran, dass man durch Hass und Mord zur Freiheit kommt und macht den Mord zu Eurem Geschäft. Ich aber glaube, dass nur die Nächstenliebe zur Freiheit führt. Es ist entsetzlich, dass Ihr Euch nicht einmal meiner erbarmen könnt. Ihr wollt mich geliebt haben!«

»Wir lieben Dich«, sagte Maria Skalin. »Darum lassen wir nicht von Dir ab. Versprichst Du, alle Versöhnlichkeit gegen unsere Feinde, die auch keine Versöhnlichkeit gegen uns kennen, aus Deinem Herzen reißen zu wollen?«

»Nein.! Ich will mich mit allen versöhnen, nur mit Euch Elenden nicht!«

»So musst Du sterben«, sagte Alexander. »Gib mir Dein Messer, Paul. Ich will das traurige Werk, welches von der Notwendigkeit geheiligt wird, vollbringen.«

»Warte noch«, sagte Paul. »Vielleicht lässt er sich doch noch zu dem Richtigen zwingen. Ich will es versuchen. Es tut mir unaussprechlich leid, ihn peinigen zu müssen, aber es ist als letztes Mittel vor dem Äußersten sonst nichts möglich.«

Paul schleppte nun abgefallene, dürre Äste zusammen und brach das stärkere Holz davon in Stücke, welche er mit einem Stein in den Erdboden trieb. Alexander und Maria ahnten gleich, was er damit wollte, und halfen ihm bei der Arbeit.

Nachdem sie ein Stück Boden dicht mit den Hölzern besteckt und dieselben obenauf zugespitzt hatten, nahmen sie Leo die Kleider vom Leibe und brachten ihn auf das Stachellager. Sie drückten ihn darauf nieder, dass ihm die Spitzen in das Fleisch drangen.

»Versprichst Du willig zu werden?« fragten sie ihn. »Nein!« schrie er, wobei ihn schon Schmerz und Wut zum Weinen brachten. Da schleppten sie Steine herbei und beschwerten mit denselben seinen Leib. Dann steckten sie dürres Reisig unter die Pfähle. Ehe sie es anzündeten, quälte ihn Paul noch mit der Spitze seines Messers. Dabei hielten sie immer ihre wild glühenden Augen auf ihn geheftet und befragten ihn, ob er sich bekehren wolle.

Aber er wollte lieber jeden Tod erleiden als mit diesen Menschen weiterleben. Da zündeten sie das Reisig an. Als Leo vor Schmerz zu brüllen begann, wollte Paul seinem Leiden ein schnelles Ende machen und ihn mit einem Messerstich töten.

Aber da hielt ihm Maria Skalin den Arm. »Lass ihn verbrennen«, sagte sie, und man sah in ihren Augen jetzt deutlich ein grausames Rachegefühl. Und Alexanders Augen leuchteten ähnlich wie die ihren.

»Ja, lass ihn verbrennen«, sagte auch er.

Aber da traf Paul die beiden mit einem strafenden Blick und stieß Leo das Messer in das Herz.


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