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Die Hauserin

Eine scheltende Männerstimme klang aus dem Hausflur. Unter dem Werkstatt-Tor, das durch zwei Fenster von der Haustür getrennt war, erschienen die beiden Wagnergesellen, im Schurzfell, der eine mit dem Hammer, der andere mit dem zweihändigen Schnitzer unter dem Arm; und während der jüngere aufmerksam der scheltenden Stimme lauschte, brummte der ältere: »Es scheint, die Alte hat wieder ebbes angstellt!«

Die Stimme im Hausflur klang immer zorniger und wurde verständlich: »So was! Dös wär doch aus der Weis! Wann d' meinst, mein Haus wär a Herberg für so a Bagasch, da hast mit'm Falschen grechnet! Und daß wir der Gschicht gleich an End machen – marsch da!«

Man vernahm einen kreischenden Schrei. über die Türschwelle stolperte ein altes Weib, fuchtelte mit den Armen und plumpste der Länge nach in den voreiligen Oktoberschnee, daß Rock und Unterrock emporflogen bis über die blaubestrumpften Kniekehlen.

Während die Haustür zugeschlagen wurde, verschwanden die Gesellen lachend in der Werkstätte, und zwei Buben, die auf der Straße schlitterten, rannten so erschrocken davon, daß die Schlipsenden flatterten und ihr Bockschlitten hohe Sprünge machte. In sicherer Entfernung hielten sie an, guckten nach der kostenfrei über die Schwelle beförderten Alten, machten lange Nasen und spotteten: »Ätsch! Ätsch! Aussigschmissen! Aussigschmissen!«

Unter Verwünschungen erhob sich die Alte, schüttelte den Schnee vom Rock und streifte mit scheuem Blick die Fenster und Türen der Nachbarhäuser; außer den Buben und den beiden Gesellen, deren lachende Gesichter aus dem Werkstattfenster grinsten, schien niemand ihre Luftreise beobachtet zu haben.

Sie humpelte auf die Haustür zu, merkte, daß drinnen der Riegel vorgeschoben war, und verzog das breite, zahnlose Maul. Ein paar Augenblicke stand sie unentschlossen auf der Schwelle; dann trat sie auf ein Fenster zu und schielte in die Stube.

Drinnen sah sie den jungen, seit einem Jahr verwitweten Wagnermeister Jörg Hohrmiller, ihren Vetter und Spediteur, sehr mißmutig auf und nieder schreiten. In Sorge streifte sein Blick die neben dem Ofen postierte Wiege, in der sein pausbäckiges Büberl lag. Den Schnuller im Munde, guckte das Kind mit großen Augen hinauf zur weißgetünchten Stubendecke.

Der Wagner oder, wie man im Dorfe sagt, der Wanger blieb vor dem Tische stehen und durchstöberte die Röcke, Mieder, Strümpfe und Halstücher, die da lagen. Das alles hatte der Wangerin gehört, die nach kurzer und nicht sehr glücklicher Ehe eines raschen Todes verstorben war, Und die Alte, die der Wanger nach dem Tod seines Weibes als Hauserin und Kindsfrau zu sich genommen, hatte diese Erbstücke in unbelauschten Stunden so sicher in ihrer Truhe versteckt, daß es ihr wie ein schreiendes Unrecht erschien, als der Wanger sie vor einer halben Stunde bei einer Vermehrung ihrer schön angewachsenen Sammlung ertappte und ihre Truhe umstülpte – ein Vorgang, der in der kostenfreien Beförderung über die Hausschwelle einen dramatischen Abschluß fand.

Die Alte vor dem Fenster begann zu frieren. Sie stand mit den Strümpfen im kalten Schnee, weil sie bei dem Widerstand, den sie der kräftigen Faust des Wangers entgegengesetzt, im Hausflur ihre beiden Pantoffeln verloren hatte.

Schüchtern klopfte sie mit dem Knöchel an die Scheibe, und als sie merkte, daß der Fensterflügel nachgab, drückte sie ihn vollends auf, faßte die eisernen Stäbe und schob den grauen Kopf durch das Gitter. »Wanger, seids doch gscheid!« klagte sie weinerlich. »Machts die Tür wieder auf! Der Schnee is so viel kalt. Mir gfriert schon die ganze Ruckseiten.«

Jörg schenkte ihren Worten nicht das geringste Gehör.

Immer eindringlicher mahnte die Alte, pochte auf ihre Verwandtschaft, auf ihre Sorge für das Kind und machte geltend, daß es für den Wanger eine gesalzene Doktor- und Apothekerrechnung absetzen könnte, wenn sie sich im Schnee einen Rheumatisi holen würde. Keine Bitte, keine Drohung wollte fruchten.

Da wurde die Alte, die bald den einen, bald den anderen Fuß unter die Röcke hinaufzog, sehr verdrießlich und kreischte: »So? Wann's schon so sein soll, daß wir ausanand kommen, so laßts mich wenigstens den Kufer holen und zahlts mir den schuldigen Lohn aus!«

»Ah ja!« sagte der Wanger. »Dös kann gschehen!« Gleich darauf klirrte der Riegel, und die Haustür öffnete sich.

Die Alte trat in den Flur. Während sie ihre Pantoffeln suchte, ließ sie, um das harte Herz ihres Vetters zu rühren, die Zähne klappern und schüttelte sich ein paarmal wie eine Ente, die aus dem kalten Wasser stieg. Dann fing sie sanft und schüchtern zu reden an: »Schauts, Vetter, dös is doch net recht –«

»Sei stad, Zenz! Mach, daß d' auffikommst, und räum deine Zwetschgen zamm!«

Seufzend kletterte Zenz über die steile Treppe hinauf, und der Wanger folgte. Als die beiden im Stübchen der Alten anlangten, blieb Jörg unter der Türe stehen, während Zenz die auf dem Boden liegende Wäsche zusammenlas und aus dem Kasten ihre Gewandstücke herbeitrug, um Stück für Stück in die blau und weiß bemalte Truhe zu packen. »Gewiß, Vetter, ös tuts an Unrecht an mir! Was wär jetzt da dranglegen, an dem bißl Gwand von der Wangerin selig? Ös könnts es ja doch net anziehn! Und eh dös Zuig im Kasten vergrabelt, müßts doch a bißl bedenken, daß ich an arme, verlassene Wittib bin?«

»Dein Madl is im Dienst, dein Bub hat sein schöns Auskommen als Schreinergsell, und du selbst hast 's Geld von deim verkauften Häusl am Zins liegen. Da wird's net so weit her sein mit der verlassenen Armut.«

»Aber Vetter?«

»Nix Vetter! Einpacken! Hättst a Wörtl gsagt, ich wär auf dös bißl Zuig net angstanden. Aber daß man eim 's Sach aus'm Kasten forttragt, dös geht doch net an. Freilich, du bist allweil so gwesen.«

»Ah na!«

»Ah ja! Und was amal a Dacherl [Dohle] is, dös wird kein Stieglitz nimmer. Ich kann kein' Menschen im Haus haben, vor dem man Kisten und Kasten versperren muß.« Der Wanger warf mit dem Fuß den Deckel der gepackten Truhe zu und rief über die Treppe hinunter: »Veit! Wastl! Tragts den Kufer in d' Werkstatt abi!«

Die zwei Gesellen kamen, und Wastl, der jüngere, sagte lachend: »Heut kauf ich mir an Extramaß, weil dö alte Bißgurn endlich aus'm Haus kommt!«

In der Stube drunten holte Jörg aus dem Wandschrank einen Lederbeutel hervor und zählte der Alten den Lohn in Markstücken auf den Tisch.

»Vetter! Überlegts es enk! Denkts an dös arme Würmerl, dös kein' Menschen hat, wann ich mich net drum annimm. Bin ich amal draußen bei der Tür, so komm ich nimmer zruck!« Warnend hob sie den Zeigefinger. »Gwiß net!«

»Gott sei Lob und Dank. Dös Versprechen mußt halten. Da schnaufen wir auf im Haus.«

»So! Is schon gut!« Ohne Gruß und Abschied klapperte die Alte in ihren Pantoffeln der Türe zu, die sie zornig hinter sich ins Schloß warf.

Der Krach schien das Kind erschreckt zu haben. Leise begann es zu weinen. Jörg sprang zur Wiege, suchte unter zärtlichen Worten den Schnuller, tauchte ihn in ein Schälchen mit Zuckerwasser, das neben der Wiege auf der Ofenbank stand, und schob ihn wieder in das Mäulchen, das begierig schnappte.

Obwohl das Kind beruhigt war, blieb Jörg bei der Wiege sitzen und schaukelte.

Das braune, von einem kurzen, gekräuselten Backenbart umrahmte Gesicht des Meisters war noch jugendlich. Jörg hatte noch nicht das dreißigste Lebensjahr überschritten; aber ein männlicher Ernst lag in den stillen Augen. Schwere, unermüdliche Arbeit hatte den jungen Wanger frühzeitig gereift.

Wenige Wochen nach Jörgs achtzehntem Geburtstag war sein Vater einer Krankheit erlegen und hatte dem einzigen Sohn ein stattliches Haus und das einträgliche Geschäft hinterlassen. Als der Schmerz überwunden war, hatte Jörg sich mit einer Rastlosigkeit, die man von dem jungen Burschen nicht erwartet hätte, in sein Geschäft hineingearbeitet. Das war vonnöten gewesen. Kurz nach dem Tod des alten Wangers hatte ein früherer Gesell im Dorf eine zweite Wagnerei aufgetan, der viele Kunden zuliefen. Alle kehrten wieder zu Jörg zurück, der besser und billiger arbeitete. Der andere mußte seine Werkstatt wieder zusperren. Vom Morgen bis in die Nacht hatte Jörg mit seinen zwei Gesellen zu tun. So verging ihm Jahr um Jahr. Am Abend nach der Arbeit saß er mit der Mutter beisammen, rechnend oder schwatzend, und am Sonntag machte ihm ein Spaziergang im Wald und über die Acker größeres Vergnügen als der Spektakel in der dunstigen Wirtsstube. Auch zu keiner richtigen Liebschaft hatte er's bringen können, obwohl im Dorf manches Mädel herumging, das den schmucken, fleißigen Burschen gerne genommen hätte.

Jörg war fünfundzwanzig Jahre alt geworden, als seine Mutter zu kränkeln begann. Es wurde immer schlimmer mit ihr. So wenig diese Erkenntnis sie betrübte, so sehr war sie von Sorge um den Sohn erfüllt, den sie gerne geborgen bei einer braven Frau gesehen hätte. Als sie das erstemal davon sprach, hatte Jörg ihr mit fröhlichem Trost die Sorge auszureden gesucht. Immer wieder, erst von Woche zu Woche, dann Tag für Tag begann sie zu drängen. Schließlich sagte er ja. Und nur der Mutter zuliebe geschah es, wenn Jörg eine Wahl traf, die übereilter war als überlegt. Da diente im Dorf bei einem Bauern ein junges Mädel, Franzi mit Namen, ein Geschwisterkind der alten Zenz, deren Mann das früh verwaiste Geschöpf aus seiner Heimat ins Dorf gebracht hatte. Man wußte, daß Franzi fleißig ihre Arbeit tat. Auch hübsch war sie, gut gewachsen. Aber aus dem wohlgeformten Gesichte blickten zwei Augen heraus, die Glanz hatten und doch ohne Sprache waren.

Rascher, als Jörg erwartete, stimmte Franzi seiner Werbung zu. Nach einem Brautstand von drei Wochen war die Hochzeit in Freude gefeiert worden, wobei den jungen Meister nur der Umstand betrübte, daß die kranke Mutter nicht an der Ehrentafel sitzen konnte.

Franzi, wie sie ging und stand, zog in das stattliche Haus. Ein paar Wochen verflossen, wenn nicht in Glück, doch in Ruhe. Den ersten Streit setzte es, als Franzi die alte Wangerin, die ihr einen auf die Wirtschaft bezüglichen Rat mit freundlichen Worten erteilt hatte, scheltend abfertigte. Jörg verwies ihr das, und Franzi spielte die Gekränkte. Als Jörg nach ein paar Tagen die Verstimmung gutmütig auszugleichen suchte, traktierte sie ihn mit Ungezogenheiten. Das Befehlen und Schelten wurde ihre Angewohnheit, der Putz ihre einzige Sorge. Ihr Hochmut brachte sie mit allen Nachbarsfrauen in Zwist, bis schließlich die alte Zenz, die immer im Wagnerhause hockte und die junge Frau mit Schmeicheleien überschüttete, Franzis einzige Freundin blieb. Ihrem Manne ging dieses Leben hart ans Herz. Am bittersten litt darunter seine Mutter, die, was sie für das Glück ihres Sohnes gehalten, in ein unkurables Elend ausarten sah. Und als sie bei ihrer Altersschwäche den Kränkungen erlag, die sie von der jungen Meisterin täglich erdulden mußte, erkaltete in Jörg der letzte Rest von Zuneigung zu seinem Weib. Von nun an ließ er Franzi tun und treiben, was sie wollte, sah nur darauf, daß ihr Geldverbrauch seinen Verdienst nicht überschritt; und selten lächelnd, lebte er ganz in seiner Arbeit.

Erst als sein Weib nach Ablauf des zweiten Jahres einen Buben gebar, wachte auch Jörg wieder aus seiner Schwermut auf und wandte zärtlich sein Herz dem Kinde zu. Und als die Franzi, die nach der Geburt in launenhaftem Eigensinn jede Schonung ihres Körpers außer acht ließ, in eine schwere Krankheit verfiel, von der sie nicht mehr aufstand, betrauerte er sie ehrlicher, als sie es um ihn verdient hatte.

Diesen vergangenen Dingen sann der junge Wanger nach, während er die Wiege des Kindes schaukelte, das eingeschlafen war. Seufzend erhob er sich und räumte die Gewandstücke vom Tische fort. Der Kuckuck in der Wanduhr rief die dritte Nachmittagsstunde. Das war die Brotzeit. Nun mußte Jörg dafür sorgen, daß die Gesellen ihr Bier und später ihr warmes Abendessen bekamen.

Er vertauschte den Hausrock gegen eine Joppe, stülpte das Filzhütl aufs Haar, entnahm der Mischlade einen Laib Brot und verließ nach einem Sorgenblick auf das schlummernde Kind die Stube. In der Werkstätte, in der noch die Truhe der verabschiedeten Alten stand, übergab er das Brot dem älteren Gesellen.

»Grad spring ich ins Wirtshäusl, daß man enk's Bier ummischickt. Und bis siebne laß ich enk drüben's Essen richten. Schau mir halt derweil fleißig nach'm Kind! Wann's aufwacht und grantig wird, bleibst a bißl sitzen dabei. Gelt ja?«

Als Jörg die Wirtsstube betrat, fand er, dem Werktag angemessen, nur wenige Gäste. Im Herrgottswinkel sah er den Wirt bei einigen Dorffaulenzern sitzen, die sich die Zeit mit Zwicken vertrieben, einem Kartenspiel, das, wie der Volksmund sagt, gleich nach dem Stehlen kommt.

Das war keine Gesellschaft, wie Jörg sie liebte. Er schritt einem Tische zu, an dem ein vereinsamter Gast saß, ein alter Mann, der sich durch blaue Mütze und Ledertasche als Briefbote des Dorfes kennzeichnete und dem jungen Meister mit freundlichem Gruß den Krug zum Willkommstrunke geboten hatte.

»Vergelt's Gott!« dankte Jörg, als er nach kräftigem Zuge den Krug auf den Tisch stellte. »Sag, Ürle [Ulrich], wie geht's denn allweil bei dir?«

»Allweil auf zwei Füß, acht Stund lang im Tag. Mir schlafen d' Waden net ein.«

Die Kellnerin brachte dem jungen Meister das Bier. Er ersuchte sie, seinen Gesellen zwei Maß hinüberzuschicken, und gab ihr den Auftrag wegen des Abendessens.

»Seit wann schickst denn du deine Gesellen zum Essen ins Wirtshaus?« fragte der alte Ürle.

»Seit heut. D' Hauserin is mir ausgstanden.«

»Was? Dein Basl? Warum denn?«

Jörg zuckte die Achseln. »Sie is an alts Leut. Da wird ihr halt d' Arbeit z'viel worden sein! Und jetzt sitz ich da mit'm Kind und wär froh, wann ich wieder a verlässige Hauserin hätt.«

»Kreuzsaxen!« Der Alte schlug mit der Faust auf den Tisch. »Allweil bin ich beim Glück um an Zipfel z' kurz kommen. jetzt paßt mir amal ebbes auf der Welt! Mein Madl, d' Vroni – die kennst ja, sie is um drei, vier Jahrln jünger als du –«

Jörg nickte. »Sie is ja mit mir in d' Feiertagsschul gangen.«

»No also! Und die Zeit her war 's Madl beim Einödbauer am Dings droben im Dienst, zwei Jahr lang. A paar Wochen nach deiner Hochzet hat sie sich eindingt. Und gestern auf d' Nacht, was sagst, kommt 's Madl daher, is droben auf und davon gangen, weil ihr der Bauernsohn kei' Ruh mehr lassen hat. So a bravs Madl! Arbeiten tut s' wie a Roß. Und zu die Kinder hat s' a damische Freud. Magst es net haben als Hauserin?« Ürle streckte die Hand über den Tisch hinüber. »Schlag ein! Mir nimmst a Sorg von der Seel. Daß 's Madl bei dir gut ghalten is, dös weiß ich. Und du hast a brauchbare Hilf im Haus.«

Einen Augenblick besann sich Jörg, dann schlug er in die Hand des Alten ein. »Meinetwegen! Sie kriegt, was ihr der Einödbauer zahlt hat. Und daß dö Sach a Sicherheit hat –« Er zog den Lederbeutel und schob dem Alten ein Talerstück zu. »Da nimm! Kannst ihr als Vater 's Drangeld geben.«

»Jessas, dö Freud, dö mei' Alte haben wird!« lachte Ürle. »Die ganz Nacht hat s' gflennt vor lauter Kümmernis. ja, Mensch, da muß ich machen, daß ich heim komm!«

»Grüß mir d' Vroni derweil. Morgen in der Fruh kann s' einstehn.«

»Wohl! Pfüet dich, Jörg! Und Vergelt's Gott!«

»Braucht's net. Ich zahl, und 's Madl schafft.«

Als Jörg nach Hause kam, fand er sein Kind noch schlafend. Während seiner Abwesenheit war die Zenz dagewesen, um ihre Truhe auf dem Schubkarren zur Schmiedin hinüberzuradeln. Sie hätte da ein Stübl gemietet, ließ sie dem Wanger sagen, und wäre jederzeit zu finden.

»Da kann ihr's Warten lang werden!« meinte Jörg. »Der wachst a Hühneraug auf der Geduld.«

Als es Feierabend wurde, zündete er in der Stube die von der Decke auf den Tisch herunterhängende Petroleumlampe an, schob ein paar buchene Holzklötze in den Ofen und stellte für den Fall, daß das Kind in der Nacht hungrig erwachen könnte, ein mit Milch gefülltes Blechschüsselchen in das Bratrohr. Dann setzte er sich an den Tisch und überließ sich den sanften Aufregungen des Bezirkstageblattes für die christliche Landbevölkerung.

Nach gründlicher Beendigung der Lektüre ging er in den Flur hinaus, um nachzusehen, ob Schloß und Riegel in Ordnung wären. Aufs Kochen für sich selber verzichtete er, tauchte die Finger in das Weihwasserkesselchen und besprengte zuerst das schlummernde Kind, dann das eigene Gesicht. Achtsam trug er die Wiege in seine Schlafkammer.

Viel Ruhe fand er nicht. Ein dutzendmal erwachte er und lauschte zur Wiege hinüber. Sooft er einduselte, hatte er einen flinken, dummen Traum. Einmal träumte er, daß er um Wagendeichseln in den Birkenwald gegangen wäre. Und da hörte er, über eine halbe Stunde weit, sein Bübl schreien, rannte heim wie verrückt und öffnete die Stubentür. Überrascht blieb er stehen, die Klinke in der Hand. Auf der Ofenbank, neben der Wege, saß die Vroni, genau so, wie er sie vor zwei Jahren gekannt hatte, mit dem schmächtigen Figürl, mit den großen Augen und den schmalen Wangen, deren Blässe durch das tiefe Braun der Haare noch gehoben wurde. Mißmutig nickte sie ihm zu, ganz wie die alte Zenz, und wollte augenscheinlich etwas sehr Feindseliges sagen, wandte sich aber zur Wiege zurück, weil das Bübl zu Weinen anfing.

Das letztere war nimmer Traum, schon Wirklichkeit. Jörg sprang aus dem Bett, fuhr in die Hose und machte Licht. Tröstend hob er den Kleinen aus der Wiege und suchte ihn durch Schaukeln auf den Armen zu beruhigen. Als dieses Mittel nicht fruchten wollte, nahm er den Leuchter und ging in die Stube hinaus, die besser durchwärmt war als die Schlafkammer. Eben verkündete der Kuckuck die sechste Morgenstunde. Der etwas hilflose Vater holte das Milchschüsselchen aus dem Bratrohr, versuchte den kleinen Schreihals durch ein ausgiebiges Frühstück zu besänftigen und war herzlich froh, als er die schwierige Arbeit vom besten Erfolge belohnt sah. Dabei überhörte er, daß jemand ans Fenster pochte. Erst als er die Wiege aus der Schlafkammer herausgezogen und seinen friedlich gewordenen Sprößling zu neuem Schlafe gebettet hatte, hörte er das Klopfen. Er trat ans Fenster und öffnete. »Wis is denn?«

»Ich bin's, der Ürle!«

»Was willst denn schon in aller Fruh?«

»Bei der Hausmutterei hab ich dir a bißl zugschaut. A sorgsamers Kindsmadl, als d' selber bist, kannst net kriegen!«

Jörg lachte. »Wann d' Wiegen pumpert, lernt einer viel. Aber was willst denn?«

»Sagen hab ich dir wollen, daß d' Vroni kommt, wie's Tag wird. Und was ich fragen will – hast du 's Madl amal betrübt?«

»Ich? Na! Warum denn?« fragte Jörg erstaunt.

»Sie hat mir's schier verübelt, daß ich 's Drangeld gnommen hab. Und es is mir fürkommen, als ob s' dir wegen ebbes bös wär.«

»Ich kunnt mir net denken, warum. Wir waren allweil gut Freund mitanand. Aber halt, ja – in der Feiertagsschul, da hab ich ihr amal im Spaß a Bussel geben. Da hat s' a bißl trutzt mit mir.«

»No, dös wär noch lang net's Gfahrlichste!« lachte Orle. »Und ich hab mir schon fürgstellt, Gott weiß was! Daß aber d' Weibsbilder allweil übertreiben müssen mit söllene Sachen. A bißl Spaß muß der Mensch verstehn. Sonst lauft der allweil umanand wie 's wehleidige Katzl.« Der Alte wanderte durch die weiße Morgenfrühe davon.

Jörg schloß das Fenster, heizte den Ofen, trat in den Flur hinaus und rief über die Treppe: »Veit! Wastl! Siebne hat's gschlagen! Heut müssen wir uns selber d' Suppen kochen!« Er machte Feuer auf dem offenen Küchenherd, setzte in einer Pfanne das Wasser für die Suppe zu und kam dabei zu der Einsicht, wieviel schwierige Arbeit eine Hauserin zu leisten hatte. Er schätzte deshalb die alte Zenz nicht höher ein, beschloß aber in gerechter Erwägung, die neue Hauserin gut und freundlich zu behandeln.

Wastl bot sich als Koch an, und während er auf einem kleinen Brett eine dicke Zwiebel in dünne Scheiben schnitt, standen Jörg und Veit daneben und guckten zu. Auf den Gesichtern der drei Männer lag der rote Schein der Herdflamme, und durch das kleine Fenster stahl sich schon das Zwielicht des werdenden Tages.

Als Wastls Kochkunst ihr Meisterstück zur Vollendung brachte, gingen die zwei andern in die Stube, wo Veit den Tisch zu decken begann und die Weisheit aussprach: »Es ist schon wahr, ohne Weiberleut schaut 's Leben a bißl zahnlucket aus.«

Jörg verschwand in seiner Schlafkammer, um sich vollends anzukleiden. Als er wieder in die Stube trat, trug Wastl die Schüssel mit der dampfenden Suppe auf, und Veit holte den Knecht, der in der Scheune für die drei Milchkühe und die zwei Rosse das Frühfutter schnitt. Als die beiden kamen, sprachen alle vier zusammen den Morgensegen und rutschten in die Bänke.

Wastl teilte die Suppe aus und begann unter Zeichen höchster Befriedigung zu essen. Die andern, als sie den ersten Löffel gekostet hatten, schoben schleunigst den Teller fort. Die Suppe war bis zur Ungenießbarkeit verpfeffert. Wastl wollte das nicht glauben und aß immer zu, bis auch ihm ein Hustenreiz das Wasser aus den Augen trieb, daß er ärgerlich den Löffel in die Schüssel werfen mußte.

Während er von seinen Tischgenossen ausgelacht wurde, öffnete sich die Tür, und in die Stube trat ein hochgewachsenes Mädel mit einem von Gesundheit blühenden Gesicht. »Grüß Gott, Wanger. Da bin ich!«

Jörg erhob sich und betrachtete mit zweifelndem Verwundern das Mädel, das in dem braunen Rock, in dem knappen Mieder mit dem Seidentuch und in dem grünen, mit einem kleinen Buchszweig gezierten Hütl eine so wohlgefällige wie stattliche Erscheinung bildete.

»Kennst mich am End gar nimmer?« fragte das Mädel in einem Ton, dem man eine leichte Verstimmung anmerkte.

»Wann ich net wüßt, du mußt d' Vroni sein, möcht ich fast denken, du bist es net.«

Sie zuckte die Achseln. »D' Leut wachsen sich aus mit die Jahr.«

Jörg, ein bißchen befangen, trat auf Vroni zu, um ihr die Hand zu reichen. »Sag ich dir halt Grüßgott im Haus. Unser Herrgott soll dein' Einstand segnen. Mich kennst. Dö zwei sind meine Gesellen, der Veit und der Wastl. Und dös is der Knecht. Da hast alle beinand, mit denen du hausen mußt.«

»Alle? Da hast dich verrechnet, Wanger!« Vroni ging zur Wiege und strich mit sanfter Hand über das Köpfl des schlafenden Kindes.

Ein Strahl der Freude leuchtete in Jörgs Augen. »Madl, jetzt hast es gwonnen bei mir. Daß wir gut auskommen mitanand, an mir soll's net fehlen.«

Vroni hob das Gesicht. »Mußt mich halt einweisen ins Haus und in d' Arbeit.« Lächelnd sah sie die Suppenschüssel an. »Mir scheint, es pressiert a bißl.«

»Magst net a Schlückl kosten?« fragte Veit und hielt dem Mädel den gefüllten Löffel hin.

»Na, ich dank schön, ich hab schon vom Anschaun gnug.«

»Mußt mich halt bei der Kocherei in d' Schul nehmen«, lachte Wastl; »du schaust so aus, als ob einer ebbes lernen kunnt bei dir.«

Der junge Meister mahnte etwas ärgerlich. »Es is Zeit in d' Werkstatt!« Er wandte sich an Vroni. »Komm! Ich zeig dir dein Stüberl.« Er öffnete die Tür und ließ das Mädel in den Flur treten. »Was is denn mit deim Sach?«

»Draußen im Hof steht schon der Kufer. Ich hab ihn selber herzogen auf'm Schlitten.«

Jörg führte die Hauserin über die Treppe hinauf und zeigte ihr die Kammer der alten Zenz. Es war ihm leid, daß der kleine Raum so unfreundlich aussah. »Mußt dir halt alls a bißl zammrichten. Wann ebbes haben willst dazu, brauchst es nur zu sagen.«

Er öffnete die Türen zu den Gesindekammern, die Vroni in Ordnung zu halten hatte. Über den dichtgefüllten Heuboden führte er sie zu der Leiter, die in die Scheune hinunterging, zeigte ihr das Holzrohr, durch das man Heu und Häcksel in den Stall befördern konnte, und den kleinen Bretterverschlag, in dem die Sensen, Rechen, Sicheln, Heugabeln und Grabscheite verwahrt wurden. Dabei redeten die beiden immer von der Arbeit, ernst und ruhig.

Nun stiegen sie wieder über den Flur hinunter, besichtigten die Küche und den Milchkeller, gingen durch die Wohnstube in Jörgs Schlafkammer und traten ins Freie, um das ganze Haus zu umwandern. Eine Zeitlang standen sie im Gemüsegarten, der vor der Giebelwand gelegen war. Jörg zeigte der Hauserin die mit Schnee bedeckten Beete und nannte die Gemüsesorten, die er anzubauen pflegte. Dann betraten sie durch ein Türchen des Staketenzaunes den Wiesengrund. Einige Tagwerke umfassend, zog er sich eben gegen die sanft ansteigenden Vorberge hin und war mit zahlreichen Obstbäumen durchsetzt, die ihre schneeumfrorenen Aste still emporstreckten gegen den grauen Himmel.

»Da kann's Äpfel geben!« sagte Vroni.

»Gelt, ja! Wo guter Boden is, wachst allweil ebbes.« Und wieder betrachtete der Wanger die Gestalt des Mädels, als wäre das eine ganz unbegreifliche Sache, wie in der kurzen Zeit von zwei Jahren aus solch einem schmalwangigen, schmächtigen Ding eine so kernfeste Person sich herauswachsen konnte.

Sie bemerkte diesen Blick, wurde ein bißchen rot und fragte: »Was schaust mich denn allweil so an?«

»Net gnug verwundern kann ich mich.« Er dachte an seinen Traum. »Erst heut in der Nacht –« Nun war es an Jörg, verlegen zu werden, während er sich verbesserte: »will sagen, gestern am Nachmittag, wie ich mit deim Vater gredt hab von dir, ja, da hab ich mir allweil fürgstellt, wie d' amal ausgschaut hast-« Er sprach nicht weiter.

Sie waren an der anderen Giebelseite des Hauses angelangt, und der Wanger musterte aufmerksam die schlanken, in Spiralen geschälten Birkenstämme, die zu Dutzenden an der Wand lehnten, um zu Wagendeichseln und Leiterbäumen verarbeitet zu werden. »Ja, Madl, arg hast dich vermodelt. Net bloß auswendig. Früher amal bist allweil kameradschaftlich gwesen zu mir. jetzt aber-«

»Was?« fragte sie und sah ihn ruhig an.

»Dös muß sich doch a bißl umdraht haben?« entgegnete Jörg, während er mit dem Fuß den Schnee vom Boden scharrte wie ein Dackl, der sich niederlegen möchte. »Sonst kunnt ich mir riet denken, warum dich so gwehrt hast dagegen, wie dir dein Vater gsagt hat, du sollst zu mir als Hauserin kommen?«

Dem Mädel stieg das Blut in die Stirne. »Wer sagt denn dös?«

»Dein Vater selber hat mir's gsagt, heut in der Fruh.«

»Mein Vater kunnt dein Basl sein, weil er gar so gern tratscht!« platzte Vroni heraus.

»Wär's ebba riet wahr?«

»Lügen tut der Vater net.«

»No also!«

»Dös brauchst mir net verübeln. So einfach is dös net: über Nacht an Dienst kriegen, wo man net weiß, wie man sich stellen muß, was für Arbeit verlangt wird und ob man die richtigen Händ dafür hat. Gwissenhäftigkeit is kein Unrecht net. Dös därfst mir net nachtragen.«

»Ah, na, na, na, na, Madl!« Jörg reichte ihr lächelnd die Hand. »Von nachtragen is kei' Red net. Ich hab mir halt denkt, es is besser bei so was, wenn man's beredt.«

»Freilich, ja!« nickte Vroni aufatmend und folgte dem Meister durch die Wagenremise in den Stall.

Hier schirrte eben der Knecht die beiden Rosse an, um in den Wald zu fahren. Während Jörg mit Vroni am gemauerten Futterbarren entlang ging, lobte sie die Sauberkeit und Ordnung im Stall, was der Knecht unter vergnügtem Schmunzeln mit anhörte; auch dem schönen Schlag seiner drei Milchkühe machte sie ein wohlverdientes Kompliment und faßte eine Blässin bei der Schnauze, um ihr sanft die Nüstern zu reiben. Als die beiden andern Tiere das sahen, drängten sie brüllend ihre dicken Köpfe gegen Vronis Hand.

»Da schau«, sagte Jörg, »was dös für a paar eifersüchtige Trutscheln sind.«

»Da hab ich droben beim Einödbauer mein Kreuz ghabt!« antwortete sie lachend. »Ihrer neune waren im Stall. Wann ich futtern kommen bin, hab ich grad Arbeit ghabt, daß ich jeder gschwind Grüßgott sag. Sonst hätten s' anand umbracht. Is schon wahr.«

»Ja, ja«, meinte Jörg, »die Behandlung macht's aus, beim Viech net anders als wie beim Menschen. Aber komm, jetzt schaffen wir dein' Kufer ins Stübl auffi. Bis alles in Ordnung hast, dauert's allweil a Stündl, und nacher mußt dich ums Bier für die Gsellen sorgen.«

Sie traten ins Freie und gingen zur Haustür, wo Vronis Koffer stand. Da blieb der Meister horchend stehen.

»Sauber, ja, und gut gwachsen«, klang die Stimme des älteren Gesellen durch das Fenster der Werkstatt, »da hat er den richtigen Griff gmacht.«

»Ja, ganz mein' Gusto hat er troffen!« lachte Wastl.

»Da wird dir der Schnabel trucken bleiben! Dös Madl scheint mir so stolz wie sauber.«

»Die Stolzen sind net allweil die Brävsten.«

Wastl hatte noch nicht ausgesprochen, als Jörg das Tor aufstieß. »Du! Laß dir ebbes sagen! Noch an einzigs solches Wörtl, und du warst am längsten in meim Haus!« Er wandte sich von dem Verdutzten ab und verließ die Werkstätte.

Die Hauserin hatte ein bißchen von ihrer gesunden Farbe verloren. »Vergelt's Gott, Wanger! Aber du mußt dich net alterieren!« sagte sie ruhig. »D' Welt hat allweil den gleichen Buckel. So reden s' überall. Man gwöhnt's. Und geht's eim über d' Schnur, so kann man Schluß machen und marschieren.« Sie bückte sich, um den Henkel des Koffers zu fassen.

»Laß gut sein, Madl! Den lupf ich schon allein.«

Als der Koffer droben im Stübchen stand und Vroni aus ihrer Tasche den Schlüssel hervorsuchte, sagte Jörg: »Drunt in der Stuben leg ich dir's Biergeld auf'n Tisch. Wir müssen heut a bißl früher Brotzeit halten. Vom Wastl seiner Pfeffersuppen hat keiner an Löffel voll essen können. Schaust halt nacher bald dazu!« Er nickte einen stummen Gruß.

Die Tage vergingen. Bald war es allen merklich, welch ein frischer Lebensgeist mit Vroni in das Haus des Wangers eingezogen war. In allem und überall zeigte sich ihre Hand. Und dieser Umschlag zum Freundlichen, der das ganze Hauswesen umfaßte, spiegelte sich im kleinen in der Umgestaltung, die Vronis Stübchen erfahren hatte. Als Jörg acht Tage nach ihrer Ankunft den kleinen Raum betrat, blieb er überrascht auf der Schwelle stehen. Wie nett und schmuck und wohnlich sah es hier aus! Die Fenster hatten weiße Vorhänge; die Wände waren geziert mit Photographien in gepreßten Papierrähmchen, mit Heiligenbildern und mit verholzten Schwämmen, auf denen hübsche Holzfiguren standen: die Heiligen Drei Könige und die schwarze Muttergottes von Altötting; aus der Ecke über dem Bett neigte sich ein kleines Kruzifix mit Palmzweigen und Schilfkolben; auf dem Kleiderschranke standen drei Scherben mit künstlichen Rosen, und über der Kommode erhob sich ein Hausaltar, auf dem ein wächsernes Jesuskind zwischen Spitzen und bunten Bändern schlummerte, geschützt durch einen blanken Glassturz.

Velt und Wastl, besonders der letztere, predigten im Dorf das Lob der neuen Hauserin. Wenn Vroni bei der Arbeit einer Hilfeleistung bedurfte, brauchte sie nur zu winken. Da sprangen die Gesellen und der Knecht mit langen Beinen. jeder wollte es dem andern zuvortun, und wieder war es Wastl, der sich bemühte, durch Aufmerksamkeiten aller Art seine leichtfertigen Worte bei Vroni vergessen zu machen. Bald kam es so weit, daß den dreien Vronis Wort im Hause höher galt als die Stimme des Meisters. Und fast schien es, als fände Jörg das selbstverständlich. Auch er gewöhnte sich daran, bei allem, was er begann, den Rat der Hauserin einzuholen. »Vroni, was meinst?« Oder: »Vroni, wie glaubst?« So pflegte er seine Fragen einzuleiten. Sie sagte: »Ich glaub halt –« Oder: »Ich mein' halt –« Und gab dann ihre kurze, klare Antwort.

Am meisten gewann durch Vronis Eintritt in des Wangers Haus das kleine Bürschl in der Wiege. Jörg hatte sich bei seiner vielen Arbeit wenig mit dem Kinde beschäftigen können, und die alte Zenz hatte es mit ihrer Sorge nie sehr genau genommen. Schrie das Kind, so hatte sie ihm mit einem dicken Schnuller das Mäulchen gestopft oder hatte es durch heftiges Wiegen eingeschläfert. Das Kind lag die längste Zeit des Tages in seiner Schaukelkiste und hatte sich dabei an überlanges Schlafen gewöhnt.

Nun war in kurzer Zeit aus ihm ein lustiges, munteres Kerlchen geworden. Vroni widmete ihm jede freie Minute, verrichtete jede kleinere Arbeit in der Nähe des Kindes und nahm es bei jedem Ausgang mit ins Freie. Als der voreiligen Oktoberhälfte gegen Ende des Monats eine Reihe linder Tage folgte, konnte Vroni die Wiege des Kindes während der Nacht in ihrem Stübchen haben. Keine Mutter hätte aufmerksamer und fürsorglicher sein können.

Mit Freude sah Jörg diesen freundlichen Wandel an und ärgerte sich dabei ein bißchen, weil es ihm vorkam, als würde er selbst am spärlichsten bedacht. Vroni verhielt sich ihm gegenüber wunderlich still und zurückhaltend, fast scheu. In den ersten Tagen, als sie noch nicht Bescheid wußte im ganzen Haus und sich mit häufigen Fragen an den Meister wenden mußte, war's nicht so fühlbar gewesen. Später trat es immer deutlicher hervor. Und manchmal wollte es dem jungen Meister scheinen, als möchte Vroni geflissentlich ein Alleinsein mit ihm vermeiden.

Wenn sie mit einem der Gesellen im Gespräche stand und Jörg trat unerwartet hinzu, mußte er mit Erstaunen gewahren, daß Vroni leicht erschrak, in der Rede stockte oder sich rasch entfernte. Wie es der Zufall wollte, merkte Jörg das mehrmals hintereinander, wenn die Hauserin mit dem Wastl sprach. Es stieg der Verdacht in ihm auf, daß zwischen den beiden sich was anzuspinnen begänne, und darüber erwachte in ihm eine Art von Eifersucht, die er nicht begriff. ihm konnte es doch völlig gleichgültig sein, mit wem und was seine Hauserin schwatzte. Trotzdem fing er an, die zwei jungen Leute schärfer zu beobachten. Daß Wastl bis über die Ohren in das Mädel verliebt war, schien ihm begreiflich. Aber er konnte bei aller Aufmerksamkeit keinen Beweis dafür finden, daß Vroni gegen den Burschen freundlicher wäre als gegen sonst jemanden – freilich noch immer freundlicher als gegen ihn selbst.

Nun ging es seit Vronis Ankunft in die dritte Woche, auf deren Donnerstag das Fest Allerheiligen fiel. Am Vorabend war Jörg zum Friedhof gegangen, um die Erdhügel auf den Gräbern seiner Eltern und seines Weibes zu lockern und mit schwarzem, feingesiebtem Sand zu überstreuen. Bis spät in die Nacht saß er mit Vroni und den Gesellen in der Werkstatt, um für den Allerseelentag die Trauerkränze aus Immergrün zu winden, da es nach dem frühgefallenen Schnee mit den Blumen mager aussah.

Als er unter Beihilfe seiner Gesellen am Allerseelenmorgen diese Kränze zum Friedhof trug, war er nicht wenig überrascht, die Gräber schon geschmückt zu finden; auf jedem Hügel lag ein dicker Kranz von Buchszweigen, in deren dunkles Grün zierliche Papierrosen eingebunden waren, und ein kleines Kränzl hing an jedem der drei schmiedeeisernen Grabkreuze. Der Meister glaubte zu wissen, von wem diese Kränze wären – hatte er doch am vergangenen Abend die Buchsbäumchen in Ürles Garten bis zur Kahlheit geplündert gesehen.

Jörg wäre am liebsten gleich nach Hause gelaufen, um der Vroni ein Vergelt's Gott zu sagen; doch bis zum Beginn der Trauermesse wäre er nicht mehr zurückgekommen.

Eine Stunde später, als der Gottesdienst zu Ende war und die Leute durch den Friedhof wanderten, wollte auch Jörg noch für ein Gebet seine Gottseligen aufsuchen und fand da die alte Zenz. Sie kniete vor dem Grab der Franzi, zwischen den spinnigen Fingern den Rosenkranz, dessen braune Perlen sie unter Gemurmel gleiten ließ.

Jörg nickte in Mißbehagen einen Gruß, nahm den Hut herunter und sprach ein stilles Vaterunser. Als er aus dem Friedhof auf die Straße trat, haschte ihn die Alte beim Ärmel.

»Vetter! Schauts! Heut wär der richtige Tag, wo wir uns aussöhnen kunnten? Oder net?«

»Wegen was denn aussöhnen? Ich bin dir net feind. Du bist mein Basl, ich bin dein Vetter wie von eh. Und somit pfüet dich Gott!«

Die Alte humpelte ihm nach. »Wir haben ja den gleichen Weg mitanand.«

»Von mir aus, geh halt mit.«

Nun ging's los bei der Alten, klipper und klapper. Jörg hörte das eine Weile stumm mit an, bis es ihm zu dick wurde. »Jetzt hör amal auf mit deim gottssträflichen Gschnader. Du bist ja zum Fürchten! Dem gnad unser Herrgott, der bei dir zwischen die Beißzang kommt.«

»Aber Vetter! So was! Ich red doch kein Wörtl, dös ich net beeidigen kann. Ich bin überhaupts kei' Freundin vom vielen Reden. Es is bloß, daß der Vetter weiß, vor wem er sich hüten muß.«

»Fahr ab, du scheinheilige Ratschen! Meinst, ich weiß net, daß d' mich in deiner bösen Gosch umanand tragst im ganzen Ort und bei alle Leut?«

»Ah! Ah! Mar' und Josef!« klagte die Alte. »Ich? So an Ungerechtigkeit! Wo ich allweil rumlauf bei die Leut und gut red und beschwichtig, weil 's Tratschen über'n Vetter kein End nimmer nimmt!«

»Wer tratscht?« fuhr der Meister zornig auf. »Raus mit der Sprach! Wer redt was über mich?«

»Jöises, Jöises, wie kann man dann sagen: Der hat ebbes gredt oder der und der! Wo alles redt und a jeder.«

»So? Und was denn? Kann einer von mir ebbes Schlechts behaupten?«

Die Alte zwinkerte mit dem linken Auge und zeigte ein schmalziges Lächeln. »Ebbes Schlechts? Mei', wie man's halt nimmt. A bißl was Guts kunnt schon dabei sein. Jaaa, d' Leut reden halt so – wann ich's schon sagen muß: wegen der Vroni!«

Jetzt lachte der Jörg. Verdutzt blinzelte Zenz zu ihm auf und fand den Warnungsklang einer Wahrsagerin: »Vetter, Vetter! Net lachen! So ebbes zahlt sich aus. Dös hätt der Vetter bedenken sollen, daß d' Leut sich a Verslein drauf machen müssen, wann a junger Wittiber so a bildsaubers Madl ins Haus nimmt. Wer is denn da? Wer paßt denn auf, ob alls in der Ordnung bleibt? No ja, es gibt Leut, dö sagen: 's Madl is brav und rechtschaffen, aber –«

»Alte!« Jörg wurde heiter. »Jetzt hast a wahrs Wörtl derwischt. 's erstmal im Leben. Und ich dank dir schön. Recht hast! Da muß ich bald dazuschaun, daß dös Gred an End nimmt.«

»Ja, Vetter, ja!« nickte die Alte glückselig. »Brauchst net weit suchen um an andre –«

»So mein' ich's net! Ich denk mir, daß d' Leut mit'm Tratsch von selber aufhören, wann s' erfahren, daß d' Vroni mein Weib wird.«

Zenz erblaßte und schob die Augäpfel heraus, als möchten sie Schneckenhörner werden. »So, so?« Ihre Hände begannen zu zittern. »Hat s' dich schon am Zuckerstangerl? Und so eine därf schnaufen im Haus von meiner gottseligen Franzi! So eine! Dö man droben im Einödhof mit Schand und Spott davonjagen hat müssen, weil sie's mit alle Knecht ghalten hat und den Bauernsohn hätt einfädeln mögen –«

»Zenz! Die Red nimm z'ruck! Auf der Stell!«

»Ah na! Ah na!« keifte die Alte. »Da beiß ich mir lieber 's Züngl ab. Jetzt freut's mich erst, daß ich alle Nachbarsleut schon lang hab wissen lassen, was für a sündhafte Natter umanandkriecht in dem Haus, wo nach Verwandtschaft und Gottsrecht ich und meine Kinder am Tisch sitzen müßten. Ganz recht so! Nur zu! Ich wünsch dir guten Appetit zu dem, was andre überlassen haben. Pfui Teufel!« Sie spuckte aus und wollte hurtig davonzappeln.

»Wie, halt a bißl!« sagte Jörg und umklammerte ihren Arm, daß Zenz unter dem Schmerz dieses Druckes wimmernd einen Fuß unter den Rock hinaufzog. »Gwußt hab ich schon lang, was ich an dir für a Verwandtschaft hab. Aber mit deine eigenen Wort hab ich's hören wollen. Drum hab ich dir fürplantscht, was mir bis heutigentags noch nie net eingfallen is, net amal im Traum! Du bist a Saubere! Jesus Maria! Unser Herrgott muß an Widersacher haben, der ihm beim Menschenmachen allweil ins Haferl greift. Aber Vergelt's Gott sag ich dir noch allweil. Heut hast mich auf an guten Einfall bracht. jetzt will ich mir d' Vroni erst richtig anschaun. Eine, dö dir net gfallt, dö muß a Freud für alle zehntausend Jungfern im Himmel sein! Wer weiß, ob aus'm Spaß net bald a richtiger Ernst wird! Zu deiner Erbauung, weißt!«

Schritt um Schritt hatte Jörg die Alte neben sich hergezogen; nun ließ er ihren Arm fahren, und Zenz, die in sprachloser Erstarrung immer am jungen Wanger hinaufgeguckt hatte, stolperte über eine Wegschrunde und plumpste in die dicke Weißdornhecke, die den Fußweg begleitete.

Als Jörg, ein bißchen erhitzt von dem flinken Heimweg, sein Haus erreichte und in die Stube trat, deckte Vroni gerade den Tisch. »Grüß Gott, Madl! Gelt, ja? Die schönen Buchskränz auf meine Gräber sind von dir?«

Sie nickte. »Ich hab mir denkt, es is schon noch a Platzl neben die deinigen.«

Jörg faßte ihre Hand. »Ich dank dir schön. Dös hat mich gfreut.«

Vroni befreite die Hand, und während sie die Bestecke aus der Tischlade nahm, fragte sie: »Waren viel Leut am Gottsacker?«

»Grad gwimmelt hat's!« Er vertauschte den langen Kittel gegen die Hausjoppe. Dann ging er zu seinem Buben, der in der Wiege saß.

»Datti! Tau! Tau!« rief der Kleine, während er dem Vater ein abenteuerlich geformtes Spielzeug entgegenhielt.

»Schauen soll ich? Was denn schauen?« lachte Jörg und zog einen Stuhl zur Wiege. »Aaaah, aber dös is ebbes Schöns!« Den Verwunderten spielend, bestaunte er das kleine hölzerne Roß, dessen Mähne durch lange Schweinsborsten versinnbildlicht wurde und dem an Stelle des Schweifes eine Pfeife eingesetzt war. »Görgele, wo hast denn dös her?«

»Oni, Oni!« jubelte das Kind.

»So? Von der Vroni hast es?«

»Ah na!« fiel das Mädel ein. »Mei' Mutter hat's ihm bracht.«

»So, so? Da laß ich halt Vergelt's Gott sagen.« Forschend betrachtete er Vronis Gesicht, das sich klar vom hellen Fenster abzeichnete. Und ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel, während sein Blick die wohlgeformte, schmiegsame Gestalt überflog. »Du, was ich sagen will – weißt, wen ich troffen hab nach der Kirchen?«

»Wie soll ich dös wissen?«

»Den Sohn vom Einödbauern.«

Verwundert hob sie das Gesicht. »Wie kommt denn der heut da runter? Der Einödhof ghört doch net in unser Pfarrei.«

Der Meister wurde ein bißchen hilflos. »Ja, ja, dös hab ich mir auch gleich denkt. Kann auch sein, daß ich mich verschaut hab. Z'reden bin ich net kommen mit ihm. Was is denn da Wahres dran? D' Leut verzählen, er hätt dich heiraten mögen?«

Vroni zuckte die Achseln. »Gsagt hat er's.«

»Und du hast riet mögen?«

»Na!«

»Warum denn net?«

»Weil zum Heiraten noch ebbes anders ghört als a Bursch und a Bauernhof.«

»Aber sag –«

»Jetzt muß ich nach der Suppen schauen.« Vroni verließ die Stube. Draußen in der Küche trat sie ans Fenster und preßte die Stirn an die sonnige Scheibe. Da hörte sie einen Schritt, wandte sich erschrocken und sah den Wastl auf der Schwelle stehen. »Du?«

Es war ein Ton willkommener Enttäuschung.

Er trat in die Küche und drückte hinter sich die Tür ins Schloß.

»Wastl? Was willst?«

»Reden mit dir!« Er stieß die leisen Worte zwischen den Zähnen hervor. »Ich halt's nimmer aus und muß an End machen, so oder so.«

Schweigend wich sie vor ihm zurück.

»Madl!« Er ging ihr nach. »Ich bin bei lebendigem Leib a gstorbener Mensch, wann mir net sagst, daß d' mir a bißl gut bist. Viel müßt's net sein. Bloß daß man denken kunnt, es wird mit der Zeit.« Mühsam atmend schwieg er und hing mit dürstendem Blick an Vronis Gesicht, dessen Blässe sich verschleierte unter dem Glanz des Herdfeuers.

»Wastl!« Vroni vermochte kaum zu reden. »Sei gscheid! Ich bin dir gut als Kamerad. Mehr därfst net verlangen von mir. Dös hat sein' Grund.«

»Versteh schon, ja!« Das Gesicht des Burschen verzerrte sich. »Und wie heißt er denn mit'm Für- und Zunam – der Grund?«

»Dös geht kein' andern was an.«

»Wahr is's! Es hat a jeder dös Seinige.« Er preßte die Faust an den Hinterkopf. »Muß ich dir halt wünschen, daß d' mit'm Glückshaferl net auch wo hinrumpelst, wo dir d' Haustür versperrt is. Wie mir. So ebbes is hart. Und Leut soll's geben, die's net vertragen.« Er wandte sich und verschwand mit schwerem Schritt im Dunkel des Flurs.

Vroni legte den Arm über die Stirn und flüsterte vor sich hin: »Schad, daß er schon lang z'spät kommt, der gute Wunsch!«

Eine Viertelstunde später saßen die fünf Hauskameraden um den Mittagstisch. Das Essen verlief stiller als gewöhnlich. Vroni, die das Kind auf dem Schoße hatte, gab sich alle Mühe, ein Gespräch in Gang zu bringen. Schließlich verstummte auch sie. Sooft sie aufblickte, sah sie Jörgs forschende Augen auf sich gerichtet. Nach der Mahlzeit reichte Vroni, um abräumen zu können, dem Wanger das Kind. Während sie die Bestecke zusammenlas, fragte sie, ob sie am Nachmittag die Eltern besuchen und den Kleinen mitnehmen dürfe.

»Gern, Madl! Warum denn net? Bei dir is 's Bübl allweil gut aufghoben.«

Als der Tisch in Ordnung war und Vroni das Geschirr in die Küche trug, zahlte Jörg dem Knecht und den zwei Gesellen den Monatslohn aus. Veit und der Knecht sackten ihr Geld ein und gingen. Wastl blieb wie ein hölzerner Stock neben dem Tische stehen.

»Willst noch ebbes?« fragte Jörg.

»Kündigen will ich!« stieß der Geselle heraus und starrte am Meister vorbei aufs Fenster.

»Wis? Kündigen? Warum denn? Taugt dir die Kost net, oder is dir d' Arbeit z'viel oder der Lohn z'gring? Oder kannst dich beklagen, daß net ghalten wirst wie a richtiger Gsell?«

Wastl schüttelte den Kopf. »Alles taugt mir. Aber fort muß ich halt.«

»Geh, mach keine Narreteien! Dös weißt, daß ich an bessern Gsellen net Zfinden weiß. Überleg dir's! Und wann ebbes zwischen uns is, was dir net recht is –«

»Ich selber bin mir nimmer recht!« murrte der Wastl. »Der Grund bleibt besser ungsagt. A Verlegenheit will ich enk net machen. Muß ich halt bleiben, bis der ander Gsell kommt.«

Jörg wurde ärgerlich. »Mit Gwalt kann ich dich net halten. Acht Tag is Kündigungszeit. Du kannst gehn, wann d' meinst, es muß sein.« Er lehnte sich in die Fensternische, wischte die Scheiben ab und sah auf die Straße hinaus.

»Seids mir jetzt bös?«

»Ah na!«

Eine Zeitlang guckte Wastl hilflos vor sich hin. Dann drehte er sich um und verließ ohne weiteres Wort die Stube.

Am Nachmittag mußte Jörg das Haus hüten. Er saß am Tisch, um die Verrechnung des letzten Monats ins reine zu bringen. Manchmal legte er die Feder nieder. Den Kopf zwischen die Hände fassend, blickte er nachdenklich umher in der stillen Stube. Ein unbehagliches Gefühl der Verlassenheit überkam ihn. Er schrieb es auf Rechnung des Allerseelentags.

Die folgende Nacht brachte einen starken Frost, und der Morgen kämpfte mit einem Himmel, der schwer von bleigrauen Wolken war. Auf den Bergen war schon in den Frühstunden Schnee gefallen. Nach Mittag, als Jörg das Haus verließ, um einen Geschäftsgang zu machen, wirbelten auch im Tal die weißen Flocken.

Jörg, den Hut ins Gesicht gedrückt, die Hände in den Joppentaschen, wanderte die menschenleere Dorfstraße hinunter. Als er beim Schreiner vorüberkam, sah er am Fenster das Gesicht der alten Zenz, die hurtig zurückfuhr, als sie seiner ansichtig wurde. Jörg schmunzelte.

Am Schreinerhaus öffnete sich die Flurtür. Vorsichtig spähte Zenz dem Wanger nach. Als er im Gewirbel der Flocken verschwand, huschte sie am Haus entlang, band ihr blaues Taschentuch über die dünnen Zöpfe und sprang in den Garten. Den Rock schürzend, tappte sie durch den Schnee, dem Haus des Wangers entgegen.

Vor der Schwelle schüttelte sie die Kleider, trat in den Flur und öffnete die Stubentür.

»Grüß Gott, Vronerl! Is der Vetter daheim?« fragte sie überfreundlich.

»Na.« Das Mädel saß mit einer Flickarbeit am Tisch, während das Kind in der Wiege mit Hobelspänen spielte. »Grad vor a paar Minuten is der Wanger furt.«

»Jöises, und so ebbes Wichtigs hätt ich z'reden mit ihm! Aber wann ich schon an Metzgergang gmacht hab, mußt mir halt verlauben, daß ich a bißl rasten tu. Wie Blei is er heut, der Schnee.«

»Ich hab da nix zum verlauben. Du hast mehr Recht im Haus als ich.« Vroni warf über die Näharbeit einen Blick nach der Alten, die schon in die Bank gerutscht war und das Kopftüchl abgenommen hatte.

»Mehr Recht als du?« Die Zenz schmunzelte essigsüß. »Wie man's halt anschaut.«

Vroni schien unangenehm berührt zu sein. »Wieso?«

»Mei', die Jungen haben allweil mehr Recht als wie die Alten. Bsonders die Jungen, dö a bißl sauber sind. ja, der Vetter schaut arg auf dich. Erst gestern«, ein Lauerblick, »ja gestern nach der Kirch haben wir gredt mitanand. Hat er nix gsagt davon? Der Vetter?«

»Daß er dich troffen hat? Na.«

»Gwiß net? Wahrhaftiger Herrgott?«

»Kein Sterbenswörtl.«

»Schau, schau!« Nachdenklich wiegte Zenz den Kopf zwischen den Schultern. »Wie bist denn z'frieden mit ihm?«

»Ich bin sein Dienstbot und muß bloß schauen drauf, daß der Meister net z'klagen hat über mich.«

»No weißt, fünf Schrittln vom Leib kann man's gut mit ihm aushalten. In der Näh hat er seine borstigen Seiten. Dös hat d' Franzi erfahren müssen, unser Herrgott hab s' selig!«

Vroni runzelte die Stirn. »Zenz! Da brauch ich kei' Aufklärung net. Aber was ich weiß, dös is 's grade Gegenteil von dem, was du da sagst.«

»Geh? So gnau hast dich umtan?« Die Alte kicherte, daß man einen Geißbock zu hören glaubte. »Da muß dich der Jörg arg verinteressiert haben.«

Vroni schwieg.

»No, der Jörg hat's auch verdient um dich!« säuselte die Alte weiter. »Ganz schauderhaft is er bsorgt um dein' guten Ruf – hat er gsagt.«

Das Mädel bekam zornfunkelnde Augen. »Erstens glaub ich gar net, daß der Wanger von so ebbes gredt hat. Und zweitens braucht sich dadrum kein Mensch net sorgen. Mei' eigene Sorg reicht aus.«

»Ui Jöises, Madl, d' Leut sind schlecht und reden, ob der Tag kurz oder lang is. Zwei junge wie der Jörg und du, beieinander unterm gleichen Dach, wo s' nix ausanand halt als d' Luft? Madl, dös is Wasser auf die Leut ihr Mühl. Der Vetter is a gscheider Mensch, der Vetter sieht's ein. Erst gestern hat er gsagt: wann's mit'm Gred net bald an End nimmt, kunnt er dich ja heireten. Ob er a Hauserin zahlt oder für a Weib aufkommt, dös is ghupft wie gsprungen. Net? Du kannst dir's ja gfallen lassen. So eim Anwesen z'lieb, da schluckt man viel.«

Vroni saß mit blassem Gesicht an die Wand gelehnt und starrte ins Leere, die Augen weit geöffnet.

»Madl, was hast denn?« fragte die Alte freundlich.

»Nix!« Vroni sprang auf. »Jetzt muß ich 's Bier für die Gsellen holen.«

»So, so, 's Bier mußt holen? Ja, geh nur!« sagte die Alte, ohne sich zu rühren. »Ich tu dir den Gfallen und bleib derweil beim Kind. Mitnehmen kannst es net bei so eim Gstöber.«

Einen Augenblick stand Vroni unschlüssig. Dann strich sie mit der Hand über die Stirn, beugte sich zur Wiege und drückte einen Kuß auf die Wange des Kindes.

»Na! Wie du an dem Kind hängst!« lachte Zenz. »Dös kriegt a gute Stiefmutter an dir.«

Vroni, ohne einen Blick auf die Alte zu werfen, ging zum Geschirrschrank, nahm einen Steinkrug und verließ die Stube.

Zenz lauschte mit funkelnden Augen. Als sie die Haustür gehen hörte, zog sie einen Schlüsselbund aus der Tasche und huschte auf den kleinen Wandschrank zu. Der Schlüssel, den sie aussuchte, paßte ins Schloß, das Türchen öffnete sich. Mit beiden Händen in die Höhlung greifend, packte die Alte den Lederbeutel und Jörgs Taschenuhr mit der silbernen Kette. Hastig schob sie die Sachen in ihre Rocktasche, versperrte das Türchen wieder und sprang aus der Stube.

Als sie nach einigen Minuten zurückkehrte, ging sie zum Ofen und warf den leeren Geldbeutel in die Glut. Da schrak sie zusammen. Draußen im Hof klangen Tritte, und knarrend öffnete sich die Haustür.

Jörg schüttelte im Flur den Schnee von seinem Hut. Dabei fiel sein Blick auf die hölzerne Treppe.

»Is da wieder einer von enk mit nasse Füß über d' Stiegen auffi?« rief er in die Werkstatt. »Da kunnt ja d' Vroni net gnug putzen und fegen.«

»Ah na, Meister«, antwortete Veit, »von uns zwei war keiner net oben.«

No, wer denn sonst?« brummte Jörg, schlug ärgerlich die Haustür zu und trat in die Stube. »Ah, da schau!« Er sah die Zenz neben der Wiege auf den Dielen knien. »Du traust dich noch eini zu mir?« Er sah in der Stube herum, ging auf den Ofen zu und öffnete das Bratrohr. »Was stinkt denn da so mordsmiserabel? Grad wie verbrennte Haar?« Wieder wandte er sich zu der Alten: »Was willst?«

»Net viel.« Sie erhob sich und wischte den Staub von ihrer Schürze. »Ich hab gwußt, daß d' net daheim bist. Und da hab ich meim kleinen Vetterl an Bsuch gmacht, nach dem's mich allweil bangt hat in die letzten Wochen.« Die Rührung preßte ihr ein paar Tränen aus den Augen. Als sie auf den Tisch zuging, um ihr Tüchl zu holen, wischte sie mit den Fingerspitzen über die Backen.

»So?« entgegnete Jörg trocken. »Von deiner starken Lieb zu meim Kind hab ich früher nix gmerkt. Aber wo is denn d' Vroni?«

»Sie muß dir begegnet sein. 's Bier für die Gsellen holt s'. Und da will ich weiter net stören. Pfüet dich Gott.«

»Wart an bißl!« Jörg vertrat der Alten den Weg. »Ich muß ebbes auskarteln mit dir.«

»Da bin ich neugierig!« sagte Zenz ein bißchen unsicher.

»Weißt, wo ich war? Beim Nagelschmied! Aha, Hast a schlechts Gwissen? Was hast denn angfangt mit die sieben Mark, die ich dir geben hab vor vier Wochen? Warum hast denn d' Rechnung beim Nagelschmied net zahlt?«

»Jöises, jetzt fallt's mir ein – da hab ich ganz vergessen drauf. Dö sieben Markln hab ich in der Wirtschaft braucht. Aber Vetter, ich hab's enk verrechnet, gwiß!«

»Da weiß ich nix davon. Aber wegen dem Bettel streit ich net lang. Ich gib dir 's Geld, dös tragst zum Nagelschmied auffi, und nacher bringst mir die quittierte Rechnung.« Der Meister ging auf den Wandschrank zu.

Zenz mußte sich an der Tischplatte festhalten, um im ersten Schreck nicht umzusinken.

»Ja, Himmel«, murrte Jörg, als er einen Blick in den Schrank geworfen, »da is ja kein Geld net da! Und d' Uhr is fort!«

»Mar und Josef! Der Vetter wird doch net ausgraubt worden sein!« jammerte Zenz. »Wer Fremder kommt da net eini! Die Gsellen und der Knecht sind rechtschaffene Leut! Und d' Vroni – no ja, dös Madl kenn ich net so gnau, daß ich sagen möcht, sie wär zu so ebbes imstand oder net –«

Der Meister drehte das dunkelrote Gesicht. »Na, du! In meim Haus is kein Spitzbub nimmer, seit du draußen bist.«

»Jöises! Aber Vetter!« kreischte die Alte. »So was muß ich mir sagen lassen!« Mit beiden Händen fuhr sie in den Rock und stülpte die leeren Taschen um. »Da suchts mich aus! Stellt's mich auf'n Kopf! Wann a Zehnerl aussifallt, soll mich gleich der Teufel holen!«

Ein paar Schritte trat Jörg zurück und maß die Gestalt der Zenz. Sein Blick huschte durch die Stube. Nun gewahrte er unter dem Tisch eine kleine Wasserlache, zu der in der Stubenwärme die Schneereste vom Schuhwerk der Alten zerschmolzen waren. Halb aufgetrocknete Trittspuren gingen vom Tisch vor den Wandschrank, von da zur Türe, von der Tür zum Ofen, von dort zur Wiege und wieder zum Tisch.

»So, so?« sagte er langsam. »Also d' Vroni meinst? Komm, Alte! Über d' Stiegen auffi! Da suchen wir in der Hauserin ihrem Stübl.«

»Vetter, ich muß furt!« stotterte Zenz und bekam ein Gesicht, als hätte sie Galläpfel verschluckt.

»Mit gehst!« schrie Jörg in ausbrechendem Zorn.

Schlotterig täppelte die Alte der Türe zu und stieg vor dem Meister die Treppe hinauf.

Der Wanger öffnete die Tür und blickte in das kleine, freundliche Stübl. Gerade noch kenntlich zeigten sich auf den Dielen die verräterischen Spuren. Vor der Kommode lag ein geschwärztes Klümpchen Schnee.

Jörg rüttelte an den Schubfächern und fand sie verschlossen. Da gewahrte er, daß der Glassturz des Hausaltärchens schief stand, mit der einen Kante eingedrückt in die Füße des wächsernen Jesuskindes. Unter den Spitzen und Bändern zog Jörg seine Uhr und einen Schlüsselbund hervor, den er kopfschüttelnd einer genaueren Betrachtung unterzog. »Lauter Schlüssel zu meine Schränk und Kästen! Aber wie is mir denn? Den Ring da sollt ich ja kennen? No freilich! Dös is ja der Schlüsselring von der Franzi selig!«

Wie ein Heuschreck hüpft, der die Sense klingen hört, machte Zenz erschrocken einen Sprung gegen die Schwelle hin, stolperte die Treppe hinunter – und kling kling, tönte es bei jedem ihrer flinken Schritte. Unter der Haustür holte der Wanger sie ein. Er sperrte das Schloß, zog den Schlüssel ab und führte die Alte am Arm in die Stube, wo er sie niederdrückte auf eine Bank. »Raus mit'm Geld!«

»Vetter! Auf Ehr und Seligkeit! Ich hab kein Geld net!« winselte Zenz.

Da holte Jörg aus der Ecke hinter dem Geschirrschrank einen Haselnußstecken hervor. »Raus mit'm Geld!«

Aschfahl wurde das Gesicht der Alten. Seufzend, als geschähe ihr schreiendes Unrecht, bückte sie sich, und als sie die Strümpfe von den dürren Waden streifte, kollerten die Silbermünzen über die Dielen.

»Weiter! Klaub s' alle zamm!«

Zenz, während Jörg die Stube verließ, rutschte nach den zerstreuten Markstücken umher. »Veit!« hörte sie draußen im Flur den Wanger rufen; dann vernahm sie den Schritt des Gesellen und ein unverständliches Flüstern.

Als Jörg in die Stube trat, lagen die Silberstücke schön geordnet auf dem Tisch. »Stimmt!« sagte er und stellte den Haselnußstecken wieder in den Winkel. »Aber wo is denn der lederne Beutel? Richtig, ja, den hast in' Ofen geworfen. Gleich hab ich's gschmeckt.«

Die Alte trat mit zerknirschtem Armesündergesicht auf ihn zu: »Vetter –«

»Brauchst kei Angst net haben, es bleibt unter uns. Aber daß d' so schlecht sein kannst und an ehrenhaftes Madl in so an Verdacht einireiten – deswegen soll dich dein Gwissen a bißl beißen. Da sorg ich dafür. Und jetzt mach, daß d' weiterkommst!«

In stummer Klage faltete Zenz die Hände und verduftete. »Vetter! D' Haustür is verschlossen!« klang draußen im Flur ihr Zitterstimmchen.

»Mußt halt durch d' Werkstatt aussi!«

Jörg hörte ihre Schuhe über die Flursteine klappern und eine Tür knarren. jetzt ein Aufkreischen, ein Poltern und ein jämmerliches Gewinsel, das von lautem Gelächter übertönt wurde. Als der Meister an das Fenster trat, sah er die Zenz mit puterrotem Gesicht über den Hofraum nach der Straße springen.

Der alte Veit trat ein. »Dö spürt's!« Er schüttelte sich vor Lachen. »Wann die Alte unter vierzehn Tag sitzen kann, will ich Hans heißen! Aber da schau!« Er streckte dem Wanger die beiden Hände hin. »Die ganzen Finger hat s' mir verkratzt.«

»Dafür hast a guts Werk tan!« Jörg nahm ein paar von den blanken Geldstücken und reichte sie dem Gesellen. »Da! Trink a paar Maß Bier auf dö Strapaz auffi!«

Veit nahm schmunzelnd das Geschenk in Empfang. »Es wär umsonst grad so gern gschehen.« Lachend verließ er die Stube.

Als Jörg den Rest des Geldes im Wandschrank verschloß, hörte er an der Haustür die Klinke schnappen. Er sprang in den Flur und sperrte auf. »Aber Vroni«, zürnte er, »schau dich nur an! über und über bist eingschneit! Hättst doch a Tuch umgschlagen!« Er nahm ihr den schweren Steinkrug aus der Hand.

Vroni schüttelte den Schnee vom Gewand und trocknete mit der Schürze das Gesicht. »ls die Zenz schon wieder fort?« fragte sie, als sie dem Wanger voraus in die Stube trat.

»Ja«, lächelte Jörg. »Die hat 's Sitzen nimmer vertragen.« jetzt erschrak er. »Madl, was is denn? Fehlt dir ebbes?«

Sie nickte. »In der Fruh hab ich's schon verspürt.«

»Ja um Gottes willen, laß nur gleich alles stehn und leg dich nieder. Ich schick den Wastl zum Doktor.«

»Aber Wanger! Söllene Gschichten machen! Übrigens dank ich dir schön für alle Sorg.« Ein müdes Lächeln zitterte um ihren Mund, als sie die Stube verließ, um den Gesellen Brot und Bier in die Werkstätte zu tragen.

Unruhig wanderte Jörg im Haus umher; was er auch angriff, keine Arbeit wollte ihm von der Hand gehen; immer wieder machte er sich in der Küche zu schaffen, und ein dutzendmal fragte er: »Wie geht's dir denn?«

»Besser, ich dank schön!« antwortete Vroni, immer im gleichen Ton.

Als es Abend wurde, hörte es zu stöbern auf. Der frühe Mond goß sein bläuliches Zwielicht über den glitzernden Schnee.

Essenszeit war vorüber. Veit und der Knecht hatten sich bereits schlafen gelegt; Wastl war ins Wirtshaus gegangen, was er sonst an Werktagen nie getan hatte; Vroni spülte in der Küche das Geschirr, und Jörg saß einsam in der Stube, deren Stille nur durch das Ticken der Wanduhr und durch die leisen Atemzüge des schlummernden Kindes unterbrochen wurde.

In den Händen hielt Jörg das Zeitungsblatt. Aber es ging ihm jetzt mit der Politik, wie es am Nachmittag mit der Arbeit gegangen war. Sooft er mit einem Artikel zu Ende kam, wußte er nach dem letzten Wort keine Silbe mehr von allem, was er gelesen hatte. Das kam so, weil er beim Lesen immer auf das Klirren des Geschirrs und das Klappern der Blechgefäße lauschte, das von der Küche hereinklang.

Eine Stunde verrann, eine zweite.

Endlich öffnete sich die Tür, und Vroni trat in die Stube, ein Kerzenlicht in der Hand.

»Ich bin fertig, Wanger.«

»Lang hast braucht!« sagte Jörg und rückte zur stummen Aufforderung, daß Vroni sich neben ihn setzen sollte, tiefer in die Bank.

Das Mädel rührte sich nicht vom Platz. »Mußt net verübeln, daß ich 's Kindl heut net mit auffi nimm. Droben im Stübl macht's a bißl kalt.«

»Aber hörst, wie möcht ich denn dös verübeln? Heut mußt in der Nacht dei' Ruh haben. Is dir denn wirklich schon besser?«

»Ah ja!« Die Stimme versagte ihr. »Und eh ich schlafen geh, muß ich dir noch ebbes sagen.«

»Was?«

»Kündigen will ich.«

Jörg erblaßte. »Vroni!« Langsam erhob er sich. »Fort willst? Und ans Kindl denkst gar net? Und net an mich?« Da lachte er und schlug sich mit der Faust vor die Stirn. »Ah ja! Gestern er, heut du! Kannst schon gehn! Gleich morgen, wann d' willst. Gut Nacht!«

Verwundert hatte Vroni aufgeblickt.

»So geh doch!« schrie er das Mädel an, in dessen Hand die Kerze zitterte.

»Gute Nacht!« sagte sie leise und verließ die Stube.

Der Meister ging zur Ofenbank, ließ sich nieder und nahm den Kopf zwischen die Fäuste.

Nur einen Augenblick saß er so. Weinend regte sich in der Wiege das vom überlauten Klang der gefallenen Worte erweckte Kind. Unter zärtlichem Geflüster hob Jörg den Kleinen aus den Kissen und trug ihn auf schaukelnden Armen in die Kammer. Ihn wurmte der Gedanke, Vroni könnte droben in ihrem Stübl das Weinen des Kindes vernehmen und den Schluß ziehen, daß er schon jetzt ihren Beistand vermisse.

Erleichtert atmete er auf, als der Kleine verstummte. Sacht legte er ihn aufs Bett, streifte die Schuhe von den Füßen, holte die Wiege und huschelte das Kind in die Kissen. Als er draußen die Lampe ausgeblasen hatte, verhängte er mit seinem Radmantel das Kammerfenster, um den Mondschein auszusperren. Dann ging auch er zur Ruhe.

Ruhe?

Seine Augen waren heiß, und eine unerträgliche Schwüle quälte ihn. Mit Gewalt verhielt er sich unbeweglich und drückte die Lider zu. Der Schlaf wollte nicht kommen. Schließlich redete er sich ein, das Ticken der Wanduhr in der Stube wäre schuld daran, sprang aus dem Bett, verließ die Kammer und stellte den Perpendickel. Da hörte er, daß ein Schlüssel, und wie es schien, mit großer Vorsicht, in das Schloß der Haustür gesteckt wurde. »Der Wastl!« Lauschend blieb Jörg in der Stube stehen. Aus dem Geräusch, das er vernahm, konnte er schließen, daß der Gesell im Flur die Schuhe auszog. Die Stufen der hölzernen Treppe knarrten ein bißchen. »Wer kommt denn?« klang von droben, gerade noch verständlich, Vronis gedämpfte Stimme. Ein paar Worte noch, eine Tür ging, und alles war still.

Jörg tastete nach der Klinke und riß die Stubentür auf. Die kalte Luft, die ihm entgegenwehte, erinnerte ihn an den Aufzug, in dem er sich befand. Er sprang in die Kammer zurück, fuhr in die Hose und zerrte eine Joppe über die Schultern. Als er wieder in die Stube trat, erschrak er vor seinem eigenen Schatten, den das Mondlicht schwarz an die weiße Mauer warf. Er blieb stehen und preßte den Arm vor die Stirne. »So was! Unter meinem rechtschaffenen Dach!« Sich aufraffend, strich er das Haar zurück und ging zur Tür. Als er mit nackten Füßen auf die eisigen Flursteine trat, schauerte ihn. In flinken Sätzen sprang er die dunkle Treppe hinauf und stand vor Vronis Tür. Aus den Fugen drang matter Lichtschimmer, und leise hörte er das Mädel wispern. Er drückte auf die Klinke. Weil er die Tür verschlossen fand, schlug er mit den Fäusten an die Bretter. »Wie, du! Mach auf!«

»Was is denn?« klang Vronis erschrockene Stimme.

»Mach auf!« keuchte Jörg und rüttelte wütend am Schloß.

Er hörte das Rucken eines Stuhles, die Tür wurde aufgerissen, und vor ihm stand das Mädel, halb entkleidet, Brust und Schultern umwunden mit einem wollenen Tuch. »Was is denn passiert? Es wird doch dem Kindl nix fehlen?«

Jörg fand keine Antwort. Verblüfft sah er an Vroni vorüber in das leere Stübl, auf das unberührte Bett, auf den Stuhl vor der Kommode und auf das Kerzenlicht, neben dem ein aufgeschlagenes Gebetbuch lag. »Vroni!« stammelte er. »Ganz verruckt war ich! Weil ich wen auffischleichen hab hören über d' Stiegen. Der Mensch is schon so, daß er allweil lieber 's Schlechte glaubt.«

Dem Mädel versagte im ersten Augenblick die Sprache. »So? Wen auffischleichen hast hören? Da is dir's gangen wie mir. Drum hab ich aussigschaut zur Tür. Der Wistl war's. Er hat gmeint, ich schlaf schon, und hat d' Schuh auszogen, daß er mich net wecken möcht. Und du – – No also, jetzt kannst ja wieder gehn! Gut Nacht!« Vroni schloß die Tür, der Riegel klirrte, und es war finster um den sprachlosen Meister her. So stand er im Dunkel, lange, ohne sich zu regen. Kein Gedanke, keine Empfindung wollte ihm zur Klarheit kommen. An seinen Schläfen hämmerte das Blut, und in Kopf und Herz schwirrten ihm Beschämung, Liebe, Eifersucht und Selbstvorwürfe wirr durcheinander. Als er langsam, vor Frost sich schüttelnd, die Treppe hinunterstieg, wußte er kaum, daß er es tat.

In der Stube wanderte er immer durch den Mondschein hin und her. Ein galliger Unwille gegen sich selber peinigte ihn. Er meinte die Nacht nicht überleben zu können, ohne von Vroni ein freundliches Wort gehört zu haben, das seine ›Hornochserei‹ wieder ausglich. In aller Ordnung kleidete er sich an, und wenige Minuten später stand er vor der Tür des Mädels.

»Vroni! Bist noch auf?« fragte er unter leisem Pochen. Nicht der geringste Laut im Stübl. »Vroni! Mach auf, ich muß dir was sagen!« flüsterte Jörg und klopfte wieder mit dem Knöchel an die Bretter. Da vernahm er einen linden Schritt, wie von nackten Füßen – aber nicht in Vronis Kammer, sondern in der Schlafstube der Gesellen. Da drüben belauschte man ihn. Wütend richtete er sich auf, schlug mit dem Rücken der Hand an Vronis Tür und rief sehr hörbar: »Madl, sei so gut und komm abi, 's Kind weint, und ich kann's riet zum Schweigen bringen!« Geräuschvoll stieg er die Treppe hinunter.

In der Stube steckte er eine Kerze in Brand und stellte sie auf den Tisch, nachdem er die Kammertür zugezogen hatte. Von Zeit zu Zeit aufhorchend, spazierte er ungeduldig zwischen Fenster und Ofen hin und her. Einmal blieb er stehen; da hörte er, daß sie kam – und der junge Meister, der sonst ein festes, unerschrockenes Mannsbild war, bekreuzigte sich wie in einem lebensgefährlichen Augenblick.

Völlig angekleidet trat Vroni in die Stube und sah an Jörg vorüber zur Kammertür. »Mir scheint, 's Kind schlaft schon wieder?«

»Dös hat allweil gschlafen«, sagte Jörg, sprang an dem Mädel vorbei, drückte die halboffene Türe zu und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bretter.

»Wanger!« fuhr Vroni auf. Langsam zurücktretend, sah sie ihm zornig ins Gesicht: »Was soll denn dös?«

»Nix! Gar nix! Als daß ich dich net zur Stuben aussi laß, eh mich net anghört hast. Da droben hat man net reden können. Ich därf mich doch net als Meister vor die Gesellen zum Kasperl machen. Da kunnt er lachen, der Wastl! Und morgen kunnt er's ausratschen im ganzen Dorf, was ich heut in der Nacht für an Unsinn gmacht hab! An Unsinn, ja, an ganz schauderhaften! D' Haar kunnt ich mir ausreißen, weil der Verstand in mir so an Purzelbaum gmacht hat. Und dös mußt mir verzeihen, Madl!«

Vroni schüttelte den Kopf. »Dös braucht's net. Du bist der Herr im Haus und kannst von deine Ehhalten glauben, was d' magst. Daß ich's grad bin, von der so ebbes glaubt hast, was liegt dir dran? Dös kann bloß mir arg sein.« Sie wandte das Gesicht, um die Tränen zu verstecken.

»Na, Vroni! Mit so eim Wörtl kann ich mich net z'frieden geben.«

»An anders kann ich dir net sagen. Zu was denn? Dö paar Stund, dö wir noch hausen mitanand –«

»A paar Stund?« Jörg streckte sich. »Wieso?«

»Von jetzt bis in der Fruh. Du wirst net glauben, daß ich nach der heutigen Nacht noch unter deim Dach bleib? Da müßt ich sein, für was du mich haltst. A Hauserin wirst bald wieder kriegen. Und wann ich dir raten därf – schau dich lieber gleich um a Bäuerin um. Ob dir a Weib zahlst oder a Hauserin, dös is doch ghupft wie gsprungen. Net?« Im Ton dieser Worte lag eine Bitterkeit, die den Meister verwundert aufblicken machte.

»Vroni? Was soll denn dös heißen? Dös Wörtl is net von dir.«

»Wahr is's, mir tät so ebbes net einfallen. ja, für so an Einfall braucht einer an Meisterverstand.«

»Ich? Was? Ich soll dös gsagt haben? Da muß ich schon fragen: zu wem?«

»Bsinn dich halt, wen gestern nach der Kirch troffen hast!« Vroni ließ sich müd auf die Holzbank hinfallen.

»Ah so?« Jörg guckte den Wandschrank an, sah zum Ofen hinüber und klatschte die flache Hand an die Stirn. »Mir scheint, ich kapier a bißl. 's liebe Frau Baserl? Ja, ja! Wo dö ihren Fuß hinsetzt, da schießen Verdruß und Hader auf wie d' Schwammerling nach eim warmen Regen.« Er trat vor das Mädel hin. »Dö Alte hat glogen. Dös von der Handelschaft, dö ghupft wie gsprungen is, dös hab ich net gsagt. An ganz andern Unsinn hab ich gredt. Wie die Alte mit ihrem Giftschnabel so losgschimpft hat über dich und dein' guten Ruf, da hab ich mir denkt: Dö Bißgurn mußt a bißl ärgern. Und wissen hab ich müssen, wie ich dran bin mit ihrem Gred. Drum hab ich der Alten dös einblasen: daß ich dich heiraten will. Im Spaß hab ich's gsagt – bleib sitzen. Vroni! Es is wahr, im Spaß hab ich's gsagt.« Seine Stimme wurde plötzlich eine völlig andere. »Und ohne daß ich's gmerkt hab, war's in mir schon lang ernster, als ich hätt denken können.«

»Jörg?« Das war ein wunderlich erloschener Laut.

»Ja, Madl, und heut am Abend, wie d' mir gsagt hast, daß d' fort willst, schau, da hat's mich packt bei der Gurgel, und da hab ich gspürt, daß ich mich nimmer verlieben brauch. Und daß ich schon häng an dir auf Leben und Sterben. Und daß d' nix willst von mir und auf an andern denkst, dös hat mir 's Hirnkastl a bißl rapplet gmacht. No ja –« Er tat einen schweren Atemzug. »Dem Wastl därfst sagen, daß er die Kündigungszeit net einhalten braucht. Und will er im Ort a Gschäftl aufmachen, so braucht er mich net fürchten. An zweiten Gsellen nimm ich nimmer. So wird jeder von uns sein Auskommen haben. Und dir, Madl«, die Stimme wollte ihm nimmer gehorchen, »dir wünsch ich a besseres Ehstandsglück, als 's meinige war.« Er bot ihr die Hand hin.

Das sah sie nicht. Immer guckte sie mit großen Augen den Wanger an und lächelte. Immer lächelte sie.

Er zog die Hand zurück und meinte, es wäre nicht schön von ihr, daß sie seinem Elend gegenüber die eigene Herzensfreude so wenig verhehlen konnte.

Da fragte sie in einer seltsam fröhlichen Verstörtheit: »Der Wastl hat kündigt?«

»Dös wirst wohl wissen. Besser als ich.«

»'s erste Wörtl, was ich hör davon.« Immer freudiger strahlten ihre Augen. »Warum er kündigt hat, dös kann ich mir ungfähr denken. Gestern hat er mich gfragt, ob ich ihm net a bißl gut sein kunnt. Ich hab ihm sagen müssen, daß ich an andern mag. Schon lang.«

»An andern?« fragte Jörg mit ersticktem Laut, und der Tisch, auf den er sich stützte, zitterte unter seiner Faust.

»An andern, ja. Dös is schon viel Jahr her. Da bin ich amal heim von der Feiertagsschul. Und a junger Bursch hat mich am Weg aufgfangt mit seine zwei Arm – bloß so im Spaß – und hat mir mit Gwalt a Bußl gstohlen – halt so im Spaß. Und da hab ich an kein' andern nimmer denken können. Wo ich gangen und gstanden bin, allweil hab ich mir gsagt: Amal, da kommt er schon, und da macht er Ernst. Jahr um Jahr, allweil hab ich dran glaubt bis zur selbigen Nacht, wo im Wirtshaus d' Musikanten blasen haben, derweil ich daheimglegen bin in meiner Kammer – eingraben ins Polster – daß ich gmeint hab, es bringt mich um.«

»Jesus Maria!« stammelte Jörg. Man sah es ihm an: Er wollte irgend etwas unternehmen. Aber eine verstörte Hilflosigkeit schien so bedenkliche Lähmungserscheinungen unter seinem Haardach anzustiften, daß er nur ein paar zwecklose Handbewegungen fertigbrachte und dabei auf eine höchst sonderbare Art zu lachen begann.

»Dös hat mich forttrieben aus'm Ort.« Das Mädel schien von dem unzurechnungsfähigen Gemütszustand des Wangers angesteckt zu werden und mußte immer lachen, während sie traurige Dinge sagte. »Narr, der ich gwesen bin! Hab gmeint, ich kunnt meiner Not davonlaufen. Schritt und Tritt hat s' ghalten mit mir. Und mein Elend is net leichter worden, wie mir d' Leut zutragen haben, daß d' in Kümmernis und Unfried graten bist – du, dem ich 's beste Glück vergunnt hätt!«

Da geschah mit dem jungen Meister etwas Unerwartetes. Ein geheimnisvoller Bosheitsteufel schien ihm plötzlich in der Wadengegend einen derben Schlag zu versetzen. Jörg plumpste auf die beiden Knie, und um nicht völlig das Gleichgewicht zu verlieren, mußte er die Vroni grob um die Hüfte fassen. »Jesus, Jesus, Madl, jetzt pack mich aber bei die Ohrwascheln und reiß mir s' aussi aus'm Verstand.«

Sie gehorchte nur zur Hälfte. Bei den Ohren nahm sie ihn. Den Versuch, sie ihm auszureißen, unterließ sie. Die brennende Wange an seine Stirn pressend, flüsterte sie: »Du Lieber, du!«

Tiefer und tiefer brannte die Kerze. Qualmend erlosch das Licht, und der neugeborene Morgen blinzelte durch die Fenster.

Draußen auf der Treppe ein schwerer Schritt. Die Tür ging auf, und Veitl wollte in die Stube treten.

»Oha!« platzte der alte Gesell in Verblüffung heraus, als er die beiden mit Armen und Köpfen so ineinander verwickelt sah. Hurtig verschwand er.

»Hö! Nur eini, Veitl!« rief der lachende Jörg. »Und wünsch mir als erster Glück zu meiner künftigen Meisterin.«

Der vergnügte Glückwunsch, den der schmunzelnde Veitl aufsagte, erfuhr eine Störung. Vroni entzog dem Gesellen plötzlich die Hand und sprang erschrocken gegen die Kammer hin: »Um Gottes willen, unser Kindl weint.«

Der Meister sah ihr mit glücklichen Augen nach. »Da sagt man allweil, die Kinder haben's gut, weil s' nix wissen von der Welt.« Er schüttelte den Kopf zu dieser unzutreffenden Weisheit. »Daß a Kindl a gute Mutter kriegt? Dös sollt's eigentlich doch merken müssen. Und sollt lachen dazu statt a Gsetzl flennen!«

Wastl kam. Viel brauchte man ihm nicht zu sagen. Gleich verstand er. »So so? Dös war der Grund? Bin ich halt bei der glückseligen Schlittenfahrt wieder um an Bauernschuh z'spät kommen. No ja – es hat net 's erstemal brennt bei mir – muß ich halt schauen, wie ich wieder mit'm Löschen auf gleich komm.«

»Da wirst dich hart tun«, meinte Veitl ein bißchen boshaft, »'s Wasser is gfroren. Oder meinst ebba, 's Löschen geht mit a paar Maß Bier?«

Jörg mußte lachen. »Was is denn nacher? Gehst oder bleibst?«

Wastl zuckte die Achseln. »Warten wir amal, bis die acht Tag rum sind. Da kann man allweil wieder reden drüber. Aber daß ich auf deiner Hochzeit tanzen müßt, bis mir d' Waden springen – dös kannst net verlangen von mir. Alles, was recht is!« Er machte kehrt und knöpfte die Joppe zu.

»Wohin denn? Bleibst denn net da beim Fruhstuck?«

»Na! Heut kunnt's a versalzene Suppen geben. Mich kratzt noch der Pfeffer von der meinigen im Hals.« Er schlug die Tür zu, daß es böllerte.

Das war der erste Freudenschuß, der für das Hausglück des Meisters und der Meisterin abgefeuert wurde.


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