Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stutzi, der Pechvogel

Als ich noch ein kleiner Junge war, brachte eines Morgens der Jagdaufseher aus dem Wald einen noch lebenden, aber schwer lädierten Nußhäher mit heim in unser Forsthaus. Der Vogel hatte sich im Wieseleisen gefangen, sein rechtes Beinchen baumelte. Und der Jagdgehilf, obwohl er über das zulässige Maß hinaus den Branntwein liebte, war eine gute Seele. Ausgenommen die Dachse, die er gern verspeiste, erbarmte er sich eines jeden Getiers, für das er kein Schußgeld bekam. Weil er nicht wußte, daß man aus Nußhähern eine gute Suppe machen kann, hielt er's für eine Roheit, den lädierten Vogel im Walde zwecklos abzumurksen, und hielt es für eine Grausamkeit, ihm auf anderthalb Beinen wieder die Freiheit zu geben. Also brachte er ihn mit heim, weil doch die Frau Oberförsterin mit jedem Blessierten was Hilfreiches anzufangen wüßte.

Er täuschte sich nicht. Meine Mutter wußte auch mit dem Nußhäher was anzufangen. Um den Vogel, der zornig den grauvioletten Schopf sträubte und die kleinen Federchen an der Kehle aufplusterte, zu geduldiger Erledigung der Kur zu veranlassen, wurden ihm zuerst mit der Schere die Schwungfedern gestutzt. Seit diesem notwendigen Vorgang hieß er Stutzi. Dann schindelte und verband ihm die Mutter das vom Tellereisen zerquetschte Beinchen. So verbunden, bekam er ein hübsches lindes Bett in einer Zigarrenschachtel, und um den Stutzi für die Dauer der Kurzeit am Aufstehen zu verhindern, wurde die Schachtel dicht über seinem Köpfl mit einem Stück Fischnetz überspannt. Das Krankenlager des Waldveteranen wurde zum Mittelpunkt der Familie, der auch Unkas, der Hühnerhund, und Waldine, die alte Dackelhündin, beizuzählen waren. Diese beiden letzteren trugen ein Wesentliches dazu bei, um Stutzi zu ruhigem Liegenbleiben zu veranlassen. Solange sie die Zigarrenschachtel anbellten oder beschnupperten, spielte Stutzi in unbeweglicher Starrheit das tote Vogerl. Und da Waldine und Unkas fast immer schnupperten oder bellten, schien Stutzis Heilung einen ziemlich ungestörten Verlauf zu nehmen.

Vier Tage lang verweigerte er die Annahme jeglicher Nahrung. Am fünften Tage verschluckte er alles, was man ihm hinbot, und pickte dabei mit seinem kräftigen Schnabel so energisch zu, daß er außer dem Leckerbissen, der für ihn bestimmt war, auch immer noch etwas anderes erwischte. Damals litt ich chronisch an verbundenen Fingern.

In der zweiten Woche sträubte Stutzi den Schopf nicht mehr und plusterte die Kehlfederchen nimmer auf. Wenn wir uns über die Zigarrenschachtel beugten, musterte er sehr aufmerksam unsere Gesichter. Auch zeigte er deutliche Zeichen beginnender Zahmheit, so oft er zur Reinigung seines Lagers aus dem Bett genommen wurde. Das überließ die Mutter keinem anderen, und Stutzi schien auch seine sorgsame Pflegerin am besten unter uns allen zu kennen.

Während der dritten Woche begann er in der Zigarrenschachtel sehr gemütlich mit sich selbst zu schwatzen und spielte so andauernd mit dem Fischnetz zu seinen Häupten, daß es täglich erneuert werden mußte. Dabei erbrachte er den Beweis seiner vollendeten Zahmheit; denn häufig biß er ein so großes Loch in das Netz, daß er leicht hätte durchschlüpfen können; doch er tat es nicht, verachtete die Freiheit und zog die Bettwärme vor.

Zu Ende der vierten Woche erschien es der Mutter notwendig, Stutzis Verband zu lösen. Es war ein sehr aufregungsvoller Augenblick. Unkas und Waldine wurden aus der Stube gejagt und bellten draußen vor der Türe. Wir anderen standen in schweigender Erwartung um den Tisch herum, auf dem sich Stutzis chirurgische Erlösung vollziehen sollte. Der Mutter zitterten die Hände ein bißchen, wir Kinder rissen in Spannung und Sehnsucht die Augen auf – Papa sagte: »Na ja!« und ging in seine Kanzlei – der Jagdgehilfe roch sehr heftig nach Dachsbraten und Schnaps, die dicke Köchin hatte nasse Augen, gab der Mutter ärztliche Ratschläge und rief alle Heiligen an, die für Tiere gut sind. Der einzige von uns allen, an dem sich nicht die geringste Spur von Aufregung erkennen ließ, war Stutzi.

Als der Verband gelöst war und die eingegipsten Schindelchen abgebröselt wurden, fiel zwischen Mutters Händen eine dürrgewordene Vogelklaue auf die Tischplatte. Ein sechsstimmiger Klagelaut. Und alle hatten wir Tränen in den Augen – fünfe vor Rührung und Erbarmen, einer von der Beizwirkung des Branntweins. Diesem Jagdgehilfen tröpfelten die Augen immer. Er weinte auch, wenn er lustig war. Dann erst recht. In meiner Kinderzeit verstand ich den hohen Wert dieser Erscheinung nicht zu würdigen. jetzt weiß ich, daß es eines der kostbarsten Geschenke des Lebens ist, unter Tränen lachen zu können. Aber ohne Schnaps.

Dem Stutzi also war das zerschmetterte Beinchen nicht mehr heil geworden. Es hatte sich von ihm entfernt. Und was am Stutzi zurückblieb, war ein in starrem Winkel gebogenes Kniestummelchen. Sonst aber war Stutzi munter und gesund und schien der Meinung zu sein, daß man ganz vergnügt auch auf einem Fuße weiterleben kann.

Wir anderen sahen die Sache für ein großes Unglück an, bis Mutter auf den tröstenden Gedanken kam, daß man an diesem hart gebogenen Kniestummel vielleicht ein künstliches Bein mit einiger Sicherheit befestigen könnte. Sie wand dem Stutzi eine linde Leinenbinde um Leib und Flügel herum und legte ihn wieder in die Zigarrenschachtel. Dann wurde der Drechslermeister, ein Universalgenie des Dorfes, zu Rate gezogen. Der fabrizierte für Stutzi ein niedliches, unten mit einer winzigen Stahlspitze versehenes Stelzfüßchen aus weißem Hirschhorn, das er in wetterfester Beize schön rosenrot färbte wie seine Spinnräder. Mit einer Lederhülse, mit Wachs und Zwirn wurde dieses orthopädische Meisterwerk an Stutzis Kniestummel dauerhaft befestigt. Nun hatte er ein graues und ein rotes Bein, und weil er auch sonst sehr scheckig war, erinnerte er an einen Landsknecht aus dem 16. Jahrhundert.

Es war ein historischer Moment, als Stutzi in dieser neuen Aufmachung seines lädierten Lebens auf den Stubenboden hingestellt wurde. Beim ersten Hupf, den er zu machen versuchte, erschrak er über das Geklapper seines Stelzfußes so heftig, daß er mit seinen gestutzten Schwingen einen Meter hoch emporflatterte und dabei ganz unbeschreibliche Gackertöne von sich gab.

Papa sagte wieder: »Na ja!« und ging in seine Kanzlei.

Als Stutzi auf den Boden kam und neuerdings dieses sonderbare Geklapper hörte, flatterte er gleich wieder in die Höhe. So machte er's ein dutzendmal. Dabei schien der kluge Vogel zur Überzeugung zu gelangen, daß er auf diese Manier die unangenehme Sache unter seinem Bauch nicht loswurde. Er stellte sich, als er wieder zu Boden kam, mit seitlicher Gewichtsverteilung auf das gesunde Bein und fing mit dem rückwärts gestreckten Stelzfuß heftig zu schlenkern an. Das war so unsagbar komisch, daß wir nimmer aus dem Lachen kamen. Und meiner Mutter tröpfelten die Augen, als hätte sie Branntwein getrunken wie der Jagdgehilf.

Plötzlich wurde Stutzi ganz ruhig, ließ den Stelzfuß schlapp herunterhängen, plusterte die Federn auf, duckte den Kopf zwischen die Flügel und zog ein weißes Häutchen über die Augen. Er schien zu denken: jetzt schlaf ich einmal, im Schlafe vergißt man alles.

»So, Kinder!« sagte die Mutter. »Laßt ihn nur schön in Ruhe! Alles braucht seine Zeit. Ihr habt das Gehen auch erst lernen müssen.« Sie setzte sich mit ihrem Spinnrad ans Fenster und schickte uns aus der Stube.

Nach einer Stunde rief sie uns. Und da gab's einen großen Jubel.

Stutzi marschierte.

Das war eine sehr drollige Sache. Möglich, daß der Drechslermeister das künstliche Bein ein bißchen zu lang gedrechselt hatte. Bei jedem Schritt machte Stutzi einen doppelten Hinker und suchte mit der gesunden Klaue immer sehr flink wieder auf festen Grund zu kommen. Um seine Wanderlust zu befeuern, hatte die Mutter ihm zerkleinerte Nußkerne in gerader Reihe auf den Boden hingelegt. Aber das Marschieren in gerader Richtung brachte Stutzi nicht fertig. Es drehte ihn bei jedem Schrittlein halb um die Spitze des Stelzfußes herum, so daß er, statt den nächsten Nußkern zu erreichen, mit dem Schnabel sehr weit daneben geriet. Wenn es ihn so um seine Achse schraubte, gackerte er immer sehr zornig. Und half er dabei mit den Flügeln nach, so wurde die Sache noch schlimmer. Einmal drehte er sich so blitzschnell um sich selbst, wie ich es in späteren Jahren von einem russischen Tänzer zu sehen bekam. Der wurde hoch bezahlt. Stutzi machte das Kunststück umsonst.

Mit jeder Viertelstunde bekam er die Sache besser los und eignete sich bald die Fertigkeit an, diese unwillkürlichen Drehbewegungen mit Geschick als willkürliche Hilfen bei raschen Wendungen zu benützen.

Papa wurde aus der Kanzlei geholt, um das marschierende Wunder zu bestaunen. jetzt sagte er: »Na also!« Und als er den in Bogen und Schlingen wandernden Stutzi eine Weile betrachtet hatte, nahm er ihn als Mitglied der Familie auf. Das geschah im Zusammenhang mit einer pädagogischen Zeremonie. Unkas und Waldine wurden in die Stube gerufen, und während ihnen Papa unter lehrreichen Worten das ›brave Vogi‹ demonstrierte, zeigte er ihnen zugleich mit einer Mimik von unbezweifelbarer Deutlichkeit die Hundspeitsche. Waldine und Unkas begriffen sofort, daß Stutzi eine heilige, allen irdischen Begierden entrückte Sache wäre; sie bellten nicht mehr, schüttelten in hochgradiger Nervosität die Ohrlappen, verkrochen sich unter den Ofen, legten die Köpfe auf die vorgestreckten Pfoten und betrachteten den gackernden Schleifentänzer mit funkelnden Augen.

Vaters pädagogischer Unterricht war vielleicht überflüssig. Stutzi bewies noch am gleichen Abend, daß er selbst die Kunst, Respekt zu erzielen, ausreichend beherrschte. Als Unkas und Waldine – sei es, weil sie Freundschaft mit Stutzi schließen wollten oder sei es, weil die rosenrote Beize seines künstlichen Beines so scharf und so neugiererweckend duftete – mit Geschwänzel und hörbaren Schnupperlauten herankamen, machte der mißtrauische Stutzi einen empörten Flattersprung und gackerte dabei so erschrecklich, daß Waldine und Unkas mit eingekniffenen Schweifen schleunigst das Weite suchten. Dieses Gegacker hatte etwas von gespenstischer Macht. Es glich dem berühmten Wahngelächter in ›Der Waise von Lowood‹.

Nach den mannigfachen Erlebnissen und Kraftleistungen dieses Tages waren an Stutzi deutliche Zeichen von Ermüdung zu bemerken, noch ehe der Abend dunkel wurde. Das warme Bett in der Zigarrenschachtel verschmähend, flatterte Stutzi auf den Oleanderbaum, der in unserer Wohnstube neben dem Fenster stand. Hier richtete er sich in der Gabel eines Astes häuslich ein, spreizte den Stelzfuß nach der Seite hin, lehnte sich gegen das Stämmchen des Baumes und schob das Köpfl unter den Flügel.

Den ganzen Abend, unter dem Schein der Lampe, schwatzten wir von unserem lieben Invaliden.

Stutzi schlummerte fest. Und der Oleanderbaum wurde seit diesem Abend sein ständiges Nachtquartier.

Am anderen Morgen fühlte sich der gesprenkelte Landsknecht in der Wohnstube schon völlig heimisch und begann Erkundungsmärsche in die Küche, in den Hof und in den kleinen Vorgarten zu unternehmen, der höher umzäunt war, als Stutzi mit seinen gestutzten Schwingen zu flattern vermochte.

Unkas und Waldine gingen ihm nimmer in die Nähe. Auch alle übrigen Kreaturen des Forsthauses-Hühner, Enten, Tauben, Ferkelchen und die zwei zahmen Rehgeißen begannen den Stutzi mit Aversion zu betrachten und bekundeten eine zunehmende Scheu vor seinen Flügelschlägen und seinem zänkischen Gegacker. Wenn er den Wahnsinnstrick aus ›Der Waise von Lowood‹ spielte, erzeugte er immer rings um sich her einen ungestörten Luftraum.

Allmählich verdarb er es auch mit den Menschen. Zuerst mit der Köchin, die immer putzen mußte, wo Stutzi gekleckert hatte. Und er kleckerte sehr reichlich. Auch wurde er bei seiner Gefräßigkeit und bei seinem Hang zu Diebereien in Küche und Speisekammer immer unbequemer. Meine Mutter, die, obwohl sie Reinlichkeit im Haus über alles liebte, den eigenen Ärger lang bezwang, hatte häufig Ursache, der erbosten Köchin zu predigen: »Das muß man halt jetzt geduldig ertragen. Was soll das arme Viecherl denn machen? Ein Stöpserl hat ihm der Herrgott nicht mitgegeben. Es ist halt, wie's die Natur erschaffen hat. Und hätten die Menschen nicht die Tellereisen erfunden, so flög' der Stutzi noch allweil lustig und mit gesunden Füßerln im Wald herum.«

Das zweite Menschenkind, bei welchem Stutzi in üblen Ruf geriet, war ich selbst. Nicht weil er mich täglich ein paarmal in die Finger oder sonst sehr empfindsam Stellen biß, sondern weil er nicht den geringsten Sinn für zärtliche Kameraderie besaß, jeden innigeren Freundschaftsbund von sich ablehnte und einen energischen Widerstand betätigte gegen jede höhere Dressur. Stutzi wollte nichts lernen. Das war nun allerdings auch eine Eigenschaft meiner selbst. Mir verzieh ich das. Dem Stutzi, der sich für mich aus einem ›braven Vogi‹ in ein ›dummes Vieh‹ verwandelte, nahm ich es übel. Meine Verehrung und Zärtlichkeit für ihn erkalteten mit großer Geschwindigkeit, und bald überließ ich diesen rohen Landsknecht seinem Schicksal und wandte mich neuen Göttern meiner Jugend zu.

Darin liegt es begründet, daß ich heute bei der Schilderung seines kurzen Erdenwallens nur die groben Äußerlichkeiten seiner letzten Sommertage berichten kann und nicht in der Lage bin, wundersame Feinheiten seiner Psyche aufzutischen und die Zoologie durch leuchtende Edelsteine aus den Tiefen der Tierseele zu bereichern.

Es ist schon lange her, seit Stutzi, dieser arme Pechvogel, auf tragikomische Weise dem irdischen Jammer entrann.

Doch wenn ich heute sein Charakterbild aus dunklen Versunkenheiten heraufbeschwöre und die mir erinnerlichen Züge seines Lebens aufmerksam betrachte, kann ich mich trotz allem verspäteten Erbarmen nicht darüber täuschen, daß Stutzi ein unverträgliches, spitzbübisches, brutales, dreckspritzendes und boshaftes Luder war. Den Bösen ergeht es immer schlecht auf Erden – diejenigen ausgenommen, welche stärker sind als die Macht des Guten. Stutzi war schwächer.

Schließlich verdarb er es auch mit der letzten, die ihm bisher noch immer gut geblieben – mit meiner Mutter. Er war durch das offene Fenster in die gute Stube geflattert und hatte das frisch mit teurem Seidenrips überzogene Sofa so fürchterlich zugerichtet, daß die Mutter, als sie diese grauenvolle Bescherung entdeckte, unter Tränen die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Es war ein Anblick, den auch die barmherzigste Frauenseele nicht ertrug.

Papa, der bei Mutters Jammer in Schreck herbeigesprungen kam, sagte: »Na also!« und kehrte wieder in die Kanzlei zurück.

Stutzi brauchte, um aus der guten Stube zu kommen, nicht bogenförmig zu wandern. Er verließ sie diesmal in einer ziemlich geraden Linie, ohne sich seines rosenroten Stelzfußes dabei bedienen zu müssen. Und als die Mutter das Fenster verriegelte, schalt sie erbittert: »Jetzt kommst du mir aber nimmer herein! Du Bestie!«

Am Abend saß Stutzi wieder im Oleanderbaum, dessen Erde und Wurzeln sich im Laufe der letzten Wochen mit einer weißgrauen Patina überzogen hatten.

Diese letzte Zufluchtsstätte verwehrte man dem Übeltäter nicht. Früh am Morgen mußte er aus dem Haus und durfte erst spät am Abend wieder herein.

So war er sich selbst überlassen, und es blieb ihm nur noch ein einziger Freund, der fest bis zum Tode mit ihm zusammenhielt: sein rosenrot gebeizter Stelzfuß.

Die Katastrophe wurde vorbereitet durch mehrfache Fingerzeige des Schicksals und herbeigeführt durch Stutzis verhängnisvolle Vorliebe für Metamorphosen, die nicht Ovid, sondern Wilhelm Busch hätte besingen müssen.

Im Stande seiner Freiheit hatte sich dieser Pechvogel auf dem Tellereisen aus einem gesunden Nußhäher in einen invaliden Landsknecht verwandelt. Während seiner zahmen Wochen verwandelte er sich zuerst in ein weißes Täubchen. Er fiel in die Mehltruhe. Dann verwandelte er sich in einen schwarzen Raben, weil er in die Wagenschmiere plumpste. In der Speisekammer hackte er eines Morgens an die siebzig Eier auf und wurde ein gelber Kanarienvogel von seltener Größe. Und in der Spinatschüssel verwandelte er sich eines Mittags in einen grünen Papagei.

Als er dann reichliche Veranlassung zur Neupolsterung des Honoratiorensofas gegeben hatte, benützte Mutter die schöne Gelegenheit, um die gute Stube auch frisch tapezieren zu lassen.

Es war in den letzten Septembertagen, in einer milden, noch sonnigen Zeit, doch mit Nächten, die schon kalt waren.

Im Hause roch es nach Kleister und Leim. Der Tapeziermeister war mit seinem Lehrling bei der Arbeit. Ehe der Meister die schönen Tapetenstreifen glatt an die Wand kleisterte, mußte der Lehrling die abgekratzte Mauer leimen und mit Zeitungspapier überkleben. Der Kleister befand sich in einem Wasserschaff, der heiße Leim in einem kupfernen Spülkessel, unter dem eine kleine Spiritusflamme brannte. Um den heftigen Buchbinderdüften, von denen das Verschönerungswerk begleitet war, einen Abzug ins Freie zu vergönnen, standen in der guten Stube alle Fenster offen.

Nachmittags um drei Uhr machte der Meister Brotzeit. Der Lehrling mußte noch ein Viertelstündchen weiterschanzen und vorarbeiten, damit der Meister nach der Brotzeit mit den Tapeten gleich wieder weiterrücken konnte.

Als der biedere Mann sich bei seinem Kleister pünktlich wieder einstellte, gab's einen herben Auftritt. Der Lehrling hatte so unsauber gearbeitet, daß der Stubenboden, obwohl man ihn vorsichtig mit blauem Zuckerpapier bedeckt hatte, abscheulich von dicken Leimklunkern überkleckert und von sonderbar geschwungenen Leimstrichen durchzogen war. Sogar das Fenstergesims war beschmiert. Heulend beschwor der Bub seine Unschuld. Es half nichts. Er bekam sein Dutzend Ohrfeigen.

Bei Anbruch der Nacht vermißten wir im Oleanderbaum den Stutzi.

Und am anderen Morgen, als wir beim Frühstück saßen, rief plötzlich die Köchin aus dem Vorgarten durchs Fenster herein: »Jesus, Jesus, Frau Oberförstern! Gschwind kommen S' aussi! Im Aprikosenspalier, da hockt a ganz seltsamer brauner Vogel und rührt sich net!«

Wir alle rannten hinaus.

Im Mauerspalier neben dem offenen Fenster der guten Stube, zwischen reifenden Aprikosen und gelb gewordenen Blättern, saß unbeweglich ein feiner, schlanker, dunkelbrauner Vogel von einer den Turmfalken ähnlichen Art, die wir im Leben noch nie gesehen hatten. Er schlief und hielt den Kopf unter dem Flügel verborgen, eine polierte Kommode. Ganz gleichmäßig war diese dunkle Politur; nur durch den braunen Glanz des einen Füßchens, das unten einen dicken schwärzlichen Klumpen hatte, schimmerte was Rosenrotes heraus.

Die Mutter stammelte: »Um Gottes willen«.

Unser Stutzi war's! Den sein Pech in den Leimkessel statt in das minder gefährliche Kleisterschaff getaucht hatte.

Der verewigte Vogel klebte in Schlafstellung an den Ästen und mußte mit einem Messer losgeschnitten werden. Er war so steif und hart, dabei aber doch so zierlich und lebensvoll, als hätte ihn ein großer Künstler und Tierkenner aus Mahagoniholz herausgeschnitzt.

Wieder eine Metamorphose! Die letzte!

Stutzi der Geleimte hatte sich in sein eigenes Monument verwandelt.

Wir alle waren sehr traurig. Aber so oft man den monumentalen Stutzi ansah, mußte man lachen.

In einer Art von reuevoller Pietät bewahrte ich das braune Denkmal des armen Landsknechtes noch mehrere Wochen in meinem Mansardenstübchen. Doch als man in kälterer Zeit die Öfen zu heizen anfing, begann das Monument einen schlechten Geruch zu verbreiten.

Ich mußte auf Vaters Befehl den geleimten Stutzi begraben.

Doch völlig erloschen waren die Rätsel und Wirkungen seines Lebens noch immer nicht. Als Stutzi von der Welt verschwunden war, bewies er noch die Wahrheit des alten, schönen Wortes, daß in allem Bösen ein Same des Guten steckt.

Im folgenden Frühjahr prangte der Oleanderbaum in einer roten Blütenfülle, wie wir sie noch niemals an ihm erlebt hatten.

Doch ein Wunder war es nicht. Papa erklärte uns auf ganz natürliche Weise die chemischen Zusammenhänge dieser rosenroten Blütenpracht mit den reichlichen Lebensäußerungen des selig im Leim entschlafenen Invaliden.


 << zurück weiter >>