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Wenn sich die Blätter färben

Wer lernt ihn aus, wer dürfte sagen, daß er ihn ganz ergründet hat und ganz verstanden, den dunklen rauschenden Wald mit seinem geheimnisvollen Leben und Weben oder den offenen, laubreichen Hag, durch dessen Blättergewirr in zaubervollem Wechsel von Licht und Schatten die Sonne ihre Strahlen spinnt. Der Wald ist kein verschlossenes Buch, wohl aber ein Buch ohne Ende. Seine Sprache ist leicht verständlich, sie redet schlicht und warm zu unserm Herzen, wir brauchen ihr nur zu lauschen und das Herz nur offenzuhalten.

Und was er mit dieser Sprache alles zu erzählen weiß! Und niemals wiederholt er sich! Für jede Stunde hat er sein eigenes Märchen. Der Wald, über dem der Himmel sich dehnt in reiner sonniger Bläue, redet anders als der Wald, über dessen Wipfel die finsteren Wolken jagen, mit strömendem Regen, mit zuckenden Blitzen und rollendem Donner. Er spricht in andern Lauten, wenn beim Erwachen des Morgens seine Zweige und Gräser funkeln im weißgeperlten Tau, wenn die Mittagssonne auf die dürstenden Bäume niederbrennt, wenn über die müde Natur der Abend sich senkt auf rötlichen Schwingen und wenn die Nacht über Busch und Baum ihre dunklen Schleier zieht und das Wild zur Asung ruft, das scheue Wild, das den hellen Tag fürchtet, weil er die erwachende Zeit des Menschen ist. Immer anders weiß der Wald zu reden, ob nun der kalte weiße Schnee seine geduldigen Zweige drückt, ob der laue Frühlingssturm ihn erlöst von seiner Last und seine schlafenden Kräfte weckt zu neuem Leben, ob er sich dehnt in sommerlicher Pracht oder ob ihn der Herbst überhaucht mit leuchtenden Farben.

Zu welcher Zeit er am tiefsten zum Herzen redet? Zu welcher Zeit er am schönsten ist? Ich sinne und weiß es nicht zu sagen. Doch wenn ich lange überlege und Schönheit mit Schönheit vergleiche, scheint es mir fast, als könnte der Wald nie schöner sein als in der Zeit, in der sich die Blätter färben und der grelle Glanz des Sommers sich dämpft zu milderen Tönen. Da macht es die Natur wie eine schöne Frau, die nicht altern will, ihre schwindende Schönheit festzuhalten sucht und sich putzt mit blitzendem Geschmeide und leuchtenden Farben.

Ein Herbsttag im sterbenden Wald! Da liegt es wie zitternder Feuerschein über allen Wipfeln in der Luft. Über das fahle Grün des moosigen Grundes webt die Sonne eine wundersame Mosaik von goldigen Lichtern und zuckenden Schatten. Wo sie ihren Weg durch das gelbe und rote Laub der welkenden Buchen und Ahornbäume nimmt, scheinen alle Zweige in hellem Brand zu stehen. Und wenn von den Bäumen, durch die ein seufzendes Rauschen gleich dem schweren Atmen eines Sterbenden geht, zuweilen ein welkes Blatt gemächlich zur Erde niederflattert, so ist das anzusehen, als hätte sich von den brennenden Zweigen ein Flämmlein losgelöst, um auf den seidendünnen Fäden zu tanzen, die blitzend und gleißend durch den ganzen Wald gesponnen sind. Die kleinen Vögel huschen mit erregtem Gezwitscher durch die Wipfel, als gält es ein hastiges Abschiednehmen oder ein Sammeln für die kommende Zeit der Not. Käfer schwirren auf und surren wieder hinab in das Versteck der gefallenen Blätter, und zahllose Ameisen kribbeln eilig über Stöcke und Steine, als wüßten sie, daß sie den schönsten Tag mit doppeltem Fleiß zu nützen haben, da schon der nächste Morgen den Winter bringen kann.

Und sinkt an solchem Tag die Sonne – welch wundersamen Zauber bringt dann der Abend mit der bunten Dämmerung, mit der sanft verschwimmenden Glut aller Farben, mit der kühlen, lautlosen Schlummerstille des todmüden Waldes. Und steht der neue Tag wieder auf, so sind die Farben noch milder getönt, und über Zweigen und Gräsern schimmert mit Perlenglanz der weiße Reif, der in der kalten Nacht gefallen.

Der Wald kann nie schöner sein als in solcher Zeit! Oder urteilt so nur der Jäger in mir? Weil der sterbende Wald auch dem Weidmann gesteigerte Freuden bietet? Weil die Zeit des Herbstes die lärmende, lustige Hochsaison des Weidwerkes ist?

Wie im Frühjahr das Jägerjahr eröffnet wird durch die von jedem Weidmann heißersehnte Heimkehr der Schnepfen, so eröffnet die Südlandreise des Langschnabels und seiner jungen Brut das fröhliche Jagdgetriebe des Herbstes. Die Freude, die ein Jäger an der Buschierjagd auf Schnepfen findet, ist eine Probe für seine weidmännische Tüchtigkeit und Ausdauer. Vom frühen Morgen bis zum Abend durch wirrverwachsene Gräben auf und nieder zu klettern, sich unermüdlich durch Dorngestrüpp und stachlige Brombeerstauden zu winden, den gutgeschulten Hund mit erfahrenem Geschick zu führen und bei dieser Mühe immer bereit zu sein für den schwierigen Schuß – das ist nicht die Sache des Sonntagsjägers, der von der Buschierjagd auf Schnepfen zu reden pflegt wie das Füchslein von den sauren Trauben. Schon auf dem Abendanstand verlangt der Schuß auf die hastig und lautlos ziehende Herbstschnepfe einen geübten Schützen. Aber ein firmer Meister in der Handhabung seiner Waffe muß der Jäger sein, der gute Schußerfolge beim Buschieren erzielen will mitten in zäher Dickung, deren Gezweig den Ausblick verschleiert und jede Bewegung stört. Wohl kündet sich die von der feinen Nase des Hundes aufgestöberte Schnepfe durch lautes ›Wuchteln‹ an, aber klug jede Deckung nützend, huscht sie mit flinkem Zickzack und niedrigen Fluges davon. Da gilt es schnell wie der Blitz das Feuer zu werfen. Ein Augenblick in ratlosem Zögern – und wo ist die Schnepfe? Verschwunden auf Nimmerwiedersehen!

Die Schwierigkeit solch eines Schusses macht auch das Erlegen einer Schnepfe zu einer Pikanterie der herbstlichen Treibjagden. Wenn da im Bogen das »Tiro, tiro!« der Treiber erschallt, zuckt auf den Ständen heiße Erregung durch alle Jägerherzen, jede Hand schließt sich energisch um die Flinte, und alle Augen suchen in den Lüften. Holt einer den Langschnabel glücklich herunter, so fühlt er sich den ganzen Tag als Heros der gesamten Jagdgesellschaft. Fehlt er aber die Schnepfe, so möchte er vor den schadenfrohen Blicken, die ihn von der Seite messen, am liebsten in den Waldboden versinken.

Eine ähnliche Rolle – himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt – spielt der Jäger, der auf der Treibjagd einen Fuchs zur Strecke brachte oder den roten Schleicher ›ungekränkt‹ passieren ließ. Das letztere ist nun allerdings ein weidmännisches Kapitalverbrechen, das die Verachtung, mit der es bestraft wird, vollauf verdient. Deshalb wird der Verbrecher auch immer zum verstockten Leugner. Ein Fuchs wird im Treiben nie gefehlt – er ist immer ›angeschossen‹, und darauf schwört der verdächtige Schütze die heiligsten Eide. ›Ganz unbegreiflich, daß er nicht liegenblieb! Er roulierte im Feuer wie ein Hase. Aber na, seinen Treff hat er. Die Bestie muß eingehen!‹ Das ist so das Schema für die übliche Ausrede. Und es ist wie ein Schicksal: Der Fuchs, der schon beim ersten Laut der Treiber rege wird und pfeilschnell das Weite sucht oder sich vorsichtig drückt bis zum letzten Augenblick vor dem Schluß des Treibens, weiß im Bogen mit Sicherheit immer jenen Stand zu finden, auf dem ein grüner Neuling im Weidwerk just mit seiner verstopften Zigarre, mit der Kognakflasche oder mit seinem knurrenden Hund beschäftigt ist.

Um bei den herbstlichen Treibjagden das pikante Kleeblatt voll zu machen, gesellt sich zu Fuchs und Schnepfe noch der Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat. An seiner Stelle muß da häufig eine arme, brave ›Mutter‹ ihr Leben lassen, die nach ›Sprung und Gestalt‹ von einem unglückseligen Schützen als Bock ›angesprochen‹ wurde. Gegen solche ›Versehen‹ hilft leider kein Jagdgesetz und kein Pönale – dagegen hilft nur die weidmännische Bestimmung, daß beim Treiben auf den Rehbock, der sein Gehörn schon abgeworfen hat, nicht mehr geschossen wird. Solch freiwillige Schonung sollte man dem schönen Liebling des Waldes in allen Revieren gönnen. Wildbret zu liefern das ist doch nicht die einzige Aufgabe der Jagd. Und ganz abgesehen davon, daß auf der Treibjagd mehr Böcke zu Holz geschossen als zur Strecke gebracht werden – es ist doch nur halbe Freude, mit einem Schrotschuß den Rehbock niederzuknallen, der die Schneuse überfällt oder am Saum des Bogens windend verhofft. Dem Rehbock gebührt die Kugel, und sie gebührt ihm auf der Pirsch.

Wie schön, im Vorsommer einsam hinauszuziehen in den jung ergrünten Wald! Wie schön, wenn der stattliche Sechserbock aus der dunklen Schonung auf die dämmernde Wiese tritt, bald ruhig äsend durch die hohen Gräser zieht, bald wieder sichernd aufwirft und dabei so recht den zierlich schönen Bau seines roten Körpers zeigt! Jetzt, Jäger, nimm die Büchse zur Wange und setz ihm die Kugel aufs Blatt, und wenn er im Feuer stürzt, dann jauchze aus frohem Jägerherzen, während der Widerhall deines Schusses hinrollt über die stillen Wälder!

Und wie schön, wenn du im Hochsommer zur Blattzeit dein Revier betrittst und mit lautloser Vorsicht jener Dickung zusteuerst, darin sich der alte, schlaue Herr verborgen hält, der dich auf der Pirsch zu dutzenden Malen foppte und dem du so manch einen Morgen und Abend nutzlos geopfert hast! Jetzt hat sein Stündlein geschlagen, jetzt führt ihn der Zug des Herzens vor dein Rohr! Leise atmend, in kühler Morgenstille oder in der schwülen Glut des Mittags, umgibt dich der schweigende Wald! Erst harrest du noch ein Viertelstündlein in lautloser Ruhe, dann beginnst du mit dem Blatt zu locken, recht schmachtend und liebevoll. Da rauscht es in der Dickung. Und der Stolze, Langgesuchte steht vor dir, verkörperte Leidenschaft und Sehnsucht! Deine Kugel fliegt, und das heiße Herz des schönen Wildes hat ausgeschlagen. Denke nicht, daß es grausam war, den Verliebten und Betörten gerade in dem Augenblick zu fällen, in dem er süße Freuden erhoffte – ihm hat der ungeahnte Tod keinen Schmerz gebracht, denn es stirbt sich in keiner Stunde leichter als im Vollgenuß des Lebens, im Rausche zärtlichen Gefühls! Und dein Schuß war schön! Schmücke in Weidmannsfreude dein Hütl mit dem grünen Bruch!

Solcher Stunden und ihres Genusses sollst du gedenken, wenn beim herbstlichen Treiben ein seines stolzen Hauptschmuckes beraubtet Bock an deinem Stand vorüberwechselt. Winke ihm lächelnd zu und laß ihn passieren, um nicht dir oder einem andern die schöne Sommerfreude zu schmälern! Ein Treiben in gut besetzten Revier bietet ja, auch wenn der Rehbock geschont wird, noch jagdliche Freuden in Hülle und Fülle. Ein Häslein um das andere huscht mit flinkem Lauf über die Schneuse. Hole die Ausreißer ein mit noch flinkerem Feuer! Ein Kaninchen saust vorüber wie eine graue Pelzkugel, die ins Fliegen kam und da gilt's einen blitzschnellen Schuß, oder die Schrote kommen zu kurz. Ein ›Bouquet‹ Fasanen rauscht aus dem Dickicht auf und flattert nach allen Seiten auseinander. Doch bevor sie sich noch aufgeschwungen haben über die Wipfel, stürzen im Feuer zwei prächtige Hähne, umwirbelt von staubenden Federn. Und ist dir die grüne Göttin besonders günstig, so führt sie einen schleichenden Marder zu deinem Stand, einen wackelnden Dachs oder einen verstrichenen Birkhahn. Stehst du aber gerade in Ungnade bei Hubertus, dann kannst du freilich auch im besten Revier vom Morgen bis zum Abend ein Treiben um das andere mit ablaufen, ohne eine einzige Patrone loszuwerden. Aber laß dir durch solches ›Pech‹ das frohe Jägerherz nicht betrüben!

Der Stolz, eine stattliche Strecke erzielt zu haben, ist nicht die einzige Freude, die das fröhliche Leben einer Treibjagd bietet. Welche Erquickung ist nach den dumpfen Stubentagen der Stadt dieses Wandern im herbstlich schönen Wald, das Atmen in seiner frischen, gesunden, alle Glieder stehlenden Luft! Dazu noch der reiche Humor des Tages, vom ersten lachenden Weidmannsgruß beim Stelldichein bis zum lustigen, mit fliegenden Scherzen gewürzten Jägermahl, das mitten im Walde gehalten wird, zwischen den letzten Blättern des Herbstes und dem ersten Schnee des Winters! Und welche Summe von Genuß bietet dem rechten Jäger für sich allein schon die Teilnahme an einer Waldjagd, die mit tüchtigem Personal und gut geschulten Treibern in streng weidmännischer Weise geführt wird und in musterhafter Ordnung wie am Schnürchen verläuft! Kehrst du heim von solcher Jagd, dann drücke zum Abschied dem Jagdherrn, der dich als einen der Auserlesenen gerufen, mit festem Jägerdanke die Hand! ›Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!‹ Wirst du aber in ein Revier geladen, aus dem du von der letzten Treibjagd nach Hause kamst, beinahe taub vom Mark und Bein durchdringenden Geschrei der Treiber, mit einem Halbdutzend Schroten in den Ledergamaschen, die dein Nachbarschütze für einen ›Fuchs oder Fasan‹ angesprochen – dann setze dich flink zum Schreibtisch und erwidere die nächste Einladung mit den höflichen Worten: ›Sehr geehrter Herr! Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie wieder an mich gedacht haben! Die Aussicht, in Ihrem schönen Revier die mannigfachen Freuden einer Treibjagd mitgenießen zu können, hat viel Verlockendes für mich. Doch leider verhindern mich ernste Berufsgeschäfte, Ihrer liebenswürdigen Einladung Folge zu leisten. Mit Weidmannsheil, Ihr ergebenster N. N. – PS. In der letzten Nummer der Jagdzeitung fand ich neu erfundene, völlig schrotdichte Gamaschen annonciert. Ich möchte Ihnen raten, mit dieser herrlichen Erfindung einen Versuch zu machen.‹ –

Während im Wald der Ebene die roten Blätter fallen und bei fröhlichem Jagdgetriebe Schuß um Schuß durch die bunten Hallen kracht, wird hoch in den Bergen, über deren Gipfel und Almgehänge ein früher Winter schon das weiße Schimmerkleid geworfen, stille und mühsame Jagd gehalten. Wenn zu Ende des Novembers die Flocken in dichter Menge um die Latschenfelder wirbeln, wenn die grimmig kalten Nächte schon alle Bäche zu Eis gerinnen machen und ein schneidender Wind mit Pfeifen um alle Grate und Schroffen saust – diese harte Zeit ist im verschobenen Liebeskalender der Natur der ›wunderschöne Monat Mai‹ des scheuen Krickelwildes. Je kälter da der Bergwind durch die Latschen fährt, um so heißere Gefühle erwachen in dem braven Gemsbock, der die schöne Zeit des Sommers in einsiedlerischem Behagen verbrachte und bei fleißigem Äsen nur der einen Aufgabe lebte, tüchtig Feist unter seine Decke zu bringen. Sein fahles Sommerkleid hat sich in glänzendes Schwarz verwandelt, drall und stattlich ist er anzusehen in der zottigen Fülle seines Winterpelzes, und schon beginnt sich der ›Bart‹ auf seinem Rücken zum Wachler auszuwachsen und weiß zu bereifen. Da hebt er nun ein ruheloses Suchen und Wandern an, und aus den Latschenfeldern der schattigen Klüfte, in deren kühlem und dichtem Versteck er seinen Sommerstand gehalten, steigt er zu den sonnseitigen Almgehängen empor, auf denen Rudel sich zu sammeln beginnen.

Treibt es der frühe Bergwinter gar zu schlimm, wirft er Schnee über Schnee und hüllt er durch lange Wochen alle Gipfel in Gewirbel und Nebel, dann freilich wird dem Hochlandsjäger die schöne Zeit der Gemsbrunft, die er das ganze Jahr hindurch mit Sehnsucht erwartete, gründlich verstöbert und verdorben. Wohl scheut er keine Unbill der Witterung, um für seinen Hut den stolzen Schmuck eines ›wachelnden‹ Gemsbartes zu gewinnen. Aber bei ›grobem‹ Wetter, bei dem der Wind in jeder Minute aus einem andern Winkel bläst, ist die Jagd auf das scharf ›windende‹ Gemswild eine nutzlose Mühe. Gemspirsch, die Aussicht auf Erfolg verspricht, verlangt blauen Himmel und gleichmäßig ziehenden Wind.

In solch trüber Novemberzeit steht der Hochlandsjäger wohl ein dutzendmal des Tages mit heißer Ungeduld vor dem Barometer und klopft an die Röhre, ob denn das gottsvermaledeite Quecksilber noch immer nicht steigen will. Endlich eines Morgens atmet er hoffnungsfreudig auf: ›Gott sei Lob und Dank, jetzt hat's a Ruckerl gmacht!‹ Gegen Mittag fällt ruhiger Nordostwind ein, Sonnenglanz durchbricht die ziehenden Nebel, und noch ehe der Abend kommt, tauchen die zuckerweißen Berge aus dem steigenden Gewölk hervor. Eine kalte Nacht sinkt über die Täler, und einzelne Sterne blitzen aus dem dunklen Schleier des Himmels.

Und nun wollen wir aufsteigen zu einer ›Gamspirsch‹ in die verschneiten Berge!

Eine Stunde, ehe der Morgen graut, sind wir parat zum Abmarsch, nicht allzu warm gekleidet, denn das Stapfen und Steigen im frischen Schnee wird uns heißer machen, als uns lieb ist. Einen bescheidenen Imbiß und einen guten Tropfen im Rucksack, den Stutzen und die Patronen, Fernrohr, Wettermantel und Bergstock – mehr brauchen wir nicht. Und jetzt hinaus in die Nacht! Der Himmel ist völlig klar geworden, und mit zitterndem Gefunkel leuchten die tausend Sterne. In schweren Klumpen fällt der Schnee von den Bäumen, deren Wipfel in leichtem Winde sich bewegen.

»Dös Winderl wär net ohne!« meint der Jäger, der uns begleitet. »Fein ziahgt's abi über'n Berg! Heut kunnt's krachen! Und an Tag kriagn mer, grad nobel!«

Schon der halbstündige Weg durch das langsam steigende Waldtal macht die Stirnen gehörig warm. Dann erst das Aufwärtsstapfen über den hoch verschneiten Jägersteig! Das ist wie ein Dampfbad, und alle paar hundert Schritte verhält man sich eine Minute, um den verlorenen ›Schnaufer‹ wiederzufinden. Der Wald geht zu Ende, und die steilen Latschenfelder beginnen. Allmählich hat sich der Schein der Sterne gedämpft, farbiges Zwielicht gleitet Über den Himmel hin, alle Konturen der weißen Berge werden klar und rein, und ein letztes verirrtes Wölklein löst sich auf in blauen Duft. Langsam und vorsichtig steigen wir höher und höher, jede Blöße zwischen den Felsen und Latschen mit spähenden Blicken musternd. »Denn in der Brunft, da fahrt a Gamsbock her über'n Weg, du woaßt net wie!«

Fast haben wir schon den Saum des Almfeldes erreicht, das sich zwischen zerklüfteten Felswänden breit bergan dehnt, schimmernd wie milchblaue Seide. Da brennt es auf dem höchsten der weißen Gipfel auf gleich einer roten Flamme.

»Sakra! Jetzt dürfen mer uns aber tummeln! D' Sunn fliegt an.«

»Sich tummeln?« Nein! Da heißt es stehen und schauen und staunen! Von einem Gipfel zum andern fliegt die rote Morgenflamme, tiefer und tiefer brennt sie herunter über Gewänd und Schnee, das ganze Almfeld überhaucht sich mit rosigem Glanz, sogar die Schatten tauchen sich in zarten Purpur. Und über allem der reine Himmel, tief und blau wie ein südliches Meer, und zwischen seinem Blau und dem rosigen Schneeglanz blitzt im Kontrast der Farben die silberweiße Linie des Grates.

»Herr Gott! Wie schön ist das!«

Da pfeift es in den Latschen, die Büsche rauschen, und Schnee stäubt auf.

»Mar' und Joseph!« zischelt der Jäger. »Richten S' Eahna! A Gamsbock! Und was für oaner!«

Doch ehe die Büchse noch an der Wange ist, fährt der schwarze Gesell, der uns auf lautloser Suche in den Weg geraten, mit sausender Flucht schon durch die Latschen hinunter in den Wald.

»Natürli! D' Natur antratschen! Dös is 's Richtige in der Gamsbrunft!« brummte der Jäger. »D' Sonn können S' alle Tag sehgn, aber so an Gamsbock net! No also, machen wir halt weiter! Der is jetzt schon beim Teifi!«

Ein Viertelstündlein steilen Marsches, und ein Hügel des Almfeldes ist erreicht. Gedeckt von einer Latschenstaude, lassen wir uns nieder. Obwohl wir bis an die Hüften im Schnee hocken, haben wir doch ein ganz behagliches Weilen, denn kaum merklich zieht der Wind, und die steigende Sonne beginnt sich lind zu fühlen. Während eine gute Zigarre den Ärger des Jägers besänftigt, halten wir mit dem Fernrohr Ausschau nach allen Seiten. Manch ein schwarzes Pünktlein auf dem sonnigen Schnee, das wir mit freiem Auge für eine Gemse halten, entpuppt sich durch das Glas als ein schattiger Felsbrocken oder als ein Latschenstäudlein, das sich aus der Schneedecke hervordrängt. Aber dort oben, wo die beschneiten Schuttfelder steil aufsteigen zu den kahlen Wänden, dort oben bewegen sich ein paar schwarze Punkte. Das Fernrohr wird gerichtet.

Ein Rudel! Und wir zählen gegen dreißig Stück, brave Mütter mit ihren Kitzen und einige Geltgeißen. Bei genauer Beobachtung zeigt es sich, daß beim Rudel ein dreijähriger Bock steht, der nicht als schußbar anzusprechen ist. Wäre es um die Zeit der Sommerpirsche, so würden wir ruhig weiterziehen und anderswo unser Heil versuchen. Aber jetzt, in der Brunft, da heißt es geduldig ausharren. Denn wo ein Rudel steht, wird ein guter Bock nicht lange auf sich warten lassen.

Ruhig sitzen wir im Schnee, der uns nun doch seine Kälte langsam in alle Knochen bohrt. Dazu beginnt der Wind immer schärfer zu ziehen. Die Ohren beginnen zu brennen, und die Finger werden steif. Aber die Beobachtung des Rudels kürzt uns die bittere Zeit. Einige der Gemsen ruhen im sonnigen Lager, andere ziehen langsam über den Hang und schlagen mit den Läufen den Schnee von der Erde, um Äsung zu finden. Zwischen den ruhig ziehenden Müttern tummeln sich die Kitzlein umher und treiben ihre munteren Spiele wie ausgelassene Schulkinder; sie jagen sich, versuchen harmlose Kämpfe und machen kleine Schlittenpartien über den stellen Schnee. In dem Dreijährigen erwachen sehnsüchtige Gefühle, und er beginnt bei den Schönen ein Werben, das an alle Eigenschaften eines Verliebten erinnert, nur nicht an scheue Zärtlichkeit. Eine alte Kokette drängt sich zutraulich an ihn heran. Aber der junge Galan scheint für die Reize des ›gefährlichen Alters‹ nicht das rechte Verständnis zu haben. Mit einem derben Krickelstoß jagt er die Schmeichlerin von seiner Seite und kehrt zu den jüngeren Schönen zurück, deren Sprödigkeit ihn noch feuriger macht und in groben Zorn versetzt. Just hat er ein schlankes Geißlein ein paar hundert Schritte über das Schneefeld hingesprengt. Da verhofft er plötzlich, äugt gegen die höheren Wände hinauf und stampft mit den Läufen.

»Passen S' auf jetzt«, flüstert der Jäger, »da is der Alte nimmer weit!«

Wir suchen die Wand mit dem Fernrohr ab. Und dort oben steigt er über den Grat heraus, »aber scho a höllischer Teifi«, stolz und kraftvoll, scharf abgehoben vom blauen Himmel, so daß sich mit dem Glas die hohen Krickeln und die wehenden Zotten des Bartes deutlich erkennen lassen.

»Sakra, sakra«, meint der Jäger, »den wann S' kriegen, da können S' Eahna gratulieren!«

Alle Kälte in Blut und Gliedern ist jäh verflogen, und mit heiß erregten Schlägen hämmert das Herz.

Ein paar Minuten äugt der Alte regungslos auf das Rudel nieder. Dann plötzlich kommt er über die Wand herabgefahren, daß die Steine prasseln, sprengt auf die Geißen ein und fordert mit brutaler Gewalt seine Rechte als Herr des Harems. Inzwischen hält sich der Dreijährige eine Weile in scheuer Ferne, dann beginnt er das Rudel in Unruh zu umkreisen und schlängelt sich immer näher heran. Aber ein paar zornige Sprünge des Alten jagen ihn wieder in die Flucht. Einsam steht nun der Verscheuchte auf einem Schneegrat. Die Sache scheint ihm offenbar nicht zu gefallen. Er stampft mit den Läufen, schüttelt die Luser, und dann entscheidet er sich für das bessere Teil der Tapferkeit, fährt über den Schneegrat nieder und verschwindet in einem Graben des Almfeldes.

Wir kümmern uns nicht weiter um die Richtung seiner Flucht und lassen den Alten und sein Rudel nicht aus den Augen. Doch jählings pfeift es ein paar Dutzend Schritte neben uns, und als wir aufblicken, steht der Dreijährige zwischen den niederen Latschen. Er scheint von unserem Anblick ebenso betroffen wie wir von seinem unerwarteten Auftauchen. Einige Minuten währt diese gegenseitige regungslose Musterung, bis ihm der Jäger mit einer scheuchenden Handbewegung zumurmelt: »Geh, du Springerl, fahr ab!« Das läßt sich der Bock nicht zweimal sagen. Erschrocken schlägt er um, saust durch die Latschen talwärts und pfeift noch ein paarmal, da er schon verschwunden ist.

Obwohl die Entfernung zwischen uns und dem Rudel fast tausend Schritte beträgt, sind doch die Pfiffe des Flüchtlings bis zu ihm hinaufgedrungen. Ein paar Geißen, die sich schon zur Ruhe niedergetan, springen wieder auf, der Alte klettert auf einen Felsblock, und so äugt das ganze Rudel zu uns nieder. Ein Glück, daß uns die Sonne im Rücken steht – ihr blendender Glanz macht den Gemsen ein deutliches Gewahren unmöglich. Dennoch scheinen sie die Gefahr zu wittern, denn eine Kitzgeiß beginnt über das Schuttfeld emporzuziehen, als wollte sie in die Felswand einsteigen.

»Auweh zwick! jetzt is gfeit!« brummt der Jäger und schließt mit einem derben Fluch die Vermutung, daß wir heute leer nach Hause gehen würden.

Seine böse Ahnung scheint sich zu bestätigen. Denn langsam zieht das ganze Rudel der führenden Kitzgeiß nach. Gemächlichen Schrittes und zuweilen den schwarzen Pelz schüttelnd, steigt der Alte hinter dem Rudel her, und wir folgen ihm seufzend mit den Blicken. Da verhofft er plötzlich, jagt über den steilen Schnee hinauf und sprengt die Geißen von der Wand zurück auf den Lahner. Das ganze Rudel steht dicht gedrängt und äugt über das Almfeld hinaus.

»Himmel Saxen!« zischelt der Jäger in heißem Eifer. »Da schaugn S' ummi! Da steigt oaner her über d' Schneid. Und gar koa schlechter net! Sakra, sakra, jetzt geht a Gschäft!«

Ein guter Bock, schwarz wie Kohle, ist am Saum des Almfeldes erschienen. Er hat das ganze Rudel gewahrt und trollt über den Schnee einher, seinen Weg durch spielende Sprünge kürzend. Der Alte zieht ihm entgegen, zögernd, als wollte er vorerst mit Bedacht die Kraft des nahenden Gegners prüfen.

»Geben S' acht, dö packen anander!« flüstert der Jäger. »Von deine zwoa, da woaß i net, was für oaner der besser is. Von dene zwoa gibt koaner so leicht riet nach!«

In wachsender Erregung sehen wir durch das Fernrohr dem Drama der Eifersucht zu, das sich dort oben auf dem steilen Schneefeld abspielen will. Deutlich gewahren wir durch das Glas, wie der Alte zornig die Oberlippe aufzieht, und trotz der Entfernung glauben wir seinen blökenden Kampf ruf zu vernehmen. Schon sind sich die beiden Gegner bis auf wenige Schritte nahgekommen. Sie stehen regungslos voreinander, mit gesenkten Krickeln – es scheint, als hätte jeder Respekt vor der Kraft des anderen und keiner so recht den Mut, um den unsicheren Kampf zu beginnen. Langsam und neugierig zieht das Rudel näher. Und als hätte die Gegenwart seiner Huldinnen die Kampflust des Platzbockes befeuert und seine Eifersucht gesteigert, so rennt er mit kraftvollem Sprung auf seinen Gegner los. Wir hören, wie die Krickeln aneinanderschlagen. Aber schon ist der Angreifer mit blitzschnellem Sprung wieder zurückgefahren und steht erwartend. Da holt der Gegner zum Angriff aus, beim Stoß verfangen sich die beiden Kämpen mit den Krickeln, und so zerren sie sich hin und her, daß es sich ansieht wie ein drolliges Spiel, nicht wie ein ernster Kampf.

Endlich kommen sie los voneinander, und der Alte retiriert, als wäre ihm schon halb der Mut gesunken. Das befeuert den Rivalen, und mit derben, immer hitziger werdenden Stößen bedrängt er den Platzbock, der sich aufs Parieren verlegt und dessen Kräfte immer mehr zu erlahmen scheinen. Aber diese scheinbare Schwäche ist nur schlaue Taktik des alten, geriebenen Burschen. Als sich der Gegner, der in heißem Ungestüm den Kampf mit einem Gewaltstreich beenden will, auf die Hinterläufe hebt, um mit gesenkten Krickeln den Rivalen am Nacken oder auf dem Rücken zu fassen, fährt ihm der Alte mit wuchtigem Stoß in die Weichen. Der Getroffene überschlägt sich und kugelt über den steilen Hang hinunter, umwirbelt von staubendem Schnee. Mühsam erhebt er sich, aber da rennt der Alte schon wieder mit wütendem Sprung auf ihn los, und in wilder Jagd sprengt er den Besiegten gegen die Tiefe des Almfeldes.

»Teifi no amal! jetzt aber gschwind! jetzt gilt's!«

Wir gleiten durch die Latschen hinunter in eine Mulde, und drüben geht's mit Keuchen wieder hinauf über Schnee und Geröll. Kaum haben wir, noch atemlos, die Höhe des Almgrates erklommen, da saust auch schon mit hängendem Lecker und stöhnend der gejagte Bock an uns vorüber. Einen tiefen Atemzug, den Hahn gespannt und die Büchse an die Wange – jetzt taucht mit rasenden Sprüngen der Sieger vor uns auf, doch bei dem Pfiff des Jägers verhofft der Bock, halb verschleiert vom aufwirbelnden Schnee. Dröhnend hallt der Schuß über das Almfeld hin. Im Feuer schlägt der Gemsbock um und verschwindet in einer Mulde. Auf dem jenseitigen Hang erscheint er wieder und flüchtet gegen das Rudel hin – eine zweite Kugel soll ihn einholen, aber da bricht er zusammen und rollt verendet über den Schnee. Ein Jauchzer schwingt sich auf in das sonnige Blau, während von den steilen Wänden die Steine niederprasseln, die das flüchtige Rudel löste.

Ein Stündlein später treten wir, der Jäger mit dem geschränkten Bock über den Schultern und der glückliche Schütze mit dem frischen Latschenbruch auf dem Hut, in die einsame und halbverschneite Sennhütte, deren Stube einen öden und unwirtlichen Anblick bietet. Alle Glieder zittern uns vor Kälte und Erschöpfung, die Augen sind rot gerändert und brennen vom blendenden Schneeglanz, den wir durch lange Stunden ausgehalten. Aber wir lachen, als kämen wir von lustiger Maipartie, und mit sprudelndem Eifer wird die ganze Jagd noch einmal durchgeplaudert. An dem Maßstab, der in den Bergstock eingeschnitten ist, wird die Höhe des selten starken Krickels und die Länge des sorgsam ausgerupften Gemsbartes gemessen – wobei der Jäger mit heiligen Eiden schwört, daß ›a söllener Bock in hundert Jahr nimmer gschossen weard‹!

In der Aschengrube wird ein flackerndes Feuer angeschürt, dessen Schein die verwahrloste Almstube freundlich überglänzt. Von der aufsteigenden Hitze des Feuers beginnt auf dem Hüttendach der Schnee zu schmelzen, und die Tropfen fallen und plätschern, als möcht es draußen schon Frühling werden.


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