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Zu einem viertönigen Akkord klangen die Schellen der beiden Rosse zusammen, unter deren Hufen der frisch in der Nacht gefallene Schnee in schimmernden Wölkchen emporstäubte; wo aber der Wind die Straße schon gefegt hatte, konnte man's pfeifen hören, wenn der ältere, festgefrorene Schnee zerschnitten wurde von den eisenbeschlagenen Kufen.
Die lange Peitsche knallte und trieb die Rosse zu raschem Ausgreifen an; sie schnaubten, während der graue Dunst, der von ihnen aufdampfte, in der trockenen Winterluft zerflatterte. Der Kutscher auf dem Bocksitz glich einem Bären, dem ein schnauzbärtiges Menschenhaupt auf den zottigen Rumpf gezaubert wurde. Und im Innern des Schlittens hoben sich aus Pelzwerk und Decken drei lachende Gesichter und ein ernster, schon ergrauter Männerkopf. Um seine Lippen huschte nur manchmal ein leichtes Lächeln, während ihm zur Seite Scherz und Gelächter in unermüdlicher Folge wechselten.
Von den vieren der vergnügteste war Möhler, der neben dem ernsten Storm im Fond des Schlittens saß. Man hätte ihn kaum für einen Maler, eher für einen Komiker mit Ferienbart gehalten und wäre in dieser Ansicht durch die Grimassen bestärkt worden, mit denen er jede lustige Anekdote begleitete, die der kleine Bodenstein zum besten gab.
Er erzählte aber auch gar zu gut, dieser kleine Bodenstein. Der leichte Berliner Dialekt half ihm die Pointen seiner Scherze so knapp und trocken abzuknallen, daß sie von unwiderstehlicher Wirkung waren. Auch er zeigte nicht jenes Bild, das man sich von einem Maler zu machen pflegt. Man hätte ihn eher für einen Dandy der edelsten Klasse gehalten. Alles an ihm war elegant, fein und zierlich. Deshalb nannten ihn seine Freunde auch den kleinen Bodenstein, obwohl er ein respektabel großer Landschafter war, dessen ›Dünen bei Abendbeleuchtung‹, dessen ›Austernfischer‹ und ›Boote auf stürmischer See‹ ihre Liebhaber fanden.
Sein Nachbar hingegen, das war der richtige Maler mit dem Simsonschmuck, mit dem schiefgesetzten Schlapphut darüber. je weniger Wolfert aus inneren Qualitäten berechtigt war, sich Maler zu nennen, um so eindrucksvoller suchte er den Typus eines solchen in seinem Äußeren darzustellen. Da er aber sonst ein gescheiter junge und deshalb schon längst zur Einsicht gekommen war, daß er seine Bilder nur malte, um mit ihnen die dunkleren Zimmerwände seiner Verwandten zu füllen, hatte er sich, um bei der Kunst mitsprechen zu dürfen, der Kritik ergeben, die ihn im Verein mit den Zinsen eines beträchtlichen Vermögens angenehm ernährte. Er war im Widerspruch zum Wesen der Kritik eine gutmütige Natur, ein fröhlicher Gesellschafter. Wie eine Biene die Blumen, so umschwärmte er die jünger der Kunst, um von ihrem süßen Ruhm ein Quentchen in die eigene Zelle zu tragen. Und den anderen war es recht. Diese Biene hatte keinen Stachel. Besonders an Storm hing Wolfert mit einer abgöttischen Verehrung. Sooft ein neues Bild dieses begabten Künstlers zur Ausstellung gelangte, versorgte Wolfert alle Zeitungen, Wochenblätter und Monatsschriften, zu denen er sich in Beziehung setzen konnte, mit ausführlichen Artikeln, die insgesamt, obgleich jeder einzelne mit einem anderen Buchstaben des Alphabets unterzeichnet war, eine innere Verwandtschaft bekundeten durch den häufigen Gebrauch der beiden Worte ›pastös‹ und ›genialisch‹.
Er war es auch gewesen, der Storm mit Drängen und Bitten veranlaßt hatte, an dieser Fahrt teilzunehmen, um in den winterlichen Bergen ein junggeselliges Weihnachten zu feiern. Seltsamerweise war er bei dem Künstler, der solchen Einladungen seiner Freunde sonst gerne Folge gab, anfangs auf hartnäckigen Widerstand gestoßen, als der Königssee als Ziel der Fahrt genannt wurde. Wenn Storm am Ende dennoch einwilligte, tat er es nur, um Wolfert nicht zu betrüben, der mit seiner Einladung nur die selbstlose Absicht verfolgte, den Künstler von der unermüdlichen Arbeit loszureißen, die ihn vor der Zeit altern ließ. Drum hatte auch Wolfert, seit sie in Reichenhall zusammen den Schlitten bestiegen, unter Beihilfe der beiden anderen alles Erdenkliche versucht, um einen fröhlichen Blick in die ernsten Augen des Freundes zu zwingen.
Mehr Aufmerksamkeit als für die Späße und Anekdoten seiner Reisegenossen hatte Storm für die funkelnde Winterlandschaft, die sich in fleckenlosem Gewande gegen die massigen Berge hob, durchwoben von steilen Fichtenhängen in schwärzlichem Grün, von schroffen Felswänden mit grauen, scharfen Konturen.
Lange schon lag Berchtesgaden hinter ihnen. jetzt fuhren sie vorüber an den kleinen Häusern von Unterstein, vorüber an Schloß Schoren, an dessen Mauern die Hirschgeweihe den Schnee in großen Ballen auf den zackigen Kronen trugen. Nun polterte der Hufschlag auf der Brücke, unter der die schäumende Ache zwischen beeisten Ufern rauschte. Der Kutscher ließ seine Peitsche knallen, und unter einem letzten Klingen der Schellen hielt der Schlitten vor dem Schiffsmeisterhaus zu Königssee.
Die Wirtsleute kamen, und Wolfert reichte ihnen die Decken und Pelze, während Möhler schon aus dem Schlitten sprang. »Alle Wetter! Seht nur! Der See ist gefroren. Hätt' ich eine Ahnung gehabt, ich hätte meine Schlittschuhe mitgeschleppt!«
Wohl war die Eisfläche überschneit; an vielen Stellen aber hatte der Wind den Schnee davongeweht, und da dehnte sich das Eis wie ein blankgeschliffener Smaragd, so durchsichtig, daß man die schimmernden Steine und die algenüberwachsenen Storren gewahren konnte, die umherlagen auf dem moosigen, nicht allzu tiefen Grund.
Möhler trat auf einen Schuppen zu, vor dem vier Kähne über lange Holzböcke gestürzt waren, um durch den Schiffsmeister von den Wunden geheilt zu werden, die sie aus dem strapaziösen Sommerdienst davongetragen.
»Seit wann ist der See zugefroren?«
»Seit a zehn a zwölf Tag vielleicht«, gab der Schiffsmeister zur Antwort.
Nun kamen auch Wolfert und der kleine Bodenstein, während Storm auf der Steinterrasse vor der Gaststube stehenblieb und emporschaute zu den sonnbeschienenen Schneebergen.
»Und reicht das Eis noch tiefer in den See?«
»Ja, 's ganze Wasser is zua.«
»Kann man das Eis begehen?«
»Ohne Sorg. Dös tragt an vierspännigen Wagen. Da schaugn S', da kommt grad der Knecht von Barthlmä aussi.«
Die drei Freunde sahen neben der Insel Christlieger, die den Ausblick auf den inneren See versperrte, die Gestalt eines Burschen auftauchen, der sich windschnell dem Ufer näherte. Er stand auf einem schmalen Schlitten und handhabte zwischen den gespreizten Beinen einen langen Stock, mit dem er sich in kräftigen Stößen über die Eisfläche stachelte.
»Das geht ja wie geblasen!« meinte der kleine Bodenstein, als der Bursch mit einem Ruck den fliegenden Schlitten parierte und ans Ufer sprang. »Hören Sie, mein Bester, da haben Sie ja die reine Geschwindigkeitskutsche.«
»Was?« lachte der Bursch. »A Gutschn? Dös is a Boanschlittn!«
»A Boanschlitten?« imitierte Bodenstein.
»Ja, wissen S', so hoaßt ma'n halt, von wegn die Boaner.« Der Bursche hob den Schlitten, die geschnäbelten Kufen nach oben drehend, und deutete auf die glattgeschliffenen Knochenstücke, die an den Enden jeder Kufe in das Holz eingelassen waren.
»Ne, das ist zu schön! Stellen Sie das Ding mal wieder her! Das muß ich probieren!«
Schmunzelnd schob der Bursch den Schlitten auf das Eis. Bodenstein stieg auf das Brett, ließ sich den Stachel reichen, nahm ihn zwischen die Beine, holte zu einem kräftigen Stoße aus, und – plumps, lag er hinter dem umgekippten Schlitten auf dem Else. »Die Geschichte scheint ihre Schwierigkeiten zu haben!« philosophierte er, während er sich erhob und seine Schattenseite rieb.
Möhler und Wolfert lachten.
»Dös hab i ma glei denkt!« versicherte der Bursch, während er den Schlitten aufrichtete. »Wissn S', so was muaß ma halt aa kinna. Gengen S' her da!« Er faßte den kleinen Bodenstein am Arm, drückte ihn auf den Schlitten nieder und hob ihm die Füße auf die Schnäbel der Kufen. Dann sprang er hinten auf das Brett – und dahin ging's im fliegenden Saus.
Nach wenigen Sekunden war der Schlitten hinter Christlieger verschwunden, nun kam er auf der anderen Seite der Insel zum Vorschein und flog dem Ufer zu, wobei der kleine Bodenstein jubelnd sein elegantes Hütl schwang. »Kinder! Kinder! Ich hab ne gottvolle Idee! Erst wollen wir essen, tüchtig, dann wollen wir solch einen fidelen Rutsch nach Bartholomä in Szene setzen! Was?«
Der Vorschlag fand Beifall. Als aber Möhler schon auf den Schiffsmeister zugegangen war, um die Schlitten zu bestellen, wandte Wolfert ein, daß man vor einer Abmachung auch Storm um seine Zustimmung hätte fragen sollen.
»Was soll er dagegen haben?« meinte Bodenstein. »Und dann, wir sind in der Majorität. Er muß!« Als sie hinaufkamen in die Gaststube, nickte Storm, als hätte er gegen den beschlossenen Plan nichts einzuwenden.
Plaudernd vertrieben sie sich die nächste Stunde, bis der Tisch gedeckt wurde für ein gutes, ausgiebiges Mittagessen.
Noch war die letzte Schüssel mit dem appetitlich gelben Kaiserschmarren nicht geräumt, als der Schiffsmeister in die Stube trat.
»Wie steht's, meine Herren? Soll i die vier Schlitten richtn lassen?«
»Drei Schlitten werden genügen«, sagte Storm.
»Wieso?« fuhr Wolfert auf.
»Für euch! Ich fahre nicht mit.«
Dreistimmiger Widerspruch.
»Aber Storm«, jammerte Wolfert, »ich meine doch, du hättest deine Zustimmung längst gegeben.«
»Meine Zustimmung, daß ihr euch dieses Vergnügen gönnen sollt. Von mir war nicht die Rede.«
Nun wollten die andern auch nicht fahren, wenigstens Möhler und Wolfert versicherten es; der kleine Bodenstein schnitt ein verdrießliches Gesicht.
»Wenn ihr mir den Rest meiner Laune nicht gründlich verderben wollt«, sagte Storm, »so nehmt auf mich keine Rücksicht. Fahrt nur! Und seid versichert, daß ich mir die Zeit leidlich vertreiben werde.«
Bodenstein meinte: »Schließlich werden wir auch keine Ewigkeit ausbleiben. Sagen Sie mal, Herr Meister der Schiffe, wie lange kann denn die Geschichte dauern?«
»In zehn Minuten san S' leicht in Barthlmä, und in zehne wieder heraußn aa.«
»Na also! Wir haben jetzt zwei Uhr dreißig. Rechnen wir eine Stunde, um uns in Bartholomä etwas aufzuwärmen. Na, so sind wir bis vier Uhr lange wieder da.«
»So laß i halt die drei Schlittn richten! Pelz und Deckn habri die Herrn scho selber? Nehmen S' nur mit, was da is, bei dera scharfn Bewegung macht's an schneidign Luft.«
Der Schiffsmeister ging, und die vier Freunde folgten ihm ans Ufer.
Da standen bereits die Schlitten auf dem Eis, und bei jedem ein Führer, den langen Stachel in Händen. Es waren zwei junge Burschen und ein älterer Mann mit einer scharfen Nase, mit buschigen Brauen und einem lang herunterhängenden grauen Schnurrbart.
Als Storm den Alten erblickte, flog's wie leichte Blässe über sein Gesicht, und er ließ kein Auge mehr von ihm. Als die Schlitten zur Abfahrt bereit waren, ging er auf den Alten zu und fragte: »Wie heißen Sie?«
»Mickei hoaß i.«
»Mickei Weindler?«
»Ja, Herr! Woher kennen S' mi denn?«
»Von früher her.« Storm trat von dem verwundert dreinschauenden Alten auf seine Freunde zu, um ihnen gute Fahrt zu wünschen.
Während die Schlitten davonflogen, einer hinter dem andern, richtete Storm an den Schiffsmeister die Frage: »ist denn Weindler hier in Königssee zu Hause?«
»Ja. Sell drobn am Berg dös Häusl, dös gheart eahm.«
»Er hat sich hier angekauft?«
»Ah na! Hergheiret hat 'r, scho vor a zwanzig Jahr. Dö zwoa Burschn, dö mit die andern Schlittn fahrn, dös san seine Buabn. No ja, und da weard der älter grad so an zwanzg Jahr sein.«
Storm wandte sich ab.
»Und er hätte doch mehr Ursache gehabt, nicht zu vergessen!«
Die vergnügten Freunde waren auf ihren Schlitten an der Insel Christlieger schon vorbeigeflogen und näherten sich der senkrecht in den See abfallenden Falkensteinwand.
»Halt!« rief Wolfert seinem Schlittenlenker zu.
»Nanu, was ist denn los?« schalt der kleine Bodenstein.
Wolfert hatte die Pelzdecke von seinen Füßen gezogen und brachte einen Topf zum Vorschein, den er seinen Gefährten mit triumphierendem Lächeln entgegenhielt. »Wißt ihr, was dieser Topf enthält? Unser Elixier! Ölfarbe! Die schönste schwarze Farbe! Ja, nun staunt ihr über mein Genie! Ich sah den Topf unter einem der reparierten Kähne stehen, und da schoß mir der genialische Gedanke durch das Hirn, daß wir mit Hilfe dieses edlen Topfes und dieses noch edleren Pinsels der staunenden Nachwelt ein Gedenken an diesen bedeutungsvollen Tag vererben könnten.«
Noch wußten die beiden andern nicht, was das bedeuten sollte, als Wolfert schon den Schlitten an die Felswand schob, den Pinsel schwang und auf das Sitzbrett stieg.
»Ne, so was!« spottete der kleine Bodenstein. »Das scheint der reine Kiselack zu werden!«
Wolfert ließ sich nicht irremachen. Mit flinken Strichen konturierte er auf dem weißgrauen Stein einen mächtigen Bierhumpen und malte darum mit dicker Farbe den schwarzen Grund eines Wappenschildes.
»Gott, wie pastös!« lachte Bodenstein.
»Das liegt so in meiner Mache«, gab Wolfert gutmütig zur Antwort und schrieb an die Felswand: Weihnachten 1879.
So war's auch den andern recht, und als Wolfert von seinem improvisierten Malstuhl wieder auf das Eis sprang, taten sie ihm den Gefallen und sagten ihm alles Lob um dieses Einfalles willen.
Wieder flogen die Schlitten.
Kaum eine Minute hatte die Fahrt gedauert, als der Alte, der mit dem kleinen Bodenstein vorausfuhr, unter einem Fluch den Stachel über die Eisdecke schrillen ließ, daß der Schlitten mit einer jähen Kurve zur Seite flog. »Fahrts ummi! Fahrts ummi!« rief er den zwei Buben über die Schulter zu, während er seinen erschrockenen Passagier am Arm faßte, damit er bei der heftigen Wendung nicht vom Schlitten geschleudert würde.
»Hören Sie, was war denn das?« fragte Bodenstein, als es schon wieder dahinging in gerader Fahrt.
»No, da waar ma schiergar einigfahrn in a Loch.«
»Ein Loch? Ich habe kein Loch gesehen.«
»Ja, wissn S', zuadeckt is der Eisboden no allweil, abr höchstris so dick wier a Daam. Ma siecht's grad, weil 's Eis nett so liacht is wia außn umanand.«
»Wie kommt das? Hier ist doch alles fest gefroren.«
»Muaß dengerst's Quellwasser von unt auffi steign! No, Sie, da wann i d' Reiben nimma dermacht hätt, da hätt ma roasn kinna bis aba. So a siebnhundert Schuach!«
Fröstelnd wickelte sich Bodenstein in seinen Pelz. »Ne, für so nen Reinfall dank ich!«
Die unbehagliche Stimmung, die dieser Zwischenfall in ihm wachgerufen, schwand bald wieder. Die Künstlernatur war es, die ihm darüber weg half. Als sein Auge forschend hinschweifte über das herrliche Bild, das sich desto weiter vor ihm auftat, je mehr sie der Seemitte zueilten, fragte er sich, was wohl die Menschenseele mächtiger erfasse, das wogende stürmische Meer mit dem wetternden Gewölk darüber, an dessen Wiedergabe er so oft sein Können schon gemessen, oder die stumm erhabene Schönheit, die sich hier vor seinem Blick emporbaute in den winterklaren Himmel?
Weit drüben am Ufer, das sich mit einem dünnen schwarzen Strich hinzeichnete zwischen Eis und Schnee, lag das Schloß von Bartholomä, das nur zu sehen war, weil sich von den weißen Mauern und unter dem beschneiten Dach die Fenster so dunkel abhoben.
Steil reckten sich die Berge aus dem schimmernden Grund, und das schroffe, schluchtendurchfurchte Haupt des Watzmann blickte stolz und unnahbar herunter aus seiner eisigen Höhe, alle Spitzen und Kuppen beherrschend wie der Riese die Zwerge.
»Hojoh! Hojoh!«
Der alte Mickei rief es, als die Schlitten zu Bartholomä an die schräge Bretterlände fuhren.
Bald saßen die drei Freunde in der Försterstube um den weißgedeckten Tisch. Hier war es heimlich und gemütlich, es plauderte sich behaglich, und das machte eine nette Stimmung, daß mitten ins Reden und Lachen die Zither klang, die einer der Jagdgehilfen auf den Knien hielt.
Die Zeit verging ihnen, sie wußten nicht wie. Als Wolfert bei einem Blick auf die Uhr mit Schrecken bemerkte, daß die beabsichtigte Dauer des Aufenthaltes lange schon überschritten war, tat es auch den anderen leid, daß sie des einsamen Freundes so sehr vergessen konnten.
Mit aller Eile wurde die Abfahrt betrieben. Als sie dem Ländeplatz zuschritten, sah der kleine Bodenstein besorgt hinaus über das Eis, von dem schon der graue Abendnebel aufzuqualmen begann. Er fragte den Schiffer, ob dieser Nebel nicht eine Gefahr für die Heimfahrt brächte. Der Alte tröstete lachend: »Der tuat uns nix! Da bin i scho hundertmal aus und eini gfahrn bei am Nebl, den ma hätt schneidn kinna wia 's Brot.«
Sie nahmen die Plätze auf ihren Schlitten ein, und Bodenstein mit dem alten Mickei eröffnete wieder den flinken Zug.
Je weiter sie in den See hineinkamen, desto dichter wurde der Nebel.
Die Hälfte der Fahrt war schon zurückgelegt, und nun ging es gegen die Falkensteinwand.
Da ließ der kleine Bodenstein plötzlich seinen Schlitten parieren und rief den Nachfolgenden zu, ein gleiches zu tun und sich lautlos zu verhalten. »Mir war, als hätt ich einen Menschen rufen hören. Hier auf dem See. Nicht weit vor uns.«
Sie lauschten. Da klang ihnen aus dem Nebel ein Geräusch entgegen, ein Knacken wie von brechendem Eis.
»Moan schier, es müaßt am selbigen Platzl sein«, flüsterte Mickei, »wissn S', Herr, wo mer so gach ummagfahrn san. Kon leicht Gambs oder a Stuck Wild einigfallen sein, dös übern See hätt umma mögn.«
»Nein, nein! Es ist ein Mensch! Hört nur!« stieß Möhler in Erregung hervor.
Wieder lauschten sie und vernahmen ein mattes Stöhnen und Rufen.
»Was stehen Sie noch? Mensch! Fahren Sie zu!« schrie Bodenstein den alten Mickei an.
»Ja, zuafahrn, dös is glei gsagt!« brummte der Alte, während er den Schlitten in Bewegung setzte. »Obacht gebn müassen mer allweil, daß mer net aa no einirumpeln.«
»So geben Sie Obacht! Aber fahren Sie! Schneller!« Näher klang das Krachen und Brechen, näher auch jenes Rufen und Stöhnen. Nun gewahrte man durch den Nebel auf dem Eis ein dunkles, sich regendes Etwas, deutlicher trat es hervor, ein Menschenkopf und zwei Arme, die sich über die Ränder einer von schwankendem Wasser überspülten Eiskluft spannten.
»Um Gottes willen! Storm! Storm!«
Noch war der Schlitten nicht völlig pariert, da hatte Bodenstein bereits den Pelz von sich geworfen und eilte über das Eis bis zu jener Stelle, wo die dunklere Färbung und das anspülende Wasser jeden weiteren Schritt als todbringende Gefahr bezeichneten, nicht nur für ihn selbst, mehr noch für den Verunglückten, den er retten wollte.
Den Schiffern und seinen zwei Freunden, die jammernd herbeikamen, rief er zu, sie sollten zurückbleiben, da sonst das Eis übermäßig belastet würde. Diese Stimme hatte einen Ton, der sich Gehorsam erzwang. Aus dem eleganten, zierlichen Dandy, dem man höchstens die Kraft zugetraut hätte, enge Handschuhe ein- und aufzuknöpfen, war ein mutiger und entschlossener Mann geworden. Mit raschem Blick überflog er die Unglücksstelle. Als er sah, wie bei jeder Bewegung, die Storm mit den Armen machte, um sich aus dem Wasser zu heben, das Eis brach und bröckelte, rief
er ihm zu: »Bleibe, Storm, bleibe, wie du bist! Rege dich nicht mehr!«
»Es hat Eile, Lieber!« klang die stöhnende Antwort. »Mich verläßt die Kraft. Ich erstarre.«
»Eine Minute, Storm, und alles ist gut.« Zu den andern sich zurückwendend, rief Bodenstein: »Mickei! Die Stöcke! Die drei Stöcke! Möhler, du komm! Aber vorsichtig!« Er hob die Hände, um die langen Stöcke zu fassen, die der Alte ihm reichte. Auf beide Knie sich niederlassend, rollte er den stärksten dieser Stöcke über das vom Wasser überronnene Eis. »Faß ihn, Storm, und lege dich mit den Armen darüber! So, nun komm ich!« Er streckte sich der Länge nach aus, wobei er die beiden andern Stöcke quer unter die Brust schob, um das Gewicht seines Körpers auf eine größere Fläche zu verteilen. »Mickei! Möhler! Legt euch nieder auf das Eis! Und faßt mich bei den Füßen!«
Langsam und vorsichtig, ohne des kalten Wassers zu achten, das ihm durch die Kleider drang, wand er sich vorwärts über die knisternde Eisdecke. Nun streckte er die Hände, aber es wollte nicht reichen. Ein Ruck, und noch einer – nun ging es, nun konnte er mit festem Griff die Handgelenke des Freundes umfassen.
»Na also, Stormchen! Siehst du, es geht ja! Wenn ich nu Hopp sage, dann versuch, dich ein wenig in die Höhe zu schwingen! Und ihr beide da hinten zieht dann mal recht feste an!«
Noch einmal rückte und spannte er die Finger, um festeren Halt zu bekommen.
»Uffjepaßt! – – Hopp!«
Wohl knackte und krachte die Eisdecke, doch es verblieb ihr keine Zeit, um zu brechen. Mit dem Aufgebot ihrer bis zum äußersten gesteigerten Kraft schleiften Möhler und Mickei den kleinen Bodenstein und den aus dem Wasser gerissenen Storm über die rollenden Stöcke dem festeren Grunde zu.
Das wäre ein Bild zum Lachen gewesen, wenn es hier nicht so bitter ernst um Tod und Leben gegangen wäre.
Es waren scherzende Worte, mit denen Bodenstein sich erhob, während Möhler und Wolfert den halb erstarrten Storm aufrichteten; nur am Ton seiner Stimme merkte man, daß ihm die Späße nicht recht von Herzen kamen. Kaum stand er auf den Füßen, da streifte er flink mit den Händen das Wasser von seinen Kleidern und ließ seinen Pelz und die Decken der andern holen, um Storm damit einzuwickeln, nachdem er ihm den triefenden Paletot, den Rock und die Weste vom Leib gezogen.
Storm vermochte kein Wort zu reden. Er war einer Ohnmacht nahe. Schauernd am ganzen Körper, sank er auf den Schlitten. Wolfert und Möhler stützten ihn zu beiden Seiten, und so schoben die zwei jungen Burschen den Schlitten vorwärts, während Bodenstein sich von Mickei in jagender Eile vorausfahren ließ, um für Storm im Schiffsmeisterhaus ein Zimmer wärmen zu lassen.
Stunden waren vergangen.
In einer freundlichen Stube, die von einer kleinen Lampe erhellt war, saßen Wolfert, Möhler und Bodenstein – der letztere in Kleidern, die ihm der Schiffsmeister zur Verfügung gestellt – um einen Tisch, der eine dampfende Punschbowle trug. Sie sprachen kein Wort, und wenn der eine oder der andere sein Glas füllte, vermied er jedes Geräusch. Es stand der Tisch vor dem Bett, auf welchem Storm in tiefem Schlafe ruhte. Starr lagen sein Kopf und seine Hände; nur über die Augenlider flog von Zeit zu Zeit ein leichtes Zucken, und manchmal schien es, als hätte er leise, wie im Traume redend, die Lippen bewegt.
Einen solchen Weihnachtsabend hatten die drei am Mische nicht erwartet, als sie in den Schlitten gestiegen waren. Aber alles wollten sie hinnehmen, wenn der unbegreifliche Vorfall für Storms Gesundheit nicht von nachteiligen Folgen wäre.
»Nun hat er den Kopf gewendet!« flüsterte Wolfert. »Vielleicht ist er erwacht.«
Sie lauschten. Storm regte sich nimmer. Seine Augen konnten sie nicht sehen, er hielt das Gesicht gegen die Wand gedreht.
Die ganze Zeit über hatte Wolfert sich Vorwürfe gemacht, daß er so rat- und tatlos gestanden, als es gegolten hatte, den Freund vom Tode zu retten. Er fühlte den Drang, seinen guten Willen wenigstens durch etwas zu betätigen, griff nach seinem Glas und sagte flüsternd: »Kommt, laßt uns die Gläser zusammenhalten mit dem Wunsche, daß unser lieber Freund gesund und frisch aus dem Schlafe erwache!«
»Ich danke für diesen Wunsch!« Das Gesicht wendend, sah Storm mit freundlichem Blick auf die drei jungen Leute, die in freudigem Schreck von ihren Stühlen sprangen.
Schon hatte Wolfert seine Hände gefaßt. »Gott sei Dank, daß ich dich wieder sprechen höre! Wie fühlst du dich? Ist dir wohl?«
»Ja. Ganz wohl. Nur müde fühl ich mich noch. Todmüde. Auch drückt mich noch die Erinnerung an die entsetzlichen Minuten, die ich verlebte. Und die Erinnerung an alles andere!« Storm richtete sich in den Kissen auf und reichte dem kleinen Bodenstein die Hand. »Deinem Mut und deiner Entschlossenheit habe ich es zu danken –«
»Na, na, nur jetzt keine lange Rede! Wenn nicht die beiden andern so energievoll an meinen verehrlichen Beinen gestrippt hätten, ich alleine hätte dich auch nicht herausgelotst. Sag mir lieber, was dich zu dieser unangenehm verlaufenen Eispromenade veranlaßt hat?«
»Was mich veranlaßte?« Ein Schatten von Schwermut legte sich über das Gesicht des Künstlers. »Ich stand am Ufer. Und da zog es mich zu jener Stelle! – Ist einer von euch schon einmal weggestiegen über eine steile, zu bodenloser Tiefe sich senkende Felswand? Wenn da der Fuß von dem spärlichen Raum, der sich ihm bietet, ein Stück des Gesteines löst, wenn es hinunterspringt über Schroffen und Riffe, polternd, rasselnd und sausend, so zieht es unwiderstehlich die Augen des Steigers nach sich. Er neigt sich von der Felswand, er reckt den Hals, um weiter und weiter mit seinem Blick die springenden, singenden Splitter auf ihrem grausigen Wege zu verfolgen. Und er fühlt ein seltsames Etwas, wie ein Winken und Locken aus der Tiefe. Ihr seht mich verwundert an? – Wolfert, gib mir zu trinken!«
Storm leerte das Glas auf einen Zug. Dann ließ er sich halb in die Kissen sinken und sah zu dem flimmernden Lichtkreis hinauf, den die Lampe an die Stubendecke warf.
»Es ist eine kurze Geschichte – die Geschichte nur weniger Stunden – und doch die Geschichte meines ganzen einsamen Lebens. jene Stunden lasten auf mir noch heut. Als unter meinem Schritt die Eisdecke brach, gewiß, ich hätte nicht auf eure Hilfe zu warten brauchen, meine eigene Kraft hätte genügt, um mich wieder emporzuarbeiten – wenn nicht jene Erinnerung gewesen wäre, die mich niederdrückte, mich wie mit eisigen Händen zur Tiefe zog.«
Schwer atmend schwieg er eine Weile; dann sprach er weiter.
»Im Juni sind es dreiundzwanzig Jahre gewesen. Ich stand in meinem letzten Akademiesemester. Ein fleißiger Junge war ich immer, aber gerade in jenem Monat hab ich mir keine Stunde Ruh vergönnt, bis mich schließlich das Übermaß der Arbeit zwang, wenigstens für einige Wochen Stift und Pinsel aus der Hand zu legen. Ich wanderte in die Berge. Es war eine schöne, schöne Reise, auf der ich vieles mit neuen Augen ansah, was ich auf früheren Fahrten nur mit halben Blicken erfaßt hatte. Die letzten Tage der mir vorgesteckten Zeit verbrachte ich in der Ramsau. Von hier aus wollte ich noch für einen Tag den Königssee besuchen und dann zurückkehren zu meiner Arbeit. Es war ein entzückender Morgen, an dem ich zu Ilsank den Steg überschritt und herwanderte durch den Schapbacher Forst, der noch im tiefen Frühschatten lag. Als ich heraustrat auf das Schönauer Feld und dieses herrliche Gebirge vor mir liegen sah, den Untersberg, den Göhl, das Brett, den Jenner, da ging mir das Herz auf. Singend schlenderte ich meines Weges, bis ich auf der Höhe von Winkel stand, wo ich den See schon heraufschimmern sah durch die Bäume und mir zu Füßen die Ache rauschen hörte. Mächtig zog es mich ins Tal hinunter, und ungeduldig stieg ich über den schmalen steinigen Pfad – bis ein Bild meinen Fuß bannte, ein Bild, das ich einsog in meine Seele. Ich weiß nicht, ob ich es euch mit Worten werde schildern können. Ja, wenn ich die Leinwand vor mir hätte!«
Storm blickte wie in weite Ferne.
»Es war eine alte, moosumwachsene Ulme, unter der ich stand, verdeckt von ihren niederhängenden Zweigen. Vor mir ein Wiesengrund, auf dessen Gräsern der Tau blitzte im gelben Schein der Morgensonne, die hinter den Bergen herauftauchte. Ein Teil der Wiese war frisch gemäht. Vom Wege war die Grasfläche geschieden durch eine Haselnußhecke. In ihrem spärlichen Schatten stand, wie zu kurzer Rast auf den Schaft einer Sense sich stützend, ein junges Mädchen. Dicke blonde Flechten umrahmten den feinen Kopf. Ein kurzärmeliges Hemd, ein braunes schmalfaltiges Röckl. So stand sie, von der Sonne abgewendet. Ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt waren überhaucht von blauduftigem Morgenschatten. Nur über das Haar, über den schlanken Hals und über die Rundung des feinen Körpers zog sich ein schimmernder Lichtstreif.«
»Storm?« warf Wolfert beklommen ein. »Schilderst du nicht das Bild, für das du damals den großen Akademiepreis erhieltest?«
Storm nickte. »Ja. Damals glaubte ich, mir dieses Bild von der Seele malen zu können. Und hab es mir nur tiefer noch hineingemalt! Was hätt ich in späteren Jahren, was hätt ich an jenem Tage noch dafür gegeben, wenn ich blind meines Weges gegangen wäre, anstatt mich zu stillem Schauen hinter die Zweige jener Ulme zu stellen! Als ich endlich hervortrat, zog das Mädchen errötend die Falten des Hemdes näher an den Hals; und kurz meinen Gruß erwidernd, schritt sie der Wiese zu. Lange sah ich ihr nach. Dann stieg ich zu Tal, nichts anderes mehr vor Augen als dieses Bild! Nun stand ich am See und hatte keinen Sinn für seine Schönheit. Wie ein Traum verrann mir Stunde um Stunde. Als ich den Wunsch äußerte, in einem Nachen hinauszufahren, tat ich es nur, um da draußen auf dem Wasser, inmitten der stummen Felsen, noch ungestörter bei meinen Gedanken zu sein. Ich glaubte ein Kielboot mit jenen Doppelrudern zu erhalten, die ich zu führen verstand. Einen solchen Kahn gab es nicht. Die Schiffe, die mir gezeigt wurden, waren Schiffe der gleichen Art, wie sie hier noch heute im Gebrauch sind – lange, schwerfällige Bretterkästen mit aufgeschnäbeltem Spitz und Steuerende. Der Schiffer, der einen solchen Nachen zu treiben hat, steht frei auf dem flachen Steuerbrett und führt mit beiden Händen das lange, in einem Riemen hängende Ruder.«
»Ich kenne das«, fiel Möhler ein, »es bedarf wochenlanger Übung, um die Bewegungen eines solchen Schiff es in seine Gewalt zu bekommen.«
»Als ich dem Schiffsmeister bemerkte, daß ich es nicht verstünde, in solcher Art zu rudern, sagte er, daß er mir jemand mitgeben würde, und lief davon. So war es nicht meine Absicht gewesen. Eben sann ich über eine Ausrede nach, als ich den Schiffsmeister kommen sah, an seiner Seite das Mädchen, dessen Bild mich nicht mehr verlassen hatte. Das änderte meine Absicht. Klopfenden Herzens stieg ich in den Nachen. Auch das Mädchen erkannte mich wieder. Sie nickte mir, als sie das Ruder aufnahm und in den Riemen schob, einen lächelnden Gruß zu, stieß den Kahn von der Lände und lenkte ihn mit geübten und kräftigen Armen durch das rauschende Wasser. Fest und sicher stand sie am Steuer. Sie trug das gleiche braune Röckl wie am Morgen, das, bei jedem Ruderzuge voranschwankend, die beiden Füße sehen ließ, die in hohen, geschnürten Schuhen staken. Die Brust war umschlossen von einem schwarzen, eng anliegenden Wams mit rotem, grün umrändertem Schild. Ein kleines blumenbesticktes Hütl saß zierlich auf den blonden Flechten. Nachdem ich sie eine Weile stumm betrachtet hatte, begann ich um allerlei Dinge zu fragen, um die Bergwege, um die Verhältnisse des Fremdenverkehrs, um ihre Heimat und ihren Namen. Es war eine hübsche, anheimelnde Sprache, in der sie ihre knappen Antworten erteilte. Sie hieß Nannei und war die jüngste Tochter eines Bauern, zu dessen Hof jener Wiesengrund gehörte, auf dem ich sie am Morgen gesehen hatte. Gleich den Burschen und anderen Mädchen stellte auch sie sich an schönen Tagen zum Schifferdienst, bei dem ein gutes Stück. Geld zu verdienen war. Und ob sie schon einen Schatz hätte? Sie lachte. ›Was täte denn ich mit einem Schatz?‹ So sagte sie – ich kann die Art ihrer heimatlichen Sprache nicht wiedergeben, auch nicht den Ton, in dem sich schalkhafter Spott mit leichter Verlegenheit mischte.
›Was täte denn ich mit einem Schatz?‹ So sagte sie und fügte kichernd bei: ›Die Buben sind nichtsnutzig. Man darf diesen Lugenschüppeln kein Stündl weit glauben.‹
Ich erwiderte, daß es damit doch nicht so schlimm stünde. Auch ihrem Leugnen könnte ich keinen Glauben schenken. Erstens wäre sie bei meiner Frage gar zu rot geworden und zweitens wäre es ganz undenkbar, daß ein so hübsches Mädel unter den vielen, die sich gewiß um ihre Gunst bemühten, nicht einen einzigen fände, der ihr taugen möchte.
Sie hob die Schultern und schmunzelte.
›Kommt es dir denn so spaßhaft vor‹, fragte ich, ›wenn ich dir sage, daß du hübsch bist? Das wirst du wohl oft genug hören?‹
Sie blickte der Richtung zu, nach der sie den Nachen lenkte. ›Mein Gott, die Leut reden viel, wenn der Tag lang ist, die Stadtleut besonders. Die haben auch Zeit dazu. Und keck sind sie auch genug.‹
›O die armen Stadtleut!‹ sagte ich. ›Auf die bist du, wie es scheint, nicht gut zu sprechen. Aber auch dir wird mancher von ihnen böse sein, wenn er fortgeht von hier und immer an das schöne Mädel denken muß.‹
›Die Stadtleut haben kein so langes Denken!‹ lachte Nannei. ›Wär wirklich einer so närrisch, den möcht ich wohl kennen!‹
›Sieh mich an, dann kennst du einen solchen.‹
Mag es der Sinn meiner Worte gewesen sein, der das Mädel stutzen machte, oder die Erregung, die aus meiner Stimme sprach – Nannei stellte das Ruder und sah mir mit großen Augen ins Gesicht.
›Nun hab ich dir einen Wunsch erfüllt‹, sagte ich, ›nun bist du in meiner Schuld. Du könntest diese Schuld leicht abtragen, ein Kuß von dir würde sie wett machen.‹
Da huschte um Nannels Mund ein Zucken, das für mich nicht schmeichelhaft war. Kräftig tauchte sie das Ruder ins Wasser. ›Bei uns zu Lande küßt man nur an hohen Feiertagen. Es ist noch lang bis zum nächsten.‹
›Ich habe Feiertag, solang ich dich sehe. Und wenn du so sparsam bist mit dem Geben, könnt es sein, daß ich mir den Kuß nehmen möchte.‹
›Wie es in der Stadt ist, weiß ich nicht. Bei uns daheraußen ist mögen und können noch allweil zweierlei gewesen.‹
›Das meinst du wohl?‹ Ein Sprung, ich stand vor dem Mädel, umschlang sie mit beiden Armen und drückte ihr Kuß um Kuß auf Mund und Wangen.
Als ich sie lachend wieder freigab, hatte sie ein brennendes Gesicht und hatte Tränen in den Augen. ›Ich tät mich schämen!‹ stieß sie hervor, während sie sich abwandte, das Ruder zu haschen, das aus dem Riemen ins Wasser gleiten wollte.
Wohl überkam es mich jetzt wie Reue. Dem Mädel wollte ich das nicht zeigen, und so zwang ich mich zu einem spottenden Lachen.
Nun stand sie wieder am Steuer. Bevor ich ihre Absicht recht verstehen konnte, hatte sie schon mit raschen Ruderschlägen das Boot gewendet.
›Was tust du!‹ fuhr ich auf. ›Weshalb wendest du das Schiff? Ich wünsche noch weiter zu fahren.‹
Sie erwiderte kein Wort. Mit starken Schlägen hob und tauchte sie das Ruder, daß mich die Tropfen überspritzten. Wenn die Schaufel Wasser faßte, legte sich Nannei mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf die Stange, daß der Nachen in klatschenden Stößen durch das aufrauschende Wasser schoß.
Immer wieder rief ich ihr zu, diese sinnlose Kraftprobe zu lassen. Umsonst! Schon wollte ich aufspringen, um ihr das Ruder aus den Händen zu winden, als ich vor uns an der Ecke der Falkensteinwand ein Schiff erscheinen sah. Das zwang mich zur Ruhe. An den Lippen nagend, starrte ich verdrossen vor mich nieder.
Da hör ich plötzlich ein Krachen, einen Schrei, sehe die Schaufel des gebrochenen Ruders aus dem Wasser Schießen, sehe Nannei wanken, sehe sie hinstürzen über den Rand des Bootes und sehe sie verschwinden in den Wellen, während der Nachen mit mir davongleitet.
Das Entsetzen lähmte mich. Erst das Rufen und jammern, das vom andern Schiff herüberklang, brachte mich wieder zur Besinnung. Da riß ich mir wohl den Rock vom Leib, die Schuhe von den Füßen und sprang ihr nach in den See. Aber ich war schon so weit von ihr, so weit! Ich sah sie mit dem Wasser kämpfen, sinken und wieder auftauchen. ›Mickei! Mickei!‹ hör ich es von ihren Lippen gellen. In Verzweiflung spannte ich meine Kraft aufs äußerste Maß – und da hör ich ihre Stimme gurgelnd ersticken und sehe das Wasser sich schließen über den gefaltet erhobenen Händen. Mir sanken die Arme, meine Füße wurden wie Blei, der blaue Himmel schwand mir in ein grünes, glasiges Flimmern, in den Ohren klang mir's wie ein Brausen, Summen und Singen. Dann überkam es meinen Leib wie süße Wollust.«
Verstummend bedeckte Storm das Gesicht mit den Händen. Schweigend saßen die drei Freunde am Tisch. Im Zimmer hörte man nur das leise Flirren der dem Erlöschen nahen Lampe.
Storm ließ die Hände sinken.
»Mich haben sie gerettet – die in dem andern Schiff. Welch ein Mißgriff! Nicht wahr? Und jedem, der es hören wollte, erzählten sie von meinem Heldenmut. Sie hatten es ja mit angesehen, alles, wie sie meinten, ganz genau.«
Seine Stimme zitterte.
»Das Geschrei der Leute war wie ein dumpfes Dröhnen in meinen Ohren. So stand ich am Ufer, Stunde um Stunde, in meinen triefenden Kleidern, wie gelähmt an allen Gliedern, und starrte immer hinaus auf den See. Jeder Gedanke, jedes Gefühl in mir war eine sinnlose Hoffnung, als müßte ein Wunder geschehen, um dieses blühende Leben dem Tode wieder aus den Klauen zu reißen. Während ich stand und immer noch hoffte, fuhren sie draußen auf dem See mit Kähnen umher und suchten mit langen Stangen, mit Netzen und eisernen Haken. Als es finster wurde, suchten sie beim Schein der Pechpfannen. Auf dem Schnabel jedes Bootes brannte eine rote Flamme. Die züngelnden, rauchverschleierten Lichter glitten lautlos durcheinander in der Finsternis. Oh, diese Nacht, die ich da erlebte!«
Er schwieg. Ein Schauer rüttelte ihm die Schultern.
»Als der Morgen kam, still und grau, fingen sie draußen auf den Schiffen plötzlich zu schreien an. Sie hatten gefunden, was sie suchten. Ich stand dabei, als sie die Leiche ans Ufer trugen. So schön war sie gewesen! Und jetzt! – Schweigend stand ich, keine Träne in den Augen. Aber da war ein Bursch. Der jammerte und weinte, daß es einem ans Herz ging. Und die Leute flüsterten, das wäre der Mickei, der Weindler-Mickei von der Schönau. Der wäre dem Nannei sein Schatz gewesen, und so lieb hätte er sie gehabt – der täte sich jetzt sicher ein Leid an. – Ja! – Knapp ein Jahr später hat er sich ein Weib mit Haus und Hof genommen. Als er mich heut aus dem Eise ziehen half, hat er wohl kaum mehr daran gedacht, was er an dieser gleichen Stelle verlor – durch meine Schuld, wenn auch nicht durch meinen Willen. Mich – der ich an ihrer Leiche keine Träne weinte – so trocken waren meine Augen –, mich trieb es fort wie mit brennenden Geißeln.«
Flackernd erlosch die Lampe.
»Nacht! – Seht, wie der Zufall spielt! Mit diesem Lichte wie mit Herzen und Menschenleben. ich bitt euch, geht! Laßt mich allein in dieser Nacht. Euch gehört das Glück und die Jugend. Ihr müßt das Licht suchen. Laßt mich allein! Tut es mir zuliebe!«
Still erhoben sie sich. Einer nach dem anderen reichte ihm die Hand. Dann gingen sie. Als sie hinaustraten unter den sternhellen Himmel, um drüben im andern Haus ihre Zimmer zu suchen, hörten sie von Berchtesgaden her das Läuten der Glocken.
Christnacht!
Wo sie wohnen sollten, sahen sie zu ebener Erde ein erleuchtetes Fenster flimmern. Da drinnen stand ein Baum mit brennenden Kerzen. jubelnde Kinder drängten sich um einen mit Spielzeug bedeckten Tisch.