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Nachdem er James und seinen Onkel in der Leichenkammer des Hospitals verlassen, irrte Soames ziellos in den Straßen umher.
Der tragische Vorfall von Bosinneys Tod gab allem ein verändertes Aussehen. Da war nicht länger das Gefühl, daß es verhängnisvoll sei eine Minute zu verlieren, noch hätte er gewagt irgend jemand von der Flucht seiner Frau in Kenntnis zu setzen, bis die gerichtliche Untersuchung vorüber war.
Er war an diesem Morgen frühzeitig aufgestanden, bevor der Postbote kam, hatte die ersten Briefe selbst aus dem Kasten genommen, und obwohl von Irene keiner dabei war, hatte er die Gelegenheit benutzt dem Mädchen zu sagen, daß die gnädige Frau an der See sei; er selbst, sagte er, würde wahrscheinlich von Samstag bis Montag auch hingehen.
Das hatte ihm Zeit zum Atemholen gegeben, Zeit keinen Winkel undurchstöbert zu lassen, um sie zu finden.
Doch nun, wo Bosinneys Tod – dieser seltsame Tod, an den zu denken ein Gefühl erweckte, als stieße man ihm ein glühendes Eisen in das Herz, als wälze man ein schweres Gewicht davon ab – ihn verhinderte, weitere Schritte zu unternehmen, wußte er nicht, wie er den Tag verbringen sollte und wanderte kreuz und quer durch die Straßen, sah in jedes Gesicht, das ihm in den Weg kam, und verzehrte sich in tausend Ängsten.
Und bei diesem Umherstreifen dachte er dessen, der am Ende allen Wanderns, allen Umherstreifens war und sein Haus nie wieder beunruhigen würde.
Bereits am Nachmittag sah er Anschlagzettel, die die Identität des Toten feststellten, und kaufte Zeitungen um zu sehen, was sie sagten. Er wollte ihnen den Mund stopfen, wenn es möglich war, und er ging in die City, wo er sich lange im Geheimen mit Boulter beriet.
Auf dem Heimweg gegen halb vier Uhr begegnete er vor dem Eingang zu Jobsons Laden George Forsyte, der ihm eine Zeitung reichte und sagte:
»Da. Hast du das über den armen Bukanier gelesen?«
»Ja,« erwiderte Soames steinern.
George starrte ihn an. Er hatte Soames nie leiden können; jetzt machte er ihn verantwortlich für Bosinneys Tod. Soames hatte ihn dahingebracht – hatte ihn durch jene Geldgeschichte dahingebracht, an jenem verhängnisvollen Nachmittag um seinen Verstand zu kommen.
»Der arme Kerl,« dachte er, »war so toll vor Eifersucht, so toll auf Rache bedacht, daß er in dem höllischen Nebel den Omnibus nicht bemerkte.«
Soames hatte ihn dahingebracht! Dies Urteil war in Georges Augen zu lesen.
»Man spricht von Selbstmord,« sagte er endlich. »Die Sache stimmt nicht!«
Soames schüttelte den Kopf. »Ein Unfall,« murmelte er.
Georg ballte die Zeitung in der Faust zusammen und stopfte sie in die Tasche. Er konnte sich aber einen Abschiedshieb nicht versagen.
»So–o! Zu Haus alles in Ordnung? Noch keine kleine Soamese in Sicht?«
Mit einem Gesicht, das so weiß war wie die Stufen vor Jobsons Laden, und die Lippen wie zu einem Knirschen öffnend, fegte Soames an ihm vorbei und war verschwunden.
Als er zu Haus anlangte und mit dem Schnepper in die kleine erleuchtete Halle trat, war das erste worauf sein Auge fiel, der goldbeschlagene Schirm Irenens, der auf der Truhendecke lag. Er riß den Pelz herunter und eilte ins Wohnzimmer.
Die Vorhänge waren für die Nacht vorgezogen, im Kamin brannte ein helles Feuer von Zedernscheiten, und in seinem Schein sah er Irene in ihrer gewohnten Sofaecke sitzen. Er schloß leise die Tür und ging auf sie zu. Sie rührte sich nicht und schien ihn nicht zu sehen.
»Du bist also zurückgekommen?« sagte er. »Warum sitzest du hier im Dunkeln?«
Jetzt fiel sein Blick auf ihr Gesicht, so weiß und unbeweglich, daß es aussah, als flösse das Blut ihr nicht mehr durch die Adern, und auf ihre Augen, die ihm enorm erschienen, wie die großen offenen, erschrockenen Augen einer Eule.
In ihren grauen Pelz eingemummt, gegen die Sofakissen gelehnt, hatte sie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einer gefangenen Eule, die das weiche Gefieder gegen die Stäbe des Käfigs preßt. Das biegsam Aufrechte ihrer Gestalt war verschwunden, als wäre sie durch äußerste Anstrengung geknickt; als hätte es keinen Zweck mehr, schön und biegsam und aufrecht zu sein.
»Du bist also zurückgekommen,« wiederholte er.
Sie blickte weder auf noch sprach sie, der Feuerschein huschte über ihre reglose Gestalt.
Plötzlich versuchte sie sich zu erheben, doch er hinderte sie daran; jetzt erst verstand er sie.
Sie war zurückgekommen wie ein zu Tode gehetztes Tier und wußte nicht, wohin sie sich wenden, nicht was sie anfangen sollte. Der Anblick ihrer in den Pelz gehüllten Gestalt sagte genug.
Jetzt fühlte er mit Gewißheit, daß Bosinney ihr Geliebter gewesen, wußte daß sie den Bericht über seinen Tod gesehen – vielleicht wie er selbst an der zugigen Straßenecke die Zeitung gekauft und gelesen hatte.
Sie war also aus eigenem Antrieb zurückgekommen, zurück in den Käfig, aus dem sich zu befreien sie geschmachtet hatte – und als er die furchtbare Bedeutung von alledem erkannte, hätte er am liebsten aufgeschrien: ›Fort aus meinem Haus mit dem verhaßten Leib, den ich so liebe! Fort mit dem jammervoll weißen Gesicht, so sanft und grausam – ehe ich es vernichte. Fort aus meinen Augen; laß mich dich niemals wiedersehen!‹
Und bei diesen ungesprochenen Worten, meinte er sie aufstehen und sich entfernen zu sehen, wie in einem fürchterlichen Traum, aus dem zu erwachen sie sich mühte – sich zu erheben und hinauszugehen in Dunkel und Kälte, ohne einen Gedanken an ihn, ohne seine Gegenwart auch nur zu bemerken.
Da schrie er auf, das wiederrufend was er noch nicht gesprochen: »Nein, bleibe hier!« wandte sich ab von ihr und setzte sich auf den gewohnten Platz an der andern Seite des Kamins.
Schweigend saßen sie da.
Und Soames dachte: ›Wozu ist alles dies? Warum muß ich so leiden? Was habe ich getan. Die Schuld ist nicht mein!‹
Wieder blickte er zu ihr hinüber. Sie hockte wie ein zu Tode getroffener Vogel, dessen Brust du keuchen siehst, als bekäme er keine Luft, dessen arme Augen matt, sanft und blicklos, dich anschauen, der ihn geschossen, und Abschied nehmen von allem Schönen – von Sonne, Luft und Gespielen.
So saßen sie beim Feuer, in Schweigen, jeder an einer Seite des Kamins.
Und der Dunst der brennenden Zedernscheite, den Soames so liebte, schien ihm den Hals zuzuschnüren, bis er es nicht länger ertragen konnte. Er ging hinaus in die Halle und riß die Tür weit auf, die kalte Luft von draußen gierig einzuatmen; dann ging er ohne Hut und Rock auf den Platz hinaus.
Das Gartengitter entlang kam eine halbverhungerte Katze auf ihn zu geschlichen, und Soames dachte: »Leiden! wann wird mein Leiden ein Ende nehmen?«
An einer Haustür gegenüber kratzte ein Herr seiner Bekanntschaft sich die Stiefel mit einer Miene ab, die sagen sollte: »Hier bin ich Herr!« Und Soames ging weiter.
Von fern riefen die Glocken der Kirche, in der er und Irene getraut worden, zum Advents-Gottesdienst, und das Geläute übertönte den Straßenlärm. Er hatte Verlangen nach einem starken Trunk, sich in Gleichgültigkeit einzulullen, oder zur Wut zu erregen. Wenn er nur aus sich heraus gekonnt hätte, aus diesem Gespinst, das er zum ersten Mal im Leben um sich spürte. Wenn er sich nur dem Gedanken hätte ergeben können: »Laß dich von ihr scheiden – schick sie fort! Sie hat dich vergessen. Vergiß auch sie!«
Wenn er sich nur dem Gedanken ergeben hätte: »Laß sie gehen – sie hat genug gelitten!«
Wenn er sich nur dem Gedanken hätte ergeben können: »Mache eine Sklavin aus ihr – sie ist in deiner Gewalt!«
Oder wenn er sich wenigstens der plötzlichen Vorstellung hätte ergeben können: »Was liegt an alledem?« Wenn er sich selbst eine Minute hätte vergessen können, vergessen, daß was er tat von Bedeutung war, vergessen, daß was er auch tun mochte, er etwas opfern mußte.
Wenn er nur einem Impulse folgend hätte handeln können!
Er konnte nichts vergessen, sich keinem Gedanken ergeben, keiner Vorstellung, keinem Wunsch; es war alles zu schwer, zu eng um ihn herum, ein unverwüstlicher Käfig.
Am andern Ende des Squares riefen Zeitungsjungen ihre Abendblätter aus, und die gellen Rufe mischten sich kreischend mit dem Klang der Kirchenglocken.
Soames hielt sich die Ohren zu. Ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß ebensogut nicht Bosinney, sondern er selbst tot hätte daliegen können, und sie, anstatt dort wie ein angeschossener Vogel mit brechendem Blick zu kauern –
Etwas Weiches berührte seine Beine, die Katze rieb sich an ihnen. Und Soames stieß einen Seufzer aus, der ihn vom Scheitel bis zur Sohle schüttelte. Dann ward alles wieder still in der Dunkelheit, aus der die Häuser, jedes mit seinem Herrn und seiner Herrin und einer geheimen Geschichte von Glück oder Kummer, ihn anzustarren schien.
Und plötzlich nahm er wahr, daß seine eigene Tür offen war und schwarz gegen das Licht der Halle ein Mann davor stand. Er stahl sich dicht hinter ihn.
Er konnte seinen eigenen, über den geschnitzten Eichenstuhl hingeworfenen Pelz sehen, die persischen Decken, die Silberschalen, die Reihen der an den Wänden geordneten Porzellanteller, und den unbekannten Mann, der dort stand.
Scharf fragte er: »Was wünschen Sie, mein Herr?«
Der Besucher wandte sich um. Es war der junge Jolyon.
»Die Tür stand offen,« sagte er. »Könnte ich Ihre Frau eine Minute sprechen, ich habe eine Botschaft für sie!«
Soames starrte ihn von der Seite seltsam an.
»Meine Frau kann niemand sehen,« murmelte er unwirsch.
»Ich würde sie keine Minute aufhalten,« versetzte der junge Jolyon freundlich.
»Sie kann niemand sehen,« sagte er nochmals.
Des jungen Jolyon Blick schoß an ihm vorüber in die Halle, und Soames wandte sich um. Da stand in der Tür zum Wohnzimmer Irene mit wilden, brennenden Augen, die Lippen geöffnet, die Hand ausgestreckt. Beim Anblick der beiden Männer erlosch das Leuchten in ihrem Gesicht; sie ließ die Hände an den Seiten herabsinken und stand wie versteinert.
Soames drehte sich um; er begegnete den Augen des Besuchers, und bei dem Blick, den er darin sah, entfuhr ihm ein Laut, der einem Knirschen glich. Er verzog die Lippen zu dem Schatten eines Lächelns.
»Dies ist mein Haus,« sagte er; »ich besorge meine Angelegenheiten allein. Ich sagte Ihnen bereits – ich sage Ihnen noch einmal, wir sind nicht zu sprechen.«
Und er schlug dem jungen Jolyon die Tür vor der Nase zu.
Ende.