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Der alte Jolyon liebte keine hastigen Entschlüsse; wahrscheinlich hätte er sich den Kauf des Hauses in Robin Hill noch länger überlegt, wenn nicht Junes Gesicht ihm gesagt hätte, daß er keinen Frieden haben würde bis er gehandelt.
Beim Frühstück am nächsten Tage fragte sie, um welche Zeit sie den Wagen bestellen solle.
»Den Wagen!« sagte er scheinbar voller Harmlosigkeit; »wozu? Ich wollte nicht ausgehen!«
Sie antwortete: »Wenn du nicht früh hingehst, triffst du Onkel James nicht mehr, ehe er in die City geht.«
»James! was ist's mit Onkel James?«
»Das Haus,« erwiderte sie mit einer solchen Stimme, daß er nicht länger Unwissenheit vorschützte.
»Ich bin noch nicht entschlossen,« sagte er.
»Du mußt! Du mußt! Oh! Großvater – denk an mich!«
»An dich denken –« brummte der alte Jolyon, »ich denke stets an dich, aber du denkst nicht an dich; du denkst nicht daran, was du dir aufbürdest. Meinetwegen, bestelle den Wagen um zehn!«
Eine Viertelstunde später stellte er in Park Lane seinen Schirm in den Ständer – Hut und Rock wollte er nicht ablegen. Er sagte dem Diener, daß er seinen Herrn zu sprechen wünsche, ging, ohne sich anmelden zu lassen in das Arbeitszimmer, und setzte sich.
James befand sich noch im Speisezimmer und sprach mit Soames, der sich vor dem Frühstück wieder eingefunden hatte. Als er hörte wer der Besucher war, murmelte er nervös: »Was mag der nur wollen?«
»Übereile du dich nur mit nichts,« sagte er zu Soames. »Das erste was geschehen muß ist zu erfahren wo sie ist – ich würde deswegen zu Stainer gehen; er hat die besten Leute, können die sie nicht finden, so kann niemand es.« Und plötzlich murmelte er in seltsamer Weichheit vor sich hin: »Armes kleines Ding! Ich begreife nicht, was sie sich gedacht hat!« schnaubte sich die Nase und ging hinaus.
Der alte Jolyon stand nicht auf, als er seinen Bruder sah, sondern streckte die Hand aus und wechselte einen Forsyteschen Händedruck mit ihm.
James zog einen Stuhl vom Tisch heran und stützte den Kopf in die Hand.
»Nun,« sagte er, »was machst du? Wir sehen jetzt nicht mehr viel von dir!«
Der alte Jolyon beachtete die Bemerkung nicht.
»Wie geht es Emily?« fragte er, wartete jedoch keine Antwort ab und fuhr fort: »Ich bin gekommen um über die Angelegenheit des jungen Bosinney mit dir zu sprechen. Das neue Haus von ihm steht nun ganz zwecklos da, wie ich höre.«
»Davon weiß ich nichts,« sagte James, »ich weiß nur, daß er seinen Prozeß verloren hat und wohl Bankrott machen wird.«
Der alte Jolyon säumte nicht die Gelegenheit zu benutzen, die sich ihm hier bot.
»Es würde mich nicht im geringsten wundern!« stimmte er zu; »und wenn er Bankrott macht, wird der ›reiche Mann‹ – das heißt wird Soames den Schaden tragen. Also woran ich dachte war dies: Wenn er dort nicht wohnen will –«
Als er sowohl Erstaunen wie Argwohn in James' Augen sah, fuhr er hastig fort: »Ich will nichts wissen; vermutlich hat Irene es nicht gewollt – mich geht es ja nichts an. Aber ich denke selbst an ein Haus auf dem Lande in der Nähe von London, und wenn es mir gefiele, will ich nicht sagen, daß ich es zu einem vernünftigen Preise nicht in Betracht ziehen würde.«
James hörte diese Eröffnung mit einem seltsamen Gemisch von Zweifel, Argwohn und Erleichterung an, die jedoch mit der Furcht verschmolz, daß etwas dahinter stecken könnte, und durch die Überreste seines alten zuversichtlichen Vertrauens zu dem guten Glauben und dem Urteil seines älteren Bruders etwas beeinträchtigt war. Auch die Besorgnis darüber kam hinzu, was der alte Jolyon wohl erfahren haben konnte und wie er es erfahren hatte, und daneben eine aufsteigende Hoffnung, daß Junes Großvater, falls ihre Beziehungen zu Bosinney wirklich ganz zu Ende waren, kaum gesonnen sein werde dem jungen Manne zu helfen. Alles miteinander verwirrte ihn; da er dies aber weder zeigen noch sich bloßstellen wollte, sagte er:
»Wie ich hörte, hast du dein Testament zugunsten deines Sohnes verändert.«
Niemand hatte es ihm gesagt; er hatte nur die Tatsache, daß er den alten Jolyon mit seinem Sohn und Enkeln gesehen, mit der Tatsache zusammengestellt, daß er sein Testament von Forsyte, Bustard und Forsyte weggeholt hatte. Der Hieb saß.
»Wer sagte dir das?« fragte der alte Jolyon.
»Ich erinnere mich wirklich nicht,« sagte James; »ich kann Namen nicht behalten – ich weiß, jemand sagte es mir. Soames hat einen Haufen Geld für dieses Haus ausgegeben; er wird wohl nicht darauf verzichten, außer zu einem guten Preis.«
»Schön,« sagte der alte Jolyon, »wenn er denkt, ich werde einen Märchen-Preis dafür zahlen, so ist er im Irrtum. Ich habe nicht soviel Geld fortzuwerfen, wie er zu haben scheint. Mag er versuchen es teuer zu verkaufen und sehen was er dafür bekommt. Das Haus ist nicht jedermanns Geschmack, wie ich höre!«
James, der insgeheim diese Ansicht teilte, erwiderte: »Es ist das Haus eines Gentleman. Soames ist eben hier, wenn du ihn zu sprechen wünschst.«
»Nein,« sagte der alte Jolyon, »ich bin noch nicht so weit und werde sehr wahrscheinlich auch nicht so weit kommen, wenn man mir auf diese Weise entgegenkommt!«
James war ein wenig eingeschüchtert; wenn es bei einer geschäftlichen Transaktion zu den wirklichen Zahlen kam, war er seiner selbst sicher, denn dann hatte er mit Tatsachen zu tun und nicht mit Menschen; aber einleitende Verhandlungen wie diese machten ihn nervös – er wußte nie, wie weit er eigentlich gehen durfte.
»Ja,« sagte er, »ich weiß nichts darüber. Soames, der sagt mir nie was; ich glaube fast, er wird darauf eingehen, es – es ist eine Frage des Preises.«
»Oh!« sagte der alte Jolyon, »laß ihn nur nicht eine Gnade daraus machen!« Er setzte grollend den Hut auf.
Die Tür öffnete sich und Soames trat herein.
»Draußen ist ein Polizist,« sagte er mit seinem halben Lächeln, »er fragt nach Onkel Jolyon.«
Dieser blickte ihn ärgerlich an, und James sagte: »Ein Polizist? Ich habe nichts mit einem Polizisten zu schaffen. Aber vermutlich hast du etwas mit ihm zu schaffen,« fügte er mit argwöhnischem Blick auf seinen Bruder hinzu: »Du wirst schon mit ihm sprechen müssen!«
In der Halle stand ein Polizeiinspektor und sah sich mit seinen blaßblauen Augen unter den schweren Lidern blöde die schönen alten englischen Möbel an, die James auf der berühmten Auktion Mavrojano in Portman Square erstanden hatte. »Sie finden meinen Bruder dort drinnen,« sagte James.
Der Inspektor legte die Finger respektvoll an seine hohe Mütze und trat in das Arbeitszimmer.
James sah ihn mit großer Spannung hineingehen.
»Na,« sagte er zu Soames, »wir werden wohl warten müssen und hören was er will. Dein Onkel ist wegen des Hauses hergekommen!«
Er ging mit Soames ins Speisezimmer zurück, fand aber keine Ruhe.
»Was mag er nur wollen?« murmelte er wieder.
»Wer?« fragte Soames. »Der Inspektor? Sie schicken ihn von Stanhope Gate hierher, weiter weiß ich nichts. Der ›Scheinheilige‹ von Onkel Jolyon hat wohl Mausereien verübt, denke ich mir!«
Allem trotz seiner Gelassenheit war auch ihm unbehaglich zumute.
Nach zehn Minuten kam der alte Jolyon herein.
Er trat an den Tisch und blieb dort, an seinem langen weißen Schnurrbart zupfend, unbeweglich stehen. James starrte ihn mit offenem Munde an; so hatte er seinen Bruder noch nie gesehen.
Der alte Jolyon hob die Hand und sagte langsam:
»Der junge Bosinney ist im Nebel überfahren worden und getötet.«
Dann blickte er mit seinen tiefen Augen von oben auf Bruder und Neffen herab: »Man – spricht – von – Selbstmord,« sagte er.
James' Kiefer fiel herab. »Selbstmord! Warum sollte er das getan haben?«
»Gott weiß es, wenn ihr, du und dein Sohn, es nicht wißt!« antwortete der alte Jolyon streng.
James erwiderte nichts darauf.
Allen hochbetagten Menschen, selbst allen Forsytes hat das Leben bittere Erfahrungen gebracht. Der Vorübergehende, der sie in ihre Mäntel der Gewohnheit, des Reichtums und der Bequemlichkeit gehüllt sieht, würde nie vermuten, daß solche dunklen Schatten auf ihre Wege fallen konnten. Jedem hochbetagten Manne – selbst einem Sir Walter Bentham – ist wenigstens einmal der Gedanke an Selbstmord im Vorraum seiner Seele aufgetaucht und an der Schwelle, auf Einlaß harrend, durch einen Zufall, eine vage Furcht oder schmerzliche Hoffnung aufgehalten worden, die innerste Kammer zu betreten. Einem Forsyte fällt dieser letzte Verzicht auf Besitz schwer, sehr schwer! Selten – vielleicht nie – können sie es vollbringen; und doch, wie nahe daran sind sie nicht manchmal schon gewesen!
Selbst James! Jetzt rief er in dem Wirrwarr seiner Gedanken plötzlich aus: »Es stand ja gestern in der Zeitung: ›Im Nebel überfahren!‹ Sie kannten seinen Namen nicht!« In seiner Seelenangst wandte er sich von einem Gesicht zum andern, doch instinktiv wies er das Gerücht von Selbstmord immer noch zurück. Er wagte nicht an dem Gedanken festzuhalten, der seinen Interessen, den Interessen seines Sohnes und eines jeden Forsyte so widersprach. Er wehrte sich dagegen, und da seine Natur stets unbewußt verwarf, was er nicht mit Sicherheit annehmen konnte, überwand er allmählich seine Furcht. Es war ein Unfall! Es mußte einer gewesen sein!
Der alte Jolyon unterbrach ihn in seiner Träumerei.
»Der Tod trat augenblicklich ein. Er lag den ganzen Tag gestern im Hospital. Nichts deutete an wer er war. Ich gehe jetzt hin; du und dein Sohn sollten es ebenfalls tun.«
Da keiner dieser Aufforderung widersprach, verließ er mit ihnen das Zimmer.
Es war ein stiller, klarer, schöner Tag, und von Stanhope Gate nach Park Lane war der alte Jolyon im offenen Wagen gefahren. In die Polster zurückgelehnt, eine Zigarre rauchend, hatte er mit Vergnügen die beißend scharfe Frische der Luft und das Getöse von Droschken und Menschen wahrgenommen; es war die merkwürdige, fast Pariserische Lebhaftigkeit, die der erste schöne Tag nach einer Periode von Regen und Nebel in die Straßen von London bringt. Und er hatte sich so glücklich gefühlt; seit Monaten hatte er sich nicht so gefühlt. Das Bekenntnis June gegenüber war überstanden; er sah sich in Zukunft in Gesellschaft seines Sohnes und vor allem seiner Enkelkinder – (er hatte an diesem Morgen im Hotch Potch ein Zusammentreffen mit dem jungen Jolyon verabredet, um darüber zu sprechen); und dazu kam die Aussicht auf die angenehme Aufregung eines kommenden Kampfes, eines kommenden Sieges über James und ›den reichen Mann‹ in der Hausangelegenheit.
Jetzt war sein Wagen geschlossen; er hatte nicht das Herz auf die Fröhlichkeit zu blicken, noch durfte man Forsytes mit einem Polizeiinspektor fahren sehen.
Im Wagen fing der Inspektor wieder an von dem Tode zu sprechen:
»Gerade dort war es gar nicht so belebt. Der Kutscher sagt, der Herr müsse Zeit gehabt haben zu sehen was er tat, er schien direkt hinein zu rennen. Offenbar ging es ihm sehr schlecht, wir fanden mehrere Pfandscheine in seiner Wohnung und sein Guthaben auf der Bank ist überschritten, die Sache steht heute in der Zeitung;« seine kalten blauen Augen wanderten von einem der drei Forsytes im Wagen zum andern.
Von seiner Ecke aus beobachtend, sah der alte Jolyon das Gesicht seines Bruders sich verändern und den grübelnden gequälten Ausdruck darin sich vertiefen. Bei den Worten des Inspektors waren James' Zweifel und Furcht in der Tat aufs neue erwacht. Sehr schlecht – Pfand – scheine – ein überschrittenes Guthaben! Diese Worte, die ihm zeitlebens wie ein ferner Alp gewesen, schienen den Argwohn des Selbstmords, an dem um keinen Preis festgehalten werden sollte, unbarmherzig zu bestätigen. Er suchte den Blick seines Sohnes; aber Soames mit seinen Luchsaugen saß stumm und unbeweglich da und erwiderte ihn nicht. Der alte Jolyon erriet das Bündnis gegenseitigen Schutzes zwischen ihnen und ihn übermannte der Wunsch seinen eigenen Sohn zur Seite zu haben, als wäre dieser Besuch bei dem Toten ein Kampf, in dem er den andern beiden sonst einarmig entgegentreten mußte. Und der Gedanke wie Junes Namen fern von dieser Sache zu halten war, schwirrte ihm unaufhörlich im Kopf. James hatte seinen Sohn zur Hilfe da! Warum sollte er nicht nach Jo schicken?
Er nahm seine Brieftasche heraus und schrieb mit Bleistift folgende Botschaft:
»Komm sofort her. Ich schicke den Wagen für dich.«
Beim Aussteigen gab er dem Kutscher die Karte, beauftragte ihn so schnell wie möglich in den Hotch Potch Klub zu fahren und falls Mr. Forsyte dort sei die Karte abzugeben und ihn sofort herzubringen. War er noch nicht da, so sollte er warten bis er käme.
Er folgte den andern langsam die Treppe hinauf, stützte sich auf seinen Schirm und blieb einen Augenblick stehen um Atem zu schöpfen. Der Inspektor sagte: »Hier ist die Leichenkammer, Sir. Aber nehmen Sie sich Zeit.«
In dem kahlen, weißgetünchten leeren Raum, wo nur ein Sonnenstrahl die staublosen Dielen streifte, lag eine Gestalt, mit einem Laken zugedeckt. Mit seiner großen festen Hand faßte der Inspektor den Saum und schlug es zurück. Ein blickloses Antlitz starrte zu ihnen empor, und an jeder Seite dieses blicklos trotzigen Antlitzes starrten die drei Forsytes darauf hinab; in jedem von ihnen stiegen und sanken die Empfindungen der eigenen Natur, Furcht und Mitleid, wie die steigenden, sinkenden Wellen des Lebens, deren Spur die weißen Wände nun für immer von Bosinney absperrten. Und jeden von ihnen zwang die Anlage seiner Natur, jener eigentümlich starke Drang sich in einer Weise zu geben, die sich so völlig und unwandelbar von der jedes andern menschlichen Wesens unterscheidet, zu einer andern Denkungsart. In weitem Abstand von den andern und doch unerklärlich nahe bei einander stand jeder hier gesenkten Blicks allein dem Tode gegenüber.
Leise fragte der Inspektor:
»Sie erkennen den Herrn, Sir?«
Der alte Jolyon hob den Kopf und nickte. Er blickte zu seinem Bruder hinüber, dieser langen, hageren, über den Toten gebeugten Gestalt mit dunkelrotem Gesicht und den starrblickenden grauen Augen, und dann auf Soames, der still und bleich neben seinem Vater stand. Und alles was er gegen jene zwei gefühlt, schwand hin wie Rauch in der ewigen weißen Nähe des Todes. Woher kommt er – wie kommt der – Tod? Ein plötzliches Umstoßen alles dessen was gewesen; blindes Betreten eines Pfads, der – wohin führt? Ein dunkles Verlöschen des Feuers! Langsam brutale Vernichtung, die alle Menschen durchmachen und den Kopf doch bis zum Ende tapfer oben behalten müssen! So klein und nichtig, als wären sie Insekten! Über des alten Jolyon Gesicht huschte ein Leuchten, denn Soames schlich, nachdem er dem Inspektor etwas zugeflüstert, geräuschlos hinaus.
Plötzlich hob James die Augen. Es lag ein seltsames Flehen in dem argwöhnischen, verstörten Blick: »Ich weiß, daß ich's mit dir nicht aufnehmen kann,« schien er zu sagen. Und nach seinem Taschentuch suchend, wischte er sich die Stirn; dann beugte er sich traurig und schlaff über den Toten, wandte sich ab und eilte ebenfalls hinaus.
Still wie der Tod, die Augen auf die Leiche geheftet, stand der alte Jolyon da. Woran mochte er wohl denken? An sich selbst, als sein Haar noch braun war wie das des jungen Mannes, der tot vor ihm lag? An sich selbst, als der Kampf begann, der lange, lange Kampf, den er geliebt? An den Kampf, der für diesen jungen Mann vorüber war, da er noch kaum begonnen? An seine Enkelin mit ihren getäuschten Hoffnungen? An jene andere Frau? An das Seltsame und den Jammer von alledem? An die unerforschlich bittere Ironie dieses Endes? Gerechtigkeit! Es gab keine Gerechtigkeit für Menschen, denn sie wandeln ewiglich in Finsternis!
Oder vielleicht dachte er in seiner Philosophie: Besser allem enthoben zu sein! Besser fertig zu sein, wie dieser arme Jüngling ...
Jemand berührte seinen Arm.
Eine Träne quoll auf und netzte seine Wimpern. »Ich kann hier nichts ausrichten,« sagte er, »ich will lieber gehen. Du kommst so bald du kannst zu mir, Jo,« und mit gesenktem Haupt ging er hinaus.
Jetzt war der junge Jolyon an der Reihe den Platz neben dem Toten einzunehmen, um dessen hingestreckte Gestalt er alle Forsytes atemlos auf den Knieen zu sehen meinte. Der Schlag war zu schnell gekommen.
Mächte, die bei jeder Tragödie walten – Mächte, die nicht wegzuleugnen sind, die auf wunderlichen Bahnen auf ihr hohnvolles Endziel hinarbeiten, hatten sich vereint und mit einem Blitzschlag gezündet, das Opfer niedergeworfen und alle Umstehenden zu Boden gestreckt.
So jedenfalls glaubte der junge Jolyon sie alle um Bosinneys Leiche liegen zu sehen.
Er bat den Inspektor ihm zu erzählen was geschehen war, und dieser berichtete umständlich wie einer, dem sich nicht alle Tage eine solche Gelegenheit bietet, über alle bekannten Einzelheiten.
»Es steckt mehr dahinter, Sir,« sagte er, »als zu erkennen ist. Ich glaube weder an Selbstmord noch an einen puren Unfall. Viel wahrscheinlicher ist, daß er unter einer heftigen Gemütsbewegung litt und auf die Dinge um ihn her nicht achtgab. Vielleicht erhalten Sie hieraus einige Klarheit.«
Er nahm aus seiner Tasche ein kleines Paket und legte es auf den Tisch. Sorgfältig öffnete er es und entnahm ihm ein Damentaschentuch, mit einer Nadel aus blassem venetianischem Golde zusammengesteckt, deren Stein aus der Fassung gefallen war. Der Duft getrockneter Veilchen wehte dem jungen Jolyon entgegen.
»In seiner Brusttasche gefunden,« sagte der Inspektor, »der Name war herausgeschnitten!«
Der junge Jolyon antwortete stockend: »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen!« Aber lebhaft stieg das Antlitz vor ihm auf, das so bang und froh bei Bosinneys Kommen aufgeleuchtet hatte! An sie dachte er mehr, als an seine eigene Tochter, mehr als an die andern alle – an sie mit dem dunklen sanften Blick, dem zarten duldenden Gesicht, die auf den Toten wartete, vielleicht eben jetzt, in diesem Augenblick still und geduldig im Sonnenscheine seiner harrte.
Bewegt ging er vom Hospital zum Hause seines Vaters und sah im Geiste, daß dieser Tod die Auflösung der Familie Forsyte zur Folge haben würde. Der Schlag hatte in der Tat trotz aller Abwehr, ihren Baum bis in sein innerstes Mark getroffen. Dem Anschein nach mochten sie blühen wie bisher und tapfer ihr Ansehen wahren vor aller Augen, doch der Stamm war tot, verdorrt unter dem selben Blitzstrahl, der Bosinney hingestreckt. Und nun würden die jungen Schößlinge seinen Platz einnehmen, jeder einzige ein neuer Hüter des Sinnes für Besitz.
Du schöner Forsyte-Wald! dachte der junge Jolyon – bestes Bauholz unseres Landes!
Hinsichtlich der Ursache dieses Todes würde seine Familie zweifellos mit aller Macht den Verdacht des Selbstmords zurückweisen, der so kompromittierend war! Sie würden ihn als Unglücksfall betrachten, als einen Schicksalsschlag. In ihren Herzen empfanden sie es wohl gar als Einmischung der Vorsehung, eine Vergeltung – hatte Bosinney nicht ihr kostbarstes Eigentum bedroht, ihren Geldbeutel und ihren Herd? Und sie würden sich von ›jenem unglückseligen Unfall des jungen Bosinney‹ unterhalten, doch vielleicht auch taten sie es nicht – Schweigen war wohl besser!
Er selbst legte dem Bericht des Omnibus-Kutschers über den Unfall nur wenig Wert bei. Denn keiner, der so wahnsinnig liebt, begeht wegen Mangel an Geld einen Selbstmord; noch war Bosinney der Mann, von einer finanziellen Krisis soviel Aufhebens zu machen. Und so verwarf auch er die Annahme eines Selbstmords, das Gesicht des Toten stand ihm zu deutlich vor Augen. Auf der Höhe seines Sommers hingegangen – und glauben zu sollen, daß ein Unfall Bosinney im vollen Überschwang seiner Leidenschaft hingerafft, schien dem jungen Jolyon gar zu erbärmlich.
Dann sah er in Gedanken Soames' Heim vor sich, wie es jetzt war und wie es hiernach werden mußte. Der Blitzstrahl hatte den unnatürlich hellen Glanz darin zerstört, daß nichts mehr blieb als bloßes Gebein und grinsende Leere dazwischen, das verhüllende Fleisch war fort ...
In seinem Speisezimmer saß der alte Jolyon ganz allein, als sein Sohn eintrat. Er sah sehr bleich aus in seinem großen Armstuhl. Seine Augen schweiften rundum über die Wände mit ihren Gemälden von Stilleben und dem Meisterstück ›Holländische Fischerboote bei Sonnenuntergang‹, die staunend auf sein Leben hinzustarren schienen, auf dies Leben mit seinen Hoffnungen, seinem Gewinn und seinen Werken.
»Ah, Jo!« sagte er, »bist du's. Ich habe es der armen kleinen June gesagt. Aber das ist noch nicht alles. Gehst du zu Soames? Sie ist vermutlich selbst schuld daran; aber ich kann den Gedanken, daß sie da eingeschlossen sitzt – und ganz allein, gar nicht ertragen.« Und er hob die dünne geäderte Hand und ballte sie zur Faust.