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Sechstes Kapitel

Soames überbringt eine Nachricht

Als Soames das Gericht verließ, begab er sich nicht gleich nach Haus. Er hatte keine Lust in die City zu gehen, und in dem Bedürfnis nach Sympathie in seinem Triumph, machte er sich ebenfalls, aber langsam und zu Fuß, auf den Weg zu Timothy in Bayswater Road.

Sein Vater war eben fortgegangen; Mrs. Small und Tante Hester, die die ganze Sache kannten, begrüßten ihn herzlich. Er müsse doch hungrig sein nach der Verhandlung. Das Mädchen sollte ihm noch frisches Backwerk rösten, sein lieber Vater hatte alles aufgegessen. Er müsse die Beine aufs Sofa legen und ein Gläschen Pflaumenlikör nehmen. Es sei so stärkend.

Swithin war noch da, er hatte länger gezögert als sonst seine Gewohnheit war, denn er hatte nichts vor. Bei der Erwähnung des Likörs zuckte er verächtlich die Achseln. Dahin war es jetzt mit den jungen Leuten gekommen! Seine eigene Leber war nicht in Ordnung, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß außer ihm jemand Pflaumenlikör trank.

Fast unmittelbar darauf ging er fort indem er Soames fragte: »Und wie geht's deiner Frau? Bestelle ihr von mir, daß wenn sie sich langweilt und Lust hat mit mir zu essen, ich ihr eine Flasche Champagner vorsetzen werde, wie sie ihn nicht jeden Tag bekommt.« Er starrte von seiner Höhe auf Soames herab, ballte seine dicke gedunsene gelbe Hand, als wolle er all dies Kleinzeug darin zermalmen, und in stolzer Haltung watschelte er langsam davon.

Mrs. Small und Tante Hester waren entsetzt. Swithin war so drollig!

Sie selbst hätten Soames gern gefragt, wie Irene das Resultat aufnehmen würde, fühlten aber, daß sie es nicht durften. Vielleicht sagte er selbst aus eigenem Antriebe etwas, das Licht auf die brennendste Frage ihres Lebens warf, auf diese Frage, die sie durch die Notwendigkeit des Schweigens mehr quälte als zu ertragen war; denn selbst Timothy hatte jetzt alles erfahren, und die Wirkung auf seine Gesundheit war nichts weniger als beängstigend. Und was würde June wohl tun? Das war ebenfalls von höchst aufregender, vielleicht gefährlicher Bedeutung.

Sie hatten den Besuch des alten Jolyon, seit dem er sich nicht einmal bei ihnen hatte sehen lassen, nie vergessen, hatten nie jenes damals alle Anwesenden überkommende Gefühl vergessen, daß die Familie nicht mehr war was sie gewesen – daß die Familie begann sich aufzulösen.

Aber Soames kam ihnen nicht zu Hilfe, er saß da, ein Knie über das andere geschlagen, und sprach über die Maler-Schule von Barbizon, die er eben entdeckt hatte. Das waren die Männer der Zukunft, sagte er; er würde sich nicht wundern, wenn eine Menge Geld damit verdient würde. Er selbst habe zwei Bilder eines Malers, Namens Corot im Auge, entzückende Sachen; wenn er sie zu einem vernünftigen Preise bekommen könnte, wolle er sie kaufen – sie würden, wie er glaubte, einst einen hohen Wert haben.

Wenn dies sie natürlich auch interessierte, konnte sich doch weder Mrs. Small noch Tante Hester darein finden so hingehalten zu werden.

Es war interessant – höchst interessant – und dann war Soames so klug, daß sie überzeugt waren, wenn jemand, so könnte er etwas mit jenen Bildern machen; aber was für Pläne hatte er jetzt, da er den Prozeß gewonnen; wollte er London gleich verlassen und auf dem Lande leben, oder was beabsichtigte er zu tun?

Soames antwortete, daß er es nicht wisse, sie würden wohl bald übersiedeln. Er stand auf und küßte seine Tanten.

Sobald Tante Juley dieses Emblem des Abschieds in Empfang genommen hatte, ging eine Veränderung mit ihr vor, als wäre eine fürchterliche Entschlossenheit über sie gekommen; jeder kleine Fleischwulst in ihrem Gesicht schien den Versuch zu machen, sich aus einer unsichtbaren einengenden Maske zu befreien.

Sie erhob sich zur vollen Höhe ihrer mehr als mittelgroßen Gestalt und sagte: »Ich hatte längst die Absicht, mein Lieber, und da niemand sonst es dir sagen will, habe ich mir vorgenommen –«

Tante Hester unterbrach sie: »Vergiß nicht Julia, du tust es« – sie keuchte – »auf deine eigene Verantwortung!«

Mrs. Small fuhr fort, als habe sie nicht gehört: »Ich finde, du mußt erfahren, mein Lieber, daß Mrs. Mac Ander Irene mit Bosinney im Richmond Park spazierengehen sah.«

Tante Hester, die ebenfalls aufgestanden war, sank in ihren Stuhl zurück und wandte das Gesicht ab. Wirklich, Julia war zu – sie täte so etwas nicht, wenn sie – Tante Hester, im Zimmer war; und atemlos vor Spannung wartete sie auf Soames' Erwiderung.

Die Röte war ihm ins Gesicht gestiegen, jene eigentümliche Röte, die sich immer zwischen den Augen festsetzte; er hob seine Hand wie um einen Finger zu wählen und biß vorsichtig an einem Nagel, dann sagte er gedehnt zwischen den geschlossenen Lippen: »Mrs. Mac Ander ist eine Katze!«

Ohne eine Antwort abzuwarten verließ er das Zimmer.

Als er zu Timothy ging, hatte er überlegt, welchen Weg er einschlagen wollte, wenn er nach Hause kam. Er wollte zu Irene hinaufgehen und sagen:

»Ich habe den Prozeß also gewonnen und die Sache hat ein Ende! Ich werde nicht hart gegen Bosinney sein; ich will sehen, ob wir nicht zu einer Verständigung kommen können; er soll nicht gedrängt werden. Und nun laß uns ein neues Leben beginnen! Wir wollen das Haus vermieten und aus diesem Nebel heraus kommen. Wir wollen gleich nach Robin Hill hinaus. Ich – ich wollte nicht roh gegen dich sein! Wir wollen uns wieder vertragen – und –« Vielleicht würde sie sich von ihm küssen lassen und vergessen!

Als er Timothys Haus verließ, waren seine Absichten nicht mehr so einfach. Die unterdrückte Eifersucht und der Argwohn langer Monate loderten in ihm auf. Er wollte der Sache ein Ende machen, ein für alle Mal; wollte seinen Namen nicht von ihr in den Schmutz zerren lassen! Wenn sie ihn nicht lieben konnte oder wollte, wie es ihre Pflicht war und er es verlangen durfte – sollte sie ihm nicht mit irgend einem andern dumme Streiche spielen! Das würde er von ihr fordern; ihr mit Scheidung drohen! Das mußte sie zur Vernunft bringen; sie konnte das nie ertragen. Allein – allein was – wenn sie es tat? Er wurde stutzig; daran hatte er nicht gedacht!

Was, wenn sie es tat? Was, wenn sie ihm ein Geständnis machte? Wie würde er dann handeln? Er mußte es zu einer Scheidung kommen lassen!

Einer Scheidung! So nah war das Wort lähmend, es stand so völlig im Widerspruch mit all den Prinzipien, die bis hierher sein Leben geleitet hatten. Das Unversöhnliche darin erschreckte ihn; er kam sich vor wie ein Schiffskapitän, der mit eigener Hand die kostbarsten seiner Waren über Bord wirft. Dieses Überbordwerfen seines Eigentums mit eigener Hand schien Soames unnatürlich. Es würde ihm in seinem Berufe schaden. Er mußte sehen das Haus in Robin Hill los zu werden, auf das er so viel Geld verwendet hatte, so viel Vorfreude – und Opfer obendrein. Und sie! Sie würde ihm nicht länger gehören, nicht einmal dem Namen nach! Sie würde aus seinem Leben verschwinden, und er – er würde sie nie wiedersehen!

Er fuhr in seiner Droschke eine ganze Straße entlang, ohne über den Gedanken hinwegzukommen, daß er sie nicht wiedersehen werde!

Allein vielleicht gab es gar nichts zu gestehen, sehr wahrscheinlich sogar hatte sie nichts zu gestehen. War es klug die Dinge so weit zu treiben? War es klug sich in eine Lage zu bringen, wo er seine eigenen Worte vielleicht würde widerrufen müssen? Die Folgen dieses Prozesses mußten Bosinney ruinieren; ein ruinierter Mann ist verwegen, allein – was konnte er tun? Er konnte ins Ausland gehen, ruinierte Leute gehen immer ins Ausland. Was konnten sie – wenn es wirklich ein ›sie‹ gab – ohne Geld anfangen? Es wäre das beste abzuwarten und zu sehen, welchen Lauf die Dinge nahmen. Wenn es notwendig war, konnte er sie beobachten lassen. Die Todesqual seiner Eifersucht (für jeden wie die Krisis eines schmerzenden Zahnes) erwachte von neuem, und er schrie beinahe auf. Aber er mußte sich entschließen, mußte sich für eine Handlungsweise entscheiden, ehe er zu Haus anlangte. Als die Droschke vor dem Hause vorfuhr, hatte er nichts beschlossen. Bleich ging er hinein, die Hände feucht von Schweiß; er fürchtete sie zu treffen, brannte darauf sie zu treffen und wußte nicht was er sagen oder tun sollte.

Das Mädchen war in der Halle und sagte ihm auf seine Frage, daß Mrs. Forsyte gegen Mittag mit einem Koffer und Reisetasche das Haus verlassen habe.

Er entriß ihr den Ärmel seines Pelzmantels und stellte sich vor sie hin:

»Wie?« rief er aus, »was sagen Sie da?« Plötzlich fiel ihm ein, daß er keine Erregung zeigen dürfe und fügte hinzu:

»Welchen Auftrag hat sie hinterlassen,« doch er bemerkte mit geheimem Schrecken den bestürzten Blick in den Augen des Mädchens.

»Die gnädige Frau hinterließ keinen Auftrag, Sir.«

»Keinen Auftrag; schön, danke, es ist gut. Ich werde in der Stadt essen.«

Das Mädchen ging hinunter und er blieb stehen und sah sich, immer noch in seinem Pelz, zerstreut die Visitenkarten in der Porzellanschale an, die auf der geschnitzten Eichentruhe in der Halle stand.

Mr. und Mrs. Bareham Culcher

Mrs. Septimus Small

Mrs. Baynes

Mr. Solomon Thornworthy

Lady Bellis

Miß Hermione Bellis

Miß Winifred Bellis

Miß Ella Bellis.

Wer, zum Teufel, waren alle diese Leute? Er schien alle häuslichen Angelegenheiten vergessen zu haben. Die Worte ›keinen Auftrag – Koffer und Reisetasche‹ spielten Verstecken in seinem Hirn. Es war unfaßbar, daß sie keine Botschaft hinterlassen hatte, und noch im Pelz rannte er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben wie ein junger Ehemann, der nach Haus kommt und in das Zimmer seiner Frau hinaufeilt.

Alles atmete Zierlichkeit, Frische und Wohlgeruch; alles war in vollkommener Ordnung. Auf dem großen Bett mit seiner lila Seidendecke lag die Hülle, die sie selbst, mit eigener Hand für ihr Nachtzeug genäht und gestickt hatte; die Pantöffelchen standen zum Anziehen bereit; die Betttücher waren am Kopfende zurückgeschlagen, als erwarteten sie sie.

Auf dem Tisch lagen die silberbeschlagenen Bürsten und Flaschen aus ihrer Reisetasche, ein Geschenk von ihm. Da mußte also ein Irrtum vorliegen. Was für eine Tasche hatte sie denn genommen? Er wollte nach dem Mädchen klingeln, besann sich jedoch rechtzeitig, daß er sich den Anschein geben mußte zu wissen wohin Irene gegangen war, es für selbstverständlich zu halten und den Grund dafür allein herauszufinden.

Er verschloß die Türen und versuchte zu denken, doch der Kopf wirbelte ihm; und plötzlich drängten sich ihm Tränen in die Augen.

Hastig riß er den Mantel herunter und betrachtete sich im Spiegel.

Er war zu bleich, ein grauer Schein lag über dem ganzen Gesicht; er goß Wasser ein und fing an sich fieberhaft zu waschen.

Ihre silberbeschlagenen Bürsten rochen schwach nach dem Haarwasser, das sie benutzte; und bei diesem Geruch ergriff die brennende Qual seiner Eifersucht ihn aufs neue.

Mit Mühe kam er in seinen Pelz, rannte hinunter und auf die Straße hinaus.

Er hatte jedoch nicht alle Herrschaft über sich verloren, und als er die Sloane Street hinunter ging, machte er sich für den Fall sie nicht bei Bosinney zu treffen, eine Geschichte zurecht. Aber wenn er sie dort traf? Seine Entschlußfähigkeit verließ ihn abermals; er erreichte das Haus, ohne zu wissen was er tun sollte, wenn er sie dort fand.

Es war nach der Bureauzeit und die Haustür war geschlossen. Die Frau, die ihm öffnete, wußte nicht zu sagen, ob Mr. Bosinney zu Haus war oder nicht; sie hatte ihn heute nicht gesehen, schon zwei, drei Tage nicht; sie bediente ihn jetzt nicht, niemand bediente ihn, er –

Soames unterbrach sie, er wollte selbst hinaufgehen und nachsehen. Und mit verbissenem bleichen Gesicht ging er hinauf.

Das obere Stockwerk war nicht erleuchtet, die Tür verschlossen, niemand antwortete auf sein Klingeln, er vernahm keinen Laut. Unter seinem Pelze schauernd, ein Frösteln im Herzen, mußte er wieder hinunter. Er rief eine Droschke heran und gebot dem Kutscher nach Park Lane zu fahren.

Unterwegs versuchte er sich zu erinnern wann er ihr zuletzt einen Chek gegeben hatte; sie konnte nicht mehr haben als drei oder vier Pfund, aber sie hatte noch ihren Schmuck; und mit unsagbarer Qual überlegte er, wieviel Geld sie darauf erhalten konnte; genug für sie ins Ausland zu gehen; genug für beide, um monatelang davon zu leben! Er versuchte zu rechnen, aber die Droschke hielt und er stieg aus, ohne mit seiner Berechnung fertig geworden zu sein.

Der Butler fragte ob Mrs. Forsyte in der Droschke sei, der Herr hätte ihm gesagt, daß sie beide zu Tisch kämen.

»Nein, Mrs. Forsyte ist erkältet,« sagte Soames.

Der Butler bedauerte.

Soames kam es vor, als sähe er ihn forschend an, und als er merkte, daß er sich nicht umgekleidet hatte, fragte er: »Jemand hier zu Tisch, Warmson?«

»Niemand als Mr. und Mrs. Dartie, Sir.«

Wieder schien es Soames, als blicke der Butler ihn neugierig an. Seine Fassung verließ ihn.

»Was wollen Sie?« sagte er. »Was ist an mir zu sehen, he?«

Der Butler errötete, hing den Pelz an und murmelte etwas, das klang wie: »Nichts, Sir, auf mein Wort, Sir,« und zog sich verstohlen zurück.

Soames ging hinauf. Ohne einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, begab er sich geradeswegs ins Schlafzimmer seiner Eltern.

James stand seitwärts, und die konkaven Linien seiner langen hageren Gestalt in Hemdärmeln und heller Weste kamen voll zur Geltung. Mit vorgebeugtem Kopf, das Ende seiner weißen Krawatte an einer Seite seiner weißen Koteletts hervorguckend, die Augen starr in intensiver Aufmerksamkeit, die Lippen vorgeschoben, schloß er die oberen Haken am Kleide seiner Frau. Soames blieb stehen; er fühlte sich dem Ersticken nahe, entweder weil er zu schnell heraufgegangen war oder aus einem andern Grunde –. Er – er wurde nie – niemals aufgefordert, die –

Er hörte die Stimme seines Vaters sagen als hätte er eine Nadel im Munde: »Wer ist da? Wer ist das? Was willst du?« Und dann seine Mutter: »Kommen Sie Félice, kommen Sie her und haken Sie dies zu, der Herr kommt nie damit zustande.«

Er griff mit der Hand an seinen Hals und sagte heiser:

»Ich bin's – Soames!«

Dankbar bemerkte er die liebevolle Überraschung in den Worten der Begrüßung seiner Mutter und bei James, als er den Haken fahren ließ.

»Du, Soames?« sagte er. »Was führt dich her? Bist du nicht wohl?«

Er antwortete mechanisch: »Mir geht's ganz gut« und sah sie an; es schien ihm unmöglich, seine Nachricht zu überbringen.

James, der schnell in Angst geriet, begann: »Du siehst nicht gut aus. Du hast dich wohl erkältet – es ist die Leber, mich würde es nicht wundern. Deine Mutter wird dir –«

Aber Emily unterbrach ihn ruhig: »Hast du Irene mitgebracht?«

Soames schüttelte den Kopf.

»Nein,« stammelte er, »sie – sie hat mich verlassen!«

Emily verließ den Spiegel, vor dem sie stand. Ihre hohe volle Gestalt verlor ihre Majestät und ward sehr menschlich, als sie zu Soames hinüber eilte.

»Mein lieber Junge! Lieber Junge!« Sie küßte ihn auf die Stirn und streichelte seine Hand.

Auch James hatte sich seinem Sohn voll zugewandt; sein Gesicht sah älter aus.

»Dich verlassen?« sagte er. »Wie sagst du – dich verlassen? Du hast mir nie gesagt, daß sie dich verlassen wollte.«

Soames antwortete finster: »Wie konnte ich es sagen? Was ist da zu machen?«

James begann auf und ab zu gehen; er sah ohne Rock seltsam aus, wie ein Storch. »Was da zu machen ist?« murmelte er. »Wie kann ich wissen, was zu machen ist? Was nützt es mich zu fragen? Keiner sagt mir was, und dann kommen sie und fragen was zu machen ist; möcht wissen, wie ich ihnen das sagen soll! Hier ist deine Mutter, da steht sie; sie sagt gar nichts. Was ich dir sagen kann ist nur, daß du ihr nachgehen müßtest.«

Soames lächelte; sein eigentümliches, hochmütiges Lächeln hatte nie zuvor so kläglich ausgesehen.

»Ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist,« sagte er.

»Weißt nicht, wohin sie gegangen ist!« sagte James. »Was soll das heißen, weißt nicht wohin sie gegangen ist? Wohin, glaubst du, ist sie gegangen? Zu dem jungen Bosinney ist sie gegangen, dahin ist sie gegangen. Ich hab' es lange kommen sehen.«

In der langen Pause, die nun folgte, fühlte Soames, wie seine Mutter ihm die Hand drückte. Und alles was vorging, schien sich abzuspielen, als wäre seine eigene Kraft zu denken oder etwas zu tun eingeschlafen.

Das Gesicht seines Vaters war dunkelrot, verzerrt, als wolle er anfangen zu weinen, und er stieß Worte hervor, die ein Krampf ihm aus der Seele zu reißen schien.

»Das wird einen Skandal geben; ich hab es immer gesagt.« Dann als niemand etwas erwiderte: »Und nun steht ihr da, du und deine Mutter!«

Darauf kam Emilys Stimme, ruhig und ein wenig verächtlich: »Laß gut sein, James! Soames wird tun was er kann!«

James starrte auf den Boden und erwiderte ruckweise: »Ja, ich kann euch nicht helfen; ich werde alt. Übereile dich nur nicht, mein Junge.«

Und dann die Mutter wieder: »Soames wird alles tun, um sie wieder zurück zu bekommen. Wir wollen nicht davon reden. Es wird schon alles wieder gut werden.«

Darauf James: »Na, ich sehe nicht, wie es wieder gut werden soll. Und wenn sie mit diesem jungen Bosinney nicht auf und davon gegangen ist, rate ich dir, nicht auf sie zu hören, sondern ihr nachzugehen und sie zurückzuholen.«

Wieder fühlte Soames, wie seine Mutter ihm als Zeichen ihres Einverständnisses die Hand streichelte, und als wiederhole er eine heilige Eidesformel, murmelte er zwischen den Zähnen: »Das will ich!«

Alle drei gingen zusammen ins Wohnzimmer hinunter, wo die drei Mädchen und Darties versammelt waren. Hätte Irene nicht gefehlt, so wäre der Kreis vollzählig gewesen.

James sank in seinen Armstuhl, und außer einem kalten Wort des Grußes für Dartie, den er als einen Mann, der beinahe immer in Geldnot war, sowohl verachtete wie fürchtete, sprach er nicht, bis zu Tisch gerufen wurde. Auch Soames war schweigsam; nur Emily mit ihrem kühlen Mut hielt eine Unterhaltung über gleichgültige Dinge mit Winifred aufrecht. Nie war sie gelassener in Benehmen und Unterhaltung als an diesem Abend.

Da der Entschluß gefaßt war nicht von Irenens Flucht zu sprechen, wurde von keinem andern Mitglied der Familie eine Ansicht über den richtigen Weg ausgesprochen, der zu verfolgen war. Dem allgemeinen Ton nach zu urteilen, der hinsichtlich der Vorgänge, wie sie sich später entwickelten, angenommen wurde, wäre James' Rat: »Höre nicht auf sie, gehe ihr nach und hole sie zurück!« ohne Zweifel mit einer Ausnahme hier und dort, nicht nur in Park Lane, sondern auch von Nicholas, Roger und Timothy mit den Ihren als der richtige anerkannt worden. Ebenso wie auch jene größere Körperschaft von Forsytes in ganz London ihn gebilligt hätte, die nur von dem Urteil ausgeschlossen waren, weil sie von der ganzen Geschichte nichts wußten.

Trotz Emilys Anstrengungen wurde das Diner beinahe unter Schweigen serviert. Dartie war mißlaunig und trank soviel er bekommen konnte; die Mädchen sprachen auch sonst kaum mit einander. James fragte einmal wo June wäre und was sie in diesen Tagen täte. Keiner konnte es ihm sagen. Er sank aufs neue in Trübsinn. Nur als Winifred erzählte, daß der kleine Publius seinen schlechten Penny einem Bettler geschenkt hatte, heiterte er sich auf.

»Ja!« sagte er, »das ist ein kluger kleiner Kerl. Ich weiß nicht was aus ihm werden wird, wenn es so weiter geht. Ein intelligenter kleiner Bursche, das muß ich sagen!« Aber es war nur ein Blitzstrahl.

Die Gänge folgten einander feierlich unter dem elektrischen Licht, das blendend auf das Tischtuch fiel, aber den Hauptschmuck an der Wand, ein sogenanntes Seestück von Turner kaum erreichte, das fast nur Tauwerk und ertrinkende Männer darstellte. Champagner kam und dann eine Flasche von James' prähistorischem Portwein, aber es war als reiche ihn die frostige Hand eines Skeletts.

Um zehn Uhr ging Soames fort; zweimal hatte er zur Antwort auf Fragen gesagt, daß Irene nicht wohl sei; er fühlte, daß er nicht länger auf sich bauen konnte. Seine Mutter küßte ihn mit ihrem innigen sanften Kuß, und er drückte ihr die Hand, wobei das Blut ihm warm in die Wangen schoß. Er ging hinaus in den kalten Wind, der trostlos um die Straßenecken pfiff, unter einen Himmel von klarem Stahlblau, durch Sterne belebt, doch er beachtete nicht ihren frostigen Gruß, nicht das Rascheln der zusammengerollten Platanenblätter, noch die in ihren schäbigen Pelzen vorübereilenden Nacht-Schönen und die darbenden Gesichter der Vagabunden an den Straßenecken. Der Winter war gekommen! Ganz versunken eilte Soames nach Haus; seine Hand zitterte, als er die letzten Briefe aus dem vergoldeten Drahtkasten nahm, in den sie durch die Spalte in der Tür geworfen waren.

Keiner von Irene.

Er ging ins Speisezimmer; das Feuer brannte hell, ein Sessel war davor gerückt, die Pantoffeln standen bereit, Likör und der geschnitzte Zigarettenkasten auf dem Tisch; aber nachdem er alles dies zwei oder drei Minuten angestarrt, drehte er das Licht aus und ging nach oben. Dort brannte auch ein Feuer im Ankleideraum, aber ihr Zimmer war kalt und dunkel. Soames ging hinein.

Er machte eine große Illumination mit Kerzen und ging lange zwischen Bett und Tür auf und ab. Er konnte sich an den Gedanken, daß sie ihn wirklich verlassen hatte, nicht gewöhnen, und als suche er nach einer Botschaft, einem Grunde, einer Erklärung des ganzen Mysteriums seines Ehelebens, begann er jedes Fach und jede Schublade zu öffnen.

Da waren ihre Kleider; er hatte es immer gern gesehen, sogar darauf bestanden, daß sie sich gut kleidete – sie hatte nur wenige mitgenommen; zwei oder drei höchstens, und Schubfach auf Schubfach voll Wäsche und Seidensachen war unberührt geblieben.

Vielleicht war es schließlich doch nur eine Grille und sie war zur Abwechslung für ein paar Tage an die See gegangen. Wenn es doch so wäre und sie wirklich wieder zurückkehrte, wollte er nie wieder tun was er in jener verhängnisvollen Nacht vorgestern getan, nie wieder dieses Wagnis unternehmen – wenn es auch ihre Pflicht war, ihre Pflicht als Frau; wenn sie ihm auch gehörte – wollte er nie wieder dies Wagnis unternehmen; sie war offenbar nicht ganz bei klarem Verstand!

Er neigte sich über das Schubfach, wo sie ihren Schmuck verwahrte; es war nicht verschlossen und ging auf als er es herauszog; im Schmuckkästchen steckte der Schlüssel. Das überraschte ihn, bis er sich sagte, daß es sicher leer war. Er öffnete es.

Es war durchaus nicht leer. Getrennt, in kleinen grünen Sammetfächern, lagen alle Sachen, die er ihr geschenkt, selbst ihre Uhr, und in dem Fach, das die Uhr enthielt, steckte ein dreieckiges Billett mit Irenens Handschrift an ›Soames Forsyte‹ adressiert.

»Ich glaube nichts mitgenommen zu haben, was Du oder die Deinen mir geschenkt haben.« Das war alles.

Er sah auf die Spangen und Armbänder von Diamanten und Perlen, auf die kleine flache goldene Uhr mit einem großen, von Saphiren umgebenen Diamanten, auf die Ketten und Ringe, jeder in seinem Nest, und die Tränen schossen ihm in die Augen und tropften darauf hinunter.

Nichts was sie hätte tun können, nicht was sie getan hatte, brachte ihm die tiefe Bedeutung ihrer Tat so zum Bewußtsein wie dies. Für den Augenblick vielleicht, begriff er beinah alles was zu begreifen war – begriff daß sie ihn verabscheute, daß sie ihn seit Jahren verabscheut hatte, daß sie in all ihrem Tun und Denken wie zwei Menschen waren, die in verschiedenen Welten lebten, daß es keine Hoffnung für ihn gab und nie gegeben hatte; selbst daß sie gelitten hatte – daß sie zu bedauern war.

In diesem Augenblick der Erregung ward er dem Forsyte in ihm untreu – vergaß er sich selbst, seine Interessen, seinen Reichtum – war beinah zu allem fähig; war in den reinen Äther des Selbstlosen, des Zweckbefreiten emporgehoben.

Doch solche Augenblicke schwinden schnell.

Und als hätte er mit den Tränen alle Schwäche von sich abgetan, stand er auf, verschloß das Kästchen und trug es langsam, beinahe zitternd, mit sich ins andere Zimmer.


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