Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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19.

Als Raoul in den kleinen Salon trat, war er so bleich und verstört, blickten seine Augen so irr, daß Frau Fauvel erschreckt auffuhr: »Um Gottes willen, Raoul, was ist dir zugestoßen?«

Bei dem Klang dieser Stimme voll mütterlicher Äugst und Zärtlichkeit, erbebte der junge Bösewicht, aber er faßte sich gewaltsam.

Es muß sein, sagte er sich und begann dann seine Rolle zu spielen.

»Was mir geschehen ist, Mutter, frägst du? . . . Ein Unglück; aber es wird das letzte sein!«

»Ein Unglück . . .?« stieß Frau Fauvel zitternd hervor, »o Raoul . . .«

Sie wollte ihn umfassen, aber er drängte sie sanft zurück.

»Ich bin deiner unwürdig, Mutter, berühre mich nicht . . . Ach, ich weiß ja selbst, daß ich schlecht bin und trotz aller guten Vorsätze immer wieder strauchle. – Ach, ich wäre anders geworden, wenn ich immer dich und meinen edlen Vater gehabt hätte. Aber meine Kindheit war einsam. Fremde, die sich wenig um mich kümmerten und mich mir selbst überließen, waren die Leiter meiner Erziehung. Und so bin ich mit meinen Trieben aufgewachsen, ich bin ehrgeizig und eitel und bin namenlos, ich bin arm und habe Liebhabereien und Laster wie ein Millionär! Als ich dich fand, geliebte Mutter, war es schon zu spät, die bösen Instinkte waren schon erwacht, großgezogen. Dir zuliebe wollte ich mich bessern – ich habe mich oft aufgerafft, aber ach – gerade das neue ungewohnte Leben war es, das mich berauschte; nach so vielen Entbehrungen – ich habe sogar gehungert – konnte ich endlich genießen, und so habe ich den Kopf verloren, mich wie ein Wahnsinniger von dem Taumel der Vergnügungen fortreißen lassen.«

Raoul sprach in tiefster Zerknirschung, und Frau Fauvel hörte stumm und entsetzt zu und fürchtete den nächsten Augenblick, der ihr sicher gräßliches enthüllen würde.

»Ja,« wiederholte er nach einer Pause, »ich war wahnsinnig und undankbar, ich habe dich durch meine Schlechtigkeit unglücklich gemacht, ich muß mich selber verachten – ich sehe alles ein, aber ach – jetzt ist es zu spät.«

»Es ist nie zu spät, ein begangenes Unrecht zu bereuen und gut zu machen, mein liebes Kind,« sagte Frau Fauvel.

»O, wenn ich es könnte, aber es ist nicht mehr möglich. Ich bereue, ja, aber meine Besserung hält nicht an – du weißt es ja, Mutter, ich bin ein schwacher Charakter. Meine Absichten sind immer die besten der Welt, aber ich handle wie ein Schurke . . . O Gott, wohin werde ich noch geraten!«

»Sprich, was ist geschehen? Ich will alles wissen,« sagte Frau Fauvel angstbeklommen.

Raoul zögerte. Als sie aber weiter in ihn drang, ihr alles zu gestehen, sagte er mit dumpfer Stimme: »Ich bin verloren!«

»Verloren, du!?«

»Ja, denn ich bin entehrt – durch eigene Schuld!«

»O Gott!«

»Fürchte nichts, Mutter, ich werde den Namen, den du mir gegeben, nicht in den Schmutz ziehen – ich habe wenigstens den Mut, meine Schande nicht zu überleben – und es ist besser, ich verschwinde aus einer Welt, in der ich mich nur eingeschmuggelt habe. – Hast du nicht meine Geburt verfluchen müssen? Habe ich dich nicht unzählige Tränen gekostet? Mutter, ich bin ein Unglücksmensch und darum ist es am besten ich sterbe.«

»Du willst sterben, Unseliger?«

»Ja, Mutter, es muß sein, die Ehre gebietet es.«

»Was hast du getan?« fragte sie leise.

»Etwas Ungeheuerliches, Mutter, ich habe fremdes, anvertrautes Geld verspielt.«

»Ist die Summe groß?« '

»Nicht übermäßig, aber wir können sie nicht auftreiben. Arme Mutter, habe ich dir nicht schon dein letztes Schmuckstück entrissen, wie ein Räuber?«

»Aber der Marquis ist reich, er hat mir sein Vermögen zur Verfügung gestellt, ich will sofort zu ihm fahren . . .«

»Mein Onkel ist verreist und kommt erst in acht Tagen zurück, ich muß aber heute gerettet werden, oder – ich bin verloren. Mit zwanzig Jahren hängt man freilich am Leben, aber, wenn es sein muß – ich bin vorbereitet . . .«

Und mit diesen Worten zog er den Revolver, den er in der Tasche hatte, halb hervor, lächelte traurig und sagte: »Das ist die beste Arznei für mich.«

Frau Fauvel erschrak.

»Um Gottes willen, sprich nicht so. Mein Mann wird bald nach Hause kommen, ich will ihm sagen, ich brauche Geld. – Wieviel ist es?«

»Dreißigtausend Frank.«

»Du sollst sie morgen haben.«

»Ich brauche sie heute noch.«

»Heute?« rief Frau Fauvel außer sich. »Warum bist du nicht früher gekommen, ich hätte den Kassierer ersucht . . . aber jetzt ist er längst fort.«

»Die Kasse!« rief Raoul, als wenn ihn plötzlich ein Gedanke käme. »Weißt du wo der Schlüssel ist?«

»Ja.«

»Nun, dann . . .«

»Sprich nicht weiter, Unseliger!«

Er warf sich ihr zu Füßen.

»Mein Leben hängt davon ab, Mutter, soll ich sterben?«

Ohne eine Antwort erhob sich Frau Fauvel und holte den Schlüssel aus der Schreibtischlade. Aber als Raoul danach greifen wollte, schrak sie wie vor etwas Ungeheuerlichem zusammen.

»Nein, nein, es ist unmöglich; es kann, es darf nicht sein.«

Raoul machte keinen weiteren Versuch. »Du hast recht,« sagte er traurig. »Ich gehe, lebe wohl, Mutter und gib mir einen letzten Kuß.«

»Raoul . . . bleibe noch . . . Was nützt dir auch der Schlüssel, du kennst ja das Stichwort nicht . . .«

»Laß es mich immerhin versuchen.«

»Aber selbst, wenn du öffnen könntest – André läßt nie viel Geld in der Kasse.«

»Laß mich's doch versuchen. Wenn ich wie durch ein Wunder öffnen kann, und durch ein zweites Geld in der Kasse ist, dann soll es uns ein Beweis sein, daß Gott Mitleid mit uns hat.«

»Wenn es dir aber nicht gelingt, schwörst du mir, Raoul, daß du nichts Gewaltsames gegen dich unternimmst, sondern bis morgen, bis ich mir Geld beschafft habe, warten willst?«

»Ich schwöre bei dem Andenken meines Vaters.«

Frau Fauvel gab ihm den Schlüssel und führte ihn zitternd durch das Arbeitszimmer ihres Mannes, die Wendeltreppe hinab zur Kasse.

Unterwegs beruhigte sie sich etwas. Das Wunder, das Raoul erhoffte, war unmöglich: ohne Stichwort war die Kasse nicht zu öffnen, und selbst wenn – es waren keine 30 000 Frank darin. Frau Fauvel fürchtete nur eins – den erneuten Verzweiflungsausbruch ihres Sohnes.

Als sie im Kassenzimmer angelangt waren, stellte Raoul die Lampe, die er trug, so hoch, daß sie den ganzen Raum erhellte. Dann trat er an die Kasse und schob die Buchstaben auf den Drückern bis sie den Namen Gypsy bildeten. Dabei war er von der Angst gepeinigt, daß Prosper etwa das Stichwort geändert haben könnte, als er den großen Geldvorrat verwahrte.

Als Prospers Freund wußte er genau, wie er mit dem Schlüssel zu verfahren hatte. Er hatte ihn oftmals nach Schluß des Geschäfts abgeholt und gesehen, wie er die Kasse öffnete und schloß, ja, auf sein Bitten zeigte ihm Prosper das Verfahren genau.

Und jetzt mit Angst und Herzklopfen führte er den Schlüssel zur Hälfte ein und drehte, dann schob er ihn weiter hinein und drehte ein zweites Mal und schließlich stieß er ihn ganz hinein und drehte zum drittenmal – die Kasse sprang auf.

Mutter und Sohn stießen gleichzeitig einen Schrei aus. Der seine klang wie Triumph, der ihre war ein Schreckenslaut.

»Schließ zu, schließ zu,« rief sie außer sich, »laß sein, komm, komm,« und wie wahnsinnig stürzte sie sich auf Raoul, umklammerte seinen Arm und zog ihn mit solcher Heftigkeit an sich, daß der Schlüssel, den er noch in der Hand hielt, aus dem Schloß an der Schranktür herabglitt, wobei er einen tiefen Strich durch den Firnis zog.

Raoul aber hatte schon das Päckchen Banknoten im untern Fache liegen sehen, er ergriff es hastig mit der linken Hand und schob es zwischen Weste und Hemd.

Frau Fauvel ließ seinen Arm los, faltete die Hände und bat flehentlich: »Ich beschwöre dich, Raoul, gib das Geld zurück, ich will dir morgen zehnmal mehr verschaffen, nur das tue nicht, um Gottes willen nicht!«

Raoul hörte nicht auf sie, mit Gemütsruhe schloß er die Kasse sorgfältig wieder zu.

»Raoul, nimm wenigstens nicht mehr als du brauchst, ich werde es dann auf mich nehmen, meinem Manne sagen . . .«

»Komm,« unterbrach er sie, »wir dürfen nicht länger hier weilen, man könnte uns überrasche oder der Diener zufällig in den Salon kommen und sich über unsere Abwesenheit wundern.«

Frau Fauvel war über Raouls plötzliche Kaltblütigkeit entrüstet.

»O, wenn nur André käme, mir wäre es gerade recht,« rief sie außer sich, »ich würde ihm alles sagen, damit er nicht etwa morgen den armen Prosper verdächtigt – nein, einen Unschuldigen lasse ich nicht opfern – das geht denn doch zu weit!«

Sie hatte mit so lauter Stimme gesprochen, daß Raoul Angst bekam. Wenn ein Bureaudiener in der Nähe wäre und sie hörte!

»Komm,« sagte er und ergriff Frau Fauvel am Arm und versuchte sie fortzuziehen.

Aber sie sträubte sich und klammerte sich, an einen Tisch an.

»Nein, ich gehe nicht früher als bis du das Geld in die Kasse zurückgelegt hast.«

Raoul lachte höhnisch auf.

»Aber begreifst du denn nicht, daß ich mit Prosper im Einverständnis handle, daß er mich geschickt hat und die Beute mit mir teilen will?«

»Das ist nicht wahr, Prosper ist ehrlich.«

»Ei, bin ich es etwa nicht? Aber wir brauchen Geld!«

»Du lügst, Prosper ist unschuldig.«

»So, also glaubst du wirklich, daß das Geld nur zufällig in der Kasse war und ich das Stichwort erraten habe? Nein, meine teure Mutter, dein tugendhafter Prosper hat die Bankscheine vorbereitet und mir das Stichwort gesagt.«

Raoul ergriff die Lampe und drängte Frau Fauvel gegen die Treppe. Die letzte Mitteilung ihres Sohnes hatte sie so erschüttert, daß sie jeden Widerstand vergaß. Sie schwankte und Raoul mußte sie stützen und führen. Oben angelangt, gab er ihr den Schlüssel, damit sie ihn in die Lade zurücklege. Er mußte die Aufforderung zweimal wiederholen, sie schien kaum zu hören, endlich gehorchte sie mechanisch.

Dann führte er sie in den kleinen Salon zurück und ließ sie in einem Lehnsessel niedersitzen.

Die arme Frau war völlig gebrochen, sie starrte mit leeren Augen vor sich hin und Raoul fürchtete für ihren Verstand.

»Komm zu dir, geliebte Mutter,« sagte er und versuchte ihre kalten Hände zu erwärmen, »glaube mir, es ist nichts Schlimmes geschehen, im Gegenteil, du hast mir das Leben gerettet und Prosper einen ungeheuren Dienst erwiesen. Er ist zwar gefaßt, daß man ihn verhaften wird, aber da sich seine Schuld nicht beweisen läßt, muß er freigesprochen werden.«

Raoul sprach noch lange auf seine Mutter ein, aber sie schien nicht zu hören oder nicht zu verstehen; sie wiederholte nur von Zeit zu Zeit: »Das ist mein Tod, das überlebe ich nicht.«

Ihre Stimme war wie gebrochen und klang so verzweifelt, daß Raoul vom tiefsten Mitleid ergriffen wurde. Schon wollte er ihr das Geld zurückgeben, da aber dachte er an Clameran und seufzend erstickte er seine bessere Regung.

Es war Zeit für ihn, sich zu entfernen, wie leicht konnte Magda, konnte der Bankier nach Hause kommen und Aufklärung über den Zustand Frau Fauvels verlangen.

Er drückte daher einen leisen Kuß auf die Stirne seiner Mutter und entfernte sich verstohlen.

Clameran erwartete seinen Spießgesellen mit größter Ungeduld, als er endlich erschien, eilte er ihm erregt entgegen und fragte nur: »Nun?«

»Es ist nach deinem Wunsche geschehen, und dir danke ich es, daß ich der niederträchtigste Schurke von der Welt bin!«

Er zog das Päckchen mit den Banknoten hervor, warf sie auf den Tisch und sagte: »Da hast du das Geld, das drei Leuten die Ehre, vielleicht das Leben kostet!«

Clameran achtete nicht der Worte Raouls, er betastete mit fieberhaft zitternder Hand die Scheine.

»Endlich,« sagte er, »nun ist Magda mein!«

Dann wandte er sich an Raoul und fragte lächelnd: »Hat's schwer gehalten?«

»Ich verbiete dir,« rief Raoul außer sich, »hörst du wohl, ich verbiete dir je wieder von diesem Abend zu sprechen. Ich will ihn zu vergessen trachten!«

Clameran zuckte die Achseln.

»Wie du willst,« sagte er ruhig, »aber vielleicht verschmähst du dies Andenken doch nicht. Nimm dies Geld, es sind 35 000 Frank, sie gehören dir.«

»Unserem Vertrage nach gebührt mir weit mehr,« versetzte Raoul.

»Es soll auch nur eine Abschlagszahlung sein. Das übrige bekommst du, wie vereinbart, an meinem Hochzeitstage.«

»Schön, ich will mich gedulden, aber das sage ich dir – mute mir keine Schurkereien mehr zu – ich würde mich entschieden weigern noch mehr solche Aufträge, wie den heutigen, auszuführen.«

»Nein, sei außer Sorge, du kannst dir jetzt den Luxus, moralisch zu werden, gönnen, deine Rolle ist zu Ende, nun trete ich auf den Plan.«


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