Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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12.

Valentine wußte, daß Gaston nach Tarascon gegangen war und um elf Uhr nachts über die Brücke zu ihr kommen wollte, sie hatte sogar versprochen, ihm ein Stück des Weges an der Rhone entgegenzugehen.

Plötzlich gewahrte sie, als sie zufällig gegen Clameran hinüberblickte, an den Fenstern wandernde Lichter. Das beunruhigte sie, was mochte drüben geschehen sein? Angsterfüllt starrte sie hinüber. Sie lehnte an ihrem Fenster und horchte hinaus, aber nur das Rauschen und Brausen des Stromes drang an ihr Ohr. Ihre Angst steigerte sich von Minute zu Minute, aber wie ward ihr, als sie plötzlich das bekannte Zeichen erblickte, das ihr Kunde brachte, daß der Geliebte über die Rhone schwimmen wollte. Sie war starr vor Entsetzen und wollte ihren Augen nicht trauen, endlich, nachdem das Zeichen drüben dreimal gegeben worden, antwortete sie, ihrer Sinne kaum mächtig, darauf.

Was bedeutete das?

Sie eilte in den Park, ans Ufer, kaum trugen sie ihre Füße. Neues Entsetzen bemächtigte sich ihrer, als sie am Ufer stand und die wild tosende Flut sah. Und Gaston konnte auch nur einen Augenblick daran denken, durchzuschwimmen? Etwas Fürchterliches, Unausdenkbares mußte geschehen sein!

Sie war ans Ufer niedergesunken und starrte durch die Dunkelheit hinab ins Wasser; bei jedem schwarzen Punkt glaubte sie seinen Leichnam herangeschwemmt zu sehen und durch das Tosen und Branden vermeinte sie Hilferufe zu hören.


Gaston war sich, als er sich kopfüber in den Strom gestürzt, der Gefahr wohl bewußt, allein er kannte das feuchte Element und wußte, daß er eher dort, als bei den Menschen Erbarmen finden konnte. Zuerst hatte ihn der Strudel erfaßt und wirbelnd in die Tiefe gerissen, aber er kam wieder an die Oberfläche empor und nun ließ er sich, um seine Kräfte zu sparen, von der Strömung treiben, er war nur bemüht, gegen das jenseitige Ufer zuzusteuern; dies durfte nur ganz langsam und allmählich geschehen, denn er wäre verloren gewesen, wenn ihn die Strömung von der Seite erfaßt hätte. Er rechnete auf einen Strudel, der sich in einer Biegung des Flusses unterhalb Clameran befand, und er täuschte sich nicht, die Strömung trieb ihn in schräger Richtung dein jenseitigen Ufer zu. Leider aber trug ihn die Welle nicht bis ans Ufer, sondern riß ihn mit ungeheuerer Geschwindigkeit am Park von Laverberie vorüber.

Trotz der rasenden Schnelligkeit hatte er doch die weiße Gestalt Valentines unter den Bäumen erblickt.

Erst viel weiter unten gelang es ihm, dem Ufer näher zu kommen. Zweimal versuchte er, Fuß zu fassen und zweimal rissen ihn die Wasser zurück. Da ergriff er, ehe eine neue Strömung ihn erfaßte, einen überhängenden Weidenzweig und nun endlich gelang es ihm, sich ans Land zu schwingen – er war gerettet.

Ohne sich auch nur einen Augenblick Zeit zum Aufatmen zu gönnen, eilte er, was ihn die Füße nur tragen konnten, zurück, dem Parke zu.

Endlich war er da! Und es war die höchste Zeit, denn Valentine hatte vor Aufregung und Todesangst die Besinnung verloren.

Gaston fand sie ohnmächtig am Boden liegen, er hob sie in seinen Armen empor und bedeckte ihr bleiches Gesicht mit Küssen. Da schlug sie die Augen auf.

»Gaston, bist du es?« rief sie mit ausbrechendem Gefühl. »So hat sich Gott meiner erbarmt und dich mir zurückgegeben!«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr Köpfchen an seine Brust.

»Nein, Valentine, Gott hat kein Erbarmen mit uns . . .«

»Was ist geschehen? Sprich; warum hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt . . .?«

»Unser Geheimnis gehört uns nicht mehr, Valentine; wir sind zum Gespött der ganzen Gegend geworden – – der blinde Haß, der unsere Familien entzweit, ist schuld, daß wir unsere heilige Liebe verbergen mußten und . . .«

»O Gott, verraten, verraten . . .!« rief Valentine tödlich erschrocken.

»Den Schurken, der deinen angebeteten Namen verhöhnte, habe ich getötet und darum bin ich über die Rhone geschwommen. Ich muß fliehen, Geliebte . . .«

Valentine war wie vernichtet.

»Fliehen, Gaston, wohin?«

»Ich weiß es noch nicht, ins Ausland, ins Weite, unter falschem Namen – denn es gibt wohl kein Land, das einem Mörder Zuflucht gewährte.«

Valentine war zu erschüttert, um ein Wort hervorbringen zu können und Gaston fuhr nach einer Pause fort: »Wenn ich dich in dieser fürchterlichen Stunde noch einmal sehen wollte, so geschah es, weil ich auf deine Liebe baue. Wir sind eins in unserem Herzen, eins vor Gott, du bist mein Weib und ich liebe dich über alles; sag', willst du mich allein fliehen lassen?«

»Gaston, ich beschwöre dich . . .«

»O, ich wußte es wohl,« unterbrach er sie, »du verläßt mich nicht, du gehst mit mir in die Verbannung, ins Elend! Aber wir werden nicht elend sein, Geliebte, da wir uns lieben!«

Er hatte sie heiß umschlungen und wollte sie mit sich fortziehen. Sie aber machte sich aus seiner Umarmung los und sagte traurig: »Was du begehrst, ist unmöglich.«

»Unmöglich?!« stammelte er.

»Ach, Gaston, du weißt wohl, daß du mir teurer als das Leben bist; das schlimmste Los an deiner Seite wäre mir Seligkeit – aber, ich darf der Stimme meines Herzens nicht folgen, die Pflicht bindet mich hier.«

»Aber du kannst unmöglich hier bleiben, sie werden mit Fingern nach dir deuten.«

»Mögen sie, bin ich plötzlich in Wirklichkeit eine andere, bin ich schlechter geworden? Die Verachtung der Menschen wird mir weniger schmerzlich sein, als die Vorwürfe meines Gewissens.«

»Aber wenn deine Mutter alles erfährt?«

»Der Mutter willen bleibe ich ja, kann, darf ich sie verlassen – du weißt, sie ist nicht reich, sie ist einsam und wird um meiner willen von allen gemieden werden – muß ich da nicht bleiben? – – Wenn sie alles erfährt, fragst du, Gaston? O, sie wird hart und unbarmherzig sein, aber – ich habe es verdient, ich kann es nur in Demut tragen und muß schweigen.«

»Sprich nicht so, Geliebte, es macht mich wahnsinnig, wenn ich denken soll, daß du um meinetwillen Demütigungen ertragen sollst.«

»Ich werde noch Schlimmeres erdulden müssen,« sagte sie leise.

»Was sagst du da? Was meinst du?« fragte er erregt.

»Gaston, ich glaube – doch nein, nichts, es ist Wahnsinn . . . Nein, nichts, nichts.«

Gaston mußte plötzlich sich der letzten Worte seines Vaters erinnern und dieser Gedanke verhinderte ihn, den Worten Valentines volle Aufmerksamkeit zu schenken, er ahnte den tieferen Sinn, das Geheimnis seiner Geliebten nicht, sondern ließ sich durch das »es ist nichts« beschwichtigen.

»Noch ist nicht alle Hoffnung verloren,« sagte er, »mein Vater schien beim Abschied gerührt, wenn ich außer Gefahr bin, will ich ihm schreiben, und er wird sicherlich bei deiner Mutter für mich um dich werben.«

»O, das darf er nicht, er würde sich der Demütigung aussetzen, zurückgewiesen zu werden.«

»Warum? So groß kann ihr Haß unmöglich sein!«

»Vielleicht, aber sie erwartet durch mich, zu Glanz und Ansehen zu kommen – dein Vater wäre ihr nicht reich genug.«

»Und solch einer Mutter willst du dich opfern?«

»Muß ich nicht? Das ist die Pflicht, die Gott uns vorgeschrieben hat.«

Gaston rang verzweiflungsvoll die Hände.

»O, du hast mich nie geliebt, Valentine,« rief er schmerzlich, »wenn du in dieser gräßlichen Trennungsstunde den traurigen Mut hast, Vernunftgründe vorzubringen. Ich liebe dich anders, für mich hat das Leben ohne dich, ohne deine Liebe keinen Wert. Ich bin eben erst wie durch ein Wunder dem Tode entronnen, aber da du mich nicht liebst, so will ich sterben!«

Und entschlossen schritt Gaston gegen den Strom.

Aber Valentine umklammerte seinen Arm.

»Das nennst du Liebe?« rief sie, »du willst mir diesen Schmerz zufügen? –«

»Was bleibt mir übrig . . .?«

»Vertraue auf Gott, Gaston, in dessen Händen unsere Zukunft ruht.«

»Zukunft, sagst du! So glaubst du also, daß es noch eine gemeinsame Zukunft für uns gibt? Ja? O, dann will ich dir gehorchen und leben. Ja, ich will leben, kämpfen und siegen! Gilt es doch, dich zu erringen! Reichtum begehrt deine Mutter? Nun wohl, in drei Jahren, Valentine, komme ich als reicher Mann zurück . . . Aber ehe ich gehe, will ich dir ein heiliges Vermächtnis anvertrauen . . .«

Bei diesen Worten zog er den seidenen Beutel, in welchen sein Vater das Geschmeide gelegt hatte, hervor und fuhr fort: »Es ist der Schmuck meiner seligen Mutter, nimm ihn und betrachte ihn als ein Pfand meiner Rückkehr. Wenn ich in drei Jahren nicht wiederkomme, dann bin ich tot, dies Geschmeide aber behältst du als Andenken an den, der dich bis zu seinem letzten Atemzuge lieben wird.«

Tränenden Auges nahm Valentine die Gabe entgegen.

»Und jetzt habe ich noch eine letzte Bitte; sie werden wohl alle meinen, daß ich in der Rhone umgekommen bin, und das ist gut so, das sichert meine Rettung; aber meinen guten Vater kann ich nicht der Verzweiflung preisgeben, versprich mir, daß du morgen früh selbst zu ihm gehst und ihm sagst, daß ich gerettet bin.«

»Ich verspreche es dir.«

»Danke, dann lebewohl.«

Gaston beugte sich zu Valentine nieder, um ihr einen letzten Kuß zu geben, aber sie hielt ihn noch zurück.

»Wohin denkst du zu gehen?«

»Nach Marseille, dort will ich mich bei einem Freund so lange verborgen halten, bis eine Überfahrt möglich ist.«

»Und wie willst du nach Marseille kommen? Wie leicht kannst du gesehen werden! Komm mit mir, ich habe einen Freund, den alten Schiffer Menoul, er kann dich retten.«

Sie gingen durch das Parktor hinaus und waren bald zur Stelle.

»Vater Menoul,« sagte Valentine zu dem alten Fährmann, »der Herr Graf ist gezwungen, heimlich fortzugehen und möchte rasch ans Meer gelangen, um sich einzuschiffen, könnten Sie ihn in Ihrem Boote bis zur Mündung der Rhone bringen?«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Bei dem Wasserstand und in der Nacht ist das eine Unmöglichkeit.«

»Lieber Vater Menoul,« sagte Valentine mit einschmeichelnder Stimme, »Sie würden mir einen ungeheueren Dienst erweisen . . .«

» Ihnen, Fräulein? Ja, dann wird es wohl gehen.«

Jetzt erst sah er Gaston aufmerksamer an und bemerkte, daß er ganz durchnäßt und barhäuptig war.

»Kommen Sie, Herr Graf, mit mir in meine Schlafkammer, ich habe von meinem Sohne, der Seefahrer ist, noch einige Kleider in der Truhe, sie werden Ihnen passen und der Bauernanzug wird eine gute Verkleidung für Sie sein.«

Die Umkleidung war rasch geschehen und dann gingen alle drei zum Strande hinab. Während der Alte sein Boot bereit machte, umarmten sich die Liebenden noch ein letztes Mal.

»Lebewohl, Gaston, lebewohl.«

»Lebewohl, Valentine, auf Wiedersehen in drei Jahren.«

Sie konnten sich nicht voneinander losreißen, aber der alte Fährmann drängte – es mußte geschieden sein.

Mit kräftiger Hand führte Vater Menoul sein Boot mitten durch die Strömung und drei Tage später befand sich Gaston auf dem amerikanischen Dreimaster »Tom Jones,« der schon am nächsten Tage in die See stach. Die Fahrt ging nach Valparaiso.


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