Emile Gaboriau
Aktenfaszikel 113
Emile Gaboriau

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6.

Neun Tage hatte sich Prosper Bertomy in Untersuchungshaft befunden, als ihm der Gefängniswärter endlich seinen Freilassungsbefehl überbrachte.

Das Verfahren gegen ihn, hieß es dann, ist wegen Mangel an Beweisen eingestellt worden und er konnte gehen wohin es ihm beliebte. Zuerst händigte man ihm in der Kanzlei alle ihm gehörigen Gegenstände, die man ihm abgenommen hatte, wieder ein, dann öffneten sich die Tore und er war frei.

Wohl war er frei, aber die Ehre hatte ihm das Gericht nicht wiedergegeben, der Verdacht ruhte noch auf ihm, wie ein Schandmal.

Das Schreckliche seiner Lage kam ihm erst voll zum Bewußtsein, als er draußen stand, von milden Frühlingslüften umweht, mitten im Getriebe der Stadt, in der er nun wie ein Ausgestoßener herumirren sollte! Würde er auch nur eine Tür offen finden, eine einzige entgegengestreckte Freundeshand? Nein, alle würden sich von ihm abwenden, denn seine Ehre war bemakelt!

Er stand am Kai, zu seinen Füßen floß die Seine, der Gedanke an den Tod lockte ihn.

»Ach,« sagte er seufzend, »ich habe nicht einmal das Recht zu sterben, ich muß leben, um meine Ehre wieder zu erlangen!«

Aber was nun beginnen? So lange er noch im Gefängnis schmachtete, war sein einziger Gedanke der gewesen: O, wenn ich nur frei wäre, dann würde ich den Schändlichen entlarven, vernichten! – Nun war er frei, aber was konnte, sollte er beginnen? Er war ratlos!

Langsam schlug er den Weg zu seiner Wohnung ein. Neue Sorgen bestürmten ihn: was mochte in diesen neun Tagen, in denen er aus der Zahl der Lebenden ausgestrichen war, vorgefallen sein? Und was sollte er nun beginnen, einsam und freundlos wie er war – denn wie konnte er auf einen Freund zählen, da sein eigener Vater ihm nicht geglaubt – wer würde ihm glauben?

Nina! Unwillkürlich kam ihm der Name in den Sinn, und der Gedanke an sie hatte etwas ungemein Beruhigendes für ihn. Zwar hatte er das arme Mädchen nie geliebt, ja, es hatte sogar Augenblicke gegeben, wo er sich widerwillig von ihr abwandte, aber in diesem Augenblick empfand er es als Wohltat, daß er nicht einsam und freundlos sein würde. Ein Weib ist im Unglück immer treu, selbst wenn sie es auch im Glück nicht immer ist. Nina würde an ihn glauben, ihm ein Trost sein!

Vor seinem Hause angelangt, zögerte er einzutreten. Er hatte die natürliche Scheu eines fälschlich Beschuldigten und fürchtete einem bekannten Gesicht zu begegnen. Da kam eben der Hausmeister heraus und als er Bertomy erblickte, rief er: »Ah, ich freue mich, daß Sie wieder herausgekommen sind! Na, ich habe es ja gleich gesagt, als ich in der Zeitung las, daß Sie gestohlen haben sollen, nein, sagt' ich, das glaub' ich nicht, unser Mieter vom dritten Stock ist ein Ehrenmann, ein Kavalier . . .«

Bertomy fühlte sich von dem Wortschwall peinlich berührt, er unterbrach ihn daher und fragte: »Das Fräulein ist wohl nicht mehr hier, hat sie nicht ihre neue Adresse zurückgelassen?«

»Nein, am Tage als Sie verhaftet wurden, ist sie mit ihrem ganzen Gepäck weggefahren und seitdem wissen wir nichts mehr von ihr.«

Bertomy war von dieser Mitteilung schmerzlich berührt. »Und die Diener?« fragte er.

»Ihr Herr Vater hat sie ausbezahlt und weggeschickt.«

»Ist mein Vater hier?«

»Nein, er ist heute morgen abgereist, aber er sagte, daß sein bester Freund Ihre Rückkehr in der Wohnung abwarten würde, Sie werden ihn gewiß kennen, es ist ein freundlicher, dicker, älterer Herr, mit rotem Gesicht und graublondem Backenbart.«

Prosper war sehr erstaunt: ein Freund seines Vaters, den er obendrein nach der Beschreibung gar nicht erkannte, erwartete ihn – was sollte das bedeuten? Aber er wollte sich seine Verwunderung nicht anmerken lassen.

»Ja, ich weiß,« sagte er, eilte rasch die Treppe hinauf und läutete an seiner Tür.

Ein Herr, auf den die Beschreibung des Hausmeisters vollkommen paßte, öffnete ihm. Prosper hatte ihn noch nie gesehen.

»Ich freue mich sehr, Ihre werte Bekanntschaft zu machen,« sagte er und tat, als ob er hier zu Hause wäre.

»Ich muß gestehen . . .« antwortete Bertomy.

»Sie wundern sich über meine Anwesenheit, nicht wahr? ja, das finde ich begreiflich, Ihr Vater wollte eigentlich unsere Bekanntschaft vermitteln, aber er mußte notwendig nach Hause zurückkehren und so hat er es mir überlassen, mich selber vorzustellen. Vorerst aber lassen Sie mich Ihnen sagen, daß Ihr Vater die Überzeugung von Ihrer Unschuld, an die auch ich fest glaube, mitgenommen hat. Übrigens,« fuhr er fort, noch ehe Prosper ein Wort der Erwiderung finden konnte, »hat Ihr Vater einen Brief für Sie zurückgelassen, hier ist er.«

Prosper nahm den Brief und während er las, erhellte sich sein Gesicht und seine bleichen Wangen röteten sich wieder; dann reichte er dem Fremden die Hand und sagte: »Mein Vater nennt Sie seinen besten Freund und mahnt mich, Ihnen zu vertrauen und Ihre Ratschläge zu befolgen.«

»Und ich will Ihnen gerne beistehen, übrigens wissen Sie meinen Namen noch nicht, ich heiße Verduret und war bisher Notar, habe mich aber zur Ruhe gesetzt und verfüge frei über meine ganze Zeit, die ich jetzt ausschließlich Ihnen widmen will. Aber zunächst die Frage: Was gedenken Sie zu tun?«

»Was ich zu tun gedenke?« rief Prosper mit bebender Stimme und blitzenden Augen. »Den Elenden, der mir meine Ehre geraubt hat, will ich ausfindig machen, mich an ihm rächen und gelte es mein Leben!«

»Und auf welche Weise denken Sie an dies Ziel zu gelangen? Haben Sie einen Plan?«

»Nein, aber es wird die Aufgabe meines Lebens sein, dies Ziel zu erreichen, und ich glaube, was man so mit ganzer Seele will, das gelingt!«

»Ich stimme Ihnen vollkommen bei, Herr Bertomy, und da ich im vorhinein von Ihrer Absicht überzeugt war, habe ich über die Sache bereits nachgedacht und einen Plan entworfen. Fürs erste verkaufen Sie Ihr Mobiliar, verlassen dies Haus und verschwinden vom Schauplatz.«

»Verschwinden!« rief. Prosper empört, »das kann Ihr Ernst nicht sein, verschwinden würde soviel heißen, als mich schuldig bekennen und alle würden sagen, daß ich mich mit meiner Beute in Sicherheit gebracht habe.«

»Nun, was liegt daran, was die Leute meinen?« entgegnete Herr Verduret. »Waren Sie nicht eben bereit, Ihr Leben in die Schanze zu schlagen, um Ihre Ehre wiederzugewinnen. – Ans Ziel gelangen! Das können Sie nur durch Klugheit. Wenn Ihr Feind Sie ins Wasser stößt, werden Sie als gewandter Schwimmer sofort wieder an der Oberfläche auftauchen? Nein, Sie werden ihn täuschen, ihn in dem Glauben lassen, daß Sie ertrunken seien, indes Sie unter dem Wasser so lange als möglich fortschwimmen und erst an einer Stelle auftauchen, wo Sie außer Sicht sind. Sie haben unzweifelhaft einen Feind; nur wenn Sie verschwunden sind, wird er die Vorsicht außer acht lassen, wird sich verraten, dann erst, wenn er entlarvt ist, erscheinen Sie und nehmen Ihre Rache.«

Prosper hörte mit Bewunderung den scharfsinnigen Auseinandersetzungen des Fremden zu und ohne Besinnen antwortete er: »Ich werde Ihren Rat befolgen, Herr Verduret.«

»Das freut mich um so mehr, als ich schon im vorhinein darauf rechnete und mit einem Möbelhändler in Unterhandlung getreten bin, er wird heute noch kommen und alles was da ist übernehmen, da Sie ohne Geld sind, wird Ihnen der Erlös sehr zu statten kommen.«

»Ich füge mich.«

»Schön, mein lieber Freund, und nun sagen Sie mir, sind Sie mit Herrn von Lagors befreundet?«

»Er ist mein bester Freund.«

»So? Da können Sie mir wohl sagen, was er für ein Patron ist?«

Dies Wort schien Prosper zu verletzen. Sein Ton klang etwas gereizt, als er antwortete: »Raoul von Lagors ist der Neffe der Frau Fauvel, der liebenswürdigste, geistreichste Kavalier, der beste, treueste Mensch, den ich kenne und dazu schön wie ein Antinous.«

»Das ist viel auf einmal, ein wahrer Ausbund, ich freue mich schon seine Bekanntschaft zu machen. Um es kurz zu sagen, ich habe ihm in Ihrem Namen geschrieben und er hat seinen Besuch angesagt, ich habe nämlich einen Plan und möchte Sie für die Unterredung mit ihm vorbereiten. Nämlich . . .« Ein Klingeln unterbrach Herrn Verduret.

»O weh,« sagte er, »zu spät, da ist er schon . . . wo kann ich mich nur verstecken, um Zeuge Ihres Gesprächs zu sein?«

»Hier rechts ist mein Schlafzimmer, lassen Sie die Tür offen und die Portiere herunter. Ein zweites Klingeln ertönte.

Prosper wandte sich zum Gehen.

»Noch eins,« mahnte Verduret mit ernstem, eindringlichem Tone, verraten Sie Ihre Pläne mit keinem Worte und erwähnen Sie auch meiner nicht. Zeigen Sie sich völlig entmutigt und niedergeschlagen.«

Verduret verschwand ins Nebenzimmer und Prosper beeilte sich, seinem Freunde die Tür zu öffnen.

Das Bild, das Prosper von Raoul entworfen hatte, war durchaus nicht geschmeichelt, der Gesichtsausdruck des schönen Jünglings war ein so edler, daß man an seinen Herzenseigenschaften, sowie Geistesgaben nicht zweifeln konnte.

Das erste was er tat, als er eingetreten, war, daß er Prosper um den Hals fiel.

»Armer, lieber Freund,« sagte er, »armer, armer Prosper.«

Verduret fand den Ton dieser Beileidskundgebung etwas gezwungen, aber Prosper merkte nichts davon.

»Dein Brief hat mich schmerzlich berührt,« fuhr Raoul fort, indem er sich auf einem Fauteuil niederließ, »ich war ganz außer mir und fragte mich, ob du denn bei Verstande seist? In der Angst habe ich alles liegen und stehen gelassen und bin zu dir geeilt.«

Prosper hörte mit Verwunderung zu, was mochte in dem Briefe, den er nicht geschrieben, gestanden haben? Und wer war der geheimnisvolle Fremde, der ihm seine Hilfe angeboten hatte?

Unterdessen sprach Raoul weiter: »Warum willst du verzweifeln? Du bist noch jung, du kannst ein neues Leben beginnen. Und ich werde dich nicht verlassen, ich bin dein Freund, mein halbes Vermögen steht zu deiner Verfügung und du weißt, daß ich reich bin.«

Prosper war von dem edlen Anerbieten tief gerührt.

»Ich danke dir, mein lieber Raoul,« antwortete er mit bewegter Stimme, »mir aber kann leider alles Geld der Erde nichts nützen.«

»Warum? Hast du denn keine Pläne? Denkst du in Paris zu bleiben?«

»Ich weiß es nicht, ich habe keinerlei Pläne, ich weiß nicht, was ich beginnen soll, ich habe den Kopf verloren.«

»O, das darfst du nicht, du mußt handeln. Laß mich ganz aufrichtig mit dir sprechen, mein lieber Prosper, so lange der rätselhafte Diebstahl nicht aufgeklärt ist, kannst du nicht in Paris bleiben.«

»Und wenn er nie aufgeklärt wird?«

»Um so mehr Grund hast du, zu verschwinden. Eben erst sprach ich von dir mit Clameran – du bist ungerecht gegen ihn, denn er ist dir wirklich zugetan. – Er sagte: wenn ich an Prospers Stelle wäre, würde ich alles zu Geld machen und nach Amerika gehen, drüben würde ich mir ein Vermögen erwerben und dann als Millionär zurückkehren und meine Feinde vernichten.«

Prospers Stolz empörte sich gegen diesen Rat, er wollte auffahren, aber rechtzeitig erinnerte er sich Verdurets Mahnung und er schwieg.

»Nun?« drängte Raoul, »was meinst du dazu?«

»Ich will es mir überlegen, ich weiß selbst nicht, was ich will und soll – – übrigens – was sagt denn Herr Fauvel?«

»Ach, du weißt, daß der Onkel nicht gut auf mich zu sprechen ist, seit ich es abgelehnt habe, in sein Geschäft einzutreten; seit einem Monat war ich nicht mehr dort. Aber deinen Schützling, den jungen Cavaillon, habe ich getroffen und durch ihn habe ich Nachrichten. Der arme Onkel soll entsetzlich aussehen, die Geschichte scheint ihn mehr angegriffen zu haben, als dich . . .«

»Und Frau Fauvel . . . und Fräulein Magda?« fragte Bertomy zögernd.

»Ach, die Tante,« versetzte Raoul leichthin, »die Tante ist natürlich noch immer fromm, sie läßt sogar für den Täter Messen lesen, meine schöne kalte Cousine aber denkt nicht mehr an den Vorfall, sie hat zuviel mit Vorbereitungen für den Kostümball, der übermorgen bei dem Bankier Jandidier stattfindet, zu tun. Sie wird ein wunderbares Kostüm als Edeldame aus der Zeit Katharinas von Medici haben.«

Diese Mitteilung traf Prosper wie ein neuer Schlag.

»Ist's möglich, Magda . . . Magda . . .« flüsterte er vor sich hin.

Raoul tat, als hörte er nichts, er erhob sich und sagte: »Nun muß ich gehen, lebewohl, mein lieber Prosper und verliere den Mut nicht, nach dem Balle komme ich wieder und erzähl' dir, wie es gewesen, unterdessen überlege dir meinen Rat und wenn du Geld brauchst, du weißt, ich steh' dir gern zu Diensten.«

Er drückte Prospers Hand und ging.

Dieser stand ganz schmerzversunken da und erst die Stimme Verdurets riß ihn aus seiner Betäubung.

»So sind die Freunde,« sagte er.

»Ja,« entgegnete Prosper bitter, »und doch hat er mir die Hälfte seines Vermögens angeboten.«

»Als ob solch ein Anerbieten zu irgend etwas verpflichten würde, er hätte Ihnen ebensogut sein ganzes Vermögen zur Verfügung stellen können, das hätte noch großmütiger ausgesehen. Übrigens zweifle ich gar nicht, daß der junge Herr gerne ein beträchtliches Geldopfer brächte, nur um den Ozean zwischen sich und Ihnen zu wissen.«

»O, warum sollte er . . .?«

»Warum? Vielleicht aus demselben Grunde, warum er Ihnen so recht bemerklich erzählte, daß er schon vier Wochen keinen Fuß in seines Onkels Wohnung gesetzt hat.«

»Ich glaube, daß es sich wirklich so verhält.«

»Aber gewiß, mein Lieber,« versetzte Verduret lächelnd. »Und nun genug von ihm,« fügte er ernst hinzu, »ich weiß jetzt Bescheid, mehr wollte ich nicht. Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Vor allem anderen müssen Sie sich umkleiden, weil wir zusammen einen Besuch zu machen haben.«

»Einen Besuch? Bei wem?«

»Bei Herrn Fauvel.«

»Niemals,« rief Prosper heftig aus. »Ich will diesen Elenden nie mehr sehen!«

»Ich verstehe und entschuldige Ihre Heftigkeit,« erwiderte Verduret gelassen, »aber Sie werden sich überwinden und mit mir kommen. Ebenso wie es nötig war, daß ich Lagors sah und beobachtete, ebenso wichtig ist es für mich, Fauvel kennen zu lernen. Da ich nicht allein hingehen kann, müssen Sie sich eben ein wenig zusammennehmen. Ich werde mich als Ihren Verwandten vorstellen und Sie brauchen kein Wort zu reden.«

»Wenn es durchaus sein muß . . .«

»Ja, es muß sein; beeilen Sie sich, es ist spät.«

Während Bertomy in sein Zimmer ging, um sich umzukleiden, klingelte es wieder, Verduret öffnete; es war der Hausmeister, der einen umfangreichen Brief in der Hand hielt.

»Man hat soeben diesen Brief für Herrn Bertomy bei mir abgegeben – er sieht recht seltsam aus, nicht?«

Der Brief sah in der Tat ungewöhnlich aus, denn die Adresse war nicht mit der Hand geschrieben, sondern die Worte waren aus ausgeschnittenen gedruckten Buchstaben zusammengesetzt.

Verduret nahm das Päckchen, hieß den Hausmeister einen Augenblick im Vorzimmer warten und trat wieder ins Zimmer.

»Man hat dies für Sie gebracht,« sagte er zu Prosper, während er den Brief ohne Umstände öffnete.

Er enthielt zehn Stück Tausendfrankscheine und einen kleinen Zettel, auf dem ebenfalls, wie auf der Adresse, gedruckte Buchstaben aufgeklebt waren.

»Was bedeutet das?« fragte Prosper bestürzt.

»Das werden wir sogleich erfahren, wenn wir dies merkwürdige Briefchen lesen, also hören Sie: Lieber Prosper, ein Freund, der deine entsetzliche Lage kennt, beeilt sich, dir zu Hilfe zu kommen und dir zu sagen, daß es ein Herz gibt, das mit dir leidet. Aber es gibt nur einen Ausweg, du mußt Frankreich verlassen; du bist jung, die Zukunft gehört dir. Gehe mit Gott und möge dies Geld dir Glück bringen.«

»Haben sich denn alle Leute verschworen, mich fortzuschicken?« rief Prosper wild.

Verduret lächelte befriedigt.

»Gehen Ihnen endlich die Augen auf? Merken Sie endlich, daß es Leute gibt, denen Ihre Anwesenheit unbequem ist und die Sie um jeden Preis entfernen wollen?«

»Aber wer sind diese Leute und wer darf sich unterstehen, mir Geld zu schicken?«

Verduret schüttelte traurig das Haupt.

»Wenn ich das wüßte, mein lieber Prosper, dann wäre meine Aufgabe erfüllt und wir hätten den Dieb. Aber lassen Sie mich nur machen, jetzt haben wir einen schlagenden Beweis in Händen, das übrige wollen wir schon herausbringen. Zunächst will ich aber den Hausmeister ins Verhör nehmen.«

Er öffnete die Tür und rief hinaus.

»Sie, guter Mann, kommen Sie herein.«

Der Hausmeister näherte sich, er war ein wenig verwundert, weil der Fremde hier den Herrn spielte.

»Wer hat diesen Brief gebracht?« fragte Verduret.

»Ein Dienstmann, er sagte, der Gang sei schon bezahlt.«

»Kennen Sie ihn?«

»Ja, er steht an der Straßenecke.«

»Holen Sie ihn.«

Der Hausmeister ging und Verduret setzte sich an den Tisch, auf welchem das Geld lag, zog ein Notizbuch aus der Tasche und betrachtete bald die Banknoten, bald die Zahlen, die in seinem Buche eingetragen waren. Endlich sagte er entschiedenen Tones: »Diese Bankscheine hat Ihnen nicht der Dieb geschickt.«

»Sie meinen?«

»Ich bin überzeugt davon, es wäre denn, daß er mit außerordentlichem Scharfsinn begabt ist, aber soviel steht fest, daß diese Tausendfrankscheine nicht zu den aus Ihrer Kasse entwendeten gehören – denn hier habe ich die Nummern der gestohlenen Banknoten.«

»Ist es möglich!« rief Prosper verblüfft, »die hatte ich nicht einmal selbst!«

»Aber die Bank hatte sie und das ist ein Glück.«

»Und Sie denken an alles!«

Verduret lächelte schwach, aber er wurde sofort ernst, erhob sich und ging nachdenklich auf und ab, dabei sprach er halblaut vor sich hin und schien die Anwesenheit des anderen vollkommen vergessen zu haben.

»Da das Geld nicht vom Diebe herrührt, so kann es nur von jener Person stammen, die zwar anwesend war, den Diebstahl aber nicht abzuwenden vermochte und nun von Gewissensbissen gemartert wird – meine Annahme, auf die mich der Strich an der Kasse brachte, wird nun zur völligen Gewißheit.«

Prosper hörte staunend zu, begriff aber nichts, doch wagte er nicht den Freund seines Vaters mit Fragen zu unterbrechen.

»Wir müssen nun herausbringen,« fuhr Verduret fort, »wer diese zweite Person ist.«

Er nahm den Brief nochmals auf und las ihn aufmerksam durch.

»Der Brief ist unzweifelhaft von einer Frau verfaßt,« sagte er dann, »ein Mann hätte seine Ausdrücke sorgfältiger gewählt und nicht ›Hilfe‹ geschrieben, ein Wort, das ja im höchsten Grade verletzend wirkt, aber die Frauen ahnen nicht, wie töricht empfindlich die Männer in gewisser Beziehung sind; die Schreiberin hat wirklich helfen wollen und darum naturgemäß das Wort Hilfe geschrieben, während ein Mann etwas von Darlehen oder dergleichen gesprochen hätte . . . Und vollends der Satz: daß es ein Herz gibt und so weiter, kann nur von einer Frau herrühren . . .«

»Wie sollte denn eine Frau in die Sache verwickelt sein?« bemerkte Prosper.

Aber Verduret achtete des Einwurfes nicht.

Er ging mit dem Brief ans Fenster und betrachtete die Buchstaben auf das sorgfältigste, denn er wollte herausfinden, woher sie ausgeschnitten sein mochten.

Es war ihm sofort klar, da die Schrift klein, der Druck sehr sauber und das Papier sehr glatt war, daß der Ausschnitt weder aus einer Zeitung, noch aus einem gewöhnlichen Buche stammen konnte. Es waren besondere Buchstaben, die nicht allen Druckereien eigen sind.

»Ich hab's!« rief er plötzlich, »die Worte sind aus einem Gebetbuche ausgeschnitten! Übrigens können wir uns gleich überzeugen . . .«

Und rasch befeuchtete er die aufgeklebten Worte und löste sie dann mit einer Stecknadel ab; auf der Rückseite eines der Worte stand lateinisch: » Deus

»Hab' ich's nicht gesagt?« rief er befriedigt lächelnd. »Nun gilt es, auch das Gebetbuch ausfindig zu machen . . .«

Er wurde durch den Hausmeister unterbrochen, der den Dienstmann hereinführte.

Verduret zeigte dem Mann den Briefumschlag.

»Erinnern Sie sich, diesen Brief gebracht zu haben?«

»Gewiß, er ist ja sehr auffällig.«

»Und wer hat Ihnen den Brief übergeben, ein Herr oder eine Frau?«

»Ein Dienstmann.«

»So; kennen Sie ihn?«

»Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.«

»Hat er Ihnen vielleicht gesagt, wer ihm den Auftrag erteilt hat?«

»Ja, er sagte, ein Kutscher habe ihm auf dem Boulevard den Brief übergeben.«

Soviel Vorsichtsmaßregeln! dachte Verduret, die Person will im Dunkeln bleiben – es wird ihr aber nichts helfen – wir werden sie finden! und laut sagte er zum Dienstmann: »Würden Sie Ihren Kollegen wiedererkennen?«

»Gewiß, wenn ich ihn treffe.«

»Schön, jetzt sagen Sie mir, wie viel Sie pro Tag verdienen?«

»Das ist nicht gleich, aber acht bis zehn Frank sicher.«

»Also, dann gebe ich Ihnen zehn Frank, Sie haben weiter nichts zu tun, als spazieren zu gehen und nach dem Kollegen Umschau zu halten, allabendlich um acht Uhr kommen Sie ins Hotel Erzengel, fragen nach Herrn Verduret, statten mir Bericht ab und holen sich Ihr Geld. Sobald Sie den Mann ausfindig gemacht haben, erhalten Sie noch obendrein fünfundzwanzig Frank. Paßt Ihnen dies Geschäft?«

»Das will ich meinen!«

»Dann machen Sie sich sogleich auf den Weg!«

»Glauben Sie wirklich, daß eine Dame hinter diesem Geheimnis steckt?« fragte Prosper, nachdem der Dienstmann sich entfernt hatte.

»Natürlich, ich bin überzeugt davon und zwar ist es eine fromme Dame, die mehrere Gebetbücher besitzt, da sie aus einem die Buchstaben herausgeschnitten hat.«

»Und Sie hoffen, des verdorbenen Gebetbuches habhaft werden zu können?«

»Ja, mein Lieber, denn mir steht ein Mittel zu Gebote – und dies werde ich sofort in Anwendung bringen.«

Bei diesen Worten schrieb er einige Zeilen in sein Notizbuch, riß das Blatt heraus, rollte es zusammen und ließ es in die Westentasche gleiten, dann sagte er: »Kommen Sie, Prosper, nun wollen wir Herrn Fauvel unseren Besuch abstatten und dann zum Essen gehen.«


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