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Unbeweglich und marmorblaß blickte Valentine dem Fahrzeuge nach, das ihren Geliebten entführte, bis es in dem Dunkel der Nacht völlig verschwunden war.
Jetzt, da Gaston fort war, jetzt erst brach sich ihr Schmerz, ihre Verzweiflung gewaltsam Bahn, sie warf sich zu Boden und weinte herzbrechend. Für sie war alles, alles zu Ende, der ganze Hoffnungsschimmer, der Gaston beseelte, war für sie nicht vorhanden, sie glaubte an kein Glück mehr, ihre Zukunft war finster und gräßlich wie ein Abgrund.
Endlich raffte sie sich auf und schlug den Weg nach dem Schlosse ein. Vorsichtig schlich sie sich in ihr Zimmer und schloß sich sofort ein. Sie verbarg ihr durchnäßtes beschmutztes Kleid und betrachtete lange wehmütig das Geschmeide, das ihr Gaston als Andenken zurückgelassen, ehe sie es in ein verborgenes Fach ihrer Kommode legte.
Sie konnte in dieser Nacht keine Ruhe finden und erhob sich mit Tagesanbruch. Schweres stand ihr bevor, sie mußte ihr Versprechen einlösen und dem Marquis die Nachricht von der Errettung seines Sohnes bringen.
Ihrem Dienstmädchen Milhonne gab sie den Auftrag, der Mutter zu sagen – falls sie nach ihr fragen sollte – daß sie in die Frühmesse gegangen wäre, und da dies in der Tat öfter vorzukommen pflegte, so fiel dem Mädchen der zeitige Ausgang ihrer jungen Herrin nicht auf.
Valentine schritt kräftig aus und doch dauerte es eine Stunde, bis sie die Brücke und eine zweite, bis sie Schloß Clameran erreicht hatte.
Eben trat der Kammerdiener des Marquis aus dem Gittertor. Er sah zerstört aus und seine Augen waren vom Weinen gerötet. Sie kannte ihn vom Sehen, blieb stehen und wartete, bis er näher käme, dann wollte sie ihn ansprechen.
Zu ihrer Verwunderung zog er nicht die Mütze, als er an ihr vorüberkam, sondern fragte barschen Tones: »Sie wollen doch nicht etwa zu uns, aufs Schloß, Fräulein?«
»Ja,« antwortete sie kleinlaut.
»Wenn Sie etwa Herrn Gaston suchen, da können Sie sich die Mühe sparen, mein junger Herr hat das Leben lassen müssen wegen – wegen seiner Geliebten.«
Der Diener sprach die letzten Worte im verächtlichsten Tone und maß dabei das zitternde junge Mädchen von Kopf bis zu Füßen.
Valentine erbleichte unter der Beleidigung, aber sie erwiderte nichts.
»Ich muß den Herrn Marquis sprechen,« sagte sie.
Der Kammerdiener zuckte zusammen.
»Dann brauchen Sie sich auch nicht weiter zu bemühen, der Herr Marquis ist auch tot.«
»Tot,« rief Valentine entsetzt und mußte sich an einen Baum lehnen, um nicht umzusinken.
Der Kammerdiener weinte, er war eine treue Seele und dem Marquis, in dessen Diensten er seit vierzig Jahren stand, blind ergeben, so sehr, daß er seine Neigungen und Abneigungen vollkommen teilte. Er verabscheute daher auch die Familie Laverberie und nun, da er Valentinen die Schuld an dem Tode seines jungen Gebieters, den er über alle Maßen liebte, beimaß, war seine Erbitterung aufs höchste gestiegen.
»Jawohl, tot,« sagte er nach einer Pause. »Als man dem Herrn Marquis meldete, daß sein ältester Sohn in der Rhone umgekommen sei, hat ihn der Schlag gerührt und lautlos ist der große starke Mann zusammengebrochen. Wir haben sofort den Arzt geholt, aber der Herr war nicht mehr zu retten, wohl hat er noch das Bewußtsein erlangt und mit Herrn Louis eine Weile allein gesprochen, aber bald trat der Todeskampf ein – – sein letztes Wort war: wehe den Laverberie!«
Mit einem einzigen Wort hätte Valentine den Haß des treuen Dieners beschwichtigen, seinen Schmerz lindern können, das eine Wort; Gaston ist gerettet, lebt; aber sie glaubte den Geliebten zu gefährden, wenn sie das Geheimnis verriete, nur seinem Bruder wollte sie es anvertrauen.
»Ich muß Herrn Louis sprechen,« sagte sie.
»Das kann Ihr Ernst nicht sein,« versetzte der Kammerdiener, »nach dem, was vorgefallen ist, werden Sie es wohl nicht wagen, ihm vor Augen zu kommen. Überhaupt möchte ich Ihnen raten, sich so rasch als möglich zu entfernen – die Dienstboten bei uns sind nicht gut auf Sie zu sprechen.«
Und ohne Gruß ging er raschen Schrittes fort.
Valentine war wie gebrochen; mühsam schleppte sie sich heimwärts. Unterwegs begegneten ihr viele Leute aus der Stadt, alle besprachen die Ereignisse des vorhergehenden Abends und machten das unglückliche Mädchen zur Zielscheibe beleidigender Worte oder Blicke. Endlich zu Hause angelangt, erblickte sie ihre Zofe Milhonne, die sie vor dem Tore erwartete.
»Kommen Sie schnell, Fräulein, die Frau Gräfin verlangt nach Ihnen, nehmen Sie sich in acht, sie ist in furchtbarer Aufregung, es war schon Besuch da und nun ist die Hölle los.«
Die Frau Gräfin von Laverberie war fürchterlich jähzornig und konnte in diesem Zustande fluchen und wettern, wie ein alter Wachtmeister.
Ihre intimste Freundin, eine alte boshafte Betschwester, war schon in aller Frühe gekommen, um unter scheinbarer Teilnahme der Gräfin die Tagesneuigkeit von Tarascon mitzuteilen. Natürlich ließ sie es nicht an giftigen Bemerkungen über die Erziehung junger Mädchen fehlen, so daß die Gräfin in höchste Wut geriet.
Ihr erster Gedanke war, daß nun ihre ehrgeizigen Pläne in betreff einer reichen Heirat Valentines scheitern mußten und das brachte sie noch mehr auf.
Als nun ihre Tochter vor ihr erschien, überschüttete sie diese mit Schmähungen.
Das junge Mädchen hatte den entsetzlichen Auftritt vorausgesehen. Sie sagte sich in ihrer Demut, daß die Mutter recht habe, beugte das Haupt und schwieg.
Aber gerade das reizte die alte Gräfin.
»Wirst du nicht antworten?« schrie sie.
»Was kann ich antworten, Mutter?«
»Was? das fragst du noch! Daß sie lügen, die frechen Hunde, die sich zu behaupten erdreisten, eine Laverberie könne sich vergangen haben!«
Valentine schüttelte traurig das Haupt.
»So wäre es denn wahr?« schrie die Gräfin außer sich.
»Verzeihung, Mutter, Verzeihung,« stammelte das junge Mädchen mit gefalteten Händen.
»Ha, du elende Kreatur, du gestehst also, du wagst es, um Verzeihung zu bitten, was soviel heißt, als daß du deine Schuld zugibst! Fast möchte ich zweifeln, daß du mein leibliches Kind bist! Begreifst du denn nicht, daß es Dinge gibt, die man niemals und unter keinen Umständen zugeben darf? Du bist wirklich eine freche, unverschämte Person, du wagst zuzugeben, daß du einen Liebhaber hast und errötest nicht einmal?«
»Erbarmen, Mutter, Erbarmen!«
»Du verdienst keines! Hast du bedacht, daß du Schmach und Schande über mich bringst, daß dies Unglück mein Tod sein wird? Ich habe dich zur Ehrbarkeit erzogen und du wirfst dich an den ersten besten weg.«
Dies Wort empörte das demütige junge Mädchen, sie versuchte zu widersprechen.
»Ja, du hast recht,« unterbrach sie die Gräfin, »er war nicht der erste beste, er war der schlechteste! Unser Feind, ein Elender, der dich absichtlich dem Gespött preisgegeben hat . . .«
»Das ist nicht wahr, Mutter, er würde mich geheiratet haben, wenn du nur eingewilligt hättest.«
»So, hätte er die Gnade gehabt? Nun, ich sage dir, lieber möchte ich dich noch tiefer sinken, der Schande ganz verfallen sehen, als je zugeben, daß du einen Clameran heiratest! Übrigens,« fügte sie grausam mit boshaft funkelnden Augen hinzu, »dein Geliebter ist ja ertrunken und den Alten hat der Schlag gerührt, wie ich gehört habe. – Gott ist gerecht!«
Das war mehr, als das unglückliche junge Mädchen ertragen konnte. Mit einem Wehlaut sank sie zu Boden, im Fallen schlug sie mit der Stirn gegen die Kante eines Ecktischchens und aus einer tiefen Wunde sickerte das Blut.
Aber die Gräfin sah ihre Tochter mitleidlos zu ihren Füßen liegen. Als sie bemerkte, daß Valentine sich nicht regte, läutete sie und sagte zu den eintretenden, vor der Gebieterin zitternden Mägden: »Tragt das Fräulein auf ihr Zimmer, legt sie aufs Bett und sperrt sie ein, den Schlüssel bringt mir.«
Die Dienerinnen trugen Valentine fort, aber nach einer Weile erschien Milhonne und berichtete der Gräfin, daß das Fräulein zwar zu sich gekommen sei, es aber schlimm mit ihr stünde.
Die Gräfin begab sich in das Zimmer ihrer Tochter und das Aussehen des armen Kindes war wirklich so entsetzlich, daß die Alte sich bewogen fühlte, den Arzt rufen zu lassen.
Dr. Raget war nicht nur ein vorzüglicher Arzt, sondern auch ein edler Mensch, der ganz in seinem Berufe aufging, er war nicht nur herzensgut, sondern auch ungemein scharfsinnig und durchschaute die Menschen, als wenn sie aus Glas wären.
Als er Valentine sah, wurde seine Miene sehr ernst, er heftete hierauf seine Blicke so durchdringend auf die alte Gräfin, daß sie sich ganz verwirrt fühlte.
»Ihre Tochter ist sehr krank,« sagte er, »ich muß sie aber genau untersuchen und bitte daher, mich einen Augenblick allein zu lassen.«
Der alte Arzt war der einzige Mensch, welcher der Gräfin imponierte, sie wagte daher nicht, sich ihm zu widersetzen, und ging ins Nebenzimmer.
Bald folgte er ihr. Sein Gesicht war ernst und er schien tief ergriffen.
»Frau Gräfin,« begann er, »einer Mutter Herz ist immer voll Güte und Nachsicht, nicht wahr? Sie werden Fräulein Valentine verzeihen . . . sie befindet sich in gesegneten Umständen.«
»Die Schändliche, die Dirne . . .«
»Der Zustand Ihrer Tochter ist nicht lebensgefährlich, aber ernst,« fuhr der Arzt, ohne der Unterbrechung zu achten, fort, »die allzu heftigen Aufregungen haben ihren zarten Organismus erschüttert, sie fiebert stark, doch wird leibliche und vor allem seelische Ruhe sie wieder herstellen. An Ihnen ist es, Frau Gräfin, hier helfend einzugreifen, einige gute beruhigende Worte aus Ihrem Munde werden eine bessere Wirkung erzielen, als meine Arzneien. Ich mache Sie aber für das Leben Valentines und ihres Kindes verantwortlich.«
Der alte Arzt hatte die letzten Worte so eindringlich gesprochen, daß die Gräfin erschrak, sie fühlte sich durchschaut.
»Gewiß werde ich mein möglichstes tun, um Valentine zu pflegen,« sagte sie scheinheilig; »aber das können Sie doch von mir nicht verlangen, Herr Doktor, daß ich selber meine Schande veröffentliche und mich dem Gespötte der ganzen Gegend aussetze?«
»Ich kann Ihnen natürlich nicht verbieten, mit Ihrer Tochter Laverberie auf einige Zeit zu verlassen, aber ich werde Rechenschaft von Ihnen über das Kind fordern. Mehr habe ich Ihnen vorderhand nicht zu sagen.«
Damit ging er und ließ die Gräfin in einem Zustande grenzenloser Wut zurück.
Sie haßte den alten Arzt, der sich unterstanden, ihre geheimsten Gedanken zu erraten und es gewagt hatte, in solchem Tone mit ihr zu sprechen. Sie haßte Valentine, die schuld war, daß sie sich diese Demütigung gefallen lassen mußte und sie zwang, ihren schönen Hoffnungen auf einen reichen Schwiegersohn zu entsagen!
Und ihre Erbitterung wurde so heftig, daß sie ihrer einzigen Tochter den Tod wünschte.
Valentine hatte sich nach und nach erholt. Sie sagte sich: »Gott sei Dank, das Schlimmste ist überstanden, meine Mutter weiß alles, nun darf ich auf ihre Verzeihung warten und hoffen.«
Aber eines bereitete ihr schweren Kummer, wie sollte sie Nachricht von Vater Menoul erhalten, sie konnte nicht daran denken, hinabzugehen. Der Doktor hatte ihr zwar nach einigen Tagen erlaubt, aufzustehen, aber sie mußte noch das Zimmer hüten.
Zum Glück war der alte Fährmann ebenso klug, als er aufopfernd gewesen. Er hatte kaum gehört, daß das Schloßfräulein krank sei, als er auf Mittel sann, ihr Nachricht zukommen zu lassen. Ein Vorwand, aufs Schloß zu kommen, war bald gefunden – er brachte Fische zum Verkauf – und endlich gelang es ihm einmal, das Fräulein zu sehen, sie waren nicht allein, aber aus seinen Blicken konnte sie entnehmen, daß Gaston in Sicherheit war.
Einige Wochen später erklärte der Arzt, daß Valentine soweit hergestellt sei, um die Anstrengungen der Reise ohne Schaden für die Gesundheit ertragen zu können.
Die Gräfin hatte den Augenblick mit größter Ungeduld erwartet, sie hatte schon alle Reisevorbereitungen getroffen und allen Bekannten erzählt, daß sie sich mit ihrer Tochter nach England zum Besuch reicher Verwandten begeben würde.
Valentine konnte nur mit Schaudern an die bevorstehende Reise denken; es war ihr noch nicht gelungen, Louis von Clameran wissen zu lassen, daß sein Bruder noch am Leben sei und nun sollte sie fort!
Sie entschloß sich also, das Geheimnis einem Briefe anzuvertrauen und die gute Milhonne, die sich während Valentines Krankheit bewährt hatte, auf Schloß Clameran damit zu schicken. Aber das Mädchen kam unverrichteter Dinge zurück. Herr Louis, den man jetzt Marquis nannte, hatte die Dienerschaft verabschiedet und war verreist. Im Schloß wohnte niemand mehr.
Der Tag der Abreise kam, die Gräfin entschloß sich, Milhonne mitzunehmen, nachdem sie diese bei der Messe auf das Evangelienbuch hatte ewige Verschwiegenheit schwören lassen.
In England ließ sich die Gräfin in einem kleinen Dorfe bei London nieder. Sie nannte sich dort Frau Wilson und hielt ihre Tochter wie eine Gefangene, aber sie selbst fuhr oft nach London und besuchte Gesellschaften, Theater und Konzerte.
Die arme Valentine führte den ganzen Winter über ein trauriges Leben, und als sie endlich im Frühlinge einem Knaben das Leben schenkte, wurde er ihr wenige Stunden nach seiner Geburt schon entrissen.
Ihre grausame, kaltherzige Mutter hatte alles voraus ausgedacht und vorbereitet. Das Kind wurde von dem Dorfgeistlichen auf den Namen Raoul Wilson getauft und kam dann zu einer jungen Bäuerin in Pflege. Diese Frau hatte sich verpflichtet, den Knaben als eigen anzunehmen, ihn zu erziehen und ihn ein Handwerk lernen zu lassen, dafür gab ihr die Gräfin als Abfertigung zehntausend Frank.
Da die Bäuerin von dem wahren Namen und Stand der Gräfin keine Ahnung hatte, so konnte das Kind niemals die Wahrheit über seine Herkunft erfahren und das war es, was der Gräfin am meisten am Herzen lag.
Als die Angelegenheit erledigt war, fühlte sie sich wie von einem Alp befreit und kam ganz vergnügt nach Hause.
Aber Valentine weinte und verlangte nach ihrem Kinde.
»Du bist wohl verrückt,« versetzte die Gräfin. »Das Kind ist gut aufgehoben, das muß dir genügen. Die Vergangenheit war ein böser Traum, den du vergessen mußt, und damit basta.«
Wohl empörte sich Valentines Innerstes gegen die Gewalttätigkeit ihrer Mutter, aber sie hatte nicht den Mut, sich zu widersetzen und duldete klaglos.
Im Sommer kehrten sie nach Laverberie zurück. Die Welt hatte wirklich keine Ahnung gehabt, welches der wahre Grund der Reise gewesen und so konnte die Gräfin ihre alten Beziehungen wieder aufnehmen. Sie wußte viel von England zu erzählen und ging täglich in Gesellschaft.
Dr. Raget war der einzige, der die Wahrheit wußte. Die Gräfin hatte sich beglaubigte Dokumente verschafft und wies sie dem alten Arzte bei seinem ersten Besuche sofort vor.
»Sie sehen,« sagte sie, »das Kind lebt und ist in guten Händen, ich habe es mich genug kosten lassen, ich denke, Sie können zufrieden sein.«
»Wenn Ihnen Ihr Gewissen nichts vorwirft, Frau Gräfin – ich muß es sein.«
Nein, ihr Gewissen machte ihr keine Vorwürfe, dazu war sie zu herzlos. Sie quälte die arme Valentine unablässig mit den bittersten Vorwürfen und konnte ihr nicht verzeihen, daß sie, statt die Mutter durch eine glänzende Heirat zu bereichern, sie durch ihren Fehltritt noch um Geld gebracht hatte.
Das Leben des unglücklichen Mädchens war eine einzige Kette von Leiden, sie duldete still, aber manchmal bereute sie doch, nicht mit Gaston geflohen zu sein. War ihre Aufopferung denn nicht ganz überflüssig gewesen? Unablässig dachte sie an den Geliebten, wo er nur weilen mochte? Lebte er noch, dachte er ihrer? Warum hatte er noch kein einziges Mal versucht, ihr Nachricht zukommen zu lassen?
In drei Jahren wollte er wiederkommen. Aber war seine Rückkehr möglich? Man hatte zwar angenommen, daß er ertrunken sei, da man aber keine Beweise für seinen Tod hatte, wurde die Angelegenheit doch vor dem Schwurgericht verhandelt und Gaston von Clameran wegen Totschlags » in contumacia« zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.
Valentine hatte sofort nach ihrer Rückkehr Milhonne ausgeschickt, um Erkundigungen über Louis einzuziehen, aber der junge Marquis war noch nicht auf sein väterliches Schloß zurückgekehrt und es hieß, daß er in Paris ein lustiges Leben führe.
Die Zeit verging. Vier Jahre waren seit Gastons Flucht verflossen, aber er hatte noch immer kein Lebenszeichen gegeben.
Die Gräfin, welche auf die Aussicht, einen reichen Schwiegersohn zu bekommen, verzichten mußte, wollte, wie sie sagte, sich nicht länger Entbehrungen auferlegen, und begann, über ihre Verhältnisse zu leben, sie machte ein großes Haus, bestellte für sich glänzende Toiletten aus Paris, ging in Gesellschaft und auf Reisen, kurz, sie brachte es dahin, daß ihre Besitzung binnen kurzem überschuldet war und sie sich in Wuchererhänden befand. Natürlich verbesserte dies ihre üble Laune keineswegs und die arme Valentine hatte übermenschliches zu leiden.
Da geschah es, daß ein junger Ingenieur, der die Arbeiten der Rhoneregulierung zu leiten hatte, in die Gegend kam und da er liebenswürdig und sympathisch war, so wurde er bald auf allen Schlössern der Umgebung ein gern gesehener Gast. Bei solchen Gelegenheiten lernte auch die Gräfin den jungen Mann, der sich André Fauvel nannte, kennen, und bald hatte sie mit ihren scharfen Augen die Entdeckung gemacht, daß Valentine ihm zu gefallen schien. Diese Entdeckung entzückte sie, da sie gehört hatte, daß der Ingenieur vermögend sei. Die schon begrabene Hoffnung auf einen Schwiegersohn lebte wieder auf und sie beschloß, den schüchternen jungen Mann nach Möglichkeit zu ermuntern. In der Tat war sie ihm gegenüber die Liebenswürdigkeit in Person. Freilich war er nicht von Adel – aber – ihre Geldverlegenheit war groß und, rasch entschlossen, lud sie André Fauvel zu einem Besuche ein.
Er war überglücklich, die schönen traurigen Augen Valentines hatten es ihm wirklich angetan, nur zeigte sich das junge Mädchen so zurückhaltend, daß er es nie gewagt haben würde, seine Bewerbung vorzubringen. Nun aber kam ihm die Mutter mit solcher Freundlichkeit entgegen, daß er hoffen durfte.
Sie empfing ihn das erste Mal allein. Sie hatte eben mit einem Geldverleiher einen unangenehmen Auftritt gehabt und war noch in voller Aufregung, als der junge Mann kam.
Sie klagte über das Los alleinstehender Frauen, wie die bösen Menschen ihre Unkenntnis in Geldangelegenheiten benützten, um sie auszubeuten und zu betrügen. Sie stellte sich selbst als ein solches Opfer hin und betonte scheinheilig, daß ihr ihre bedrängte Lage nicht um ihrer selbst willen, sondern nur wegen ihrer geliebten Tochter qualvoll sei, denn wie könne sie bei diesen schlechten Zeiten hoffen, das Mädchen ohne Mitgift zu verheiraten.
»Das Fräulein besitzt Eigenschaften genug, um einen Mann zu beglücken,« beeilte sich der Ingenieur zu sagen, »um sie zu besitzen, verzichtet man gerne auf jede Mitgift.«
»Das wäre ja recht schön, wenn es einen so seltenen Vogel wirklich gäbe,« meinte die Gräfin, »allein der Mann, dem ich das Glück meines einzigen Kindes anvertrauen würde, müßte mehr tun – – Laverberie ist überschuldet.«
»Der Mann, den ich meine,« antwortete Andre Fauvel, »ist glücklicherweise reich genug, um das Gut von Lasten frei zu machen, auch würde er sich selbstverständlich glücklich schätzen, der Mutter seiner geliebten Frau ein sorgenfreies Leben zu bereiten.«
»Das müßte aber notariell sichergestellt werden,« sagte sie, »ich könnte meine Tochter keinem Manne geben, der nicht so gestellt ist, daß sie keine materiellen Sorgen hat.«
Fauvel schämte sich ein wenig für seine künftige Schwiegermutter.
»Der Ehevertrag könnte auch diese Frage regeln,« antwortete er.
Weiter wurde über diese Angelegenheit nichts mehr gesprochen, als sich aber der junge Ingenieur einige Minuten später erhob, um sich zu verabschieden, reichte sie ihm mit freundlichem Lächeln die Hand und lud ihn für den nächsten Tag zum Mittagessen ein.
Die Gräfin war seit langem nicht so vergnügt gewesen. Nun war sie mit einem Schlage aller Sorgen ledig. Das junge Paar würde natürlich in Paris leben und sie als liebende Mutter würde die Wintermonate bei ihnen verbringen und endlich das Leben ein bißchen genießen können!
Plötzlich aber kam ihr der Gedanke, daß Valentine eigentlich auch gefragt werden müsse. Und wenn sie sich weigert? Die Gräfin erschrak bei dieser Vorstellung, doch faßte sie sich sogleich, sie war nicht die Frau, der man sich widersetzt, das wußte Valentine.
Daher begab sie sich sogleich auf das Zimmer ihrer Tochter und sagte ohne Vorbereitung: »Liebes Kind, ein junger Mann hat sich bei mir um dich beworben, und da gegen ihn nichts einzuwenden ist, so habe ich ihm deine Hand zugesagt.«
Bei dieser Eröffnung sprang Valentine entsetzt von ihrem Sitze empor.
»Das ist unmöglich, Mutter,« hauchte sie.
»Unmöglich, was soll das heißen?«
»Vergißt du, Mutter . . . oder hast du ihm alles gestanden?«
»Gestanden? Was? . . . du meinst doch nicht die vergangenen Torheiten? Gott bewahre, du hältst mich doch nicht für verrückt?«
»Aber Mutter,« entgegnete Valentine empört, »du glaubst doch nicht, daß ich so schlecht bin und einen anständigen Mann auf diese Weise betrügen würde? Das wäre ja eine Niedertracht.«
Die Gräfin wollte, ehe sie zu Gewaltmitteln griff, es mit der Milde versuchen. Sie schilderte ihrer Tochter die entsetzliche materielle Lage, in der sie sich befanden.
»Man wird mich von Haus und Hof verjagen und ich werde betteln gehen müssen,« sagte sie. »Und was deinen kleinen Fehltritt betrifft – ei, so ist das gar nicht so schlimm, solche Dinge kommen alle Tage vor, das hindert nicht, daß du eine brave, treue Frau wirst, du wirst ihn glücklich machen und selber glücklich werden. Er wird nie etwas erfahren, denn meine Vorsichtsmaßregeln haben die Vergangenheit für dich ausgelöscht.«
In dieser Weise sprach die Gräfin lange auf Valentine ein, aber das sonst so willenlose Geschöpf widerstand.
»Ich kann nicht, Mutter, ich kann nicht,« wiederholte sie immer wieder.
Da aber die Gräfin nicht aufhörte, in sie zu dringen, warf sie sich ihr zu Füßen und bat sie, ihr wenigstens einige Stunden der Überlegung zu gewähren.
Die Gräfin triumphierte. Nun hatte sie gewonnenes Spiel.
»Schön,« sagte sie, »überlege, wähle, ob dir das Glück und die Ruhe deiner Mutter weniger gelten, als eine höchst überflüssige, sogenannte Aufrichtigkeit.«
Sie ging und ließ die arme Valentine unschlüssig, verzweifelt zurück.
Durch die Gewalttätigkeit ihrer Mutter, die seit jeher jede freie Willensäußerung in ihr unterdrückte, befand sich die Unglückliche in einem geistigen Zustande, in dem sie nicht mehr zu erkennen vermochte, was Recht und was Pflicht sei. Ihr Gewissen folterte sie, als sie sich die Fragen vorlegte: »Darf ich meine Mutter der Not, dem Elend preisgeben? Aber darf ich denn die Liebe und das Vertrauen eines rechtschaffenen Mannes so schmählich mißbrauchen?«
Ach, was sie auch tun mochte, Reue und Gewissensqualen würden sie ihr ganzes zukünftiges Leben lang foltern, sie elend machen!
Wie sie sich nach einem Freunde, einem Ratgeber sehnte! Sie war so einsam, so schrecklich allein! Seit Gaston tot war – denn er war gewiß nicht mehr am Leben, sonst würde er ihr doch in diesen vier Jahren ein Zeichen gegeben haben! – Seit sie ihn verloren, hatte sie auf der weiten Welt niemand, niemand, dem sie sich anvertrauen konnte, der sie verstanden hätte! –
Valentine hatte einen unruhigen Tag, eine schlaflose Nacht und als der Morgen herandämmerte, sagte sie sich: »Nein, ich kann nicht, ich kann nicht!«
Als aber dann der Gast da war, neben ihr saß und sie die drohenden Blicke ihrer Mutter auf sich gerichtet fühlte, fehlte ihr der Mut.
Sie nahm sich vor, später mit ihm zu sprechen, vielleicht einmal in Abwesenheit der Mutter, diese aber war viel zu klug, um ihr je diese Möglichkeit zu gewähren, sie ließ sie nie aus den Augen.
André Fauvel hatte nach der ersten Einladung von der Gräfin die formelle Erlaubnis erhalten, sich um die Gunst Valentines zu bewerben. Sein Benehmen dem jungen Mädchen gegenüber war so zart, rücksichtsvoll und aufmerksam, daß ihr ganz warm ums Herz wurde. Ihr Leben war so liebeleer, so freudenarm, jetzt fühlte sie sich geliebt, wußte, daß wenn sie die Gattin dieses edlen jungen Mannes würde, sie geborgen wäre. Sie gestand sich: »hier harrt meiner das Glück,« aber gleich darauf fragte sie sich: »darf ich es annehmen, bin ich dessen würdig?«
Die Mutter ließ ihr keine Zeit zur Besinnung, die Vorbereitungen zur Hochzeit wurden mit Beschleunigung getroffen, Besuche gemacht und empfangen, Einkäufe für die Ausstattung besorgt und ein ganzes Heer von Schneiderinnen beschäftigt.
Die Gräfin zeigte sich gegen Valentine ungewöhnlich freundlich, nur klagte sie über die Gläubiger, die sie so ungestüm mahnten und drängten, zeigte ihr Wechsel und Rechnungen, die sie nicht einlösen, nicht bezahlen konnte, und brach zum Schluß jedesmal in die Worte aus: »Gott gebe, daß wir nicht noch vor deiner Verheiratung von Haus und Hof verjagt werden.«
Der Vorabend der Hochzeit war gekommen. Eine große Gesellschaft war geladen, aber plötzlich fühlte sich Valentine von quälender Herzensangst gepeinigt, sie flüchtete, um einen Augenblick allein zu sein, in ihr Boudoir, dort warf sie sich aufs Sofa und brach in Tränen aus.
Ihr Bräutigam hatte ihre Blässe, ihre Unruhe bemerkt, und als sie sich entfernte, folgte er ihr voll Besorgnis.
Es dunkelte, und da er aus dem hellerleuchteten Saal kam, gewahrte er die in die Sofakissen gedrückte Gestalt nicht sogleich, aber ihr Schluchzen drang an sein Ohr. Bestürzt trat er auf sie zu, beugte sich liebevoll über sie und fragte zärtlich: »Warum weinst du? Hast du kein Vertrauen zu mir? Weißt du denn nicht, daß ich dein bester Freund bin, dem du alles, alles, was dir am Herzen liegt, rückhaltlos sagen kannst, sprich, Valentine, mein teueres Herz, sag' mir, was dich bedrückt.«
Jetzt war der Augenblick gekommen, jetzt wollte sie ihm alles gestehen. Schon öffnete sie den Mund, da war's ihr, als sähe sie an der Tür das drohende, wutverzerrte Gesicht ihrer Mutter; sie dachte an den Schmerz Andrés, an das Aufsehen, das die zurückgegangene Verlobung machen würde, an das fernere Leben mit ihrer Mutter und sie schauderte. Sie brach in erneuerte Tränen aus und auf Fauvels nochmalige besorgte Fragen antwortete sie nur: »Mir ist so bange.«
Er lächelte über dies Geständnis jungfräulicher Schamhaftigkeit, legte sanft seinen Arm um sie und sprach ihr in liebevollen Worten Trost zu, aber diese schienen nur ihren Schmerz zu vermehren. Verwundert drang er mit neuen Fragen in sie, ehe sie aber antworten konnte, erschien die Gräfin, um die lieben Kinder, wie sie sagte, zur Gesellschaft zurückzuholen. – Das Geständnis blieb unausgesprochen.
Am nächsten Tag fand in der Dorfkirche von Laverberie die Trauung statt. Die Braut sah in ihrem weißen Kleide entzückend schön aus und der Bräutigam strahlte vor Glück. Sie aber ging an seiner Seite schmerzverloren, ihr war, als müßten alle mit Fingern auf sie zeigen, und der Myrtenkranz, den zu tragen sie sich unwürdig fühlte, drückte ihre Stirn wie eine Dornenkrone.
Ein Jahr war verflossen. André betete seine Frau an und fühlte sich in ihrem Besitze unendlich glücklich. Um sie mit allem Luxus, allen Genüssen des Reichtums umgeben zu können, stürzte er sich in Geschäfte und Unternehmungen, die ihm glückten, sein Vermögen, sein Ansehen wuchs von Tag zu Tag und alle Welt pries Valentine glücklich.
Sie war es auch in ihrer Weise und es wäre vollkommen gewesen, wenn sie hätte vergessen können. Aber die Vergangenheit stand immer wie ein Schreckgespenst vor ihrer geängstigten Seele.
Anderthalb Jahre nach ihrer Hochzeit schenkte sie ihrem Gatten einen Sohn und das folgende Jahr einen zweiten. Fauvel war selig und zog seine Kinder wie Prinzen auf; wie leidenschaftlich aber Valentine sie auch liebte, sie konnte niemals das arme verlassene Würmchen vergessen, das sie Fremden überlassen mußte und das jetzt vielleicht Not litt! Wenn sie nur gewußt hätte, wo es war, aber ihre Mutter zu fragen, wagte sie nicht! Auch das Vermächtnis Gastons, der Schmuck seiner Mutter, beunruhigte sie, sie verbarg ihn und zitterte doch immer, ihr Mann könnte ihn eines Tages entdecken. So sorgte und quälte sie sich fort und fort und konnte ihres Lebens nicht froh werden.