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Nach diesem sonderbaren Auftritt am Waldweg über der schlafenden, kleinen Stadt entweicht Gestalt und Schicksal Zenobis ins Dunkle und Ungewisse. Der weitere Bericht ist auf Zeugnisse und Äußerungen angewiesen, von denen nur wenige authentische Prägung haben. Die Geschehnisse der folgenden Tage überstürzen sich und stürzen mit ihren Teilnehmern in den Schlund, der alle Ereignisse der Zeit verschlungen hat – in die große Nacht und Flamme des Krieges.
Marianne von Stauff, die als Krankenpflegerin an der Front sich das Verdienstkreuz erworben und später einem Offizierslazarett im Innern des Landes vorstand, hatte eine Zeitlang einige Offiziere des Jägerregiments in Pflege, dessen Garnison nicht weit von der kleinen Stadt lag, in der Zenobi damals eingekehrt war. Einer von ihnen, ein Jägerhauptmann, durch den Namen der Dame aufmerksam gemacht, wandte sich einmal an sie mit der Frage, ob sie etwas über das Schicksal eines Barons von Stauff wisse, vermutlich ihres Verwandten, dessen Bekanntschaft er auf eine sonderbare Weise, einige Tage bevor er ins Feld rückte, gemacht hatte. Marianne von Stauff, durch diese Frage beunruhigt und ungewiß, wie sie sich zu verhalten habe, gab eine unbestimmte Antwort, setzte sich aber freundlich an den Streckstuhl des Genesenden und verlangte die näheren Umstände zu hören. Der Hauptmann erzählte:
»An einem der letzten Julitage, am frühen Vormittag, erschien ein Mann in der Kaserne und verlangte von der Torwache, ihn zu einem der Herren Offiziere zu führen. Da ich mich gerade auf dem Hofe befand, wies ihn die Wache zögernd an mich. Mißtrauisch, wie man damals mit Recht war, sah ich mir den Mann genau an. Er trug einen englischen Sportanzug von bestem Schnitt und hatte auf dem Hut einen kostbaren Gamsbart. Die Erscheinung war sehr distinguiert, das Gesicht so, daß ich meinte, es schon einmal gesehen zu haben oder von einem Bild her zu kennen. Man hätte auf einen Diplomaten oder höheren Militär geraten. In verbindlichster Weise stellte er sich als Baron von Stauff vor. Es sei wohl ungewöhnlich, was ihn herführe, aber fremd wie er hier sei, habe er leider keine andere Wahl. Kurz, er bat um meinen Beistand in einem Ehrenhandel mit einem Herrn der Nachbarschaft. Ich gestehe, ich war nicht sehr angenehm berührt, als ich den Namen des Partners hörte. Es schien mir sonderbar, wie er an den nur geraten war. Denn das war ein recht wüster Herr, auch gesellschaftlich kaum einwandfrei, man konnte nicht einmal wissen, ob er sich den geforderten Formen in solchem Fall fügen würde. Doch konnte ich es dem noblen Mann unmöglich abschlagen, wenigstens die ersten Schritte zu tun, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen. Ich nahm also einen meiner Leutnants mit, den braven Lechner – er ist bei Kowel gefallen – und überbrachte dem Herrn die Forderung. Er nahm es in besserer Haltung auf, als wir erwartet hatten, erklärte aber, er sei überfallen worden, er sei der Beleidigte, und ihm stehe die Wahl der Waffen zu. Da uns der Baron instruiert hatte, keinerlei Schwierigkeiten zu machen und die Vorbereitungen zu beeilen, gaben wir das unter Vorbehalt zu. Wir kannten ja den Sachverhalt nicht. Als wir schon gingen, konnte aber der Herr die hämische Bemerkung nicht unterdrücken, ob wir ihm vielleicht sagen könnten, wer eigentlich der vom Himmel gefallene Ritter sei – ja, so drückte er sich aus – und was ihn hergeführt habe, – er habe ihn in seinem Leben nie gesehen. Ich verwies ihm natürlich solche Ungehörigkeit. Unterwegs nachher waren wir auf einmal schweigsam, und Lechner sagte: ›Mir gefällt die Geschichte nicht, du wirst sehen, es geht bös aus!‹ – Nun, sehen Sie, Gnädigste! Jetzt haben wir uns ja dran gewöhnt, daß sogar auf einen einzelnen Mann mit Kanonen geschossen wird oder daß eine ganze Ortschaft mit allem darin rasiert wird, wegen nichts. Das ist es ja auch, was den Krieg so verpöbelt hat, damals aber dachte man noch nicht so phantasielos und blutrünstig. Ein Zweikampf mit Feuerwaffen unter schweren Bedingungen kommt vor, aber da wissen die Leute auch, warum sie dieses Spiel auf Tod und Leben spielen. In dem Fall aber kannte man sich nicht aus. Es war alles so mysteriös, und fragen, das ging natürlich auch nicht ... Es war also für den nächsten Tag abgemacht. Wir leisteten dem Baron am Abend noch Gesellschaft, da wir wußten, daß er allein war. Mir ist alles noch genau in Erinnerung, weil der Herr, wie soll ich sagen, gar so merkwürdig war ... Vornehm, tadellose Haltung, aber schon zuviel Haltung fast. Wer wird nicht ein wenig nervös sein oder zerstreut, aber nicht einmal das erlaubte er sich. Als hätte er einem eine Lektion erteilen wollen, wie man sich am Abend vor einem schweren Zweikampf zu benehmen habe. (Großartig, aber übertrieben), sagte Lechner nachher. Ich will nicht sagen, daß es Absicht gewesen ist, nein, diesen Eindruck hatte man durchaus nicht ... Was hätte das auch für einen Sinn? ... Wir nahmen an, daß er gedienter Offizier war, und das wird er ja auch gewesen sein. Er nannte beiläufig ein Regiment, und wir, um ihn abzulenken, begannen von Dienstverhältnissen, von Bekannten zu reden. Aber nein, er wollte uns unterhalten und erzählte von seinen Reisen in Dalmatien, sehr anschaulich und lebhaft ... und von Ragusa –«
»Von Ragusa?« fragte Marianne von Stauff unwillkürlich. »Ja, wenn ich mich recht erinnere ... Und so war er auch am nächsten Morgen. Vielleicht ein wenig blaß, aber wenn man so früh aufsteht und nicht gut geschlafen hat ... Wir hatten ihm am Tage vorher natürlich angeboten, sich auf unserem Stande einzuschießen, aber er zeigte dabei keinen besonderen Eifer, feuerte nur zwei, drei Schüsse ab und ließ es dann sein. Also, mit dem Schießen, das war nichts, – das habe ich gleich gesehen ... Und richtig: Zuerst schoß der Gegner, sehr knapp vorbei, darauf der Baron. Er feuerte hastig, mit gebogenem Arm, ohne zu zielen und war sehr erschrocken, als er den anderen getroffen sah. Er ließ die Waffe fallen und wollte auf ihn zueilen. Doch der wüste Mensch, obgleich am Bein verwundet, wankte nur kurz, riß sich zusammen, hob die Waffe und schrie: ›bleiben Sie stehen!‹ – Das war nicht ganz fair, aber wir hatten kaum Zeit dem Baron, der schon einen Schritt gemacht hatte, zuzurufen, daß er sich decke, – er stand da, wie auf dem Theater – da fiel schon der Schuß und traf ihn ...«
»Tot?« fragte Marianne.
»Beruhigen Sie sich, Gnädigste, und entschuldigen Sie ... Ich wollte Ihnen keine unnötige Emotion verursachen ... Eben das weiß ich nicht, darum habe ich mir ja erlaubt, Sie zu fragen! – Die Verwundung war schwer. Unser Arzt ließ ihn unter einem Vorwand in das Garnisonspital bringen, und als wir abrückten, war er noch in bedenklichem Zustande. Vom Feld aus habe ich mich dann noch erkundigt, ich konnte aber nichts erfahren. Der Arzt war fort, das Spital war evakuiert und zur Aufnahme der vielen Verwundetentransporte aus dem Feld eingerichtet und vergrößert worden. Ein Todesfall wäre jedenfalls bekannt gewesen, sage ich mir ...«
Marianne, die schon lange nicht mehr im Zweifel war, dankte dem Offizier.
»Von diesem Vetter«, sagte sie, und es gelang ihr, ihre Erregung niederzuhalten, »war bei uns viel die Rede. Er lebte meist im Ausland, und ich habe ihn nur flüchtig gekannt ... Wußte man auch nicht, was der Grund zu der Herausforderung war? Eine Frau? ... Sie meinen, nicht? ... Nun, dank Ihnen können wir jetzt die Nachforschungen fortsetzen, hoffentlich mit besserem Erfolg.«
Die Erzählung des Hauptmanns hatte sie, die so vieles gesehen und erlebt hatte, erschüttert und wirkte in ihr nach. Doch nicht allein aus Gefühlsgründen trieb es sie, die Nachforschungen aufzunehmen, es war ihr auch nicht gleichgültig, ob noch jemand ihres Namens, dessen sie sich früher nach Bedarf bediente und der durch ihre verdienstvolle Tätigkeit im Feld gleichsam sanktioniert worden war, in der Welt herumlief. Es hatte zwar etwas Rührendes, daß Zenobi, dessen wirklichen Namen sie nicht kannte, in jenem Zweikampf ihren Namen zu Ehren brachte. Aber man konnte nicht wissen, ob, wenn er noch lebte, das nicht zu Unzuträglichkeiten und Verwicklungen führte. Es war ein sehr zwiespältiges Gefühl in dieser erfahrenen und in ihren Entscheidungen sonst so sicheren Frau. Sie suchte sich jedenfalls Gewißheit zu verschaffen. Nach Beendigung des Krieges fuhr sie nach der kleinen Bergstadt, die ihr der Hauptmann bezeichnet und in welcher Zenobi an jenem Sommerabend seine Reise zu unterbrechen sich entschlossen hatte, und stieg in dem gleichen Gasthof ab. Ihre Erkundigungen waren bisher ergebnislos geblieben, und auch was der Wirt wußte, der noch der gleiche war, war bereits eine Art Legende, in der auch die Tatsachen, die sie kannte, verzerrt und verschoben erschienen. Doch als sie nach ihrer Gewohnheit im Fremdenbuch blätterte, fand sie eine nur wenige Monate zurückliegende Eintragung, die sie fast erschreckte. In der Rubrik für Bemerkungen hatte jemand neben seinen Namen mit sehr deutlicher kalligraphischer Schrift hingeschrieben: »Wer zweckdienliche Mitteilungen zur Auffindung des verschollenen Barons von Stauff machen kann, wende sich an Dr. Meerengel. Allfällige Kosten werden zurückerstattet.« – Als Adresse war ein Gut in Mähren angegeben. – Meerengel! ... Marianne mußte über den Namen lächeln. Sie beschloß, diesem einzigen Fingerzeig zu folgen.
An einem grauen Spätherbsttage erreichte sie nach einer langen, durch viele Aufenthalte sich hindehnenden Fahrt in der melancholischen Ebene am Nachmittag den Gutshof. Als sie in das niedrige, weiträumige Zimmer eintrat, in welches sie eine schweigsame alte Frau mit einem bunten Kopftuch geleitet hatte, war es fast dunkel. Aus einer entfernten, von einer hohen Stehlampe schwach erhellten Ecke näherte sich ihr, am Stock schwerfällig hinkend, ein Mann in einem weiten kuttenartigen Gewände. Sie hatte nicht geschrieben und nur sagen lassen, eine Dame wünsche ihn zu sprechen. Jetzt nannte sie ihren Namen.
In Meerengels Kopf erhob sich darüber ein solcher Wirbel, daß es ihn schwindlig machte.
»So habe ich das Glück ... die Witwe ... die Frau ... meines verehrten Freundes vor mir zu sehen?« begann er ganz verwirrt und hob die Hand an die Stirn. »Bringen Sie Nachricht von ihm? ... Ja, wie ist das denn? ... Oh, verzeihen Sie mir meine Unhöflichkeit, daß ich Sie stehen lasse!«
Er geleitete sie zu einem Sessel und starrte sie noch immer fassungslos an.
Sie schüttelte langsam den Kopf, lächelte, gab aber keine Aufklärung. Der Vorwand, den sie sich zurechtgelegt hatte, war hier überflüssig das sah sie auf den ersten Blick. Nein, sie sei nur im Verlauf ihrer eigenen Nachforschungen in jener kleinen Stadt auf seine Eintragung gestoßen und in der Erwartung gekommen, von ihm etwas zu erfahren ...
Meerengel brachte stillschweigend eine große Mappe herbei, setzte sich an den Tisch und begann mit gewohnter Umständlichkeit und etwas konfus seinen Bericht:
Ein Brief Zenobis, offenbar am Tage vor jenem Zweikampf geschrieben, enthielt nur die kurze und seltsame Mitteilung, wenn er – Meerengel – innerhalb einer Woche nichts von ihm höre, möge er hinkommen und im Gasthof nach ihm fragen. Dann stand noch allerlei darin, was nicht leicht zu erklären war. Das hatte ihn begreiflicherweise beunruhigt, und er hatte beschlossen, schon früher zu reisen. Indessen war die Mobilisierung plötzlich gekommen und der Krieg und seine eigene Einberufung. Den ersten Urlaub, allerdings Monate danach, hatte er benutzt, um hinzureisen. Man sprach von einem Unfall, von einer Schießerei in der Nacht, wußte noch, daß der Schwerkranke aus dem Militärspital nach der nächsten großen Stadt gebracht worden war. Er konnte aber seine Nachforschungen damals nicht mehr fortsetzen, da sein Urlaub ablief. Er selbst war dann verwundet worden und hatte lange im Lazarett gelegen. Erst nach seiner Entlassung, und mit einigem System erst nach Ende des Krieges, konnte er durch öffentliche Ausschreibungen und durch Laufzettel bei den Sanitätsbehörden die Spur weiter verfolgen. An einer Stelle aber, in dem vierten Krankenhaus jener Gegend, riß der Faden ab, tauchte scheinbar an einer anderen Stelle wieder auf, ohne daß man sich Gewißheit verschaffen könnte ...
Er breitete amtliche Auskünfte, Briefe, Zeitungsausschnitte vor ihr auf dem Tisch aus, las, erläuterte, versank mitten in seiner nicht immer klaren Darstellung zuweilen in tiefe Zerstreutheit, saß mit einem erstarrten höflichen Lächeln da. Dann kam Licht in seine blassen Augen.
»Und doch«, begann er wieder, wie aus dem Schlaf auffahrend, »ein Mann wie er kann nicht untergegangen sein. Ich kann es nicht glauben! ... Die Zeit braucht ihn. Ein russischer Heimkehrer erzählte mir von einem Brigadier der roten Armee, unter dem er gedient hat. Einzelheiten sind auffallend. Er könnte es sein! ... Und hier in der Nähe sprachen sie viel von einem älteren Manne, der mit jungen Schwärmern durch die Wälder zieht, nachts mit ihnen am Feuer sitzt, sie Tänze lehrt und ihnen Reden hält ... Auch das könnte er sein! ... Ich komme nicht viel hinaus. Die Leute schreiben mir Briefe, die oft Unsinn enthalten und einen verwirren ... Und doch meine ich, er könnte plötzlich durch diese Tür da eintreten, so wie Sie heute, gnädige Frau!« schloß er mit einer Verbeugung.
Marianne von Stauff saß im hellen Kreis der Lampe, und ihr Gesicht verjüngte sich, je mehr der Abend vorrückte. Sie blieb noch lange und ließ sich von Zenobi erzählen.