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Auf einem der riesigen Exerzierplätze, die in der Nähe der Residenz- und Weltstadt sich bis an die Niederungen und Dickichte eines großen europäischen Stromes hindehnen, spielten sich an einem frischen Herbstmorgen jene bewegten Szenen ab, die dem Auge eines die Ordnung und das Vaterland liebenden Menschen ebenso wohlgefällig sind, wie sie das Herz des Kindes entzücken. Doch diese unter dem strahlenden Himmel auf das noch taufeuchte Blachfeld ausgestreuten regelmäßig abgeteilten Blöcke, exakt wandelnde Vierecke, bald laufende, bald kauernde Doppelketten und Schnüre, die sich wie Gummibänder zusammenziehen und ausdehnen, setzen sich aus richtigen, lebendigen Menschen zusammen, die meist gar nicht spielen wollen. Und die Meister des Spieles wissen das und haben altehrwürdige strenge Grundsätze und Regeln zur Anwendung zu bringen, um sie dazu zu zwingen. Sie kennen den Ernst und wissen das Ziel, wenn sie sich auch stellen, als sei ihnen das Spiel selbst Zweck. Es ist nicht gut, daß die Spielenden stets an den Ernst erinnert werden, und es ist auch nicht gut, daß sie sich im Spiel vergessen. Man läßt sich am besten auf gar nichts ein ... Und deshalb auch haben sie zwischen sich selbst und ihrem Objekt eine Grenze gesetzt, die unüberschreitbar ist und sie von jenen so entfernt hält, wie die Sterne, deren Abbilder in Gold und Silber sie auf Kragen und Achselklappen tragen. Daß jemand willig ist und eifrig bei seiner Arbeit, das mögen zivilistische Tugenden sein; hier spielen sie keine Rolle und es kann nicht davon die Rede sein. Denn in der Tat, wie sollte man ohne Verlegenheit davon reden, wenn jene dazu gebracht werden sollen, Gewalt und Tod ohne Besinnen gegen ihresgleichen vorzutragen ... Mit ihnen sollte etwas Furchtbares, kaum Auszudenkendes geschehen, und sie sollten es auch anderen zufügen. Ist das eigentlich eine nach irgendeinem beruflichen Maß zu bewertende Arbeit und nicht vielmehr das Gegenteil von ihr? Darum spricht man nur in Befehlen und Strafen und redet, wenn es einmal sein muß, in Symbolen. Für den Mann, der bestimmte Zeiten ohne Strafen im Dienst hinter sich gebracht und gewisse Ziele der Ausbildung erreicht hat, gibt es ja die untere Hierarchie, die jedem genau zumißt, was ihm gebührt. Der beste Soldat – übrigens gibt es keinen besten Soldaten, alle sollen die besten sein – ist deshalb in den Augen seiner Vorgesetzten der, welcher in keiner Weise, weder im Guten noch im Bösen, sich bemerkbar macht; der als Teil im Ganzen so sicher eingebaut ist und funktioniert, daß er als Selbst unsichtbar wird. Denn was ist Einer, sei er wer und was immer, wo es auf Tausende, ja auf Zehntausende nicht ankommt! ... Und nun – man denke – war da in einem schmalen Bande einer mäßigen Doppelreihe, die als ein blauer länglicher Fleck mit einigen verstreuten Punkten herum sich in der Nähe der Pappeln weit östlich fortbewegte, ein Soldat – ein Unikum von einem Soldaten, der auf eine sonderbare Weise die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Täglich fast kamen die jüngeren Offiziere bis zum Hauptmann zum Übungsplatz der dritten Kompanie der Unteroffiziersschule, deren rechter Flügelmann Zenobi eine Art von Attraktion geworden war, eine angenehme Unterbrechung im Einerlei des täglichen Dienstes. Nicht daß an seiner Haltung oder an seinem Schritt oder an der Ausführung der vorgeschriebenen Übungen etwas zu tadeln gewesen wäre – im Gegenteil: an Exaktheit, Sicherheit und Raschheit übertraf er wohl die meisten seiner Abteilung, die an sich schon eine Gruppe von Bevorzugten war, mit der Anwartschaft auf die untere Führung. Aber in der Art, wie er sein Bein schwang, den Fuß setzte, wie die Hand ans Gewehr fuhr, der Kopf die vorgeschriebene Wendung machte, der Körper in Spannung verharrte und beim Vorwärtsstürmen ausgriff, darin lag ein freier spielender Rhythmus, ein schön gebändigter Elan, der zum militärischen Drill sich verhielt wie ein Meisterwerk zu seiner Kopie. Dem militärischen Auge fiel da ein Mehr auf über die geforderte Leistung, aber etwas, das eigentlich unstatthaft und komisch war, und doch konnte man den Mann deshalb nicht anfahren oder ihm sein Mißfallen ausdrücken. Die Offiziere standen da, schmunzelten, verbissen ein Lachen, wenn die Abteilung am Schlusse vorbeidefilierte, und um ihnen das Vergnügen länger zu gönnen, ließ der befehlshabende Oberleutnant die Übung mehrmals wiederholen. Dann konnte man Zenobis Gesicht beim Vorbeischreiten in einer sich steigernden Ekstase leuchten, ihn die Glieder mit wahrer Verzückung schwingen sehen; wodurch es noch komischer wurde. Wie auf dem Theater kam es ihnen vor, und sie sagten es auch und hatten nicht viel Vertrauen zu Zenobis militärischer Karriere. Es war auch spaßig, ihn gelegentlich anzusprechen. Bei aller vorschriftsmäßigen Dienstlichkeit der Haltung und der Kürze der Antwort stand er da wie ein Prinz und Held, der sich der Übereinkunft der militärischen Rangordnung in edler Bescheidenheit zu fügen gelobt hat ... Doch eines Tages, bei der großen Regimentsbesichtigung, als die Musik zum Schlußexerzieren mit einem feurigen Marsch einsetzte, und Zenobis Abteilung im dröhnenden Sturmschritt sich näherte, beugte sich der Kommandierende plötzlich aus dem Sattel, klemmte, wie um besser sehen zu können, sein Glas ins Auge und schrie:
»Was tanzt dort für ein Clown daher? Was ist denn das, Herr Hauptmann, mit dem Flügelmann? Verrückt geworden, wie?«
In der Tat, mit Zenobi war etwas vorgegangen. Das Gefühl der Vorbereitung zu einer Schlacht hatte ihn schon am Morgen beim Ausrücken ergriffen und während der ganzen Übung sich gesteigert. Als nun die Kapelle einsetzte, die Trompeten erschollen und der aufgewirbelte Staub wie Pulverdampf in die Höhe stieg, überwältigte es ihn solchermaßen, daß er nichts mehr sah und hörte und mit geschwungener Kappe brüllend aus der Reihe stürzte. Er erhielt in Anbetracht seiner guten Führung nur drei Tage Mittelarrest und wurde dann als Schreiber in die Regimentskanzlei versetzt.
Hier in der Rechnungsabteilung ging es ihm nicht schlecht. Der Dienst war gemächlich, die Vorgesetzten erträglich, und da nicht zu irgend jemandes persönlichen Vorteil gearbeitet wurde, fehlte jener unangenehme geschäftliche Eifer, der täglich etwas erraffen und vor sich bringen muß und der ihm von jeher so zuwider war. Nachdem er die Betäubung seines Sturzes überwunden, begann er sich in der neuen Stellung wohl zu fühlen. Er ruhte eine Zeitlang von den Anstrengungen des letzten Jahres aus und hielt auf dem neuen Schauplatz Umblick. Denn was ihn da zuerst gefaßt hatte in diesem Jahr und mit ihm verfuhr, als sei er gar nicht er, sondern irgendein Ding, das jedem Belieben ausgesetzt ist, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgend etwas, das er kannte, und sicherlich nicht mit einem schönen und freien Leben, wie er es geträumt. Doch wer anders als Zenobi wäre so fähig gewesen, zu erkennen und mit Enthusiasmus zu bejahen, daß hier für die freiwillige Drangabe seiner Freiheit ein Gut zu erringen war, das auf die Höhen der Menschheit führte ... Wenn der Zwang ihn drückte, entwich er ins Heldische; hier war er in seinem Element. Mochte er seinen Kameraden drum auch als Kauz erscheinen, mit dem es nicht ganz richtig war, oder den praktischen und so ganz unheldischen Unteroffizieren mit seinem närrischen Eifer lächerlich, so war er es doch und nicht sie, der dem Bilde des Soldaten, wie es in den Büchern stand und wie es ihnen auch bei feierlichen Gelegenheiten von den Oberen gepriesen wurde, am meisten und wirklich glich. Zwar, abgesehen von seinem dienstlichen Eifer, war an ihm noch anderes, das die Kameraden mißtrauisch machte. Zenobi indessen wunderte sich, wie hier alles eigentlich umgekehrt war: daß die Helden keine sein wollten, wie es schien, dagegen einer, der von selbst tat, was man mußte, über die Achsel angesehen wurde. Als dann an jenem Besichtigungstage die Katastrophe eintrat und er dazu den Hohn und das Gelächter der Kameraden zu tragen hatte, da war zum ersten Male kein Licht in ihm und zum ersten Male hatte er sich fragwürdig und bedroht gefühlt ...
Am Abend im Mannschaftszimmer, nach dem großen Putzen, sagte sein Bettnachbar Zimmermann, ein großer blonder Bursche, während er den blanken Gewehrlauf prüfend gegen das Licht hielt, mit seinem tiefen Baß gleichsam in die Luft hinein:
»Immer die Dummen haben's Glück! Jetzt kriegst du deine Charge beim Federvieh noch früher als unsereins und brauchst keinen Schießprügel mehr anzurühren.«
Er stellte das Gewehr bedächtig in den Ständer und wandte sich zu Zenobi um, der am Fußende des Bettes saß.
»Und wenn es einmal gegen den Russen losgeht, sie reden ja immer davon, da sitzt du fein hinten bei den Bäckern und kannst dir ein schönes Stück Geld verdienen. Ich aber werde auf meine gesunden Knochen nicht einmal einen Dreier als Hypothek kriegen – kannst du sicher sein!«
Und als Zenobi immer noch schwieg, sah ihn Zimmermann prüfend an und schloß kopfschüttelnd:
»Wärst du nicht ein ausgemachter Narr und Hanswurst, so könnte man meinen – ja, schlauer hätt' man es sich gar nicht ausdenken können.«
»Ach, was der kann«, rief jemand aus dem Halbdunkel in der Nähe, »das können wir noch lange nicht. Der kann, wenn er will, gleich morgen Tanzmeister werden!«
»Oder Feldmarschall!« rief ein anderer in das brüllende Gelächter hinein.
Zenobi saß ungewöhnlich still da, eingehüllt in seine Niederlage, und rang um einen Gedanken, der ihn befreien sollte; denn er ertrug es nicht, lange unter einem Übel zu leiden, das von draußen kam und in ihn eindringen wollte. Die Worte Zimmermanns und die Ausrufe ringsum halfen ihm. Er schüttelte sich wie ein Vogel, bevor er aufsteigt, und rief mit seiner hellen Stimme in das Getön hinein:
»Und was seid ihr? Wißt ihr es denn?«
Darauf wurde es bedrohlich still.
»Soldaten seid ihr nicht. Ein jeder würde morgen wieder zu Hause sein, wenn man ihn ließe, nicht?«
Wilde Flüche wurden hörbar.
»Und was einer zu Hause ist, ist er es denn, weil er so will, oder weil er muß, he?«
Er achtete nicht auf die Zurufe, stieg in die Höhe: »Seht, ein Baum steht da, wo man ihn hingepflanzt hat, er kann sich nicht bewegen und woanders hingehen. Ein Hund, ein Pferd, ein Ochse kann das wohl, aber man bindet sie und zwingt sie, das zu tun, was man von ihnen will, und sie gewöhnen sich ... Und ein Mensch? Kann nicht ein Mensch mehr? Ein Mensch kann gehen, wohin er will, und sein, was er will. Ein Mensch kann alles sein!« Da lachten sie wieder, aber er fühlte sich im Recht und ließ sie hinter sich.
*
Hier in der Residenz war ein neues weites Gebiet, in dem er sich auf seine Weise ausbreiten und verlieren konnte. Wenn man nicht ganz genau hinsah, konnte man meinen, alle seien einander gleich. Die Menschen schienen nur durch die Kleidung unterschieden, und im Bereiche der gleichen Kleidung war man offenbar bemüht, besondere Erkennungszeichen zu erfinden, um nicht miteinander verwechselt zu werden. Auffallenderweise verschwanden fast diese Zeichen – oder war das Auge noch nicht geübt? – je mehr man sich der höheren Schicht näherte, jener Sphäre der stillschweigenden und unangefochtenen Geltung, welche in der Zeitung ihre ständige Rubrik hat als die Welt der Persönlichkeiten. Über die Zugehörigkeit zu dieser Welt schwebt ein Geheimnis, das niemand kennt und das alle zu respektieren doch übereingekommen zu sein scheinen. Sie findet ihren volkstümlichen Ausdruck in der Fülle von ruhenden und bewegten Abbildern, durch welche die illustrierten Blätter in zahllosen und abwechslungsreichen Folgen die ständige Teilnahme des Großstadtvolkes am Leben und Wirken dieser Begünstigten zu erregen suchen. Zenobi freilich, der mit seinem angeborenen Sinn für Repräsentanz sich in ihre wahre Musterkarte eifrig vertiefte, machte erstaunt die Wahrnehmung, daß diese Bilderfülle, je mehr sie sich ausbreitet, weniger zum Kennen und Erkennen der Persönlichkeiten, als vielmehr zu ihrer Verwechslung beiträgt. Sei es, daß bei dem steten Zudrang und in der Hast des Betriebes tatsächlich Verwechslungen vorkommen, was immerhin denkbar ist, oder weil die gleichmäßige Arbeit der Repräsentation allmählich die Merkmale verwischt – jedenfalls ergab sich das Seltsame, daß man nach einiger Zeit nicht mehr wußte: war es der Minister X. oder der Boxer Y., der mit emporgehobenem Fuß die Stufen des Parlamentes hinabstieg; war es der Kammersänger A., der im Kreise der Seinen auf der Terrasse seiner Villa leutselig lächelte, oder der Botschafter B. in der Sommerfrische! ... Schließlich konnte man die Töchter des Königs von Kappadozien nicht von einem berühmten Damen-Quartett unterscheiden, und der Vorsitzende der Sensationsprozesse war in seiner Amtstracht dem Vorstande einer bekannten Karnevalsgesellschaft zum Verwechseln ähnlich ...
Daß Kleider Leute machen, ist wohl wie so viele ähnliche Sprüche, die in den Fibeln stehen, totes Erbe einer Vergangenheit, da das Kleid einen Stand ehrte, einen Beruf bedeutete, was jetzt, und das kaum noch, nur für den höchsten Stand und die niedersten Berufe gilt. Seitdem die Menschen nicht mehr das sind, was sie darstellen, und je weniger sie es sind, desto mehr Persönlichkeiten gibt es. Und Persönlichkeiten haben kein Kleid oder vielmehr, sie haben nur eins, das sich ihnen anpaßt und das merkwürdigerweise so unpersönlich ist wie sie selbst. Zenobi witterte auch sehr bald die Paradoxie gewisser Nuancen: daß ein Schauspieler wie ein Diplomat aussehen muß, oder er ist noch nicht berühmt genug; ein Diplomat wie ein höherer Landwirt oder Viehzüchter, ein gut bezahlter Reporter wie ein Minister, ein populärer Minister wie ein Schullehrer, eine Bankiersgattin, die etwas auf sich hält, wie eine Kokotte. Noch belustigender war es, daß ein Erzherzog wie ein feiner Lohnkutscher auszusehen für gut befand, eine wirkliche Herzogin wie ihre eigene Wäschebeschließerin, ein General wie sein Pferdeknecht. Es war Zenobis Begabung, daß er aus alledem mehr lernte als andere aus dicken Büchern. Er fühlte sich zugehörig, und seine erste Sorge war, seine vorteilhaft sich entwickelnde äußere Erscheinung, der die militärischen Exerzitien Sicherheit und Beherrschung verliehen, in dieser Richtung immer bildfähiger zu entwickeln. Und die Bildfähigkeit schien ihm sich mit dem unauffälligen Kleid des Weltmannes zu decken, der die Mode trägt, ohne sie zu unterstreichen. Mit der Findigkeit und Umsicht, die er seinen Sonderbarkeiten widmete, gelang ihm bald die Erscheinung leidlich, und wenn er seines Dienstes und seiner Uniform ledig, sich auf den großen Abendkorso begab, konnte er immerhin für etwas Bemerkenswertes gelten.