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Am Abend nach dem Empfang des Königs hatten Zenobi und Meerengel sich in der Stadt getroffen und miteinander eine gehobene und aufgeräumte Stunde verbracht. Zenobi, noch strahlend im Glanz des Tages, erschien die prächtige Illumination wie die Ausdehnung seines Triumphes in die Nacht und in die Zukunft, während Meerengel in aufrichtiger Bewunderung wie ein Trabant das ausströmende Licht zurückstrahlte. »Es freut mich – versicherte er –, daß der König von einem wahren Repräsentanten unserer Stadt begrüßt worden ist ...« Er wurde nicht müde, Zenobi immer wieder nach den kleinsten Umständen der Begegnung und des Gesprächs auszufragen, und es verschlug ihm nichts, daß bei der Wiederholung immer neue Varianten und Erweiterungen zum Vorschein kamen. Er hörte zu wie ein Kind, das sich von den Wendungen eines Märchens, das es schon kennt, immer wieder überraschen lassen will und nur den Wunsch hat, in dieser Freude schwelgerisch zu verharren. Doch als sie ziemlich spät und in ausschweifenden Gesprächen nach Hause zurückkehrten, fanden sie die Familie noch wach und in jener tiefen Niedergeschlagenheit, wie sie einer großen Aufregung folgt. Frau Mager saß noch mit Hut und Umhang, wie sie vor einer Stunde aus der Stadt zurückgekehrt war, zusammengesunken auf einem Stuhl und wehrte schweigend die ratlosen Ausführungen Reginens mit Kopfschütteln ab, Rosa hatte rotgeweinte Augen, und Fanny stierte in einen Brief, den sie auf dem runden Tisch unter der Lampe vor sich liegen hatte. Auf ihre erschrockene Frage erfuhren die Eintretenden, daß Annie verschwunden war. Sie war schon am Nachmittag fortgegangen, angeblich zu einer befreundeten Familie, die sie eingeladen hatte, den Abend mit ihr zu verbringen. Sie wußte, daß Mutter und Schwestern am Abend zur Stadt fuhren, die Illumination zu sehen, und nützte diese Gelegenheit, um ihren offenbar lange vorbereiteten Plan auszuführen. Abends, als sie jene schon fort wußte, war sie ins Haus zurückgekehrt, hatte in aller Ruhe, wie aus der Ordnung in dem mit Fanny gemeinsamen Zimmer zu schließen war, eine Anzahl ihrer Sachen gepackt und in einem Brief, den sie auf dem Tisch liegen ließ, ziemlich kurz und schroff mitgeteilt, sie verreise und werde bald selbst ihren Aufenthalt bekanntgeben. Indessen möge man nur ja nicht versuchen, sie auszuforschen oder ihr Hindernisse in den Weg zu legen, das würde alles nur verschlimmern und sie »ins Unglück stürzen«. Sie fühle sich selbständig genug, um für sich einzustehen.
Bei der befreundeten Familie, zu der Fanny im ersten Schreck hingeeilt war, sagte man ihr, die Schwester sei am Nachmittag dagewesen, um sich für den Abend anzusagen, sei aber nicht wiedergekommen.
Die Ankunft Zenobis und Meerengels, der vertrautesten Hausgenossen, erregte durch die Erzählung des Vorfalls die erste Verstörtheit der Betroffenen wieder und einen Tränenausbruch der Mutter. Keine Vermutung gab irgendeinen Anhalt, zu erraten, wer Annies Begleiter war und sie zu diesem Schritt bewogen hatte. Denn daß es sich um eine Art Entführung handelte, schien sicher. Fanny glaubte zu wissen, daß die Flüchtige unter einer Chiffre auf der Post zuweilen Briefe empfing, und erinnerte sich auch, daß die Schwester in ihrer kokett-leichtsinnigen Art von der Begegnung mit einem sehr eleganten Herrn gesprochen hatte. Man fand auch nichts in den ausgeräumten Schubladen, das als Spur hätte dienen können, mit Ausnahme eines neuen kleinen Goldstücks, was auffiel und beunruhigend wirkte. Denn man wußte, daß Annie wohl mit Kleingeld nicht haushälterisch war, daß aber eine Münze von diesem Wert auch für sie eine beträchtliche Summe bedeutete. Rosas Vorschlag, trotz der Drohung, die Polizei zu benachrichtigen und sie zu bitten, diskret zu verfahren, fand keine Zustimmung. Frau Mager wollte nichts davon wissen.
»Man soll mir das Kind nicht hetzen«, rief sie aus. »Ich werde es nicht ertragen, sie rohen Fragen und Verhören ausgesetzt zu sehen.«
Auch Zenobi meinte, die Polizei, einmal in Bewegung gesetzt, sei ein zu grober Apparat.
Da sagte Meerengel, der sein melancholisches Cäsarenhaupt auf die Brust hatte sinken lassen:
»Sie selbst, Baron, müssen die Sache in die Hand nehmen. Wer wäre denn geeigneter dazu als Sie mit Ihrer Weltkenntnis und Ihrem Takt?«
Frau Mager nickte heftig, und Regine, indem sie eine Hand auf Zenobis Schulter legte, sagte:
»Der Herr Doktor hat recht. Sie werden sicher einen Weg finden!«
Zenobi war tief verstört. Der Vorfall hatte einen Schleier von seiner Seele gerissen. Er hätte Regine, wie sie da über ihn gebeugt stand, unter Tränen umarmen mögen und sie fest an sich drücken. So überkam es ihn ... Und geweint hätte er nicht aus Gefühl für Regine, der er von Herzen zugetan war, sondern um Annie, die heitere, mit ihrer hellen Glöckchenstimme, ihrem blitzenden jungen Übermut. War es nicht dieser schwebende Singgeist, der ihn und alles im Hause beschwingte! ... Wenn sie sang – und war es auch nur eine Übung –, schien ihm der Tag ein neuer Lebensanfang. Der Wohllaut schwellte das Herz vor Glück ... Es war eine Stimme, die geisterhaft seine Zuversicht bestätigte, ihn gegen alles feite ... Er hatte auch große Pläne mit Annie; sie wußte es und schien ihm zu vertrauen. Und gerade heute, am Tag seines Triumphes, geschah das Unerwartete. Hatte ein Griff aus dem Dunkel sie ihm, ja ihm entrissen. Er konnte kaum sprechen. Und als hätte er die Erregung der anderen von ihnen abgelöst, sahen sie seine Bewegung, ehrten sie und schienen beruhigt Zuversicht zu fassen. Meerengel drückte ihm schweigend die Hand. Nur Fanny dachte sich ihr Teil. Sie kannte die Verschlagenheit der Schwester und ihre stille Entschlossenheit.
Tags darauf hatte Zenobi seinen Plan gefaßt und ging ans Werk. Seine Erregung wandelte sich in den Spürsinn und die Entschlossenheit des Jägers, der ein kostbares und seltenes Wild jagt. Er nahm die Leitung in die Hand und verteilte die Posten. Fanny sollte unter den Mädchen in der Nachbarschaft unauffällig zu erfahren suchen, ob Annie in Begleitung gesehen worden sei oder irgendeine Äußerung getan habe, die als Anhalt dienen könnte. Auf neugierige Fragen sollte es heißen, Annie werde sich jetzt ganz ihren Gesangsstudien widmen und sei zu Professor Weiner nach Absdorf. Auch Meerengel erhielt eine Mission. Er sollte sich um die Schlußstunde vor das Geschäft begeben, in welchem Annie ihre Halbtagsarbeit hatte, sich einem der jungen Mädchen nähern und versuchen, eine Bekanntschaft anzuknüpfen. Meerengel war einen Augenblick perplex, sammelte sich langsam und meinte bedächtig:
»Wenn ich dabei abblitze, brauche ich das nicht als persönliche Kränkung aufzufassen, nicht wahr?«
»Gewiß nicht«, sagte Zenobi. »Es wird Ihnen aber nicht schwerfallen. Sie müssen dabei nur behutsam zu Werke gehen und sich Ihr wahres Interesse nicht anmerken lassen ... Mehr brauche ich Ihnen nicht zu sagen.«
Er war ganz Detektiv und erteilte gemessen seine Aufträge. Meerengel verbeugte sich wie ein Beamter. Zenobi selbst begab sich in das Konservatorium, in dem Annie studierte, und ließ sich beim Direktor als der Leiter einer der größeren Bühnen im Reich anmelden. Er versäumte es nie, setzte er dem durch den Besuch Geschmeichelten auseinander, wenn er nach der Residenz komme und seine Zeit es erlaube, sich in den bewährten Instituten ein wenig nach dem künstlerischen Nachwuchs umzusehen; er habe schon in manchen unscheinbaren Anfängern die künftige Größe vorgeahnt ...
Ob er etwas Bestimmtes im Auge habe, fragte der Direktor.
»Ja«, sagte Zenobi; »es ist mit der Zeit Aussicht für eine entwicklungsfähige Sopranistin im jugendlich dramatischen Fach. Sie müßte aber auch Koloraturpartien singen.«
Der Direktor blätterte, während er liebenswürdig das Gespräch fortsetzte, in seinem Verzeichnis. Es seien drei, die in Betracht kämen, meinte er, und er wolle sich erkundigen, wann man sie hören könne. Zenobi sagte, er habe gerade Zeit und wolle warten, wenn es sich jetzt arrangieren ließe ... Indessen betrachtete er angelegentlich die Photographien, die in großer Anzahl an den Wänden hingen. Darunter entdeckte er bald ein Bild von Annie als Cherubin, in welcher Rolle sie bei den letzten Schulaufführungen aufgetreten war, und das er übrigens kannte, da es auf Frau Magers kleinem Sekretär stand. Er blieb wie zufällig davor stehen, setzte sein Augenglas auf und sagte:
»Sehr reizvolle Bühnenerscheinung! Versteht ein Kostüm zu tragen ... Begabt?«
»Sehr«, antwortete eifrig der Direktor. Er wurde auf einmal lebhafter. »Sie haben Blick! Es ist ein Fräulein Mager. Schöne, entfaltungsfähige Stimme. Sehr musikalisch. Aber noch in der Entwicklung begriffen.«
Zenobi klopfte mit dem Mittelfinger auf das Bild.
»Trotzdem, verehrter Herr Direktor ... Trotzdem! Würde mich sehr interessieren ...«
Der etwas korpulente Herr mit dem schütteren Musikerhaarkranz um den runden, in der Mitte kahlen Schädel lächelte verständnisvoll und nahm den Hörer vom Telephonapparat.
»Wollen sehen, wollen sehen ... Einen Augenblick!«
Nach einigen Minuten betrat etwas atemlos und sichtbar erregt eine untersetzte Dame unbestimmten Alters in einem rauschenden schwarzen Taftkleid und einem Federhut das Zimmer, nickte flüchtig auf Zenobis Gruß und schritt mit ausgebreiteten Armen auf den an seinem Schreibtisch lehnenden Direktor zu.
»Wie unangenehm, lieber Freund«, rief sie mit dem Affekt der älteren Bühnenkünstlerin, »welches Pech! Vor einer Stunde ist mir dieser Brief von Fräulein Mager übergeben worden ... Welcher Eigensinn! Ich habe es ihr bis jetzt immer noch ausgeredet. Sie schreibt sehr lieb, bedankt sich für alle Förderung, na und so weiter ... Aber sie wolle jetzt versuchen, sich auf eigene Füße zu stellen ... Zu früh, meine ich, viel zu früh, nicht wahr, lieber Freund? ... Ah, sehr angenehm. Ja, bei mir hat sie studiert! Ja, reizendes Wesen, sehr musikalisch, temperamentvoll, aber unberechenbar ... Wohin sie geht?« Sie kramte in ihrer Tasche, fand den Brief. »Da steht nichts drin ... Sie verlasse die Stadt, sonst nichts!«
Der Direktor nahm ihr den Brief aus der Hand und wandte sich zum Fenster, wo er mit herabhängenden Armen stehen blieb.
Zenobi war bereit, zwei andere Damen aus der Klasse der Meisterin zu hören, was diese sehr schmeichelhaft fand. Er wählte die Gesangsstücke, die er zu hören wünschte, so, daß es eine schmerzliche Feier für ihn wurde. Er vergaß darüber fast, was ihn hergeführt hatte ... Die jungen Künstlerinnen gaben sich Mühe, sangen brillant und wurden vorgemerkt. Es entging ihm nicht, daß der Vorfall auch auf den Leiter der Schule einen tiefen Eindruck machte, und er hatte seine eigenen Gedanken darüber.
Bevor er das Haus verließ, trat er in die Portierloge, um dem alten, gebrechlichen Mann, der ihn angemeldet hatte und auch beim Vorsingen in Bewegung gesetzt worden war, etwas in die Hand zu drücken. Die über das Übliche hinausgehende Gabe machte das von allen Vorgängen im Hause wissende Faktotum gesprächig.
»Das ist heute schon zum drittenmal«, sagte er kopfschüttelnd, »daß nach dem Fräulein Mager gefragt wird ... Erst war da die Frau Professor Brühl-Adame, dann beim Herrn Direktor, und jetzt wieder ein junger Mann ... Dort steht er noch vor der Anschlagtafel.«
»Eine sehr gesuchte Persönlichkeit, das kleine Fräulein!« scherzte Zenobi. »Na, man kann sich ja zu Hause einmal erkundigen. Sie haben ja hier die Adresse?«
»Habe ich wohl, aber –«, der Alte machte eine geheimnisvolle Miene, »die Mädchen sagen, sie ist fort ... Am Mittwoch noch, ja, am Mittwoch, da war sie hier und hat am Tisch dort Briefe geschrieben. Ein bissel aufgeregt und pressiert ... lebhaft, wie das Fräulein Mager halt ist, da denkt man sich nichts dabei ... Und jetzt erinnere ich mich – nach der Adresse vom Dollinger hat sie gesucht, wissen Sie, von dem Agenten ... und ich habe ihr das neue Adreßbuch holen müssen, das drin im Büro liegt ...«
»So, so«, sagte Zenobi gleichgültig, »es passiert eben allerlei.« Im Vorübergehen faßte er den jungen Mann ins Auge, der immer noch vor der Tafel stand und die Anschläge zu studieren schien. Dieser, als er sich beobachtet fühlte, wandte sich um und hastig wieder weg. Zenobi sah einen Augenblick lang in ein knabenhaft hübsches, doch vor Qual fassungsloses Gesicht ... Der Direktor, der junge Mensch ... So war Annie!
In der Agentur Dollinger ergaben sich erst Schwierigkeiten. Niemand wollte etwas wissen. Er versuchte es mit einer Überrumpelung und erklärte, die ihm befreundete junge Sängerin habe ihm vor ihrer Abreise mitgeteilt, die Agentur würde sich um ein passendes Engagement für sie bemühen. Nun habe ihm sein Freund, Direktor Albert, gerade geschrieben, und es sei da, wie er hoffe, Aussicht für Fräulein Mager ... Darauf mußte er ziemlich lange warten. Ein zweiter Herr kam, ließ sich das Anliegen wiederholen und erklärte, von nichts zu wissen. Während Zenobi nach einem neuen Angriffspunkte suchte, erschien ein dritter, und als er den Namen, den der zweite auf einen Zettel geschrieben hatte, überlas und den Besucher prüfend gemustert hatte, bat er Zenobi, ihm zu folgen. In einem kleinen, mit durchsessenen Klubmöbeln eingerichteten Zimmer wurde er aufgefordert, Platz zu nehmen. Der modisch gekleidete Herr von großer Beweglichkeit und mit einer fettigen, in die Stirn gekämmten schwarzen Locke streckte sich gewichtig in einen Sessel ihm gegenüber aus. Zenobi empfand plötzlich vor dem Raum und seinem Insassen den gleichen mit Ekel gemischten Widerwillen wie an jenem Maitage auf der Polizeiwache. Was geschah hier? ... Wurde Gesang gehandelt? ... Was bedeutete das? ... Dennoch wiederholte er unerschütterlich zum dritten Male, was ihn herführe, und fügte etwas indigniert hinzu, er habe den Eindruck, daß man sich hier für die junge Dame nicht sonderlich interessiere. Das erkläre sich daraus, sagte der Agent beschwichtigend, daß er diese Sache dem Büro nicht weitergegeben habe, aber er persönlich, er wiederholte das Wort mit ausdrucksvoller Geste, interessiere sich für sie. »Sie sind ja vom Fach, wie ich sehe«, fuhr er mit einem vertraulich einweihenden Lächeln fort und tippte Zenobi aufs Knie. »Sie können sich wohl denken, daß ein Haus wie das unsere, ein Haus von Weltruf, ich bitte Sie, sich nicht gerade um die Vermittlung von Anfänger-Engagements zerreißt ...«
»Oh«, unterbrach Zenobi kühl, »dann bedaure ich, gestört zu haben. Meines Wissens übrigens müssen auch die großen Künstler einmal anfangen.«
»Wem sagen Sie das? Lassen Sie mich ausreden. Was uns an bedeutenden Künstlern am Tage durch das Haus läuft, damit könnte man drei Opernhäuser reichlich versorgen ... Sie sind mit Fräulein Mager befreundet? Entzückende Person ... Dann kennen Sie ja wohl auch den Herrn Doktor von Berner?«
Zenobi nickte.
»Das ist ein Mann, nicht wahr? Der hat Beziehungen bis hoch hinauf! Bis sehr hoch hinauf! Sehen Sie, darauf kommt es an. Und da er mich persönlich darum gebeten hat, konnte ich natürlich nicht nein sagen. Die junge Dame hat sich beeilt, mir das Material zu schicken. Als wenn das wichtig wäre ... Naiv, nicht wahr? ... Sie wollen also, wenn ich Sie recht verstanden habe, wir sollen uns mit Direktor Albert wegen eines Engagements in Verbindung setzen? Na, unter uns, ich glaube nicht, daß es dem Herrn Doktor von Berner sehr eilig damit ist.« Er lachte plötzlich laut.
»Und woraus schließen Sie das?«
»Woraus ich das schließe? Na, hören Sie!«
»Dann wird es vielleicht richtiger sein«, bemerkte Zenobi zögernd, »daß ich vorerst mit Herrn von Berner darüber spreche ... Ist er noch in der Stadt?«
»Eben nicht, eben nicht!« rief der Agent triumphierend aus und lachte wieder. Doch als wäre plötzlich Mißtrauen in ihm erwacht, lehnte er sich zurück und fragte wie nebenbei:
»Wie war doch der werte Name, Herr ...?«
»Baron Stauff«, erwiderte Zenobi und erhob sich.
»Dann bitte ich um Entschuldigung, Herr Baron« – er stand ebenfalls auf und verbeugte sich mehrmals rasch – »für den Irrtum ... Ich habe Sie für den Sänger ... Na, habe ich übrigens nicht schon die Ehre gehabt, Herr Baron? ...« Er schien in seinem Gedächtnis zu suchen.
»Wohl möglich«, sagte Zenobi liebenswürdig und verabschiedete sich.
Schon in der Tür, wandte er sich halb zurück und fragte:
»Sie können mir gewiß sagen, wo ich Herrn von Berner erreiche?«
Das war offenbar ein Fehler, denn der Agent verlor auf einmal seine Redseligkeit, hob bedauernd Hände und Schultern und sagte nur:
»Tut mir leid, da kann ich nicht dienen.«
Er behielt den Knopf der Tür, durch die er den Besucher hinausgelassen, eine Weile in der Hand und sah dem durchs Vorzimmer sich Entfernenden mit zugekniffenem Auge nachdenklich nach.
Zenobi fühlte, daß er sich beeilen müsse, wenn er einer wahrscheinlichen Warnung von Seiten des mißtrauisch gewordenen Agenten zuvorkommen wollte. Ganz von seinem Jagdinstinkt besessen, setzte er sich auf der erforschten Fährte sofort in Bewegung. Er brauchte etwa eine Stunde, um die Wohnung des Herrn von Berner, den er als einen Legationsrat a. D. ausmachte – es waren noch andere dieses Namens verzeichnet –, zu erreichen. War er ein eifersüchtiger Liebhaber oder mitbetroffenes Glied einer schwerbetroffenen Familie, besorgter Gönner einer jungen, aussichtsvollen Künstlerin und wachsamer, findiger Detektiv zugleich? ... Alle einander widersprechenden Empfindungen gewannen abwechselnd im Laufe des Tages Gewalt über ihn, je nach dem Licht, das auf den Weg seiner Nachforschungen heute fiel. Vorherrschend blieb eine quälende Unruhe, die auf dem Grunde lag und ihn nicht verließ.
Die Gestalt Annies und ihr Dasein enthüllte sich in diesem Licht, entfaltete sich und wuchs, ein eigenwillig junges, zart starkes Wesen, das unbekümmert Licht und Leben sich sog aus allem, was ihm frommte. In dieser Stunde während der Fahrt konnte er es immer deutlicher sehen. Hatte er nicht auch einen Anteil daran? Hatte er mit seinen Reden nicht bewirkt, daß es so weit kam? ... Etwas schmerzte ihn. War er berufen, hier hemmend einzugreifen, im Namen der Familie Rechte geltend zu machen oder als moralische Polizei aufzutreten – das alles wurde sehr fraglich. Einzig darauf kam es jetzt an, wer und was dieser Herr von Berner war, aber dann schien es ihm, daß es auch darauf nicht ankam.
Während er in solchen Gedanken, die unklar auftauchten, dahinfuhr, fühlte er den detektivischen Elan fast von sich weichen. Auch seine Eifersucht schien ihm verspätet. Was ihn noch trieb, war die alte Lebensneugier, von Wehmut beschattet.
Auf sein Läuten an der Wohnung wurde ihm zu seiner Überraschung bald geöffnet. Er faßte sich und war wieder völlig in seiner Rolle. Er sei der Baron Stauff, er wisse wohl, daß Herr von Berner verreist ist, doch er habe ihm dringend etwas mitzuteilen ...
Der junge Diener öffnete höflich eine Tür, die aus dem Vorraum in eines der Zimmer führte, machte Licht und bat Zenobi einzutreten.
»Der Herr Sekretär ist jetzt leider nicht mehr anwesend, aber wenn der Herr Baron zu schreiben wünschen ...«, er ordnete Schreibzeug und Papier auf einem Tisch, schob einen Stuhl heran, »... ein Brief wird Herrn von Berner morgen mit der übrigen Post zugeschickt werden, ganz zuverlässig ...«
Zenobi setzte sich kurz entschlossen an den Tisch und schrieb an Annie, während der Diener, der noch eine Lampe herbeigebracht hatte, in respektvoller Entfernung in der Nähe der Türe blieb.
»Ich habe ganz zufällig deinen Aufenthalt erfahren, erschrick nicht und überstürze deine Entschlüsse nicht. Niemand verfolgt dich! Man ist zu Hause traurig und besorgt, aber ich will sie beruhigen, ohne ihnen zu sagen, was ich weiß, wenn du mir gleich Nachricht gibst und mir erlaubst, dich zu sprechen. Du wirst dich doch nicht aus kindischer Angst vor deiner Mutter verstecken, die so verständig ist. Es wird dich ja nur in allem hemmen. Aber wenn es dir schwer ist, bediene dich meiner, und ich stehe dir dafür ein, daß man dir auf deinem Wege in die Freiheit keine Hindernisse legen wird ...« Hier hielt er inne. Sollte er ihr nicht sagen, wessen sie ihn beraubt hat; nicht fragen, weshalb er ihr Vertrauen nicht verdiente? Doch ein zufälliger Blick auf den jungen Diener brachte ihn plötzlich in Verwirrung. Er schrieb nur noch: »Von mir sage ich nichts.« Er fügte vorsorglich eine postlagernde Adresse an, steckte den an Annie adressierten Brief in einen zweiten Umschlag, auf den er den Namen des Herrn von Berner schrieb, und schärfte dem mit einem reichlichen Trinkgeld bedachten Diener ein, den Brief, der von größter Wichtigkeit für seinen Herrn sei, so rasch als möglich zu befördern. Nun, da er seine Aufgabe befriedigend, wie ihm schien, gelöst hatte, ergab er sich einem angenehmen Gefühl der Genugtuung und kam in bester Laune zu Hause an.
»Ich habe eine Spur gefunden«, erklärte er den ihm gespannt Entgegenharrenden, »in zwei, drei Tagen wird sich alles aufklären. Indessen stellen Sie mir keine Fragen und warten Sie ruhig ab. Ich bin überzeugt, daß alles zum Guten sich wendet!«
Seine Sicherheit hatte die gewünschte Wirkung, der Druck löste sich, und als auch Meerengel hinzukam, hörte man dessen umständlichen, mit düsterem Ernst vorgetragenen Bericht über seine Mission kaum noch in der Erwartung eines Ergebnisses. Er weckte vielmehr auf den von dem Ereignis noch beschatteten Gesichtern stille Lichter der Heiterkeit.
Meerengel hatte sich in seine besten Kleider geworfen – grauer Leibrock, Lackschuhe, steifer Hut, Perle in der buntkarierten Krawatte, den schwarzen Ebenholzstock mit dem geschnitzten Elfenbeinknopf, dottergelbe Handschuhe in der Hand – und um die angegebene Zeit vor dem Geschäft aufgestellt. Die Mädchen, die einzeln herauskamen und die er anzureden versuchte, warfen bei seiner Annäherung scheue Blicke um sich und entfernten sich so eilig, daß es sich nicht geschickt hätte, ihnen nachzufolgen. Dann kamen zwei, die mehr Mut zu haben schienen, denn sie blieben stehen, stießen sich an und lachten. Er lachte ebenfalls und wollte sie schon anreden, denn er überlegte, daß aus zweien mehr herauszuholen sein würde, wenn es bei einer mißlänge. Da erschienen, wie aus dem Boden gewachsen, zwei flotte junge Leute und entführten jene beiden, die sich zurückwandten und ihm lachend mit der Hand zuwinkten. Indessen waren wieder einige vorbeigehuscht, und er fürchtete schon, unverrichteterdinge abziehen zu müssen. Es schien ihm deshalb am sichersten, sich einfach mit ausgebreiteten Armen vor den Ausgang zu stellen und zu sehen, was er so in sein Netz bekäme, denn es dunkelte bereits. Es waren wieder zwei. Sie schrien auf, offenbar wirklich erschrocken, als er sie auf diese Art aufhielt, da war er höflich zurückgetreten, den Hut in der Hand, und hatte sie folgendermaßen angesprochen:
»Meine verehrten jungen Damen, Sie werden es mir hoffentlich verzeihen, daß ich Ihnen auf diese ungewöhnliche Weise entgegentrete, wenn ich Ihnen erkläre, daß ich in der anständigsten Absicht komme. Ich habe nämlich ein Anliegen an Sie ...«
»Ein Anliegen?« hatte die Ältere gefragt, und die Jüngere: »Was ist das, ein Anliegen?«
Das belustigte ihn sehr, er hielt es aber nicht für richtig, gleich darauf einzugehen, und bat sie um die Erlaubnis, sie, indessen er sich sammle, ein Stück zu begleiten. Die Jüngere bohrte mit der Fußspitze in dem Boden, sah verstohlen zu ihm auf und sagte: »Meine Mutter erlaubt das nicht!«
Darauf habe er sofort geistesgegenwärtig geantwortet:
»Glauben Sie, daß meine Mutter mir das erlaubt hätte?«
Darüber waren beide in lautes Lachen ausgebrochen, das ziemlich lange dauerte und jede ernsthafte Unterhaltung unmöglich machte. Dann tuschelten sie miteinander, schienen entschlossen und sagten, sie wüßten eine gute Konditorei in der Nähe, in die er sie einladen könnte – da hätten sie nichts dagegen –, denn hier auf der Straße herumzustehen sei für sie kompromittierend. Er war sehr froh, daß sie ihm damit zuvorkamen, denn er hatte schon die ganze Zeit überlegt, wie er eine solche Einladung vorbringen sollte. In der Konditorei tranken sie zweimal Schokolade, aßen verschiedene Kuchen und waren so eifrig damit beschäftigt, daß keine rechte Unterhaltung in Gang kam, so sehr er sich auch Mühe gab. Als sie fertig waren, sahen sie auf die Uhr und schienen es sehr eilig zu haben. Da sie drängten, mußte er endlich mit seinem Anliegen anfangen. Er fragte sie in aller gebotenen Harmlosigkeit, ob sie mit Fräulein Mager, die ebenfalls im Geschäft tätig ist, bekannt seien ... Das hatte nun eine ganz überraschende Wirkung. Die Ältere sprang auf, riß ihre Tasche an sich und fuhr ihn mit blitzenden Augen an:
»So, gehören Sie auch zu der blöden Horde, die um diese arrogante Person herumscharwenzelt? – Dann wenden Sie sich an eine andere Adresse. Ich habe es satt, das Gefrage!«
Und die Kleine erhob sich ebenfalls, strotzend vor Entrüstung, sagte etwas, das wie: Fader Kerl! klang ... Es war vergeblich, sie aufhalten zu wollen. Sie entschwanden fauchend und ließen ihn einfach stehen. Ihm war es peinlich vor den anderen Gästen, welche die Szene mitansahen.
Zenobi beruhigte ihn mit der Versicherung, daß auch das ihm ein nützlicher Fingerzeig sei.
Fanny wußte nichts zu erzählen oder wollte es nicht, denn die Mienen der jungen Mädchen, mit denen sie ein Gespräch anfing, verrieten zu sehr eine beflissene Zurückhaltung, wie um zu zeigen, daß sie mehr wüßten, als sie zu sagen für gut fanden. Dabei merkte man, daß sie nichts Bestimmtes wußten. So wurde denn für die Familie, ohne daß es jemand aussprach, das Geheimnis selbst zur Enthüllung, und während jeder für sich daran herum riet, war das, was zu wissen quälte, bereits offenbar, und nur die Sorge täuschte der Mutter noch vor, daß sie eine Enthüllung erwarte.
Für Zenobi war es freilich anders. Als er nach einigen Tagen einen Brief von Annie in der Hand hielt – sie schickte ihn übrigens einfach ins Haus, ohne sich der Deckadresse zu bedienen –, schlug sein Herz in jünglinghafter Erregung und konnte sich lange nicht beruhigen. Nun kam er also doch noch ins Spiel ... Doch was drin stand, war ein Abschied, nicht mißzuverstehen. Was er für ihre Auffindung unternommen und der Erfolg sogar, den er mit dem Brief jetzt greifbar in der Hand hielt, das war sein Spiel, das mit der wirklichen Annie, die irgendwo ihr eigenes Leben zu leben begann, gar nichts zu tun hatte. Sie brauchte ihn nicht! ... Er betrachtete die kraklig fahrige Jungmädchenschrift und hörte traurig einen Klang sich entfernen. Sie schrieb: Es gehe ihr gut und es sei gar kein Grund, sich um sie zu sorgen. Er, Zenobi, dem sie so vieles verdanke und der ihr den Blick für die große Welt geöffnet habe, werde es der Mutter am besten klarmachen, daß ein talentiertes und, wie er zugeben werde, nicht häßliches Mädchen nicht im Winkel sitzen könne und warten, bis sie jemand entdecke. Den Märchenprinzen gebe es nur in Märchen, die Leute, die für einen etwas tun können, sehen anders aus. Sie aber sei entschlossen, Karriere zu machen, eine große Sängerin zu werden, und das könne man nicht ohne Geld und ohne Protektion. Im übrigen sei sie ein anständiger Mensch. Der Mann, dem sie sich anvertraue und der so viel für sie tue, könne ihrer Liebe sicher sein. »Ich sage Ihnen auf Wiedersehen«, hieß es am Schluß, »aber noch nicht jetzt und nicht bald. Wenn ich in einer großen Rolle auftrete, dann sollen Sie kommen und mich sehen.«
Zenobi, der noch überlegte, wie er es der Mutter beibringen solle, fand Frau Mager still und nachdenklich. Auch ihr hatte Annie geschrieben. Er brauchte sie nicht aufzuklären. Zenobis Vorschlag, Annie doch eine Aussprache mit ihrer Mutter nahezulegen, unterbrach sie mit einer resignierten Bewegung.
»Wozu«, sagte sie aufseufzend, »was soll ich ihr sagen? Daß ich meinen Segen dazu gebe oder daß ich ihn nicht gebe? ... Was brauche ich es, daß sie sich vor mir schämt! ... Es geschieht uns ganz recht dafür, daß wir die Kinder für kleiner halten, als sie sind. Seht das kleine Ding an ... Kümmert ihr euch nicht um mich, gut! ... Und geht hin und schlägt die Tür hinter sich mit Krach zu. Und man hat noch gar nicht richtig an sie gedacht. Denn da sind ja die Größeren, die vorangehen. So ein Kind und so tapfer ... Wir wollen uns wahrhaftig nichts einbilden!«
Das war Frau Magers Abschiedsrede an Annie.