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VIII

Es konnte bei der sorglosen Hingabe Zenobis an seine Improvisationen nicht ausbleiben, daß er auf seiner Laufbahn, gefährlichen Peripetien ausgesetzt, eines Tages zum Sturz kommen mußte. Wenn er ihm bis jetzt noch wie durch ein Wunder entgangen war, so dankte er dies weniger seiner Geschicklichkeit als jenem Gesetz der großen Zahl, das wir Zufall nennen und das bewirkt, daß eine erstaunlich konstante Anzahl von Menschen im gleichen Zeitraum auf den Straßen einer großen Stadt überfahren, daß aber der und jener, den wir kennen, nicht von der verhängnisvollen Statistik ergriffen wird. Oder auch, weil die Welt gegen materielle Einbrüche besser beschützt ist als gegen sozusagen geistige. Denn unsere Welt, so fest und zugemauert sie unten ist, wird nach oben immer lockerer und je höher, um so luftiger in Beziehung auf alles, was erlaubt und verboten ist, und besonders durchlässig für Ansprüche, die alle scheinbar anerkennen, niemand jedoch honoriert. Die gleiche Freiheit gilt allerdings auch unter den Fundamenten, dort, wo die Abwässer der Gesellschaft sich sammeln ... Aber schließlich kann auch der sonderbarste Rechnungsfeldwebel im eleganten Zivil nicht ungestraft alles tun, was ihm gefällt. Und so geschah es, daß Zenobi eines Tages, an dem seine Rolle weniger anspruchsvoll war, und er sich vielmehr nur einem Gemeingefühl mit gewohnter Begeisterung zu überlassen meinte – daß er gerade dabei mit einem Krach aus der bürgerlichen Welt hinausfiel.

Er hatte sich an der jährlichen großen Maifeier der Arbeiterschaft beteiligt und sich dann dem imposanten Demonstrationszug mit fliegenden Fahnen, Emblemen und blumengeschmückten Mädchen angeschlossen, hatte freudig die Freiheitslieder mitgesungen und in seiner Gruppe das Hoch und Nieder kommandiert. Als man später in dem weiten öffentlichen Park, vom prächtigsten Wetter begünstigt, in den Biergärten sich niederließ und unter die aufgebauten Zelte sich verstreute, hörte man, die Erholung genießend, da und dort einem Redner zu. Da fühlte sich auch Zenobi gedrängt, dem jungen Volk, das sich heiter um ihn bewegte, vom Herzen sich mitzuteilen. Er stieg auf einen Stuhl, und da er gleich mit Klatschen und Zurufen empfangen wurde, war er bald im besten Zuge. Doch gerade als er im Begriffe war, sich über die Segnungen des Achtstunden-Tages auszubreiten, erhob ein überwachender Kommissar Einspruch und erklärte, solche zum Klassenhaß aufreizenden Worte nicht zu dulden. Dagegen erhob sich tumultuöser Protest. Man sei hier unter sich, es sei keine offizielle Versammlung. Der Beamte aber, sei es infolge der Strapazen der Überwachung den ganzen Tag über schon nervös oder weil ihm die Geste Zenobis nicht gefiel, wurde durch den sich kundgebenden Widerstand nur hartnäckiger und bestand auf seiner Weisung. Die erregten Zurufe der Menge brachten Zuzug von allen Seiten, der sich schon bedroht fühlende Polizeimann pfiff einen in Bereitschaft stehenden Zug von Schutzleuten herbei, Ordner drängten durch den Knäuel, und Zenobi, der immer noch auf dem Stuhl stand, in der Hoffnung, mit einer lustigen Wendung den Zwischenfall zu beenden, war bald von Polizei und Ordnern eingekreist, und der Kommissar verlangte mit erregter Stimme, sein Notizbuch in der Luft schwingend, daß er Name, Stand und Domizil angebe. Zenobi war um einen Namen nicht verlegen, doch die Ordnung war damit nicht zufrieden. Ausweis! herrschte sie. Einen Ausweis habe er freilich nicht bei sich ... Darauf höhnisches Lachen des Hüters, lange Gesichter der Genossen Ordner ... Ob der Name oder die Person den Ordnern bekannt sei ... Nein, sie wüßten nicht. Das sei allerdings sehr bedauerlich. Zwischen der Parteileitung und der Polizei hatte man, um Unzuträglichkeiten zu vermeiden, vereinbart, daß jeder Redner einen abgestempelten Ausweis mit sich führe. Da könne man nichts machen ... Zenobi müsse mit aufs Kommissariat. Einige Heißsporne, die es empörend fanden, daß das Volk an seinem Feiertage solche Schmach sich bieten lassen mußte, waren bald zur Ruhe gebracht, Mißtrauische, welche die Ordner unterstützten, riefen laut: Provokateur!

Zenobi war der Spaß verdorben. Er fühlte sich plötzlich so allein, daß es ihn fröstelte. Doch in stolzer Haltung betrat er die in der Nähe gelegene Polizeiwache. Hätte er es vermocht, mit dem subalternen dort Amtierenden, der wahrscheinlich aus der gleichen Laufbahn kam, die er bald verlassen sollte, in der intimen Sprache zu reden, die mit einem Zwinkern aus den Augenwinkeln sich über die gegenseitige Unverletzlichkeit verständigt, so würde man die gräßliche Tatsache, daß ein Angehöriger der bewaffneten Macht bei der Maifeier der Roten Reden schwang, als einen Hauptspaß hingestellt, belacht und darüber zum Schluß vielleicht ein kameradschaftliches Glas geleert haben. Aber Zenobi war jetzt ganz Opposition gegen die Gewalt, die ihm angetan, Opfer und Repräsentant des beleidigten Volks, von Verachtung geschwellt. Zu dem Protokoll, das nun seinen wirklichen Namen und Stand enthielt, verlangte er hoheitsvoll den Zusatz, daß er, Mann aus dem Volke, energisch Protest erhebe gegen die Verletzung der gewährleisteten Redefreiheit. Der Diensthabende war fassungslos.

»Mensch!« brüllte er fast. »Sind sie bei Trost! Wollen Sie sich mit Absicht ins Unglück stürzen! Hat man so was gehört! ... Ein feiner Mann wie Sie, der Aussichten auf den Rechnungsoffizier hat ... Herrgott! Sagen Sie doch wenigstens, Sie haben eins über den Durst getrunken, bei dieser Hitze! Wir werden es dann schon richten ...«

Doch Zenobi, dem die schmutzige Polizeistube und der schwitzende Mann mit den blauen Glotzaugen plötzlich heftigen Widerwillen einflößten, erklärte, so unwürdige Zumutungen ablehnen zu müssen und bestand auf dem Seinen. Darauf wurde der Beamte eiskalt, murmelte beim Schreiben wütend etwas von ›Elementen‹ und ›Widerstand gegen die Behörde‹, und hieß Zenobi barsch warten, bis er seine Instruktionen eingeholt habe. Nach einer Stunde war er entlassen. Die Angelegenheit nahm ihren amtlichen Fortgang.

Zenobi wurde zunächst vom Dienst ›suspendiert‹ und erhielt den Befehl, sich zur Verfügung des Militärgerichts zu halten, von dem eine Untersuchung eingeleitet wurde. Doch während das Verfahren gegen ihn monatelang ›schwebte‹, und Akten sich häuften, war er bereits dem Kreis seiner früheren Tätigkeit so weit entrückt, daß die Resolution seiner Verabschiedung einen fast fremden Mann erreichte, der sich an den strammen Militärbeamten, den er einst dargestellt hatte, kaum noch erinnern konnte. Er versuchte es gar nicht, seinen Beruf vor der Militärzeit wieder aufzunehmen, aber er machte sich auch um einen neuen nicht allzu viele Sorgen. Er wußte bereits: in der Stadt arbeitete man nicht zu seinem Vergnügen, und die Unternehmer berechneten genau, wofür sie zahlten. Sie erlaubten nicht, daß einer, der seine ganze Notdurft bei ihnen verdiente, auch nur das geringste darüber an Zeit der Freiheit zu eignem Nutzen für sich behielt. Denn das betrachteten sie als einen Raub an ihrem Verdienst, auf dem die Wohlfahrt der Welt beruht. Er hatte in der Stadt etwas gelernt: nur dort, wo die Menschen nicht rechneten, konnte man gelegentlich durchschlüpfen. Dafür aber mußte man mit Erniedrigung bezahlen. Nichts war umsonst. Er aber war nicht gesonnen, für eine kümmerliche Existenz mit sich selbst zu bezahlen. Man mußte zusehen, wie man da durchkam ... Er fühlte in sich Eigenschaften und Fertigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt vielleicht nicht viel wert waren, doch sollten sie ihm helfen, sein Leben, wie er es liebte, zu behaupten. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, fand er, daß ein Mann, wie er ihn da vor sich sah, in der Welt zu etwas anderem da war, als sich in täglicher Mühsal zu verbrauchen. Er hatte großen Respekt vor sich selbst, den er wahren mußte, wie er ihn übrigens vor anderen würdigen und repräsentativen Personen natürlicherweise empfand ... Er suchte und fand ohne Schwierigkeit Gelegenheitsarbeiten, die für kurze Zeit eine größere Anstrengung erforderten, dafür aber besser bezahlt wurden. Bei Ausverkäufen in Warenhäusern, bei Inventurarbeiten, bei Aufnahmen für die Volkszählung, Werbearbeiten für neue Unternehmungen, die sich rasch und großzügig beim Publikum einführen wollten. Seine Erscheinung, die heitere und umgängliche Art mit Menschen, ein gewisser Schwung, der von ihm ausging und sich seinen Mitarbeitern mitteilte, machte ihn für dergleichen besonders geschickt und erfolgreich, so daß er vorübergehend in bevorzugte Stellungen kam. Dieser Rhythmus von Arbeit und Muße war ihm gemäß. Er vermehrte nun noch um eine die Tausende von Existenzen, die mit den harten Bedingungen der Großstadt und ihrem Hasard vertraut, wie aus einem großen Wasser ihre Nahrung fischen. Nur, daß er es ohne Gier tat und ohne Verdrossenheit, da er sich für Tage der Arbeit oder erfindungsreichen Kombinationen mit Taten freien schönen Lebens entschädigen durfte. Mußte er dabei zuweilen auch einen Ring, ein Stück der sorgfältig geschonten Garderobe für eine Zeitlang ins Leihhaus tragen, so war ihm dringende Not schon deshalb fern, weil die Menschen, unter denen er jetzt lebte, in ihrer sorglosen und erfahrenen Halbarmut ebenso leichtlebig wie hilfsbereit waren.

*

Es war ein altes, von außen unansehnliches, innen recht geräumiges und bequemes Haus, in einer langen volks- und gartenreichen Vorstadtstraße, die sich mit ihren Hunderten von Nummern und diesen wieder angehängten Buchstaben, die manchmal bis zum »K« gingen, weit und krumm bis an den Fuß der waldigen Hügel des Südwestens hinzog, wo die Villenkolonie der Reichen begann. Es gehörte der Frau Elisabeth Amalie Henriette Mager, die es mit ihren vier Töchtern und einer wechselnden Anzahl von Pensionären bis hinauf zu den verschnörkelten eiförmigen Luken der Mansarden füllte. Ihr Mann, der Zeit seines Lebens bei zweifelhaften Unternehmungen beteiligt, nach vielen Fehlschlägen und in vorgerücktem Alter sein Glück in Südamerika gesucht hatte, war dort seit Jahren verschollen. Frau Mager, an Enttäuschungen gewöhnt, aber durchaus nicht verbittert, fühlte sich nach seiner Abreise nicht verlassen, vielmehr zu ihrem eigenen Erstaunen von der Unruhe und Gespanntheit ewiger Glückserwartungen nur angenehm befreit. Und sie verlor keinen Augenblick an neue Hoffnungen auf diese abenteuerliche Fahrt. Sie nahm mit heiterem Herzen und gutem Verstande, den sie gegen die verkehrten Ambitionen ihres Ludwigs nie zur Geltung bringen konnte, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand und fand das Leben dabei ganz erträglich. Sie war gern unter Menschen, und ein schüchterner Humor für ihre Torheiten hinderte sie nicht, aufrichtigen Anteil an ihnen zu nehmen. Ihre Töchter hatte sie tüchtig erzogen, doch dressierte sie sie weder auf die Männer, noch glaubte sie, ihr Schicksal lenken zu können. Sie liebte es, wenn es um sie heiter war; die Familie, die einen großen Bekanntenkreis hatte, versäumte ungern einen Polterabend, ein Tanzvergnügen oder eine Geburtstagsfeier. Sie vernachlässigte aber dabei nicht ihre Arbeit, wenn man sich auch Anstrengungen nicht gern zumutete. Man hatte Ganz- und Halbpensionäre und nur ›möblierte Herren‹, Gymnasiasten, Studenten und ältere Junggesellen. Mit den kleineren befaßte sich die tüchtige und resolute Rosa, blond und locker in ihren Bewegungen und nie um eine Auskunft verlegen, wenn es Schwierigkeiten gab; die hochbusige und stattliche Regine, geschickte und geschmackvolle Modistin, vertrat als Älteste die Hausfrau, Annie lernte Singen und war halbtags beschäftigt, und Fanny, die Jüngste, besuchte das Lehrerinnen-Seminar. Alle, von der Mutter angefangen, tranken gern Kaffee und waren sehr musikalisch. Man kümmerte sich nicht viel umeinander und bildete doch mit den Hausgenossen eine Art zusammenhängender Familie. Wer besondere Ansprüche machte und nicht hineinpaßte, ging bald fort. Es kam nicht darauf an, daß ein Zimmer oder ein Platz am Tisch leer blieb. Man gab, was man hatte, einmal reichlich, einmal kärger. Man präsentierte dafür auch keine regelmäßigen Rechnungen am Monatsende, sondern wartete, bis einer kam und mit Regine und ihrem langen Hausbuch sich auseinander rechnete.

Hier hatte Zenobi in einem hübschen, nach dem hinteren Garten gelegenen Zimmer Unterkunft gefunden. Er wurde halb scherzhaft der »Herr Baron« genannt und war bei allen sehr beliebt. Das Haus und seine Bewohner waren ein Bestandteil der volkreichen Straße, die Straße ein gewachsenes Organ bewegten Volkslebens. Sorglose Armut, verschämte Armut, Kleinhändler, Handwerker mit einem Rest Gediegenheit, hie und da bereits eindringendes Proletariat bevölkerten sie bunt. Privatgelehrte mit schmaler Rente, auf sich selbst gestellte Studenten, welche spät nachts unter grünem Lampenschirm ihre hochfliegenden Gedanken nährten, Existenzen, die, bereits abgestürzt, in der halben Ländlichkeit der Vorstadt ihre Zuflucht suchten, andere, die von hier aus ihren Flug zu nehmen sich anschickten, hafteten da noch auf einem Boden, den die steinernen Schluchten der Stadt noch nicht erreicht hatten und den eine Krume gemeinsamer Menschlichkeit bedeckte. In das Haus, das billige Gastfreundschaft gewährte, kam mancherlei Besuch. Am Abend saß man in dem großen, niedrigen Erdgeschoßzimmer, Frau Mager mit ihrem runden, noch hübschen Gesicht und den grauen, wohlwollenden Augen vor ihrer erkalteten Kaffeetasse, immer nach Neuigkeiten begierig, aber auch mit echter Teilnahme die Ereignisse in ihrem nahen und fernen Bekanntenkreise besprechend. Oft kam einer, der sich in einem schwierigen Prozeß befand, dessen Chancen erörtert wurden. Ein anderer suchte einen Käufer für ein Objekt; ein junger Erfinder erklärte seine komplizierten Zeichnungen und man beriet, wie man die Mittel zur Herstellung eines Modells beschaffe; angehende Künstler erzählten von ihren ersten Erfolgen oder dem Mißgeschick, das ihnen zugestoßen. Aber auch Unglück und Leid der Armen drangen hierher, wo man Rat und Unterstützung erhoffte und manchmal fand. Kinder, die plötzlich verwaist waren, von ihren Männern verlassene Frauen, Leute, die ihre Beschäftigung verloren hatten, waren der Gegenstand häufiger Hilfsaktionen, die, wenn sie auch nicht immer erfolgreich waren, den Unglücklichen Zuversicht einflößten und ihnen über die ersten Schrecken halfen.

Zenobi fand hier ein neues, weites Feld für seinen Ausdehnungsdrang, das seine Phantasie befriedigte, ohne ihn vom Alltag zu entfernen. Oft boten ihm wirkliche Erfolge eine Genugtuung von einer Art, die er vorher nicht kannte. Hier war seine Flinkheit, sein Aller-Welts-Wissen oft von Nutzen. Er vermittelte Verkäufe, er wußte offene Stellen, er kannte die Anwälte, die für bestimmte Prozesse in Betracht kamen; er sprach bei der Bezirksverwaltung und bei den Steuerbehörden für die Schwachen vor, die ohne Beistand waren; er verfaßte Gesuche für die Vormundschaftsbehörde; er besuchte Mäzene im Interesse aufstrebender Talente und setzte wirksame Anzeigen auf, um Kapitalisten für neue Unternehmungen zu interessieren ... Und nicht alle diese Künste, die er entwickelte, waren brotlos. So verwischte sich allmählich die Grenze zwischen Beruf und Rolle. Er war nach einiger Zeit in der Straße und allmählich im ganzen Bezirk bekannt. Den einen war der Baron im Hause Mager eine Art Spitzname, an den man sich gewöhnt hatte, den andern ein merkwürdiger, aber hilfreicher Mann, um den in der Tat ein Geheimnis walten mußte ... Denn er war uneigennützig. Da er es sich nicht nehmen ließ, bei feierlichen Anlässen des Bezirks im hohen Hut und schwarzen Rock, meist in Begleitung der schönen und eleganten Regine zu erscheinen, meinten die Klugen, es wäre vielleicht sein Ehrgeiz, mit der Zeit für irgendein Ehrenamt zu kandidieren. Aber über die Äußerungen, die er einem der einflußreichen Parteimänner gegenüber in einer Unterhaltung getan haben sollte, mußten sie die Köpfe schütteln. Er habe phantastische Projekte entwickelt, erzählte man, die erst den Eindruck machten, als wolle er sich an die Spitze eines großen gemeinnützigen Kreditunternehmens setzen. Aber schließlich stellte es sich heraus, daß es dabei nichts zu verdienen gab. Er habe von einer ausgedehnten Rechtshilfeorganisation gesprochen, die aber überparteilich sein sollte. Er habe die Mängel der Krankenversicherung aufgezeigt und bewiesen, wie die Verwaltungskosten jede ausreichende Hilfe für die Betroffenen aussichtslos machen ... Nein, das war kein Mann für die Parteien ... Und ehrgeizig schien er übrigens auch nicht zu sein. So bildete sich eine Art Legende um ihn, die verschiedene Bestandteile enthielt. Die einen erzählten, er sei ein wirklicher Adliger, der infolge eines schweren Konfliktes in der Familie, einer Ehegeschichte, Namen und Titel abgelegt habe, die anderen wollten wissen – und damit begründete man sein lebhaftes Interesse für Gericht und Behörden – daß er, früher ein bekannter und hochbezahlter Anwalt, einem Klienten, den er nicht retten konnte und der zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, auf dessen dringende Bitte, Gift ins Gefängnis geschafft; daß er deshalb verurteilt und aus seinem Stand verstoßen, sich in dieses Viertel unter einem angenommenen Namen zurückgezogen habe. Aus beiden Kombinationen ergab sich, noch interessanter, ein adliger Richter, dem die Geschichte mit dem Gift passiert sein sollte. Dem widersprachen freilich Züge und Äußerungen überschwenglicher, ja kindlicher Art, wie man sie bei einem Manne von seiner Erscheinung und seinem Alter recht auffällig fand. Seine Musikbegeisterung kannte keine Grenzen und nichts schien ihn so zu bewegen, als wenn am Abend die Töchter des Hauses sangen oder spielten. Er konnte sich kaum enthalten, mit einer tiefen Stimme mitzusummen, pathetische Arm- und Handbewegungen zu machen und vor Ergriffenheit lange zu schweigen. Ja, manchmal konnte man ihn mit Kindern von der Straße an der Hand, einer vorbeiziehenden Musikbande im Takt folgen sehen. Dabei grüßte er Vorübergehende und Bekannte gravitätisch, winkte ihnen zu, als wollte er sie auffordern, an dem kindischen Vergnügen teilzunehmen. Er saß auch oft nach Feierabend mit Handwerkern, Arbeitern und allerhand Volk beisammen, erörterte bei einem Glase mit ihnen ihre Angelegenheiten, gab Schnurrpfeifereien zum besten und konnte in einem plötzlichen Ausbruch die Hand eines Nachbarn ergreifen und rufen: »Ich liebe dich, Bruder, du sollst sehen, dir will ich helfen!«

Von den Bewohnern des Hauses nächst Zenobi der ständigste und einer, der sich ihm am meisten anschloß, war der Student Meerengel. Seit seinem ersten Semester, als er in der Vorstadt herumstreifend in wohlgefälliger, kennerischer Betrachtung vor dem Hause stehen geblieben war, und dann auf seine mit düsterer Majestät vorgebrachte Frage, ob man geneigt sei, einen Wohnraum hier abzugeben, zustimmende Antwort erhielt, hatte er sich im Hause zum Teil mit eigenen Möbeln eingerichtet und gehörte dazu. Es waren seitdem viele Semester vergangen. Meerengel hatte mancherlei Examina bestanden und war auch bereits mit dem Titel versehen, der anderen Abschluß und Krönung ihrer Lehrzeit bedeutet. Doch ihm, der ängstlich jeden Beruf als eine Veränderung seiner bequemen Lebensweise scheute, war es nicht darum zu tun, seine Einsichten, wie er es nannte, für irgendwelche Zwecke zu verwerten. Er hatte keine Eltern; den sehr alten Großeltern, reichen Gutsbesitzern im Mährischen, blieb er durch Zeit und Wachstum unverändert ein zärtlich umworbenes Enkelkind, dessen Dasein allein ihre Sorge lohnte. Er war fromm und gelehrt. Wenn es Semmeln gibt, muß es folgerichtigerweise einen Bäcker geben, – damit war für ihn der Beweis für das Dasein Gottes erbracht. Im übrigen, meinte er, könne es unter anständigen Menschen keine Diskussion über solche Dinge geben. Er tat nicht gern das, was andere taten. Ohne Absicht und mehr aus einer tiefen Zerstreutheit seines Wesens war in seinem Leben und in seiner Handlungsweise mancher Zug, der ihn sonderbar erscheinen ließ. So gehörte er als Katholik keiner schlagenden Verbindung an, doch focht er unter schweren Bedingungen ein Pistolenduell aus, weil ein Kollege vom heiligen Thomas von Aquino in Ausdrücken gesprochen hatte, die ihn beleidigend dünkten. Der juristischen Fakultät zugehörig, befaßte er sich mit ethnologischen und historischen Studien und blieb lange Zeit von einem Gegenstand gefesselt, der seinem Gebiete ganz fern lag. Eines Tages brachte er dem Dekan der juristischen Fakultät vertrauensvoll eine gelehrte Arbeit über die Kultur der Irokesen und konnte sich über das Erstaunen des Professors nicht genug wundern. Der Gelehrte glaubte, ihn darauf aufmerksam machen zu müssen, daß er mit ihm eine Studie über die Rechtsnachfolge in Byzanz ausgemacht habe. Meerengel lächelte verbindlich: Ja, er erinnere sich jetzt ... Indessen habe er doch soviel Zeit verloren, meinte der Professor. Zeit, erwiderte Meerengel würdevoll, Zeit könne man nicht verlieren ... Bei seiner Jugend bereits von einer gewissen Körperfülle, die er seiner Neigung zur Bequemlichkeit dankte, hatte er ein höfliches, etwas zeremonielles Betragen und achtete auch bei anderen auf gute Umgangsformen. Er war im Hause nur Mieter. Die beiden Zimmer, die er nach seinem etwas bizarren Geschmack einrichtete, blieben zu seiner Verfügung, auch wenn er monatelang abwesend war. Seinen Tafelansprüchen hätte das hier Gebotene nicht genügt, denn er verstand sich auf gute Küche und konnte eine Anzahl feiner Speisen, die er je nach der Zusammensetzung als ein kleines Diner oder ein kleines Souper bezeichnete, selbst zubereiten; wobei er hemdärmelig und in einer langen weißen Schürze sachkundig und pedantisch mit Pfannen und Kasserollen in der Küche hantierte. Er verachtete aber durchaus nicht, zuweilen am gemeinsamen Tisch zu essen, aus Zerstreutheit, wenn er sitzen blieb, oder auch, weil er ein Gespräch fortsetzen oder mitanhören wollte. Er lud dafür auch gern den einen oder anderen Hausgenossen zu einem selbstbereiteten kleinen Diner oder Souper auf seinem Zimmer ein, wobei er den heiteren, liebenswürdigen Wirt und zugleich seinen eigenen zeremoniellen Haushofmeister machte. Am häufigsten war Zenobi sein Gast. Meerengel suchte seine Gesellschaft so oft er es nur konnte und behandelte ihn mit besonderer Auszeichnung. Er ist ein wahrhaft vornehmer Mann, sagte er mit dem ihm eigenen melancholischen Ernst. In der Unterhaltung mit Zenobi konnte man bemerken, wie sich sein Wesen plötzlich veränderte und seine Gehaltenheit zuweilen im schroffsten Übergang einer kindlichen, ja kindischen Heiterkeit wich, die sich bis zu wahren Ausbrüchen des Lachens steigern konnte.

Im Hause wohnte damals auch ein russischer oder polnischer Emigrant mit einem unaussprechlichen Namen, ein stiller, aber ruheloser Mann, der nächtelang an irgendwelchen Manuskripten schrieb, von denen man nie etwas hörte, der sehr höflich war, aber auf interessierte Fragen nur kurz und sehr bestimmt antwortete. Auch er fand sich zuweilen zu den abendlichen Zusammenkünften ein, saß meist schweigend da. Man konnte den klugen Augen hinter der scharfen Brille ansehen, daß er hier eine Stunde der Ruhe und des Behagens genoß, soweit seine Natur eines solchen passiven Zustandes überhaupt fähig sein mochte. Auch er schien nur Zenobis wegen zu kommen. Er zeigte für ihn eine Art Neugier oder Teilnahme, wie sie ein Naturforscher für jene Studienobjekte hat, die einen Grenzfall in seiner Wissenschaft bedeuten und an denen er gewisse Theorien erhärten oder gezwungen sein kann zu revidieren.

Eines Abends sprach man von dem Fall eines kleinen Bauunternehmers in der Straße, der, weil er angeblich Zeugen zum Meineid verleitet hatte, zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden war. Es war eine verzwickte und traurige Geschichte. Die Leute sagten, er habe sich aus Überempfindlichkeit, aus Wichtigtuerei selbst ins Unglück gebracht und seine Existenz ruiniert. Es hatte damit begonnen, daß er wegen einer Übertretung von der Polizei eine Strafe erhielt. Da er überzeugt war, es sei zu Unrecht geschehen, strengte er einen Prozeß an. In diesem wollte er beweisen, daß die Angaben des Polizisten, die seine Bestrafung herbeigeführt haben, nicht der Wahrheit entsprachen, und brachte dafür Zeugen bei, welche den Sachverhalt, wie er ihn darstellte, bestätigten. Darauf veranlaßte die Behörde den Schutzmann, eine Verleumdungsklage gegen ihn einzubringen; bei der Verhandlung nahm der Polizist die Anzeige, die er gemacht, und die Tatsachen, auf denen sie beruhte, auf seinen Diensteid, und der Bauunternehmer wurde verurteilt. Er legte Berufung ein und führte jenen anderen Prozeß gegen die Polizei weiter. Indessen wurde aufgrund dieses Urteils eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Den Zeugen, die für ihn ausgesagt hatten, traten andere gegenüber, welche die Aussagen des Schutzmannes bestätigten; einer von seinen Zeugen, ob eingeschüchtert oder durch die Bestimmtheit der Gegenbehauptung, welche die Autorität der Behörde für sich hatte, unsicher gemacht, wollte sich bei der Gegenüberstellung nicht mehr genau an alles erinnern. Der von seinem Verteidiger beantragten Vertagung wurde zwar stattgegeben, doch bei der neuerlichen Verhandlung war alles bereits so verfilzt und dämonisiert, daß dem in seinem Recht gekränkten, gehetzten und durch den Prozeß nahe an den Ruin gebrachten Mann, den man zu meiden angefangen hatte, auch die letzten Stützen zusammenbrachen: Von den ihm günstigen Zeugen fehlten jetzt schon zwei, die anderen wurden gegenüber der geschlossenen Phalanx der Behörde als unglaubwürdig hingestellt, und da der noch um seine Wahrheit und seine Reputation verzweifelt Kämpfende sich zu Ausbrüchen des Hasses und zu Drohungen hinreißen ließ, verscherzte er alle Sympathien des Gerichts und erschien als rabiater Querulant. Er wurde besonders hart verurteilt und auch gleich in Haft genommen.

Zenobi, den diese Angelegenheit sehr beschäftigte, hatte es sich in den Kopf gesetzt, dem Verurteilten zu seinem Recht zu verhelfen. Er rief:

»Ich kenne den Mann und bin von seiner Unschuld überzeugt ... Wenn nichts hilft, gehe ich damit bis zum Kaiser!« Die altkluge Fanny, die sich trotz ihrer achtzehn Jahre über mancherlei Dinge ihre eignen Gedanken machte, sagte niedergeschlagen:

»Merkwürdig, daß das meiste Unglück der armen Leute entweder mit der Polizei anfängt oder zu ihr hinführt ... Auch das Unglück hat bei ihnen ein anderes Gesicht als bei den Reichen!«

»So ist es wahrhaftig!« bestätigte Zenobi. »Und mir ist noch etwas aufgefallen ... Jene da oben denken nicht einmal richtig, haben von allem verkehrte Vorstellungen, aber sie handeln richtig ... das heißt, nicht richtig, sondern nützlich, für sich nützlich ... Die Armen dagegen denken und wissen meistens schon das Richtige, aber sie tun das Falsche ...«

Annie und Rosa sahen sich an. Annie kicherte:

»Verstehe ich nicht ... Was muß ein kleiner Mann sich auf so etwas einlassen!« sagte sie wegwerfend.

Frau Mager klirrte mahnend mit dem Löffel an ihre Tasse.

Da mischte sich der Russe ins Gespräch und sagte, während eine leichte Röte über sein faltiges Gesicht flog:

»Eben, eben ... Man muß auch den Zusammenhang sehen. Weil jene das Richtige tun, ist das, was die Armen unternehmen, meist ganz falsch. Verstehen Sie ... Es ist kein Platz für ihr Richtiges.«

Zenobi erzählte von seinem Besuch bei einem bekannten Anwalt, den er zu überreden versuchte, sich dieser Sache anzunehmen. Unheilbare Geschichte, hatte dieser erklärt. Nichts zu machen. Der Mann habe nichts getan, das glaube er. Er sei nur unvorsichtigerweise in das Getriebe der Justizmaschine geraten. Ein sehr undankbarer Fall ... Ja, aber es ist ihm doch Unrecht geschehen! – Darauf habe der witzige Mann gemeint: Bloß Recht haben, das ist zu wenig, man muß auch wer sein, um Recht zu behalten.

Der Russe nickte verständnisvoll.

»Und dann«, fuhr Zenobi fort, »habe ich den großen Volkstribun Meißner aufgesucht ... Ein Mann wie ein Stier und sehr gutmütig ... Ja, das sei nichts Neues. Er kenne viele solche Fälle, aber mit dem da sei gar nichts anzufangen. Dergleichen interessiere keinen Zeitungsleser! ... Ich fragte, ob das Büro für Rechtshilfe nicht dazu da sei ... oder wozu sonst eigentlich? ... Da lachte der Riese ... Er würde mir dankbar sein, wenn ich eine der großen Kanonen bewegen wollte, für die Rechtshilfe unentgeltlich zu arbeiten ... Sie hätten genug zu tun ... Er kann nur raten, den Mann seine Zeit absitzen zu lassen. Es sei ja keine Ewigkeit! ... Denn bis auf dem Schneckenwege, den solche Sachen gewöhnlich kriechen, auch nur etwas erreicht werde, sind die zwei Jahre längst um.«

Meerengel meinte, man sollte die höhere Geistlichkeit für den Mann interessieren. Den Erzbischof vielleicht ... Der Bauunternehmer sei als guter Katholik bekannt. Man überlegte, nannte Namen. Zenobi erhitzte sich immer mehr. Es sei eine Ehrensache, die alle angehe ... Er denke an ein selbstverfaßtes Gesuch an den Justizminister, unter das eine stattliche Anzahl von Unterschriften gesammelt werden sollte.

»Sie werden sich bei dieser Affäre den Kopf einrennen!« sagte der Russe einige Tage später, als er Zenobi allein fand. »Und es wird Ihnen nur recht geschehen ...«

Er fing von selbst an, und es war ihm dabei anzusehen, wie anhaltend ihn das letzte Gespräch beschäftigte.

»Alle diese guten Menschen«, fuhr er fort, »welche die Welt für eine friedliche Lämmerweide halten, wie sind sie komisch und schädlich! ... Sie haben keine Ahnung von der Gewalt des Bösen, dem man nur mit Bösem begegnen kann. Und auch Sie, Baron, mit Ihren charmanten Eigenschaften, hätten in einer anderen Zeit geboren werden sollen ... Denn wer heute das Richtige will, muß sehr hart, sehr entschlossen und mit doppelter Bosheit gewappnet ganz tief hinabsteigen, um seine Bundesgenossen zu suchen ...«

Zenobi, der ihn noch nie so lange hatte sprechen hören, sah ihn neugierig und etwas betroffen an.

»Um was zu tun?« fragte er.

»Um neue Ordnung zu schaffen!« rief jener aus. »Das kann man nur mit wirklichen Menschen. Wenn einer so aus der Welt herausgefallen ist, daß er nur noch in Gottes Hand steht, der allein weiß das Wahre, das brennt und das Böse vernichtet ... Ich wundere mich manchmal, woran Sie eigentlich haften ...«

»Ich ... Mir scheint die Welt ganz in Ordnung. Aber mit den Leuten untereinander, da stimmt es nicht ...«, sagte Zenobi nachdenklich. »Sie sind sehr klug, Sie verstehen das vielleicht besser als ich ...«

Er hielt inne, und als wäre etwas in ihm angerührt, worüber er sich noch niemals Rechenschaft gegeben hatte, suchte er nach Worten und fand sie nicht gleich. Es wurde eine etwas wirre Rede.

»Wie kann man aus der Welt herausfallen?« begann er, indem er an den Ausspruch anknüpfte, der ihn am meisten verwunderte. »Das wäre ja, als sollte ich aus meinem Körper herausfallen ... Man kann sein Kleid wechseln, um nur recht viel und auf die verschiedenste Weise in der Welt zu sein ... Um nicht immer daran zu denken, daß man der und der ist, der wie eine Spinne in seiner Ecke sitzt und immer nur das Seine spinnt ... Die ganze Welt ist ja mein Körper ... das heißt, nicht die ganze ... aber man möchte es und meint es mit allen aufrichtig und herzlich ... Und nicht so, wie es einen freut, etwas für sich zu haben, als der man zufällig ist, sondern wie bei einem großen Fest, das man genießt, weil alle dabei sind ... Wie soll man da hinausfallen, wo es so vieles gibt? Heute hier und morgen woanders ... es könnte tausend Jahre dauern. Was kann einem denn geschehen? Es kann einem so wohl dabei sein, daß man auf die verrücktesten Gedanken kommt. Man möchte ein Hund sein und bellen oder ein Tenor und singen ... und man kann alles sehr wohl, wenn es auch die anderen nicht hören. Und trifft es sich, daß die anderen es fühlen, so haben sie nur Freude daran und sind noch ein Stück Welt mehr als man hat, und von der man nicht genug haben kann! ... Dann ist einem schon geradezu feierlich zumute und so, als wenn man schwebte und fortgetragen würde ... Und genau dasselbe ist es, wenn man einem Gutes erweisen will oder ihm helfen. Was macht man denn soviel Wesens davon? Die Welt wird dabei nur immer weiter und weiter ...«

Hier verlor der Russe aber die Geduld.

»Es scheint Ihnen jede Fähigkeit abzugehen, irgendeine Sache zu denken, die nicht unmittelbar mit Ihrem Wohlbefinden zusammenhängt«, sagte er achselzuckend.

»Und Sie können das?« fragte Zenobi mit aufrichtiger Bewunderung. »Und wozu?«

Da machte der Russe nur eine Bewegung, als wollte er sagen: »Vergebliche Mühe«, und ließ ihn stehen.


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