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XIII. Die religiösen Zustände

1. Der Götterglaube

Für die Erkenntnis der religiösen Zustände der antiken Welt in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten besitzen wir zwei Quellen von sehr verschiedener, vielfach sogar entgegengesetzter Beschaffenheit: die eine in der Literatur, die andere in den Denkmälern, namentlich Inschriftsteinen. Die Literatur ist vorwiegend aus Kreisen hervorgegangen, die teils von Unglauben und Indifferenz ergriffen waren, teils durch Reflexion und Deutung den Volksglauben zu vergeistigen, zu läutern und umzugestalten strebten. Die Denkmäler dagegen stammen wenigstens zum großen Teil aus denjenigen Schichten der Gesellschaft, die von der Literatur und den dort herrschenden Richtungen wenig berührt wurden und teils nicht das Bedürfnis, teils nicht einmal die Fähigkeit hatten, ihren Überzeugungen dort Ausdruck zu geben, und sie sind ganz vorwiegend Zeugnisse eines positiven, weder zweifelnden noch grübelnden, naiven und reflexionslosen Götterglaubens. Wenn die moderne Welt einst in ähnlicher Weise unterginge, wie die antike untergegangen ist, und eine späte Nachwelt dann bemüht wäre, aus ebenso trümmerhaften Überresten der heutigen Kultur, wie sie uns vom Altertum geblieben sind, eine Anschauung von den religiösen Zuständen unsrer Zeit zu gewinnen: so würde auch sie aus sehr spärlichen Bruchstücken der heutigen Literatur ganz andere, zum Teil entgegengesetzte Eindrücke erhalten, als aus Grabsteinen, Votivtafeln und andern kirchlichen Denkmälern jeder Art. Wie dann nur eine Verwertung beider einander ergänzenden Gattungen von Zeugnissen eine annähernd richtige Vorstellung geben könnte, so gilt dasselbe auch für die hier in Betracht gezogene Zeit des Altertums. Während die heidnische Literatur dieser Zeit uns einen Einblick in die Tätigkeit der Kräfte gewährt, die innerhalb des Heidentums an seiner Auflösung und Zersetzung arbeiteten, weht uns aus den Denkmälern ein Geist des Glaubens an, der allen zerstörenden Einflüssen jahrhundertelang Widerstand zu leisten vermochte. Weil nun, namentlich von theologischen Schriftstellern, die heidnische und christliche Literatur jener Zeit immer fast ausschließlich, jedenfalls weit mehr als die Denkmäler zur Darstellung religiöser Zustände verwertet wurde, ist man der zuletzt berührten Seite derselben nie völlig gerecht geworden.

113. PHALLISCHE PORTRÄTSÄULE DES BANKIERS LUCIUS CAECILIUS JUCUNDUS AUS POMOPEII.
Bronze und Marmor. Neapel, Nationalmuseum

Aber auch die Literatur hat man mit Vorurteil behandelt, vorzugsweise ihre irreligiöse Seite berücksichtigt und nicht hinreichend erwogen, in wie hohem Grade Glaube und Aberglaube Bedürfnisse der Massen sind, welche gebieterisch Befriedigung verlangen. Selbst die literarischen Quellen bestätigen doch nur sehr teilweise die herrschende Ansicht, daß das Heidentum sich schon im tiefsten Verfall, in voller Auflösung befunden habe, als das Christentum entstand.

114. PORTRÄT EINES RÖMERS.
Marmor, republikanische Zeit. München, Glyptothek

Allerdings wird schon im letzten vorchristlichen Jahrhundert von römischen und griechischen Schriftstellern viel über Abnahme der Gottesfurcht, über Unglauben und religiöse Indifferenz geklagt und die Schuld an dem Verfall der Religion ausdrücklich den Lehren »wahnwitziger Weisheit« zugeschrieben, die sich aus den Schulen griechischer Philosophie verbreitet hatten. In der Tat herrschen in der damaligen römischen Literatur sowie in der des ersten nachchristlichen Jahrhunderts Richtungen, die von dem alten Glauben teils abgewendet, teils ihm geradezu feindlich sind. Die Notwendigkeit des Volksglaubens und der Staatsreligion wurde zwar von den Gebildeten aus Gründen der Zweckmäßigkeit nicht bloß bereitwillig zugestanden; sie gaben auch das Beispiel der Ehrerbietung gegen die Religion und alle religiösen Einrichtungen. Cicero erklärte in einer im Senat gehaltenen Rede, bei aller Vorliebe für literarische Studien doch derjenigen Literatur fernzustehen, welche die Gemüter dem Glauben entfremde; wir verdanken, sagt er, unsere Siege über alle Völker der Frömmigkeit, dem Glauben und der Erkenntnis, daß alles durch den Willen der Götter regiert wird. Namentlich wurde anerkannt, daß die Massen wegen ihrer sittlichen Roheit und geringen Bildung der Religion bedürften. Die Masse der Weiber und das ganze gemeine Volk, sagt Strabo, kann man nicht durch philosophische Belehrung zur Frömmigkeit, Heiligkeit und zum Glauben hinleiten, sondern es bedarf für diese auch der Götterfurcht, und dazu gehören Legenden und Wundergeschichten. Es hat seinen Nutzen, daß es Götter gibt, sagt Ovid mit zynischer Aufrichtigkeit, und da es ihn hat, wollen wir an sie glauben und fortfahren, ihnen zu opfern. Epictet tadelt diejenigen, die durch unbedachte Äußerungen des Zweifels an der Existenz der Götter in jugendlichen Gemütern die Keime der Tugend zerstören und manchem das rauben, was ihn vom Verbrechen zurückgehalten habe. Die Staatsmänner der Monarchie betonten noch besonders, daß die Verächter der Götter auch sonst niemanden in Ehren halten.

In jenem Geständnisse war aber freilich ausgesprochen, daß ein großer Teil der Gebildeten selbst des Volksglaubens in der überlieferten Form nicht zu bedürfen glaubte, über den sie sich in der Tat vielfach mit Gleichgültigkeit, Frivolität oder Verachtung äußern. Freilich war diese Freigeisterei oft nur eine Maske; Unglück oder Gefahr rissen sie dem Spötter vom Gesicht, und man sah solche sich dann eifrig der Religion zuwenden. Auch wird es nicht selten gewesen sein, daß völlig Ungläubige eine einzelne Superstition um so zäher festhielten; wie z. B. Sulla, welcher den Tempel zu Delphi geplündert hatte, ein kleines Bild des Apollo stets bei sich führte, das er öfters küßte, und an das er in Augenblicken der Gefahr inbrünstige Gebete richtete, und Nero, ein Verächter aller Religionen, eine ihm von einem unbekannten Plebejer geschenkte kleine weibliche Figur nach einer unmittelbar darauf entdeckten Verschwörung wie die höchste Gottheit verehrte. Daß übrigens auch unter den Gebildeten jener Zeit es nicht an Gläubigen fehlte, versteht sich von selbst, und Juvenal meint sogar, damals habe es noch keine Verächter der Götter gegeben.

Doch wir begegnen auch – bei Lucrez – einem leidenschaftlichen Ausdrucke des Hasses gegen den Glauben. Ihm erschien er als ein von der Erde zum Himmel ragendes Riesengespenst, dessen schwerer Tritt das Menschenleben schmählich zu Boden drückte, während sein Antlitz grauenvoll aus der Höhe herabdrohte: bis der kühne Geist eines griechischen Mannes – Epikur – dem Schrecken Trotz bot. Er erschloß die Pforten der Natur, drang weit über die flammenden Mauern des Weltalls ins Grenzenlose vor und brachte der Menschheit als Überwinder die Erkenntnis der Gründe alles Seins: so hat er den Glauben gestürzt, uns aber durch seinen Sieg zum Himmel erhoben. Man möge nicht meinen, mit der Annahme dieser Lehre den Weg des Frevels und der Gottlosigkeit zu betreten: im Gegenteil, gerade der Glaube habe öfter zu gottlosen und verbrecherischen Taten geführt. Der Dichter erinnert daran, wie Agamemnon die eigene Tochter dem Zorn der Göttin Artemis geopfert habe, und schließt seine rührende Schilderung des Opfertodes der unschuldigen Jungfrau mit dem Ausrufe: Zu so viel Unheil konnte der Glaube den Antrieb geben!

Aber so feindselig wie Lucrez stand der Volksreligion keineswegs die ganze Schule der Epikureer gegenüber, geschweige denn die philosophisch Gebildeten überhaupt. Denn Atheismus lehrte kein System, und seine Anhänger sind schwerlich zu irgendeiner Zeit zahlreich gewesen. Der Skeptizismus bestritt nur, daß das Dasein der Gottheit sich beweisen lasse, der Epikureismus lehrte die Existenz unzähliger ewiger, seliger Götter und leugnete nur ihre Fürsorge für die Welt und die Menschheit: aber die Epikureer schlossen sich ebensowenig wie die Skeptiker grundsätzlich vom Kultus aus. Die Gottheit bedürfe der Verehrung zwar nicht, äußert sich der Epikureer Philodemus, aber für uns sei es naturgemäß, sie ihr zu erweisen, hauptsächlich durch erhabene Vorstellungen, dann aber auch nach der in jedem Falle überlieferten väterlichen Sitte. Der Gewohnheit folgend, sagt der Skeptiker Sextus, sagen wir, daß es Götter gibt, daß sie eine Vorsehung üben, und verehren sie. Die überwiegende Mehrzahl der Gebildeten, die, ohne einer bestimmten Schule anzugehören, doch von philosophischen Einflüssen mittelbar oder unmittelbar berührt waren, stand dem Volksglauben mehr oder minder tolerant gegenüber, mochten sie auch selbst monotheistische oder pantheistische oder fatalistische Anschauungen hegen, oder einem geläuterten Polytheismus huldigen, oder endlich den überlieferten Glauben verloren haben, ohne einen neuen gewinnen zu können.

Die in der gebildeten römischen Welt des 1. Jahrhunderts n. Chr. außerhalb der eigentlich philosophischen Kreise verbreiteten religiösen Anschauungen bewegten sich zwischen dem Glauben an die Existenz der Volksgötter und eine durch sie geübte Vorsehung (wenn auch mit Verwerfung der ganzen legendarischen Überlieferung) einerseits und der absoluten Negation dieser Götter andrerseits. Auf dem ersteren Standpunkt scheint z. B. Tacitus gestanden zu haben. Bei Besprechung der jüdischen Religion äußert er den entschiedensten Widerwillen gegen die Vernachlässigung des ererbten Gottesdienstes und die Verachtung der Götter. Er glaubte, daß sie nicht bloß die unabänderliche Weltordnung vollziehen, sondern auch unmittelbar in ihren Gang eingreifen und die Zukunft durch Vorzeichen verkündigen. Quintilian gehörte zu der gewiß sehr zahlreichen Klasse derer, bei welchen die gewohnten und anerzogenen polytheistischen Anschauungen sich mit monotheistischen vermischten, ohne daß sie das Bedürfnis oder die Energie hatten, ihre Überzeugungen zur völligen Klarheit und Bestimmtheit durchzubilden. Bei ihm drängte schon die Vorstellung von der beseelten Natur, von »jenem Gott, der der Vater und Schöpfer der Welt ist«, den Glauben an die »unsterblichen Götter« in den Hintergrund. Der Glaube an eine Vorsehung stand ihm fest, und auch an der Verkündigung der Zukunft durch Orakel und Zeichen scheint er nicht gezweifelt zu haben.

Am entschiedensten ist in der Negation des Volksglaubens der ältere Plinius. Er meinte in seiner Darstellung des Kosmos die »unaufhörlich erörterte Frage nach dem Wesen der Gottheit« nicht übergehen zu dürfen und hat deshalb die damals am meisten verbreiteten Formen ihrer Beantwortung angegeben. Für ihn selbst war Gott und Natur nicht zu trennen: die Natur war ihm »die Mutter aller Dinge«, die sich dem Menschen so oft im Zufall offenbarte; diesen mochte man also als den Gott bezeichnen, dem man die meisten Entdeckungen und Kulturfortschritte verdankte. Aber mit Grund durfte man das »heilige, unermeßliche, ewige« Weltall, »zugleich die Schöpfung der Natur und die Natur selbst«, für eine Gottheit halten, als die Seele der Welt aber und ihr leitendes Prinzip die Sonne ansehen. Nur menschliche Schwäche konnte also nach dem Bilde und der Gestalt der Gottheit fragen. Welcher Art sie auch ist (wenn es noch eine außerhalb der Natur gibt), und wo auch immer, sie muß ganz Kraft, ganz Geist sein. Noch törichter ist es, an unzählige Götter zu glauben und auch menschliche Eigenschaften wie Eintracht, Keuschheit, Hoffnung, Ehre, Milde als Gottheiten zu betrachten; die gebrechliche und mühselige Menschheit hat, ihrer Schwäche sich bewußt, die eine Gottheit zerteilt, damit jeder diejenigen von ihren Seiten verehren könne, deren er am meisten bedarf. Daher finden wir bei andern Völkern andre Namen, und unzählige Götter bei denselben, selbst Krankheiten und Übel aus Furcht verehrt, wie das Fieber und die Verwaisung. Da nun noch der Glaube an Schutzgötter und -göttinnen aller einzelnen Männer und Frauen dazu kommt, ergibt sich eine größere Zahl der Götter als der Menschen. Die ganze Mythologie ist kindische Faselei, den Göttern Ehebrüche, Streit und Haß beilegen, an Gottheiten des Betrugs und der Verbrechen glauben, der äußerste Grad der Schamlosigkeit. Offenbarung der Gottheit ist das Wirken der Menschen für die Menschheit und dies zugleich der Weg zum ewigen Ruhm; auf diesem sind die Helden des alten Rom gewandelt, auf ihm schreitet jetzt mit übermenschlichem Schritte Vespasian mit seinen Söhnen, der erschöpften Welt Hilfe bringend. Uralt ist die Sitte, Wohltätern der Menschheit durch Versetzung unter die Götter Dank abzustatten. Überhaupt sind die Namen der Götter wie der Gestirne von Menschen entlehnt; wie sollte es ein himmlisches Namenverzeichnis geben! Ob die höchste Macht, welche es auch sei, für die menschlichen Dinge Sorge trägt, ob es denkbar ist, daß sie durch einen so traurigen und so vielfachen Dienst nicht herabgewürdigt werden würde? Kaum wäre zu entscheiden, ob es für das Menschengeschlecht nützlicher sei, diesen Glauben zu hegen oder nicht, wenn man sieht, wie ein Teil keine Rücksicht auf die Götter kennt, der andere in schimpflichem Aberglauben und Götterfurcht befangen ist. Um die Vorstellung von der Gottheit noch ungewisser zu machen, hat die Menschheit sich eine Macht erfunden, deren Wesen zwischen beiden entgegengesetzten Vorstellungen die Mitte hält: Fortuna, die bewegliche, von den meisten für blind gehaltene, umherschweifende, unbeständige, ungewisse, wechselnde, die Gönnerin der Unwürdigen, also der Zufall selbst wird als Gottheit verehrt. Ein anderer Teil verwirft auch diese, weist alle Ereignisse ihren Gestirnen zu, und glaubt an eine einmalige, unabänderliche, für alle Zukunft verhängte Bestimmung der Gottheit. Diese Ansicht hat angefangen Boden zu gewinnen, und die Menge der Gebildeten wie der Ungebildeten fällt ihr gleich bereitwillig zu. Sodann umfängt der Glaube an unzählige Vorbedeutungen die des Blickes in die Zukunft beraubte Menschheit, und unter allem diesem ist allein gewiß, daß es nichts Gewisses gibt und kein zugleich jammervolleres und hochmütigeres Wesen als der Mensch. Die übrigen Geschöpfe kennen keine Bedürfnisse als die, welche die Güte der Natur von selbst befriedigt, und überdies nicht den Gedanken des Todes. Aber für die Gesellschaft ist der Glaube an die Lenkung der menschlichen Dinge durch die Götter ohne Zweifel von Nutzen, und die Überzeugung, daß für Übeltaten Strafen unfehlbar eintreten, wenn auch spät, da die Gottheit nach so vielen Seiten hin in Anspruch genommen ist; sowie daß der Mensch nicht darum als das Gott nächste Wesen geschaffen sein könne, um an Niedrigkeit den Tieren gleich zu sein. Für die Unvollkommenheit der menschlichen Natur aber liegt darin ein ganz besondrer Trost, daß auch Gott nicht alles kann. Er kann sich nicht selbst den Tod geben, wenn er es wollte, was die Natur dem Menschen als das beste bei so viel Qualen des Lebens geschenkt hat; noch Sterbliche mit Unsterblichkeit beschenken oder Abgeschiedene zurückrufen; nicht bewirken, daß, wer gelebt hat, nicht gelebt, wer Ämter bekleidet hat, sie nicht bekleidet habe; er hat überhaupt keine Macht über die Vergangenheit als die des Vergessens; und (um auch scherzhafte Beweisgründe anzuführen) er kann nicht machen, daß zweimal zehn nicht zwanzig ist, und vieles der Art: woraus sich unzweifelhaft die Macht der Natur ergibt, und daß sie das ist, was wir Gott nennen.

War nun allerdings die Negation des Volksglaubens wohl in den meisten Fällen eine mittelbare oder unmittelbare Wirkung philosophischer Einflüsse, so gab es doch auch philosophische Richtungen, mit denen er nicht bloß vollkommen vereinbar war, sondern die ihm sogar zur Stütze dienten. Der Stoizismus, dessen Wirkungen in jener Zeit sich vielleicht weiter erstreckten als die irgendeines anderen Systems, sucht in seiner Theologie Glauben und Philosophie zu versöhnen, die Berechtigung der Volksreligion wissenschaftlich darzutun, indem er von dem höchsten Gotte, dem Schöpfer und Weltbeherrscher, Untergötter, von der durch das All verbreiteten göttlichen Kraft als Einheit ihre zahllosen Äußerungen und Wirkungen unterschied und überdies Dämonen als Mittelwesen zwischen Gottheit und Menschheit annahm. Alles, sagt Epictet, ist voll von Göttern und Dämonen. Die Anstößigkeiten der legendarischen Tradition wurden durch künstliche allegorische Auslegung beseitigt. Da außerdem die stoische Theologie fortwährende Offenbarungen der göttlichen Mächte durch Sendung von Orakeln, Vorzeichen u. dgl. anerkannte, so darf man annehmen, daß ein großer Teil der Anhänger der Stoa an dem überkommenen Glauben mehr oder weniger streng festhielt, und daß diejenigen Gebildeten, die, wie Marc Aurel, in einer Welt ohne Götter nicht leben wollten, ihr vor andern Schulen (wie in den späteren Jahrhunderten der neuplatonischen und wie im neunzehnten die orthodoxen Protestanten der Hegelschen) auch darum den Vorzug gaben, weil sie eine Lösung des Konflikts zwischen Vernunft und Glauben bot.

Auch im 1. Jahrhundert also standen nicht einmal die philosophisch Gebildeten der Volksreligion durchaus feindlich gegenüber. Und wenn auch in der Literatur dieser Zeit, wie in der des 18. Jahrhunderts, glaubensfeindliche Stimmungen und Richtungen vorherrschen, so behaupteten sie keinesfalls diese Herrschaft über das Jahrhundert hinaus. Wie die Flut der antichristlichen Richtungen des 18. Jahrhunderts, nachdem sie ihre größte Höhe erreicht hatte, schnell sank, und dann eine mächtige Rückströmung eintrat, die auch einen großen Teil der gebildeten Kreise unwiderstehlich mit fortriß, ebenso sehen wir in der römisch-griechischen Welt nach den in der Literatur des 1. Jahrhunderts vorwiegenden Richtungen eine Tendenz zum positiven Glauben die Oberhand gewinnen, auch hier die gebildeten Kreise ergreifen, und auch hier den Glauben vielfach zu krassem Aberglauben, Wundersucht, Frömmelei und Schwärmerei ausarten.

Den Beweis für ein von den Gebildeten tiefer und allgemeiner als bisher empfundenes Bedürfnis, den Volksglauben mit einer reinen Gotteserkenntnis in Einklang zu bringen, gibt vor allem die Ausbildung, welche die, wie bemerkt, auch von den Stoikern angenommene Dämonenlehre seit dem Ende des 1. Jahrhunderts durch die Platoniker erhielt, und die für die religiöse Richtung dieser Zeit in hohem Grade charakteristisch ist. Die Vorstellung von diesem »Zwischenreich« der Dämonen, die auf alter orphisch-pythagoreischer Überlieferung beruhte, entwickelte sich in der Art, daß die Dämonen den gläubigen Philosophen »überall an die Stelle der Volksgötter treten konnten, wo von den letzteren solches ausgesagt wurde, was man mit dem reinen Gottesbegriff unverträglich fand, ohne es doch darum geradezu leugnen zu wollen«.

Obwohl hier der Phantasie der weiteste Spielraum gegeben war, stimmen die Platoniker des 2. Jahrhunderts in allen wesentlichen Punkten der von ihnen mit Vorliebe behandelten Dämonenlehre völlig überein; offenbar hatte diese bereits in den gläubigen Kreisen der gebildeten Welt eine Art von dogmatischer Geltung gewonnen. Plutarch sagt: diejenigen, die entdeckt haben, daß ein Geschlecht von Dämonen zwischen Menschen und Göttern in der Mitte steht und beide miteinander verbindet und im Zusammenhange erhält (mag nun diese Lehre aus der Schule Zoroasters, von Orpheus, aus Ägypten oder Phrygien stammen), haben mehr und größere Schwierigkeiten gelöst als Plato durch seine Theorie von der Materie. Nach seiner Ansicht konnten die drei unteren Gattungen der Vernunftwesen durch Vervollkommnung jede zu der nächst höheren und zuletzt zu der höchsten aufsteigen: die besseren Menschenseelen konnten Heroen, diese Dämonen und einzelne der letzteren (wie Isis und Osiris) Götter werden. Den von den in dreifacher Ordnung die Vorsehung übenden Gewalten nehmen die Dämonen den untersten Rang ein. Die höchste Gewalt ist der Geist und Wille der Urgottheit, Schöpfer und Ordner des Weltganzen von Anbeginn, nächst ihm lenken die himmlischen Götter die menschlichen Dinge im großen und ganzen, zuletzt die Dämonen »als Wächter und Aufseher« im einzelnen. Abweichend von andern Platonikern hält Plutarch die Dämonen nicht für notwendig unsterblich; ohne den geringsten Zweifel und als Erlebnis eines glaubwürdigen Mannes erzählt er, wie die Kunde von dem Tode des großen Pan von seinen Mitdämonen mit lautem Wehklagen aufgenommen worden sei; die Hofphilologen des Tiberius hatten sich dahin geäußert, dies sei Pan der Sohn des Hermes und der Penelope gewesen. Die Dämonen sind für Lust und Unlust empfänglich und auch dem Bösen zugänglich: auf sie beziehen sich die Überlieferungen von Entführungen, Umherirren, Verstecktsein, Verbannungen und Sklavendiensten von Göttern; alles dies und ähnliches, wie die Leiden der Isis und des Osiris, sind nicht Schicksale von Göttern, sondern von Dämonen. Diese sind mit den Namen der Götter, denen sie beigesellt sind und von denen sie Macht und Ehre haben, benannt und so mit ihnen verwechselt worden, einige haben jedoch ihre wahren Namen behalten. Die bösen und furchtbaren Dämonen erfreuen sich an düsteren, trauervollen Kulten, und wenn ihnen diese zuteil werden, wenden sie sich zu nichts Schlimmerem; die guten und freundlichen tragen (wie schon Plato lehrte) als Boten und Dolmetscher die Gebete und Wünsche der Menschen zu den Göttern aufwärts und die Orakel und Gaben des Guten herab. Oft also steigen die Dämonen aus der Region des Mondes nieder, um die Orakel zu verwalten, an den höchsten Mysterien mitfeiernd teilzunehmen, Frevel zu bestrafen, in Krieg und Seegefahr Rettung zu bringen; lassen sie sich hierbei durch Zorn, ungerechte Gunst oder Neid bestimmen, so büßen sie dafür, indem sie wieder zur Erde herabgestürzt und in Menschenleiber geschleudert werden.

Ganz in demselben Sinne stellen Apulejus und Maximus von Tyrus die Dämonen als Vermittler zwischen der Götter- und Menschenwelt dar. Nach dem ersteren sind ihre Leiber weder von irdischer noch rein ätherischer Natur, sondern halten zwischen beiden die Mitte. Deshalb werden sie den Menschen nur ausnahmsweise und nach eigenem Willen sichtbar, wie die homerische Athena dem Achill. Diese Dämonen lassen die Dichter, keineswegs der Wahrheit zuwider, Menschen lieben und hassen, begünstigen und schädigen, daher auch Mitleid, Unwillen, Angst und Freude fühlen, überhaupt durchaus menschlich empfinden, was alles mit der ewig unveränderlichen Ruhe der Himmelsgötter unvereinbar ist. Auf der verschiedenartigen Empfänglichkeit der Dämonen für sinnliche Eindrücke beruht nach Apulejus auch die Verschiedenheit der Kulte und Opfer. Je nach ihrer Natur erfreuen sie sich an täglichen oder nächtlichen, öffentlichen oder geheimen, heiteren oder düsteren Opfern und Gebräuchen: so die ägyptischen an Klagegesängen, die griechischen an Tänzen, die barbarischen an rauschender Musik. Daher also die große Mannigfaltigkeit in den Formen der Götterdienste in verschiednen Ländern: die Prozessionen, Mysterien, Handlungen der Priester, Gebete der Opfernden, Götterbilder und -attribute, Lage und Gebräuche der Tempel, Blut und Farbe der Opfertiere – alles dies hat seine Gültigkeit je nach dem Gebrauch eines jeden Ortes, und oft erfahren wir durch Träume, Prophezeiungen und Orakel, daß die Gottheiten (d. h. Dämonen) zürnen, wenn in ihrem Dienst aus Nachlässigkeit oder Hochmut etwas versäumt wird.

Mit Ausnahme sehr weniger Gottesleugner, sagt Maximus von Tyrus, stimmt die ganze Menschheit in dem Glauben an einen Gott, den König und Vater aller, und an viele Götter, seine Kinder und Mitherrscher, überein: diese letzteren sind nicht dreißigtausend, wie Hesiod sagt, sondern zahllose, teils im Himmel die Naturen der Gestirne, teils im Äther die Existenzen der Dämonen. Teils sichtbar, teils unsichtbar nehmen diese göttlichen Wesen an der Herrschaft des höchsten Gottes teil; die ihm verwandtesten scharen sich gleichsam als seine Tisch- und Hausgenossen um seine Pforten und dienen ihm als Boten, andre sind Diener dieser, wieder andre noch geringer. So bildet eine ununterbrochen abgestufte Folge von übermenschlichen Wesen die Verbindung zwischen Menschheit und Gottheit, und die Untergötter (die Dämonen) vermitteln gleichsam als Dolmetscher zwischen der menschlichen Schwäche und der göttlichen Herrlichkeit. »Dies sind die, welche den Menschen erscheinen und zu ihnen reden und mitten unter ihnen verkehren und ihnen die Hilfe leisten, deren die menschliche Natur von den Göttern bedarf.« »Sie heilen Krankheiten, geben ihnen Rat in der Not, verkünden das Verborgene, sind Helfer bei der Arbeit, Geleiter auf dem Wege; die einen walten in den Städten, die andern auf den Fluren, diese zu Lande, jene auf dem Meere; andre als Schutzgeister einzelner Menschen; die einen schrecklich, die andern menschenfreundlich, dem bürgerlichen Leben oder dem Kriege zugewandt: so viele Naturen der Menschen, so viele gibt es auch der Dämonen.« Zu ihnen gehören namentlich die vom Leibe geschiedenen Menschenseelen, die ihre irdischen Neigungen und Beschäftigungen auch in jenem höheren Dasein nicht aufgeben wollen: so übt Asklepios noch immer die Heilkunde, verrichtet Herakles Taten der Kraft, Dionysos schwärmt, Amphilochus prophezeit, die Dioskuren fahren zur See, Minos richtet, Achilles waffnet sich. Maximus versichert, daß er die Dioskuren selbst gesehen habe, wie sie als leuchtende Sterne ein vom Sturm bedrängtes Schiff lenkten, und Asklepios nicht im Traume, sondern im Wachen. Daß Gegner des Christentums, wie der Platoniker Celsus, zwischen den Dämonen und den Engeln des christlichen und jüdischen Glaubens keinen Unterschied finden wollten, wird man hiernach völlig begreiflich finden.

So gewährte also die Dämonenlehre den Frommen die Möglichkeit, den Volksglauben im weitesten Umfange festzuhalten, ohne mit den Forderungen der Vernunft in Widerspruch zu geraten, und zwar im buchstäblichen Sinne festzuhalten, ohne jene (für Starkgläubige gewiß bedenklichen) gewaltsamen und künstlichen allegorischen Deutungen, deren sich der Stoizismus bediente: und auf diesem Umwege kehrte ein großer Teil der gebildeten Welt wieder zu jenen scheinbar durch die Kritik für immer beseitigten »Legenden und Wundergeschichten« zurück, deren nach Strabos Meinung nur die Massen und das weibliche Geschlecht bedurften. Daß eine solche Vermittlung der Volksreligion mit einer vernunftgemäßeren Gotteslehre gesucht und gefunden wurde, setzt, wie gesagt, eine gerade unter den philosophisch Gebildeten weit verbreitete, unzerstörbare Anhänglichkeit an die alten Götter voraus, eine tiefe Sehnsucht, in dem positiven Glauben der Vorzeit eine Befriedigung zu finden, den keine noch so erhabene Abstraktion gewähren konnte.

Der Gesamteindruck der griechischen und römischen Literatur des 2. Jahrhunderts, in der sich auch die religiösen Zustände der damaligen gebildeten Welt spiegeln, bestätigt dies durchaus. Unter den römischen Schriftstellern dürften Juvenal und der jüngere Plinius wie überhaupt, so namentlich in ihren religiösen Anschauungen der stoischen Lehre am nächsten gestanden haben, wofür bei Plinius auch ein sehr starker Glaube an Träume und Vorbedeutungen spricht. Von beiden wissen wir überdies, daß sie sich am Kultus beteiligten: Juvenal hat wahrscheinlich der in seiner Vaterstadt Aquinum verehrten Ceres (Helvina) zur Lösung eines Gelübdes eine Widmung dargebracht, Plinius zwei Tempel bauen lassen. Tacitus hat mit schweren Zweifeln gerungen, ohne doch (wie bemerkt) durch sie dem positiven Glauben völlig entfremdet zu werden. Suetons kindischer Vorbedeutungs- und Wunderglaube läßt über die Festigkeit seines Götterglaubens kaum einen Zweifel. Bei Gellius ist nach seiner ganzen Geistesrichtung und nach der seiner Lehrer in Griechenland ein streng konservatives Festhalten an der Tradition auch im Glauben mindestens als wahrscheinlich vorauszusetzen; bei Fronto, der während einer Krankheit der Faustina an jedem Morgen zu den Göttern betete und von ihnen Eingebungen in Träumen zur Heilung von der Gicht erbat und erhielt, sogar gewiß. Die Betrachtungen Marc Aurels atmen den Geist echter Frömmigkeit, die Schriften des Apulejus durchweht eine mystische Glaubensseligkeit, Aelian suchte für seine mit leidenschaftlichem Hasse gegen den Unglauben gepaarte wundersüchtige Strenggläubigkeit auch durch eigne Werke Propaganda zu machen.

Aber weit mehr als die römische trägt die griechische Literatur des 2. Jahrhunderts den Stempel einer Periode, deren geistige Zustände durch ein neu erwachtes religiöses Leben ganz eigentlich ihre Signatur erhielten. Mit Ausnahme Lucians steht von den griechischen Schriftstellern dieser Zeit nur Galen mit seinem an stoische Vorstellungen sich anlehnenden Pantheismus dem Volksglauben ganz fern; die Liebe, sagt er z. B., sei eine rein menschliche Affektion und werde nicht etwa von einem kleinen jugendlichen Dämon mit brennenden Fackeln bewirkt. Viel näher steht schon dem Volksglauben Dio von Prusa mit seinem zweifellosen Glauben an die Gottheit (wie es scheint, auch an Einzelgötter) und eine durch sie geübte Vorsehung; er war sogar überzeugt, daß die, welche über die göttlichen Dinge verwerfliche Meinungen hegen, notwendig ruchlos sein müssen. Auch Epictets Pantheismus nahm den Polytheismus in sich auf, und ebenso scheinen sich die religiösen Anschauungen seines Schülers Arrian an die Volksreligion angeschlossen zu haben. Alle übrigen stehen auf dem Boden eines ganz positiven Götterglaubens, wie verschieden er sich auch in der Auffassung jedes einzelnen gestaltete. Plutarch hielt es nicht für ratsam, nach Gründen des Glaubens an die Götter zu forschen; der alte und von den Vätern ererbte Glaube sei hinreichend als Grundlage für die Frömmigkeit; werde er irgendwo erschüttert und ins Schwanken gebracht, so sei sein fester Bestand ganz und gar in Frage gestellt. Auch hatte sein Wunderglaube kaum eine Grenze, wenn er gleich vor einem Übermaße der Leichtgläubigkeit warnt und Wunder wie das Schwitzen, Seufzen, Blutvergießen von Götterbildern sowie ihr Reden mit menschlicher Stimme halb rationalistisch zu erklären versucht. Doch sagt er, die göttliche Natur sei von der menschlichen so völlig verschieden, daß es nicht irrationell sei, ihr die Vollbringung des für Menschen Unmöglichen zuzutrauen. Die, wenn auch mit Bewußtsein erstrebte und künstlich festgehaltene, doch sicher aufrichtige Schlicht- und Altgläubigkeit des Pausanias, der unerschütterliche Wunderglaube des Artemidor, der krasse Supranaturalismus des Maximus von Tyrus, die bis zur Grenze des religiösen Wahnsinns gesteigerte Schwärmerei des Aristides – alle diese religiösen Richtungen kommen überein in dem Glauben an eine durch zahlreiche Einzelgötter wunderbar geübte Vorsehung. Und nur eine weite Verbreitung eines blinden Glaubens und kindischer Superstition konnte die religionsfeindliche Schriftstellerei etwa des Kynikers Oenomaus von Gadara, dessen »Schwindlerentlarvung« eine überaus scharfe und verächtliche Satire gegen Orakelglauben und Bilderdienst enthielt, und namentlich eines Lucian ins Leben rufen, deren unermüdliche, immer wiederholte Angriffe doch gewiß nicht für ein Fechten mit Schatten gehalten werden können. Noch weniger darf man daraus, daß Lucian keine Verfolgung erlitt, auf allgemeine Gleichgültigkeit gegen die von ihm verspottete Religion schließen. Wenn sein Spott auch ohne Zweifel das religiöse Gefühl der Gläubigen aufs tiefste verletzte, so konnte er doch selbst ihnen nicht so verdammenswert erscheinen, wie die Verspottung einer auf Offenbarung beruhenden Religion deren Gläubigen erscheinen muß: und im Heidentum gab es nicht bloß keine Dogmen, sondern auch keine Kirche, die zum Schutz des gefährdeten Glaubens hätte gegen dessen Angreifer einschreiten können. Parnys Götterkrieg, der in zynischer Verhöhnung des Heiligsten Lucians Göttergespräche ebenso weit übertrifft wie an Witz, ist allerdings vor der Restauration des Katholizismus in Frankreich erschienen (1799); aber auch später ist kein Versuch zu seiner Unterdrückung gemacht worden, sein Verfasser wurde (1803) Mitglied der französischen Akademie und ist gestorben (1814), ohne eine Verfolgung erlitten zu haben.

Auch die Kaiser des 2. Jahrhunderts haben sichtbar unter dem Einfluß der herrschenden geistigen Strömung gestanden und sie dann auch ihrerseits durch ihr Beispiel sowie durch ihre eifrige Fürsorge für den Kultus gefördert. Von Trajan rühmt Plinius, daß er nicht wie Domitian beanspruchte, gleich einem Gotte geehrt zu werden, daß er die Tempel der Götter nur betrat, um sie anzubeten. Hadrian bewies einen auch nach den hochgespannten Ansprüchen des Pausanias sehr großen Eifer in der Verehrung der Götter. Antoninus Pius ließ niemals ein Opfer durch einen Stellvertreter vollbringen, außer wenn er krank war, und ein ihm im Jahre 143 von Volk und Senat gesetztes Denkmal ist ihm »wegen seiner ungemeinen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit in bezug auf die Gebräuche der Staatsreligion« gewidmet. Marc Aurel strebte in allem, sich als Schüler seines Vorgängers zu bewähren; namentlich aber sollte dieser in seiner Frömmigkeit ohne Aberglauben sein Vorbild sein, damit er in seine letzte Stunde mit ebenso ruhigem Gewissen eintreten könne. Er selbst, der in einer Welt ohne Götter nicht leben wolle, scheint die Götter aller Nationen als gleich mächtig und gleich sehr der Verehrung würdig anerkannt zu haben. Beim Ausbruche des Markomannenkriegs ließ er Priester aus allen Ländern nach Rom kommen und fremde Gebräuche vollziehen und während des Kriegs einmal auf Veranlassung eines Orakels des Alexander von Abonuteichos zwei Löwen lebendig in die Donau werfen. Im Darbringen von Opfern war er so verschwenderisch, daß man einen Brief der weißen Rinder an ihn zirkulieren ließ: »Wenn du siegst, sind wir verloren.«

Die Natur des im 2. Jahrhundert neu erwachten religiösen Lebens muß hier durch einige für dasselbe besonders charakteristische Erscheinungen veranschaulicht werden, welche zugleich wohl die höchsten von der Steigerung der Glaubensstärke erreichten Grade erkennen lassen. Der Pränestiner Claudius Aelianus verfaßte an der Grenze des 2. und 3. Jahrhunderts in griechischer Sprache zwei Werke, von der Vorsehung und von göttlichen Erscheinungen, deren Tendenz wir aus zahlreichen Fragmenten kennen. Er führte den Beweis, »daß die unverständiger sind als Kinder, welche sagen, daß hienieden die Gottheit nicht die Vorsehung übe«, durch Erzählungen zahlreicher Wunder, Orakel und andrer unmittelbarer Offenbarungen der göttlichen Macht, hauptsächlich wunderbarer Belohnungen von Frommen und Gläubigen und wunderbarer und schrecklicher Bestrafungen von Gottesleugnern und Ungläubigen. Bei diesen Erzählungen fehlt es nicht an Apostrophen an die Religionsverächter, wie z. B.: »Was sagt ihr zu diesem, ihr, die ihr meint, daß die Vorsehung blind umhertappe oder nur eine Fabel sei?«, sowie an Äußerungen des Mitleids und Verwünschungen gegen die glaubensfeindlichen Philosophen: O ihr Xenophanes und Diagoras und Hippo und Epikuros und ihresgleichen, und die ganze übrige Zahl der unglückseligen und gottverhaßten Männer, fort mit euch!«

Die süßliche und salbungsvolle Sprache affektiert die fromme Einfalt einer guten alten Zeit; einige Proben werden eine hinreichende Vorstellung geben. Ein Mann Euphronios war ein unglückseliger Mensch und hatte Freude an dem Geschwätz des Epikuros, und aus selbigem zog er sich zwei Übel zu, gottlos und ruchlos zu sein. Dieser Mann verfiel in eine Krankheit, und von derselben (Lungensucht nennen sie die Söhne der Asklepiaden) arg gequält, verlangte er anfangs nach der ärztlichen Kunst der Menschen und suchte bei dieser Hilfe. Aber das Siechtum war gewaltiger als die Kunst der Ärzte. Als er nun bereits das Äußerste befürchtete, bringen ihn seine Angehörigen in den Tempel des Asklepios. Und da er eingeschlafen war, dünkte ihm, daß einer der Priester zu ihm sage, für den Mann gebe es nur einen Weg des Heils und ein Mittel gegen die ihn bedrängenden Übel, wenn er die Bücher des Epikuros verbrenne und die Asche dieser gottlosen, frevelnden und weibischen Bücher mit feuchtem Wachse knete, damit seinen Bauch und seine Brust bestreiche und alles mit Binden umwickle. Er aber bekannte alles, was er vernommen, seinen Nächsten, und jene waren sogleich großer Freude voll, daß er nicht als ein Verschmähter und Verachteter von dem Gotte sei verstoßen worden. So wurde der Gottesleugner bekehrt und fortan ein Muster der Frömmigkeit für andre. Wunderbare Heilungen sowohl von Frommen als von Gottlosen, die sich dann besserten, waren in diesem Buch in großer Anzahl erzählt, und erbauliche Betrachtungen daran geknüpft wie folgende: »Aristarchos von Tegea, der Tragödiendichter, verfiel in eine Krankheit, und Asklepios heilte ihn und befahl ihm, ein Dankopfer für seine Genesung zu bringen, und der Dichter brachte dem Gotte das nach ihm benannte Schauspiel dar. Wie könnte es aber geschehen, daß die Götter für die Gesundheit einen Lohn verlangten und annähmen, da sie uns ja doch das Größte mit menschenliebendem und gütigem Sinne umsonst gewähren, die Sonne zu schauen und an dem allgenügenden Glanz eines so großen Gottes ohne Entgelt teilzuhaben, und den Gebrauch des Wassers und die unzähligen Hervorbringungen und mannigfaltigen Hilfen des uns bei der Arbeit fördernden Feuers, und aus der Luft Nahrung für unser Leben in uns zu ziehen? Sie wollen also nur, daß wir auch in jenen geringeren Dingen nicht undankbar und uneingedenk seien, und machen uns auch dadurch besser.«

Bis zu welchem Grade kindischer Albernheit sich die Wundersucht dieser Glaubensrichtung verirren konnte, mag folgende Geschichte von einem tanagräischen Kampfhahne zeigen, der an einem Fuße verletzt war. »Der Hahn, wie mich dünkt, auf einen von Asklepios erhaltenen Antrieb, hüpfte auf einem Beine vor den Herrn, und da in der Frühe dem Gotte ein Lobgesang gesungen wurde, stellte er sich in die Reihe der Sänger, als wäre ihm von dem Leiter des Chors seine Stelle angewiesen, und versuchte, so gut er vermochte, sein Vogellied mitzusingen, harmonisch in den Gesang der andern einstimmend. Auf einem Beine aber stehend, streckte er das beschädigte und verstümmelte vor, als wollte er bezeugen und angeben, was er erduldet hatte. So sang er seinem Heilande, wie er es mit der Kraft seiner Stimme vermochte, und flehte, ihm den Gebrauch seines Fußes wiederzugeben.« Nach einer Offenbarung des Gottes wurde er dann geheilt, »und mit den Flügeln schlagend und weit ausschreitend und den Hals aufrichtend und den Kamm schüttelnd wie ein stolzer Krieger, bekundete er das Walten der Vorsehung über den unvernünftigen Kreaturen«. Den Erzählungen von dem Heil, das der Glaube brachte, standen (wie gesagt) Beispiele von den schrecklichen Folgen des Unglaubens und Frevels gegen die Götter gegenüber: wie ein Mann, der »mit lüsternem Auge« die Mysterien ansehen wollte, ohne eingeweiht zu sein, auf einen Stein stieg, von diesem herab und sich zu Tode fiel; wie ein Unglücklicher, dessen Seele von Epikuros' Lehre entnervt war, in den heiligen Raum des Tempels zu Eleusis eindrang, den nur der Hierophant betreten durfte, und zur Strafe von einer furchtbaren Krankheit befallen wurde und gräßliche Qualen litt, so daß er danach schmachtete, seine verfluchte Seele vom Leibe losreißen zu können, was ihm aber erst spät zuteil wurde; wie Sulla von Würmern (»andre aber sagen nicht von diesen, sondern von Läusen«), die aus seinem Leibe herausquollen, langsam aufgefressen wurde, weil er den Tempel der Athene zu Alalkomenä zerstört hatte; wie ein Bildhauer, »auf den Gewinn schauend und blind gegen die Frömmigkeit«, ein Götterbild schlechter ausführte, als er nach der erhaltnen Bezahlung gesollt hatte, unansehnlich, klein und aus schlechtem Marmor, dann aber dafür an seinem Leibe gestraft wurde, »und dies allen ein Beispiel und eine Lehre war, solches nicht zu wagen noch dergleichen Vorteil zu suchen«, usw.

Von demselben Verfasser haben wir eine »Geschichte der Tiere«, in welcher »die instinktive Sicherheit und Zweckmäßigkeit der niedern Organismen als die reinere Naturmanifestation den Menschen als moralisches Gegenbild vorgehalten wird«. Die Elefanten, so wird z. B. hier berichtet, beten die Sonne an, indem sie ihr bei ihrem Aufgange ihre Rüssel gleich Händen entgegenstrecken: die Menschen aber zweifeln, ob es Götter gibt, und wenn sie existieren, ob sie für uns Sorge tragen. Die Mäuse auf einer dem Herakles heiligen Insel im Schwarzen Meer berühren dort nichts, was ihm geweiht ist; wenn nun die zu seinen Opfern bestimmten Trauben reifen, verlassen sie die Insel, um der Versuchung, sie zu benaschen, zu entgehen, und kehren erst nach der Weinlese zurück. Hippo, Diagoras, Herostrat und die übrigen Götterfeinde würden freilich diese Trauben ebensowenig schonen, als was sonst den Göttern geweiht ist. In einem andern Buche preist Aelian die Barbaren, welche noch nicht durch Überkultur dem Glauben entfremdet sind wie die Griechen: bei den Indern, Kelten, Ägyptern gibt es keine Zweifler und Gottesleugner wie Euhemerus, Epikur, Diagoras usw.

Wenn die Schriften Aelians uns mit der extremsten und starrsten, in der Tat zelotischen heidnischen Orthodoxie bekannt machen, so besitzen wir in den Bekenntnissen eines Mannes, der von Mitwelt und Nachwelt zu den ersten geistigen Größen seiner Zeit gezählt wurde, des Rhetors P. Aelius Aristides, auch ein merkwürdiges Zeugnis, bis zu welchem Grade sich damals unter besonderen Einflüssen die religiöse Überspannung steigern konnte. Aristides, zu Hadriani in Bithynien ums Jahr 120 geboren, aus einer vornehmen und begüterten Familie, Sohn eines Priesters des Zeus, von Jugend auf kränklich, ergab sich früh mit leidenschaftlichem Eifer den Studien. Die nervöse Reizbarkeit seiner zarten Natur war durch ein Übermaß der Anstrengung wie durch die von dem Berufe eines Sophisten unzertrennlichen Aufregungen im höchsten Grade genährt und gesteigert, einem Berufe, der zugleich wie kein andrer geeignet war, die ihm angeborenen Eigenschaften des Ehrgeizes und der Eitelkeit aufs stärkste auszubilden. Im Jahre 145 ergriff ihn eine Krankheit, mit der er sich zehn Jahre schleppte, und über die er in den nach seiner Genesung (teilweise erst 20 Jahre nach dieser) verfaßten »heiligen Reden« aufs ausführlichste berichtet hat. In dieser Krankheit entwickelte sich auch seine schwärmerische Frömmigkeit, die sich je länger je mehr in einer immer ausschließlicheren Verehrung des Heilgottes Asklepios befriedigte, hinter dessen Bilde ihm die übrigen Götter mehr und mehr zurücktraten. Da er, um Heilung zu finden, jahrelang in den Tempeln dieses Gottes und mit dessen Priestern verkehrte, richteten sich allmählich seine Gedanken im Wachen und Träumen auf diesen Mittelpunkt; denn nach dem allgemeinen Glauben erteilte der Gott den Hilfesuchenden, die in seinem Tempel schliefen, Rat durch Eingebungen in Träumen, und die ganze Existenz des Aristides drehte sich nun um seine Träume, die ihm der Gott sämtlich aufzuschreiben befohlen hatte. Die Erfüllung dieses Befehls war für ihn eine heilige Pflicht, und er diktierte, wenn er zum Schreiben zu schwach war. Selbstverständlich befolgte er alle Vorschriften, die er in Träumen empfangen zu haben glaubte, auch die unsinnigsten, wodurch er wahrscheinlich seinen Zustand vielfach verschlimmerte; er sagt selbst, daß seine Schwächlichkeit mit dem Fortgange der Zeit immer zugenommen habe. Zuweilen glaubte er sich in einem Mittelzustande zwischen Schlaf und Wachen zu befinden, in dem er ein körperliches Gefühl von der Nähe des Gottes hatte, seine Haare sich sträubten, seine Augen sich mit Tränen der Wonne füllten, und er ein stolzes Schwellen des Bewußtseins empfand: ein Zustand, den niemand zu beschreiben vermöchte, die Eingeweihten verstehen und kennen es. Der Gott befahl ihm unter anderm auch, mitten im Winter bei Nordwind und Frost im Flusse zu baden. Doch nach dem Bade befand er sich wunderbar leicht und wohl, »in einer gleichmäßigen, nicht wie künstlich bewirkten, den ganzen Körper kräftigenden Wärme – es war eine unaussprechliche Wohlgemutheit, worin er alles dem gegenwärtigen Augenblicke nachsetzte und auch sehend nichts andres sah: so ganz war er bei dem Gott«. So unsäglich seine Leiden waren, so achtete er sie doch nicht wegen der Ehre, welcher der Gott ihn gewürdigt hatte; wer diese ermesse, werde ihn viel mehr beglückwünschen, als wegen seiner Leiden bedauern.

Wenn auch die Schwärmerei des Aristides im innigsten Zusammenhange mit der Überspannung seines Hochmuts steht, und diese, nicht die Versenkung in das Göttliche, ihre Grundstimmung ist, so erinnern seine Berichte doch in mehr als einer Beziehung an Bekenntnisse christlicher Pietisten, sowohl durch die unaufhörliche Selbstbeobachtung, Selbststeigerung und Selbsttäuschung, wie durch das Bewußtsein, einer besondern Begnadigung gewürdigt, ein Auserwählter der Gottheit zu sein, und die notwendig damit verbundne geistliche Überhebung. In einem Traume sah er das Bild des Gottes mit drei Köpfen und von feuriger Lohe umgeben, außer den Köpfen. Allen andern Betern winkte der Gott hinauszugehen, ihn hieß er bleiben. Aristides rief entzückt: Einziger! den Gott meinend. Dieser erwiderte: Bist's! »Dies Wort, o Herr Asklepios, ist besser als das ganze menschliche Leben, geringer als dies ist die ganz Krankheit, geringer als dies aller Dank; dies hat gemacht, daß ich ebensowohl kann als will.« »Auch ich«, sagt er an einer andern Stelle, »war unter denen, welchen durch die Gnade des Gottes, nicht zweimal, nein vielmal in mannigfacher Gestalt ein neues Leben geschenkt worden war, und welche die Krankheit deshalb für heilsam erachten.« Für das, was ihm der Gott gewährt hatte, mochte er nicht die ganze, unter Menschen so genannte Glückseligkeit eintauschen.

Mit der Überzeugung, ein Auserwählter zu sein, stand bei Aristides in Wechselwirkung der Hang, die Hand der Gottheit überall zu erkennen, die Sucht, auch in alltäglichen Ereignissen besondre Fügungen und Wunder zu sehen. Auf Schritt und Tritt glaubte er von dem Gotte geleitet zu werden, fortwährend wird er von ihm gerufen, geschickt, zurückgehalten, und erhält seine Befehle, Aufträge und Verbote. Bei dem Erdbeben, das Smyrna zerstörte, war es der Gott, wie er an die beiden Kaiser schrieb, der ihn aus der Stadt forttrieb und an einen Ort brachte, wo er verschont blieb. Er rettete seine alte Amme Philumene, die Aristides über alles liebte, unzählige Male wider Erwarten und auch aus einer Krankheit. Als eine andre Philumene, die Tochter seiner Milchschwester Kallityche, starb, offenbarte ihm ein Traum, daß sie ihre Seele und ihren Leib für sein Leben hingegeben habe. Auch deren Bruder Hermias war »sozusagen beinah für ihn gestorben«; dieser, der liebste seiner Pfleglinge, starb nämlich, wie Aristides später erfuhr, an demselben Tage, wo er (ein Jahrzehnt nach dem Ende der 10jährigen Krankheit) von einem Anfalle der großen (durch das Heer des Verus in den Westen eingeschleppten) Epidemie genas. »So hatte ich die Zeit bis dahin als Geschenk von den Göttern und erhielt hierauf unter göttlicher Hilfe ein neues Leben, und dies war gleichsam die Gegengabe dafür.« Damals hatte ihn »der Heiland (Asklepios) und die Herrin Athene sichtbarlich gerettet«; die letztere war ihm in der Gestalt der Statue des Phidias erschienen, ein süßer Duft strömte von ihrer Ägis aus, er allein sah sie und rief es zwei anwesenden Freunden und seiner Amme zu, welche glaubten, er deliriere, bis sie die von der Göttin ausgehende Kraft erkannten und die Reden vernahmen, die er von ihr vernommen hatte. Mönche, die im Mittelalter die Reden des Aristides lasen, haben hier und da in Randbemerkungen ihrem Unwillen über die Torheit, ja Verrücktheit dieses Menschen Ausdruck gegeben, »der noch dazu den Ruf eines Weisen hatte« und dennoch sich so kindischen Einbildungen hingeben konnte.

Die Tatsache einer solchen religiösen Reaktion gegen die Einflüsse der Kritik und Philosophie, einer so völligen Wiederherstellung des positiven Götterglaubens auch im Bewußtsein der Gebildeten, wie sie die bisher geschilderten (und andre noch zu erwähnende) Erscheinungen beweisen: diese Tatsache zeigt, daß jene Klagen über den vermeintlichen Verfall des Glaubens nur durch oberflächliche, auf gewisse Gebiete beschränkte Zeitströmungen veranlaßt waren, die dann von einer mächtigen Gegenströmung rückwärts gestaut wurden. Daß aber die religionsfeindlichen Stimmungen und Richtungen selbst in der Zeit ihrer größten Stärke jemals außerhalb der engbegrenzten Kreise der Gebildeten sich verbreitet haben, dafür spricht nichts. Vielmehr sind sie in die Massen allem Anschein nach ebensowenig jemals tiefer eingedrungen, wie die antichristliche Literatur des 18. Jahrhunderts auf den christlichen Glauben der europäischen Bevölkerungen im großen und ganzen einen nachweisbaren Einfluß geübt hat.

Von jenen monotheistischen, pantheistischen und atheistischen Weltanschauungen, deren Anhänger in der Literatur des 1. Jahrhunderts so laut das Wort führen, blieb der Glaube des Volks an die alten Götter, der mit unzähligen Wurzeln in dem geistigen Leben von Millionen festgewachsen war, unberührt, oder doch unerschüttert. Trotz aller Veränderungen und Entwicklungen, trotz aller Verluste, Trübungen und Erweiterungen bestand er fort und stellte sich in seinen beiden Hauptformen immer von neuem her, von denen die eine, in den östlichen Ländern herrschende, sich innerhalb der griechischen Welt entwickelt hatte, die andre, im Westen und Norden (soweit der Einfluß der römischen Kultur reichte) verbreitete, aus einem Jahrhunderte dauernden Mischungs- und Verschmelzungsprozeß griechischer und italischer Elemente hervorgegangen war. In beiden Formen behauptete sich der Götterglaube dem ihn (zuletzt mit erdrückender Macht) bekämpfenden Christentume gegenüber fast ein halbes Jahrtausend. Ein so langer Widerstand beweist schon allein die noch ungeschwächte Lebenskraft des alten Glaubens. Nicht minder bewährte er diese in der Aufnahme und Assimilation zahlreicher heterogener, ja entgegengesetzter religiöser Elemente, die dennoch nicht vermochten, sein Wesen zu verändern, seine Auflösung und Zersetzung herbeizuführen. Endlich erwies er sich auch durch eine noch immer schöpferische Produktivität als eine lebendige Macht.

Zwar ist die massenhafte Aufnahme heterogener religiöser Elemente bisher allgemein zugleich als Symptom und als Ursache des Verfalls der römisch-griechischen Religion angesehen worden: aber diese Ansicht würde nur dann berechtigt sein, wenn sich nachweisen ließe, daß der Glaube an die alten Götter durch die Verehrung der fremden aufgehoben, erschüttert oder in seinem innersten Wesen umgestaltet worden sei. Nichts von alledem ist erkennbar. Daß eine Vermehrung der Gottheiten eines polytheistischen Systems schon an und für sich eine Abnahme des Glaubens oder eine Schwächung seiner Intensität voraussetze, wird ebensowenig jemand behaupten, wie daß die neuen Kanonisationen der katholischen Kirche durch ein Schwinden des Glaubens an die alten Heiligen veranlaßt werden oder daß sie diesen Glauben beeinträchtigen können. Nun besteht aber allerdings zwischen den orientalischen und den griechisch-römischen Kulten ein so tiefer Gegensatz, daß eine Verbindung beider schwer begreiflich erscheint. Für unser Gefühl stehen jene fremdartig und seltsam, zum Teil ungeheuerlich neben diesen, und noch tiefer erscheint uns der Gegensatz der Religionsanschauungen, auf denen hier und dort die Kulte und Gebräuche beruhen. Die düsteren, trauer- und geheimnisvollen Zeremonien, die schwärmerische Ekstase, die Selbstentäußerung und schrankenlose Hingebung an die Gottheit, die Entsagung und Buße als Bedingung der Läuterung und Weihe: alle diese Elemente sind ja dem römischen und griechischen Glauben ursprünglich ebenso fremd wie im tiefsten Westen der morgenländischen Religionen begründet. Im schroffsten Gegensatz dazu tritt uns, als dem griechischen und römischen Glauben und Kultus eigentümlich, feste Umgrenzung des Gottesbegriffs, klare Anschauung der Götterwelt, ein maßvolles und vertrauendes, selbst genau geregeltes Verhältnis der Gläubigen zur Gottheit, allgemeine Zugänglichkeit sowie anspruchslose Einfachheit und festliche Heiterkeit des Gottesdienstes entgegen. Dennoch sind von den Gläubigen des römischen und griechischen Altertums diese so tiefen inneren Gegensätze zu keiner Zeit als ein absolutes Hindernis der Verschmelzung empfunden worden. Orientalische Elemente sind bekanntlich in die griechische Region sehr früh, in die römische mindestens seit dem zweiten punischen Kriege eingedrungen. Wenn dies aber schon bei oberflächlichen Berührungen der Nationen geschehen konnte, so mußte ihre innige Verschmelzung und Vereinigung im römischen Universalreich auch ohne irgendwelche Änderung in der Natur und Stärke des Glaubens sogar notwendig die Göttermischung im weitesten Umfange zur Folge haben. Die Götterwelt war und blieb von der ersten bis zur letzten Zeit des Heidentums den Gläubigen ein nur sehr unvollkommen bekanntes, weil durch keine Offenbarung erschlossenes Gebiet, und der Glaube, daß es die verschiedenartigsten Gestalten und Erscheinungen in sich fassen könne, war um so natürlicher, als das Vermögen, jede Gestalt anzunehmen, ja recht eigentlich zum Wesen der Gottheit gehörte. Zu dieser grenzenlosen Expansivität des antiken Polytheismus kam aber noch die Tendenz, in den fremden Gottheiten die eigenen wiederzufinden, deren Stärke ja schon bei Herodot so erstaunlich groß ist; eine Tendenz, welche die Frommgläubigen so völlig beherrschte, daß sie sie nur das wirklich oder scheinbar Gleichartige in den verschiedenen Religionen gewahr werden ließ und sie auch gegen die schärfsten und grellsten Gegensätze völlig blind machte.

Wenn es nun im Wesen des antiken Polytheismus von jeher gelegen hat, eine Ergänzung der eignen noch unvollkommnen Gotteserkenntnisse auch in den Kulten fremder Nationen zu suchen; wenn in Griechenland wie in Rom völlig heterogene Götterdienste schon in Zeiten Aufnahme gefunden haben, für welche die ungeschwächte Kraft des Glaubens an die Landesgötter gar nicht in Zweifel gezogen werden kann: so ist der Grund, daß dies im früheren Altertume sparsamer geschah, offenbar nicht in der damals größeren Stärke des vaterländischen Glaubens zu suchen, sondern in dem geringeren Verkehr der Völker. Je mehr dieser wuchs, desto mehr steigerte und vervielfachte sich auch der Austausch der Kulte. Mit der Bildung des römischen Universalreichs trat die antike Welt und ihr Polytheismus in seine letzte Phase. Ein jahrhundertelang fortwährendes Wandern, Ziehen, Herüber- und Hinüberströmen der Bewohner dieses ungeheuren Ländergebiets führte eine beispiellose Mischung und Durcheinanderwirrung der Rassen und Nationen und damit auch der Religionen und Kulte herbei. Von der Themse bis zum Atlas, vom Atlantischen Meer bis zum Euphrat wohnten nun in allen Provinzen auch Anbeter der Isis und des Osiris, der Baak, der Astarte, des Mithras, die für ihre Götter geflissentlich oder durch ihr Beispiel Propaganda machten: und so gewannen diese und andre fremde Gottheiten unter verschiednen Namen zahllose neue Gläubige. Die Missionare ihrer Religionen waren die überall im römischen Reich, besonders in den See- und Handelsstädten angesiedelten (namentlich syrischen) Kaufleute, die Soldaten und Offiziere (vor allem die so viel umhergeworfenen Centurionen), besonders an den Grenzen und in der Hauptstadt, endlich die Sklaven und Freigelassenen in den römischen Palästen, auf den Latifundien und in den Provinzen als subalterne Angestellte der Staatsverwaltung. »Aber zur offiziellen Aufnahme in die Staatsreligion ist, soviel wir sehen können, vor dem Beginne des dritten Jahrhunderts nur ein einziger der orientalischen Fremdkulte gelangt, der Gottesdienst der Isis, der zu Anfang der Regierung des Caligula einen Staatstempel auf dem Marsfelde erhielt.« Auch die privaten Heiligtümer der landfremden Gottheiten der östlichen Reichshälfte blieben von dem geheiligten Bezirk des Pomöriums ausgeschlossen oder gar noch weiter von der Stadtgrenze ferngehalten; »gefallen ist diese Schranke erst gleichzeitig mit der Scheidung von cives Romani und peregrini im römischen Reich, und es ist kein Zufall, daß Caracalla, der das römische Bürgerrecht an alle freien Reichsangehörigen verlieh, auch derjenige war, der den großen Staatstempel des Serapis auf dem Quirinal erbaute und damit den fremden Göttern die Pomöriumsgrenze öffnete. Seitdem strömen die Gottheiten aller Provinzen in Rom als dem templum mundi totius zusammen, und es ward das Wort zur Wahrheit, daß die übrigen Völker jedes seinen besonderen Gott verehrten, die Römer aber alle Gottheiten der Welt insgesamt«.

Wenn nun auch unzweifelhaft in sehr vielen einzelnen Fällen die neuen Kulte die alten in den Hintergrund drängten, so konnten solche lokale oder individuelle Bevorzugungen einzelner Gottheiten doch ebensowenig auf die Dauer den Bestand des Glaubens im großen und ganzen alterieren, wie es von jeher der Fall gewesen war. Und auch die einzelnen, die doch in der Regel nicht die ganze Götterwelt mit ihrer Verehrung zu umfassen strebten, sondern diese mehr oder weniger ausschließlich auf einzelne Gottheiten richteten, konnten die vaterländischen Kulte sehr wohl mit den ausländischen verbinden, ohne daß diese jenen Eintrag taten. Domitian war ein Verehrer der Isis und des Sarapis, denen er zu Rom Tempel baute; selbst an seiner Tafel fielen nach Plinius »Verrichtungen ausländischer Superstition« seinen Gästen auf. Nichtsdestoweniger hielt er sogar mit grausamer Strenge darauf, daß die Heiligkeit des überlieferten Gottesdienstes nicht ungestraft verletzt würde, und Martial rühmt, daß unter seiner Herrschaft »den alten Tempeln« ihre Ehre gewahrt worden sei; er selbst verehrte vor den andern, namentlich auch den kapitolinischen Gottheiten Minerva »in superstitiöser Weise«. Die Vermischung griechisch-römischer und fremder Kultformen hat sogar zuweilen besonders abgeklärte und hochstehende Religionsanschauungen gezeitigt. So zeigt das inschriftlich erhaltene Statut eines Privatheiligtums zu Philadelphia in Lydien, als dessen Hüterin die phrygische Agdistis, eine Erscheinungsform der vorderasiatischen Großen Mutter, genannt wird, während die Altäre den griechischen Gottheiten Zeus, Hestia und einer Reihe von Personifikationen segensreicher und sittlicher Mächte geweiht sind, in den Zulassungsvorschriften ein außergewöhnlich starkes Hervortreten moralischer Gesichtspunkte, so daß geradezu die sittliche Hebung aller Beteiligten als die Aufgabe des Gottesdienstes erscheint.

Mit den fortwährenden Umbildungen der religiösen Zustände hat auch fortwährend der Begriff »Superstition« gewechselt: worunter ein hauptsächlich auf übertriebener Gottesfurcht beruhender Irrglaube, namentlich aber Abgötterei und Verehrung fremder, vom Staate nicht anerkannter, weil seiner Anerkennung unwürdiger Gottheiten verstanden wurde. Zu allen Zeiten muß hiernach der Begriff der Superstition nicht bloß überhaupt ein relativer, sondern auch nach individueller Auffassung unendlich verschiedener gewesen sein. Die Dienste der ägyptischen Gottheiten verbot im Jahre 59 v. Chr. der Senat als »schändliche Superstition« und ließ ihre Altäre umstürzen; aber dies Verbot fruchtete ebensowenig wie das in den Jahren 53, 50 und 48 wiederholte Einschreiten gegen dieselben Kulte, die in jener Zeit schon bis auf das Kapitol vordrangen, ihre Verweisung aus Rom durch Agrippa 21 v. Chr. und die Verfolgung ihrer Anhänger unter Tiberius im Jahre 19 n. Chr. Caligula erbaute 38 im Marsfelde den großen Tempel der Isis Campensis. Allmählich verlor sich auch die Erinnerung, daß diese Götter jemals als den römischen Gottheiten nicht ebenbürtig gegolten hatten. Minucius Felix nennt ihren Kult geradezu einen einst ägyptischen, jetzt römischen.

Ganz ebenso wie die ägyptischen Götterdienste haben auch eine Anzahl andrer orientalischer Kulte anfangs als Superstition in allgemeiner Verachtung gestanden und sind dann allmählich in immer weiteren Kreisen als gleichberechtigt mit den einheimischen und seit unvordenklicher Zeit überlieferten anerkannt worden. Die Dauer des Zeitraums, innerhalb dessen ein solcher Prozeß sich vollzog, hing im einzelnen Falle ohne Zweifel von den verschiedensten, zum Teil allerdings unberechenbaren Einflüssen ab: aber in erster Linie doch ganz sicherlich davon, ob die Berührungen mit den Anhängern der fremden Religion innige, fortwährende und massenhafte waren oder nicht.

Immerhin mögen manche Kulte deshalb länger für superstitiös gegolten haben, weil ihre Gebräuche besonders fremdartig und seltsam, abstoßend oder lächerlich erschienen. Plutarch, der alle Seltsamkeiten des ägyptischen Gottesdienstes ehrwürdig fand, verachtete eine Menge asiatischer Kultgebräuche als superstitiös, namentlich das Beschmieren mit Kot, Sabbatfeiern, Niederwerfen aufs Angesicht und andres »lächerliche Tun und Leiden, Reden und Gebärden der Götterfurcht, ihre Gaukeleien und Zaubereien, das Herumlaufen, Paukenschlagen, unreine Reinigungen, schmutzige Kasteiungen, barbarische und gesetzwidrige Strafen und Beschimpfungen bei den Tempeln«. Zu dieser verschiedenen Auffassung wirkte doch wesentlich mit, daß eine jahrhundertealte Gewöhnung den ägyptischen Kulten das Fremdartige genommen hatte, das jenen andern noch anhaftete; und allem Anscheine nach hat sich überhaupt die Auffassung eines fremden Kults als verächtlicher Superstition oder ehrwürdiger Religion wesentlich dadurch mitbestimmt, ob er seit langer oder seit kurzer Zeit bekannt war. Augustus verehrte nach Sueton von den fremden Kulten die alten und anerkannten (wie die eleusinischen Mysterien) aufs frömmste, die übrigen behandelte er mit Verachtung. Wenn jedoch Sueton zu den von ihm geringgeschätzten Kulten auch den jüdischen zählt, so hat er sich im Irrtum befunden. Augustus sandte nicht bloß (wie auch Livia) kostbare Weihgeschenke für den Tempel nach Jerusalem, sondern stiftete auch ein täglich dort in seinem Namen darzubringendes Brandopfer von zwei Widdern und einem Stier, dessen Abschaffung vor dem Ausbruche des jüdischen Kriegs der erste Akt offener Auflehnung gegen Rom war.

Übrigens mag auf die Beurteilung der ausländischen Gottesdienste in Rom auch das größere oder geringere Ansehen der Völker, denen diese angehörten, einen gewissen Einfluß geübt haben. Wenigstens den Kultus eines fernen, unbekannten Barbarenvolkes konnten aufgeklärte Römer unbedenklich verhöhnen. Ein Veteran, der Augustus zu Bononia bewirtete, antwortete auf dessen Frage, ob es wahr sei, daß der erste Plünderer des Tempels der (persischen, in Armenien, Cappadocien, Medien verehrten) Göttin Anaitis erblindet und gelähmt gestorben sei: er sei es selbst, sein ganzes Vermögen rühre von dem Raube her, und Augustus speise soeben von einem Beine der Göttin. Aber mit der zunehmenden Mischung der Nationalitäten im römischen Reiche erweiterten sich fortwährend die Kultgebiete der fremden Gottesdienste, und wurde in gläubigen Kreisen die Zahl derer, die als Superstitionen galten, immer kleiner. Obwohl die Göttermischung erst im 3. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, war sie doch bereits um die Mitte des 2. sehr weit vorgeschritten. Noch Hadrian, der für die römischen und griechischen Kulte aufs eifrigste sorgte, »verachtete die fremden«: welche, wird freilich nicht gesagt, keinesfalls sind wohl die ägyptischen dazuzurechnen. Doch in der Zeit Marc Aurels, der bei dem allgemeinen Schrecken des markomannischen Kriegs Priester aus allen Ländern kommen, fremde Kultgebräuche vollziehen und die Stadt Rom mit allen Arten religiöser Zeremonien sühnen ließ, war die Grenze zwischen fremder Superstition und einheimischer Religion in Italien wie in Griechenland schon größtenteils verwischt.

Den Spott der Ungläubigen forderte freilich der immer wachsende, immer bunter gemischte »Haufe der Götter« je länger, je mehr heraus. Lucian hat die gemischte Gesellschaft dieser Götterwelt wiederholt zum Gegenstand seines Witzes gemacht. In einer Götterversammlung soll Hermes auf Zeus' Befehl die Götter nach dem Kunstwert und der Kostbarkeit ihrer Bildsäulen ordnen, darum wird den goldnen vor den marmornen der Vorzug eingeräumt, und so kommt es, daß Bendis, Anubis, Anis, Mithras und der phrygische Mondgott die obersten Plätze erhalten; bei einer Göttermahlzeit dagegen werden Attis und Sabazius, »die zweifelhaften und aus der Fremde zugezogenen Götter«, untenan neben Pan und die Korybanten gesetzt. Ein andermal gehen die Götter zu Rat über die Menge neuer Eindringlinge von zweifelhafter Berechtigung. Momos meldet sich zum Worte und äußert sich über die orientalischen Gottheiten. Mithras in medischem Kaftan und Tiara gehöre nicht in den Olymp, er könne nicht einmal Griechisch und verstehe nicht, wenn man ihm zutrinke. Noch weniger seien die Ägypter zu dulden: der hundsköpfige, bellende, in feine Leinwand gekleidete Anubis, der Orakel erteilende Stier Apis, und vollends die Ibisse, Affen und Böcke. Momos stellt daher den Antrag: in Erwägung, daß sich viele unberechtigte, kauderwelschende Leute unter die Götter eingedrängt haben, Ambrosia und Nektar auszugehen anfängt, und das Maß bei der starken Nachfrage bereits auf eine Mine gestiegen ist, ferner die Fremden sich unverschämt vordrängen und die alten Götter ihrer Plätze berauben, eine Kommission von sieben vollberechtigten Göttern einzusetzen, welche die Legitimation jedes einzelnen prüfen soll. Zeus bringt diesen Antrag nicht zur Abstimmung, da er voraussieht, daß die Majorität dagegen sein würde, erhebt ihn aber ohne weiteres zum Beschluß und weist die sämtlichen Götter an, sich zu der bevorstehenden Prüfung die nötigen Nachweise zu verschaffen, wie Namen der Eltern, Angabe, woher und auf welche Weise sie Götter geworden seien usw.

Man glaubt häufig, daß die Empfindung, aus der dieser Spott hervorging, die Empfindung des Widerspruchs, ja des Unsinns in der Vermischung ganz heterogener Kulte, wenigstens unter den Gebildeten der damaligen Welt notwendig verbreitet gewesen sein müsse: aber es gibt weder dafür ein Zeugnis, noch berechtigt die Natur der religiösen Zustände des Universalreichs, wie sie bisher geschildert worden sind, zu dieser Annahme. Der Eindruck, den ihre Betrachtung auf uns macht, fällt nur darum völlig mit dem Eindrucke zusammen, den Lucian und seinesgleichen empfingen, weil sie diesen Erscheinungen ebenso völlig unbeteiligt gegenüberstanden wie wir; weil auch für sie griechische und barbarische Götter gleich wenig Realität hatten und die Freiheit ihrer Kritik diesen Ausgeburten der mythenbildenden Substanz gegenüber eine völlige und unbedingte war. Aber eben nur die Ungläubigen empfanden und urteilten so, und diese waren allem Anschein nach selbst unter den Gebildeten nur eine Minorität.

Wie wenig aber unter den Gläubigen selbst die Gebildetsten durch die Theokrasie in ihrem nationalen Glauben beirrt wurden, zeigt vor allem die religiöse Anschauung Plutarchs. Auch er, der Priester des pythischen Apollo, war ein nicht minder inniger Verehrer der ägyptischen Götter als der griechischen. In der an eine hochgebildete Isispriesterin zu Delphi gerichteten Schrift über Isis und Osiris erklärt er, daß die Götter überall dieselben seien, dienende Kräfte einer höchsten weltregierenden Macht, die nur jedes Volk mit andern Namen benenne und auf andre Weise verehre. So sei auch Isis samt ihren Mitgottheiten von jeher allen Menschen bekannt gewesen, wenngleich ein Teil derselben sie erst vor kurzem bei ihrem ägyptischen Namen nennen gelernt habe: übrigens hielt Plutarch auch diese Namen für ursprünglich griechische, durch griechische Einwandrer nach Ägypten übertragene; und wenn Hesiod außer dem Chaos Eros, Erde und Tartarus als die ersten Dinge setze, scheine er Osiris, Isis und Typhon gemeint zu haben. Der Ursprung der Lehre, daß die Welt weder von blindem Ungefähr noch von einer höchsten Vernunft allein beherrscht werde, sondern von vielen aus gut und böse gemischten Mächten, sei unbekannt und verliere sich im Dunkel; aber sowohl ihr Uralter als ihre übereinstimmende Überlieferung bei Philosophen, Dichtern, Theologen und Gesetzgebern, in Mysterien und Kultgebräuchen, bei Barbaren und Hellenen, sei ein schwerwiegender Beweis für ihre Wahrheit. Osiris und Isis sind gute Mächte, Typhon eine böse; darüber herrschte allgemeine Übereinstimmung, aber über ihr eigentlichstes Wesen waren die theologischen Spekulationen zu den verschiedensten Resultaten gelangt. Osiris erklärten die einen als den Nil, andre als das Prinzip der Feuchtigkeit überhaupt, andre als Bacchus, wieder andre als die Welt des Monds, des freundlichen, befruchtenden, feuchten Lichts: keine von diesen Deutungen treffe das Richtige, meint Plutarch, aber wohl alle zusammen. Ihn schreckten die Rätsel der ägyptischen Theologie, die, wie er glaubte, durch die Reihen der Sphingen vor den Tempeln angedeutet waren, nicht ab; sie reizten ihn nur um so mehr zur Erforschung ihres wahren Inhalts; diese mahnt er mit zugleich frommem und philosophischem Sinne vorzunehmen, nichts sei der Gottheit gefälliger, als wenn man zu richtiger Erkenntnis ihres Wesens gelange. So war er imstande, sich mit den widerlichsten ägyptischen Legenden und den seltsamsten dortigen Gebräuchen, namentlich der Tierverehrung, zu befreunden; auch für die Trauerfeste weiß er Analogien im griechischen Kultus und in der Form und den Verzierungen des bei den religiösen Zeremonien vielgebrauchten Klapperblechs (Sistrum) eine tiefe Symbolik zu entdecken. Aber diese Versenkung in die Monstrositäten des ägyptischen Glaubens und Kultus hat auf Plutarchs Verhältnis zu den nationalen Gottheiten auch nicht den geringsten Einfluß geübt, deren Persönlichkeiten ihm nicht nur völlig lebendig, sondern auch völlig die alten blieben. Sein Glaube an sie war zwar ein andrer als der des Herodot, aber schwerlich ein minder starker oder inniger.

Wenn nun im Bewußtsein der Gebildeten die fremden Götter neben den einheimischen Raum finden konnten, ohne den Glauben an diese zu beeinträchtigen oder umzugestalten, so muß es um so mehr in dem Bewußtsein der Massen der Fall gewesen sein, die in der gleichzeitigen Verehrung der heterogensten Gottheiten einen Widersinn noch weniger empfanden. So unzerstörbar war die Lebenskraft der alten griechisch-römischen Götter, daß ihre Gestalten aus allen Vermischungen und Trübungen sich doch immer von neuem herstellten, daß sie von ihrer Persönlichkeit nichts einbüßten. Schon deshalb haftete der Glaube an sie so tief in den Seelen der Menschen, weil er mit so vielen Wurzeln im Staatskultus, in der Kunst, der Poesie, der Schule, der ganzen Kultur festgewachsen war und aus allem diesem immer neue Nahrung zog. Die Menge, sagt z. B. Pausanias, glaubt, was sie von Kindheit auf in Chören und Tragödien gehört hat.

Aber noch mehr, sie waren auch unter allen Göttern der Welt die menschlichsten, und das menschliche Herz fühlte sich zu ihnen am unwiderstehlichsten hingezogen. Nicht sie verwandelten sich in der Phantasie der Gläubigen in die fremden Götter, sondern diese nahmen vielmehr mehr oder weniger von der Persönlichkeit der griechisch-römischen an, großenteils auch deren Namen. Der Mithras und Elagabal von Emesa wurden den Römern zum Sol, die Tanit von Karthago bald zur »himmlischen Jungfrau«, bald zur »himmlischen Juno«, die Götter von Heliopolis und Doliche zum Juppiter. Ebenso erhielten in Palästina und den angrenzenden Gebieten die philistäischen, phönizischen und sonstigen Gottheiten Gestalt und Namen griechischer Götter: der Marnas von Gaza (ein Regen und Fruchtbarkeit spendender Höhengott) wurde den dortigen Occidentalen zum Zeus, der Aumu der Trachonitis zum Helios, der Dusares der Nabatäer, als dessen jungfräuliche Mutter ein Steinblock in Petra verehrt wurde, zum Dionysos, die edessenischen Götter Azizus und Monimus zu Ares und Hermes. Die Bewohner der ehemals phönizischen Gebiete des römischen Afrika beteten zu dem gräßlichen, wie es scheint, bis ins 2. Jahrhundert öffentlich und, wie Tertullian behauptet, im geheimen auch noch später mit Kinderopfern verehrten Moloch, als zu »dem erhabenen Geber der Früchte Saturnus« oder dem »unüberwindlichen Gotte Saturnus«.

Wenn nun der griechisch-römische Polytheismus noch die Kraft besaß, die uralten Götter der alten Kulturländer des Orients trotz ihrer Fremdartigkeit sich anzueignen, so mußte sich derselbe Prozeß bei den rohen und obskuren Göttern der halb oder ganz unzivilisierten Länder vollends ohne Schwierigkeit vollziehen. Zahlreiche Denkmäler in Britannien, Germanien, Gallien, Pannonien, Spanien, Afrika zeigen, daß die dortigen römischen Ansiedler, Beamten, Kaufleute, Soldaten sich an den Kulten der Lokalgottheiten eifrig beteiligten. Auch Augustus gelobte und erbaute während eines Aufenthaltes in Gallien dem dortigen Windgotte Circius, als dem Herrn und Sender von Stürmen, die zwar Verwüstungen anrichteten, aber auch die Luft reinigten (wohl dem Mistral der Provence), einen Tempel. Der Konsul A. Fabricius Vejento (unter Nerva oder Trajan stiftet zusammen mit seiner Gattin der keltischen Göttin Nemetona in ihrem bei Mainz gelegenen Heiligtume eine Weihegabe, von der das Bronzetäfelchen noch erhalten ist; ein Altar der batavischen Göttin Vagdavercustis in Köln rührt von einem römischen Gardepräfekten des 2. Jahrhunderts her. Nur noch ein charakteristisches Beispiel aus späterer Zeit (Ende des 3. Jahrhunderts) sei hier angeführt: ein römischer Statthalter des östlichen Mauretanien stattet in einer Inschrift seinen Dank für die Vernichtung eines dortigen Stammes, die Wegführung seiner Familien in die Gefangenschaft und die gemachte Beute nicht einem römisch-griechischen Gotte ab, sondern »den einheimischen und den maurischen Göttern, den staatserhaltenden«. Diese Kulte gewannen selten über das Gebiet ihrer Provinz oder Landschaft hinaus Verbreitung, wenn sie gleich ohne Zweifel von vielen einzelnen auch außerhalb desselben beibehalten oder angenommen wurden: wie z. B. Caracalla neben Aesculap und Sarapis auch zu dem keltischen, mit Apollo indentifizierten Gotte Grannus um Gesundheit betete.

Noch einige Beispiele mögen zeigen, wie die Soldaten durch Festhalten an den Kulten ihrer Geburtsländer zu deren Verbreitung beitrugen. Ein aus Dalmatien gebürtiger Legat von Numidien und designierter Konsul errichtete im Jahre 167 im Aesculaptempel zu Lambäsis eine Statue seines Landesgottes Medaurus (zu Pferde, eine Lanze schwingend). Ein Veteran in einer andern Stadt Numidiens (Thubursicum) empfiehlt seinen Sohn der Noreja, einer Landesgöttin von Noricum, von wo die schon vor dem Sohne gestorbene Mutter stammte. In jeder Garnison werden sich Landsleute zur Verehrung der heimischen Gottheiten vereinigt haben. So scheinen die in der Kaisergarde zu Rom dienenden Thracier im 3. Jahrhundert dort eine besondre Kapelle für ihre Landesgötter, wie den Gott Heron oder Heros, den (Aesculapius) Zimidrenus, den Zbelthiurdos u. a., gehabt zu haben. Ebenso fuhren die keltischen Gardisten in Rom fort, der Arduinna und dem Camulus zu opfern, besonders aber den »Müttern« und »Frauen« ( matres, matronae) ihrer niederrheinischen Heimat, schützenden Gottheiten des Hauses und der Familie, doch auch ganzer Gemeinden und Völker, die Wohlstand, Fülle und Fruchtbarkeit verliehen, und die sich das Volk in der Dreizahl dachte. Alle ihre in Rom gefundenen Denkmäler stammen von Soldaten, auch in Britannien weitaus der größte, in Germanien ein immerhin beträchtlicher Teil, und zwar von einfachen Legionssoldaten oder Veteranen, selten von Centurionen und ritterlichen Offizieren: die Mütter waren (wie auch die Inschriften der Nichtsoldaten zeigen) Göttinnen der kleinen Leute.

Die in den Provinzen lebenden Römer begnügten sich nun zum Teil allerdings damit, diese barbarischen Götter zu verehren, ohne nach ihrem Namen oder Wesen zu forschen, wie die »Mütter« und die ihnen verwandten »Sulevien«, die »Schutzgöttin« der Iberer und die »maurischen Götter« (zu denen auch göttlich verehrte Fürsten der Vorzeit gehörten), oder sie mit ihren landesüblichen Namen anzurufen, wie die aus Denkmälern Nordafrikas bekannten Götter Auzius, Bacax, Aulisua, oder die auf Inschriftsteinen Noricums und Pannoniens vorkommenden Laburus, Latobius, Marmogius u. a. Aber sehr häufig glaubte man doch in diesen Barbarengöttern die einheimischen wiederzuerkennen, und deren Namen traten dann als interpretatio Romana neben die fremdklingenden oder für römische Zungen unaussprechlichen eigentlichen und wurden auch geradezu statt dieser gebraucht: so bezeichnet Cäsar die keltischen Hauptgottheiten als Merkur, Apollo, Mars, Juppiter und Minerva. Der Grannus der rätischen und rheinischen Lande galt den Römern als Apollo, der Belatucader und Cocidius in Cumberland, der Leherennus und Albiorix des südlichen Frankreich (wie viele andre keltische Lokalgötter) als Mars, die Atäcina oder Adägina von Turobriga in Südspanien als Proserpina, die bei den Bädern von Bath verehrte Sulis als Minerva, die Arduinna der Ardennen, die Abnoba des Schwarzwalds als Diana usw. Zuweilen ist der einheimische Name zugunsten des römischen vollkommen verschwunden, wie z. B. bei dem auf zahlreichen Denkmälern namentlich des linksrheinischen Obergermanien neben einer bald mit einheimischem Namen als Rosmerta, bald griechisch-römisch als Maia bezeichneten Gefährtin erscheinenden Gotte, der stets den römischen Namen Mercurius führt. Unmöglich hätten auch diese keltischen Götter in den griechisch-römischen aufgehen können, wenn die letzteren für die Gläubigen nicht mehr reale und lebensvolle Persönlichkeiten gewesen wären.

Je weiter nun die Romanisierung einer Provinz vorgeschritten war, desto mehr sind dort die einheimischen Götter nicht bloß durch die römischen verdrängt worden, sondern haben sich auch in diese verwandelt. Am meisten ist beides in Spanien geschehen. »Zwar in dem noch später iberischen, von Einwanderung ziemlich freigebliebenen Gebiet, im Westen und Nordwesten (in Lusitanien, Calläcien, Asturien), haben die einheimischen Götter mit ihren seltsamen, meist auf -icus und -ecus ausgehenden Namen, der Endovellicus, der Eaecus, Vagodonnaegus und wie sie weiter heißen, auch unter dem Principat noch sich in den alten Stätten behauptet. Aber im ganzen Süden (Baetica) ist nicht ein einziger Votivstein gefunden worden, der nicht ebensogut auch in Italien hätte gesetzt sein können; und vom Osten und Nordosten (Tarraconensis) gilt dasselbe, nur daß von dem keltischen Götterwesen am oberen Duero vereinzelte Spuren begegnen.« Viel länger als in Südspanien hat sich in der Südprovinz von Gallien die Verehrung der nichtrömischen Gottheiten behauptet; »die große Handelsstadt Arelate freilich hat keine andern Weihungen aufzuweisen, als an die auch in Italien verehrten Götter, aber in Frejus, Aix, Nîmes und überhaupt der ganzen Küstenlandschaft sind die alten keltischen Gottheiten in der Kaiserepoche nicht viel weniger verehrt worden als im inneren Gallien. Auch in dem iberischen Teil Aquitaniens begegnen zahlreiche Spuren des einheimischen, von dem keltischen durchaus verschiedenen Kultus«. Zuweilen war allerdings die Verschiedenheit der Barbarengötter von den griechisch-römischen so ungeheuer, daß sie jede Identifikation ausschloß: so bei einigen in Gallien verehrten Lokalgottheiten, wie dem mit untergeschlagenen Beinen kauernden Cernunnos, aus dessen Kopfe ein Hirschgeweih wächst, oder der Göttin von Compiègne, an deren Brüsten Vögel saugen, oder dem dreiköpfigen Gotte von Reims.

Unter den fremden Kulten übten die größte Anziehungskraft die orientalischen. Sie ließen alle Saiten des Empfindungsvermögens klingen und stillten den Durst nach religiösen Erregungen, den der nüchterne römische Kultus nicht zu löschen vermocht hatte. Aber sie gaben auch der Intelligenz eine größere Befriedigung, sie wirkten zugleich auf die Sinne, die Vernunft und das Gewissen, sie nahmen von dem ganzen Menschen Besitz. Sie boten, so erschien es, mehr Schönheit in ihren Riten, mehr Wahrheit in ihren Lehren, ein höheres Gut in ihrer Moral.

Die größte Verbreitung fanden im ganzen römischen Reich die ägyptischen Gottheiten Isis und Sarapis, die in den Osten (wo ihre Denkmäler am zahlreichsten sind, besonders in der Krim) von Ägypten direkt, in den Westen und Norden über Italien (namentlich Aquileja, wo vielleicht eine Region den Namen Isis und Serapis führte) eindrangen und geradezu eine systematische Missionstätigkeit entfalteten. Auch in den Donau- und Rheinländern sind die auf sie bezüglichen Denkmäler häufig. Eine zu einem romanischen Kapital in der Ursulakirche zu Köln umgearbeitete Isisfigur aus Jurakalk stammt vielleicht aus einer dortigen Kapelle der Göttin. Allerlei in den Rheinlanden gefundene ägyptische Monumente mögen in dieses oder andre Heiligtümer gestiftet worden sein, um ihnen den Schein der Echtheit zu geben, freilich ohne alles Verständnis für ihre wirkliche Bedeutung: namentlich Apisstatuetten, Uschebtis (kleine Nachbildungen Verstorbener in Mumienform) und Skarabäen. Altäre der Isis und des Sarapis sind dort an verschiednen Orten, der Grabstein eines in der römischen Flotte dienenden Ägypters Horus, Sohn des Pabek, in Köln zum Vorschein gekommen. Noch Chnodomar, der alemannische Gegner Julians, gab seinem Sohne Agenarich den Namen Serapio, weil er, in Gallien als Geisel festgehalten, in griechische Geheimnisse (d. h. Isismysterien) eingeweiht worden war. Bis in die entlegensten Bergtäler drangen diese Kulte vor: auch im Stonstal in Tirol wurde bei Festen der Isis und des Serapis die Trauer der Göttin um ihren verschwundenen Gatten dargestellt. Noch im Jahre 394 beschrieb ein Augenzeuge die die Straßen Roms durchziehenden Isisprozessionen. Aber schon 391 hatte der Patriarch Theophilus das Sarapeum zu Alexandria und die dortige Kolossalstatue des Sarapis zerstört und so, wie Rufinus sagt, dem Götzendienst den Kopf abgeschlagen.

Die erste semitische Gottheit, die man in Italien kennenlernte, war die in einem großen Teile Syriens zusammen mit ihrem Gemahl Hadad verehrte Atargatis, die die Griechen und Römer die syrische Göttin (Θεὰ Συρια Dea Syria, in der Vulgärsprache auch Jasura) nannten. Schon seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. war ihr Kult im Westen durch syrische Sklaven verbreitet worden. Nero, »ein Verächter aller Religionen«, huldigte eine Zeitlang ihr allein, wandte sich dann aber, von einer andern Superstition angezogen, mit so großer Verachtung von ihr ab, daß er ihr Bild besudelte. In Trastevere auf dem Janiculum hatten die syrischen Gottheiten einen vor kurzem ausgegrabenen Tempel bis zum Ende des Heidentums.

Von den zahlreichen allmählich auch in die Religionen des Abendlandes eingedrungenen syrischen Baalen wurde der von Doliche in Kommagene erst seit Einverleibung dieses Lands durch Vespasian im Jahre 72 im Occident bekannt. Er war ein Donner- und Kriegsgott, dargestellt als ein gepanzerter, auf einem nach rechts schreitenden Stier stehender, in der Rechten die Doppelaxt, in der Linken den Blitz haltender Mann. Seine Denkmäler sind am zahlreichsten in den nördlichen, stark mit Truppen besetzten Grenzprovinzen. In Rom hatte dieser sogenannte Juppiter Dolichenus ein Heiligtum auf dem Aventin, ein zweites auf dem Esquilin. Sein Kultus scheint unter Commodus und den Severen seine Kulmination erreicht und im Laufe des 3. Jahrhunderts abgenommen zu haben.

Den Namen des iranischen Lichtgottes Mithras, der zugleich ein Gott der Wahrheit und Rechtschaffenheit und ein Sieg verleihender Gott der Heere war, hörte man im Occident zuerst von den cilicischen Seeräubern, die zu Ende der Republik den Römern die Herrschaft der Meere streitig machten. Der Hauptfaktor der Verbreitung auch dieses Kultus war das Heer, daher auch sie am größten in den nördlichen Grenzprovinzen; die meisten Mithräen hat Deutschland aufzuweisen. Schon im 2. Jahrhundert drang diese Soldatenreligion in die oberen Schichten der Gesellschaft. Commodus ließ sich in die Mysterien des Mithras einweihen, und die Gunst seiner Nachfolger scheint diesem Kult sicher gewesen zu sein.

Die Anhänger des Mithras sollten den Kampf gegen das Prinzip des Bösen, das Reich Ahrimans, ohne Unterlaß ausfechten, das Gute lag für sie in der Tat. Die Mysterien des Mithras befriedigten die Sehnsucht nach Unsterblichkeit und nährten die Zuversicht auf den schließlichen Sieg der Gerechtigkeit. Das Zeremoniell des Kultus mußte einen tiefen Eindruck auf den Neophyten machen, der in einer natürlichen oder künstlichen Grotte ( spelaeum) das Bild des jugendlichen, auf einem Stier knienden und ihn tötenden Gottes erblickte. Es gab sieben Weihegrade; der Myste empfing nacheinander die Namen Rabe ( corax), Verborgener (κρύφιος, cryphius), Soldat ( miles), Löwe ( leo), Perser ( Perses), Sonnenläufer (Ἡλιόδρομος, Heliodromus) und Vater ( pater): das Oberhaupt der Väter ( pater patrum) behielt lebenslänglich die allgemeine Leitung des Kultus. Diese sieben Stufen der Initiation entsprachen den sieben Planetensphären, welche die Seele durchreisen mußte, um an den Aufenthaltsort der Seligen zu kommen. Den Neophyten waren vielfache Waschungen vorgeschrieben, eine Art Taufe, die bestimmt war, die sittlichen Befleckungen zu tilgen. Erst nach einem langen Noviziat wurde eine mystische Mahlzeit gewährt, die die Apologeten mit der Kommunion vergleichen. Kasteiungen und Prüfungen, mehr furchterregend als furchtbar, leiteten die Spendung der Sakramente ein.

Der Kampf zwischen Mithrasdienst und Christentum wurde um so hartnäckiger geführt, je ähnlicher beide Religionen ihrem Charakter nach waren. »Ihre Adepten bildeten in gleicher Weise geheime, fest geschlossene Konventikel, deren Mitglieder sich den Namen ›Brüder‹ gaben. Die Riten, welche sie ausübten, boten zahlreiche Analogien: wie die Christen reinigten sich auch die Anhänger des persischen Gottes durch eine Taufe, empfingen durch eine Art Firmung die Kraft, die bösen Geister zu bekämpfen, und erwarteten von einer Kommunion das Heil der Seele und des Leibes. Wie jene heiligten sie den Sonntag ... Ebenso predigten sie eine imperative Moral, hielten die Askese für verdienstlich und rechneten zu den wichtigsten Tugenden Enthaltsamkeit und Keuschheit, Entsagung und Selbstbeherrschung. Ihre Vorstellungen von der Welt und dem Schicksal der Menschen waren ähnlicher Natur: sie glaubten beide an die Existenz eines Himmels der Seligen in überirdischen Regionen und einer von Dämonen bevölkerten Hölle in den Tiefen der Erde; sie setzten ohne Zweifel an den Anfang der Geschichte eine Sintflut, sie führten ihre Überlieferungen auf eine ursprüngliche Offenbarung zurück; sie glaubten endlich an eine Unsterblichkeit der Seele und eine jenseitige Vergeltung, an ein jüngstes Gericht und an die Auferstehung der Toten im Zusammenhang mit dem schließlichen Weltbrande.« Gleich Christus war auch Mithras der Mittler (μεσίτης) zwischen seinem himmlischen Vater und den Menschen, und gleich ihm bildete er das Glied einer Trinität.

Daß Origenes den Mithrasdienst in einer Zeit, wo er auf der Höhe seiner Macht stand, einen im Vergleich mit den ägyptischen Kulten obskuren nennen konnte, erklärt sich daraus, daß Mithras von der hellenischen Welt so gut wie ganz ausgeschlossen blieb.

Doch der Glaube vermochte nicht bloß fremdartige Gottheiten zu assimilieren, er vermochte auch neue zu schaffen, und diese Produktivität ist der untrüglichste Beweis seiner unverminderten Energie und Lebenskraft. Noch immer wurden ihm, der das täglich und stündlich auf Schritt und Tritt so tief empfundene göttliche Walten nicht als ein einiges und Ganzes auffaßte, sondern die unendliche Gottheit in unzählige Einzelwesen aufzulösen das Bedürfnis empfand – noch immer wurden ihm bedeutende, tief ins Menschenleben eingreifende Erscheinungen und Wirkungen zu göttlichen Persönlichkeiten.

Der Glaube an eine Göttin der Getreideversorgung (Annona) und ihre Verehrung gehört erst der früheren Kaiserzeit an, einer Epoche, in der die Existenz und Sicherheit der ewigen Stadt auf der Regelmäßigkeit und hinlänglichen Reichlichkeit der überseeischen Kornzufuhren beruhte. Es mußte eine Gottheit sein, die diese unermeßlichen Vorräte in Afrika und Ägypten zusammenströmen ließ, sicher über das Meer schaffte, in den Magazinen Roms berghoch aufschüttete und jahraus jahrein Hunderttausenden das tägliche Brot gab. Die »heilige Annona« ist gewiß oft genug in heißen Gebeten angerufen worden, am meisten von denen, welche in Rom die so höchst umfassende Getreideverwaltung und die mit ihr zusammenhängenden Gewerbe, in den Provinzen die Kornlieferungen beschäftigten und ernährten. Eine Widmung an die heilige Annona in Rom rührt von einem »lebenslänglich angestellten Messer der sehr ehrwürdigen Körperschaft der Feinbrotbäcker« her; nach einer Inschrift von Rusicade (Philippeville), einem Exporthafen des kornreichen Numidiens mit Staatsmagazinen, die für die Versorgung Roms bestimmt waren, ließ dort ein reicher Mann zwei Statuen, eine »des Genius unsrer Vaterstadt«, eine andre »der Annona der heiligen Stadt (Rom)«, im Theater aufstellen.

Vor allem bedingte der altrömische Genienglaube eine unaufhörliche, grenzenlose Vermehrung der göttlichen Wesen: und daß diese noch immer ihren Fortgang hatte, beweist schon allein die lebendige Fortdauer dieses Glaubens überhaupt. Die ihm zugrunde liegende Anschauung erfüllte noch immer Natur und Dasein mit zahllosen, waltenden und erhaltenden, zeugenden und belebenden, helfenden und schützenden göttlichen Mächten, den Genien, die, wie man glaubte, gern in der Gestalt von Schlangen erschienen. Jeder Einzelne, jedes Haus und jede Familie hatte ihren Genius, jedes Land, jede Stadt und Provinz, Legionen, Kohorten, Centurien, Körperschaften, Zünfte und Vereine. Aber auch jeden Raum bevölkerte der fromme Sinn, dem »alles eines Gottes Spur« wies, der in jeder Wohltat, jeder glücklichen Fügung die Hand einer Gottheit wahrnahm, mit göttlichen Wesen: Brunnen, Berge, Märkte, Paläste, Magazine, Bäder, Archive und Theater; und jeder, der dort ein und aus ging, brachte dem Genius oder der »Schutzmacht« (Tutela) »ob Gott, ob Göttin« seine Huldigung dar. Der Kaufmann, den seine Geschäfte in ferne Grenzländer führten, opferte dort »dem Genius des römischen Volks und des Handels«; der in unbekannten und unwirtlichen Gegenden Reisende »dem Gotte, der die Wege und Pfade ersonnen hat«. In den Häusern Roms wie der übrigen Städte sah man noch im 5. Jahrhundert auf dem Flur hinter der Haustür ein Bild der Schutzgottheit und davor eine brennende Kerze oder ewige Lampe; auch der Kult der Hausgötter (des Lar, des Genius, der Penaten) erhielt sich trotz der dagegen erlassenen Verbote bis tief in die christliche Zeit. Hatten diese kleinen Gottheiten ihre Macht zu helfen wiederholt innerhalb einer bestimmten Sphäre bewährt, so erhielten sie auch wohl eigne Namen und damit mehr Persönlichkeit: wie einer der sämtlich dem Handelsstande angehörenden Gäste Trimalchios beim heiligen »Greifzu« oder »Haltfest« (Occupo) schwört, und die Laren des Hausherrn die Namen »Profitmann, Glücksmann, Gewinnmann« (Cerdo, Felicio, Lucrio) führen.

Eine notwendige Folge der Umwandlung der Republik in die Monarchie war, daß die Person des Kaisers zum Gegenstande göttlicher Verehrung wurde. Dieser hat Augustus für Rom und den öffentlichen Kult die Form gegeben, daß der Genius des Kaisers (nicht dieser selbst) in allen Stadtbezirken zwischen den Laren der Straßenkreuzungen ( compita) einen regelmäßigen Gottesdienst erhielt; dieser Genius Augusti nahm nunmehr auch im religiösen Leben der Bürger eine ähnliche Stellung ein wie der Genius des Hausherrn für den Angehörigen des einzelnen Hausstandes. Es war unvermeidlich, daß im Glauben des Volks die Vorstellung des kaiserlichen Genius mit der Person des Kaisers selbst zusammenfloß, und so auch der Kaiser selbst ihm zum Gotte wurde. Doch wenn auf diese Weise auch der Genienglaube nicht ohne Einfluß auf die Vergötterung der Kaiser blieb, so ist doch die eigentliche Heimat des Glaubens an die Übermenschlichkeit der Monarchen der Orient gewesen; aus den griechischen Staaten des Orients ist er mit der Monarchie in den Westen verpflanzt worden.

Von jeher waren in Griechenland bedeutende und hochverdiente Männer nach ihrem Tode als Heroen (Halbgötter) verehrt worden: so namentlich Gründer von Städten und Kolonien, Gesetzgeber und Staatsoberhäupter, die Helden der Perserkriege, Befreier des Vaterlands (Harmodius und Aristogeiton in Athen, Timoleon in Syrakus), auch Dichter (Aeschylus, Sophokles), Philosophen (Anaxagoras, Platon, Epikur) und Olympiasieger. Hier und da steigerte sich die Heroisierung zur Apotheose; so genoß Philopoemen in seiner Vaterstadt göttliche Ehren, und auch manche andre Heroenkulte nahmen allmählich die Verehrungsformen der Götterdienste an. Auch unter der römischen Herrschaft erwiesen Städte hervorragenden Bürgern nach dem Tode heroische Ehren: so Mytilene dem Theophanes, welcher der Stadt bei Pompejus die Freiheit ausgewirkt hatte, Tarsus dem um sie hochverdienten Stoiker Athenodorus, dem Lehrer des Augustus. Und wenn in solchen und ähnlichen Fällen dieser Ausdruck der Dankbarkeit aus Schmeichelei und serviler Gesinnung gewählt wurde, so sind doch ohne Zweifel einzelne auch damals nach dem Tode in aufrichtigem Glauben an die Übermenschlichkeit ihrer Natur als Heroen verehrt worden, wie Apollonius von Tyana. Wie geläufig auch den Römern die Vorstellung der Erhebung verklärter Geister zu einer göttlichen oder halbgöttlichen Existenz geworden war, beweist die Absicht Ciceros, seine (im Alter von 32 Jahren verstorbenen) Tochter Tullia einen Tempel zu erbauen. Die Karpokratianer, eine gnostische Sekte in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, die Jesus neben den griechischen Philosophen als Muster höchster menschlicher Läuterung verehrten, sollen dem siebzehnjährigen Sohne ihres Stifters, Epiphanes, nach seinem Tode auf Kephallenia einen Tempel errichtet haben.

Doch seit dem Peloponnesischen Kriege sind in Griechenland auch Lebende als Götter verehrt worden; zuerst Lysander, dem asiatische Griechenstädte Altäre errichteten, Opfer brachten und Päane sangen, während Agesilaus ein ähnliches Anerbieten der Thasier zurückwies. Die Vergöttlichung Lebender erfolgte also in diesen ältesten Fällen nicht auf Druck von oben her, sondern als eine Äußerung des Huldigungsbedürfnisses der unten Stehenden. Aber auch die niedrigste Schmeichelei hätte auf diese Form der Huldigung nicht verfallen können, wenn nicht das gesamte griechische Altertum, das Gottheit und Menschheit nicht durch eine unausfüllbare Kluft getrennt zu denken vermochte, in hohem Grade dazu geneigt hätte, in jeder scheinbar oder wirklich die Menschheit überragenden Persönlichkeit ein Wesen höherer Art zu erblicken. Ganz fremd ist auch den Römern diese Anschauungsweise nicht gewesen: wurden doch dem Marius als Besieger der Cimbern und Teutonen in Rom allgemein bei den häuslichen Mahlzeiten wie einem Gotte Trankopfer gespendet. Auch außerhalb der griechisch-römischen Welt begegnet uns der Glaube an die Göttlichkeit einzelner Menschen. Bei den Geten galt der auf einem heiligen Berge in einer Höhle wohnende Prophet Decaeneus, der Berater des Königs Burbista, eines Zeitgenossen Cäsars, für einen Gott; Strabo nennt ihn einen Gaukler. Der Bojer Mariccus, der im Jahre 69 n. Chr. Gallien von römischer Herrschaft zu befreien unternahm, gab sich selbst für einen Gott aus und fand bei Tausenden Glauben.

Zur festen Ausbildung ist aber der Kult lebender Helden und Gewalthaber erst seit Alexander dem Großen, und zwar in den Fürstenhäusern, die im Orient sein Erbe teilten, gediehen, am frühesten vielleicht in Ägypten, wo ebenso wie in Persien bereits in alter Zeit die Anschauung, daß der König ein Gott oder doch der Sohn eines Gottes sei, öffentliche Geltung erlangt hatte. Wäre Alexander ein längeres Leben beschieden gewesen, so würde er sicherlich schon bei Lebzeiten dieselben oder noch höhere göttliche Ehren genossen haben, als sie seinen Nachfolgern in Ägypten, Syrien und im Pergamenischen Reiche zuteil geworden sind.

Neben den in den Diadochenreichen zur höchsten Ausbildung gelangten Königskult trat dann seit dem Eingreifen der Römer in die orientalischen Verhältnisse in den Städten Kleinasiens der Kult der Göttin Roma, der die Smyrnäer bereits 195 v. Chr. einen Tempel errichteten. Und zu diesem Romakult gesellten sich die den römischen Statthaltern und Feldherren erwiesenen göttlichen Ehren, wie sie vor allen T. Quinctius Flamininus, dem »Befreier Griechenlands«, als ein jener Zeit vollkommen natürlich erscheinender Ausdruck enthusiastischer Dankbarkeit entgegengebracht wurden. In der letzten Zeit der Republik war die Weihung von Tempeln (wahrscheinlich gemeinsam mit der Göttin Roma) für römische Prokonsuln bereits zu einer ganz gewöhnlichen Huldigung geworden.

Waren die Römer also längst gewöhnt, die Apotheose auch für Lebende als eine nicht zu hohe Ehre anzusehen, so erschien der Anspruch der neuen Monarchen auf sie als selbstverständlich, und wenn die Vergötterung der Lebenden sich innerhalb gewisser Schranken hielt, lag dies nicht an der zu geringen Willfährigkeit der Untertanen, sondern an der Zurückhaltung der Kaiser. Was hätte auch dem Glauben an göttliche Naturen in menschlicher Gestalt gemäßer sein können, als in den allmächtigen, so unermeßlich hoch über so viele Millionen hinausgehobenen, auf Erden an Stelle der Götter waltenden Herrschern des Erdkreises »gegenwärtige und leibhaft erschienene Götter«, in ihrem Tode eine Erhebung in die höhere Welt zu erkennen, der sie angehörten? War auch die Apotheose der Kaiser in der Regel ein Werk der bewußten Heuchelei des Servilismus, so entsprach sie doch mindestens in einzelnen Fällen dem Glauben des Volks. Die Versetzung Cäsars unter die Götter, sagt Sueton, erfolgte nicht bloß auf den Beschluß des Senats, sondern auch nach dem Glauben der Menge: ein Komet, der unmittelbar darauf sieben Tage lang sichtbar war, galt für seine in den Himmel aufgenommene Seele. Und wenn dem Kaiser Marc Aurel nicht bloß nach seinem Tode jedes Alter und Geschlecht, alle Stände und Klassen göttliche Ehren erwiesen und jeder für gottlos galt, der sein Bild nicht im Hause hatte, sondern auch noch in Diocletians Zeit in vielen Häusern seine Statue zwischen den Penaten stand, und viele durch den Erfolg bestätigte Prophezeiungen berichtet wurden, die man seinen Offenbarungen in Traumgesichten zu verdanken glaubte: so kann kein Zweifel sein, daß auch dieser gute, milde, allgeliebte Monarch dem Volke wirklich zum Gotte geworden war. Auch Alexander Severus verehrte in seiner Hauskapelle, wo er an jedem Morgen Gottesdienst zu halten pflegte, die besten der vergötterten Kaiser.

Begreiflicherweise widerstrebte jedoch dieser Glaube einer wirklichen Gottwerdung von Menschen auch einem großen Teil derer, die sonst in religiösen Dingen starkgläubig waren. Pausanias sagt, zu seiner Zeit seien Menschen nicht mehr zu Göttern geworden, wie einst Herakles, die Dioskuren, Amphiaraos, außer den Worten nach und aus Schmeichelei gegen die Macht; wobei er wohl zunächst an die Apotheose des Antinous gedacht hat. Auch dieser hatte übrigens ein orientalisches Vorbild nicht gefehlt: in Alexandria hatte einst »ein Barbarenweib von der Straße«, Belesticha, durch die Leidenschaft ihres königlichen Liebhabers als »Aphrodite Belesticha« göttliche Ehre und Tempel erhalten. Die Vergöttlichung des Antinous selber knüpfte an die ägyptische Vorstellung an, wonach die im Nil Ertrunkenen göttliche Verehrung genossen und mit Osiris identifiziert wurden. Ohne Zweifel ward der Anordnung des Antinouskults im allgemeinen »aus Schmeichelei gegen die Macht« Folge geleistet: aber schon der Glaube der nächsten Generation an die Göttlichkeit des schönen, schwermütig blickenden Jünglings war, wie Athenagoras ums Jahr 177 bezeugt, ein aufrichtiger, und er bestand mindestens bis ins dritte Jahrhundert. Noch heute bezeugt in Rom die Hieroglyphenschrift des Obelisken auf Monte Pincio, der einst am Eingange eines Mausoleums (Kenotaphs?) des Antinous an der Via Labicana stand, daß er zum Gott erhoben sei und als solcher in ewiger Jugend die Liebe und Verehrung der Menschen genieße. Celsus hatte die Verehrung Christi mit der des Antinous verglichen, und Origenes, der diese Vergleichung als eine völlig unzulässige zurückweist, zweifelte nicht, daß in der Tat ein Dämon unter dem Namen des Antinous in dessen Tempel sein Wesen treibe. Wenn man die Sache mit Wahrheitsliebe und unparteiisch prüfe, so werde man wohl finden, daß von dem, was Antinous in Antinoupolis auch nach seinem Tode angeblich vollbringe, ägyptische Zaubereien und Mysterien die Ursache seien. Auch an andern Tempeln, so werde erzählt, hätten Ägypter und andre Zauberer Dämonen festgebannt, welche prophezeiten, Kranke heilten und die Übertreter von Speiseverboten oder andern religiösen Vorschriften marterten. »Ein solcher ist auch der, welcher in Antinoupolis in Ägypten als Gott geachtet wird, dessen Macht manche, die in den Tag hineinleben, leugnen; andre aber, teils von dem dort gebannten Dämon betört, teils von ihrem Schuldbewußtsein angeklagt, glauben eine von der Gottheit des Antinous verhängte Strafe zu erleiden. Von dieser Art sind ihre Mysterien und die angeblichen Prophezeiungen, von denen die Weissagungen Jesu weit entfernt sind.«

Im allgemeinen war übrigens der Kaiserkult doch nichts andres als derjenige Ausdruck unbedingtester Ergebenheit, welchen der damalige Despotismus von den Untertanen wenigstens insofern fordern konnte, als die Anerkennung einer göttlichen Natur in einer menschlichen Persönlichkeit dem religiösen Gefühl nicht an und für sich widerstrebte. Wenn sich niemals ein christliches Zeitalter zur Anbetung eines Herrschers als Gott verirrt hat, so liegt dies nicht daran, daß der Abstand zwischen Herrscher und Beherrschten geringer, das Gefühl der Menschenwürde höher, oder der Knechtsinn minder erfinderisch in unwürdigen Huldigungen war (im byzantinischen Reich und in Frankreich unter Ludwig XVI. und Napoleon I. fand eher von allem diesem das Gegenteil statt): sondern daran, daß das religiöse Dogma des Christentums diese Verirrung, welche der heidnische Glaube begünstigte, ausschloß und in dem Herrscher nur den Stellvertreter Gottes auf Erden zu sehen erlaubte. Der römische Kaiserkultus war eine Form, über deren wesentlich politische Bedeutung kein Denkender im unklaren sein konnte, deren äußerliche Erfüllung das eigentliche religiöse Leben unberührt ließ, am wenigsten aber den Glauben zu erschüttern vermochte. Denn für den Gläubigen hört das Heilige niemals deshalb auf heilig zu sein, weil er es im einzelnen Falle mißbraucht oder entweiht sehen muß; er gibt vielmehr (wie auch Pausanias tat) den Mißbrauch bereitwillig dem Spott und der Verachtung preis, um an dem ihm ehrwürdigen und teuren Inhalt seines Glaubens um so fester zu halten.

 

Der beste Beweis für die Stärke und Lebendigkeit des Götterglaubens aber ist, daß er sich Jahrhunderte hindurch dem Christentume gegenüber behaupten, und nicht bloß dies, sondern auch in gewissem Sinne den Christen eine Anerkennung seiner Wahrheit abzwingen konnte. Denn die reale Existenz der heidnischen Götter zu leugnen, kam den Christen im allgemeinen nicht in den Sinn, auch ihr übermenschliches Wesen, die von ihnen vollbrachten Wunder bestritten sie nicht: nur waren sie ihnen natürlich Mächte der Finsternis, Dämonen, abgefallene oder verführte Engel oder deren Nachkommen und sündige Seelen, denen Gott die Fähigkeit zu schaden und Menschen zu verführen gelassen hatte. Auch sie also, die den Vernichtungskampf gegen den Götterglauben führten, standen noch so sehr in seinem Banne, daß sie nicht zur Erkenntnis seiner Wesenlosigkeit durchzudringen vermochten. Wohl mußte die Herrschaft dieses Glaubens eine allgemeine und aufs tiefste im Bewußtsein der Menschen begründete sein, wenn sich selbst seine unversöhnlichsten Gegner ihr nicht völlig entziehen konnten.

Doch all dieser indirekten Beweise sollte es gar nicht bedürfen, wo so zahlreiche und unbestreitbare direkte Zeugnisse für die Allgemeinheit und Stärke des Götterglaubens vorhanden sind. Je fester ein Glaube ist, je tiefer er das ganze Bewußtsein durchdringt, desto eifriger sucht und desto gewisser findet er in Natur und Leben überall Betätigungen des Daseins und Wirkens der geglaubten Mächte; wo der Unglaube nur Zufall oder natürliche Folgen natürlicher Ursachen sieht, erkennt er die Hand der Gottheit. Am leidenschaftlichsten verlangt er nach Tatsachen und Erscheinungen, welche ihr übermächtiges Eingreifen in die Gesetze der Natur unzweifelhaft dartun, und dies Verlangen befriedigt sich notwendig immer selbst: das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. Wenn nun der Wunderglaube ein untrüglicher Gradmesser für die Intensität des Glaubens an die höhere Macht ist, die als die Urheberin des Wunders gilt, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß in den ersten Jahrhunderten ein durchaus positiver, von keiner Skepsis angekränkelter Glaube an die Götter der Tradition und des Kultus durch alle Schichten der Gesellschaft verbreitet war, wenn auch in wechselnder Stärke und selbstverständlich immer am stärksten in den von Bildung am wenigsten berührten Kreisen. So bietet einen bedeutsamen Beweis für das Erstarken des Glaubens namentlich in Kleinasien das Einsetzen religiöser Selbsthilfe im Rechtsleben durch Eintreten der Verfluchung an Stelle des staatlichen Rechtsverfahrens und die Wirksamkeit dieses Mittels sowie der in den sogenannten Beichtinschriften namentlich Lydiens und Phrygiens uns entgegentretende Brauch, eine Schuld durch Bekenntnis vor dem Priester der Gottheit und öffentliche Aufstellung einer Urkunde über diesen Akt zu sühnen, der geradezu auf eine sakrale Gerichtsbarkeit hinausläuft.

Der Anthropomorphismus des antiken Glaubens, mächtig unterstützt durch die Eindrücke der nirgends fehlenden lebensvollen Götterbilder, machte es dem Gläubigen möglich, in dem Vollbringer eines Wunders, das sich vor seinen Augen vollzog, den leibhaft erschienenen Gott selbst zu erkennen: und daß auch dies noch in jener Zeit geschehen konnte, wird durch das bekannte Erlebnis der beiden Apostel zu Lystra über jeden Zweifel erhoben. Wie gewiß mußte diesen Menschen das Dasein ihrer Götter sein, und wie nah mußten sie sich ihnen fühlen, wenn sie in dem Urheber der wunderbaren Heilung des Lahmen und seinem Gefährten nicht Gottgesandte, sondern Götter sahen, sogleich von der Überzeugung erfüllt waren, die Götter seien den Menschen gleich geworden und zu ihnen hernieder gekommen. »Und nannten Barnabam ›Juppiter‹ und Paulum ›Mercurius‹, dieweil er das Wort führte. Der Priester aber Juppiters, der vor ihrer Stadt war, brachte Ochsen und Kränze vor das Tor und wollte opfern samt dem Volk.« Und die Apostel »stilleten kaum das Volk, daß sie ihnen nicht opferten«. Hier war also damals noch ein Glaube lebendig, so kindlich und felsenfest wie jener der alten Athener, über deren unerhörte Einfalt sich Herodot nicht genug verwundern konnte, da sie in der schönen gerüsteten Frau, in deren Begleitung Pisistratus zurückkehrte, die Göttin Athene leibhaft zu sehen wähnten und anbeteten; ein Glaube so kindlich und felsenfest wie der, welcher in unseren Tagen einen italienischen Bauernburschen in einer jungen, schönen, madonnenhaften Wohltäterin die Mutter Gottes selbst erblicken lassen kann.

Allerdings ist nun im Innern Vorderasiens, wie es Lucian ja von Paphlagonien ausdrücklich bezeugt, der Glaube vielleicht am blindesten, zur Selbstbetörung am meisten geneigt gewesen, wie denn überhaupt in den östlichen Ländern sicherlich die Befangenheit im Glauben und Aberglauben stets größer war als im Westen. Aber wenn der Glaube auch nur selten stark genug sein mochte, um sich zum Schaden der leibhaftigen Gottheit selbst zu erheben, so sah er doch überall die von ihr gewirkten Wunder und entzündete sich an diesen immer von neuem, und auch Zweifelnde wurden durch die Gewißheit und Allgemeinheit des Wunderglaubens mit fortgerissen. Die Wunder, welche sich im Jahre 70 zu Alexandria ereigneten und »die Gunst des Himmels und eine gewisse Zuneigung der Götter für Vespasian andeuteten«, berichtet wie die andern Geschichtsschreiber auch Tacitus mit vollem Glauben. Ein Blinder und ein Lahmer wandten sich nach Eingebungen, die sie von Sarapis in Träumen erhalten hatten, flehend an Vespasian, um den Gebrauch ihrer Glieder durch seine Berührung wiederzuerlangen. Dieser entschloß sich endlich, öffentlich vor den Augen des Volkes das Verlangte zu tun. »Sogleich wandelte sich die Hand zur Brauchbarkeit, und dem Blinden leuchtete wieder der Tag. Beides erzählen noch jetzt Augenzeugen, wo die Lüge keinen Gewinn mehr bringt.« Nun begab sich Vespasian, um seine Zukunft zu erfahren, allein in den Tempel des Sarapis und erblickte dort einen Mann namens Basilides, von dem später festgestellt wurde, daß er in jenem Augenblick viele Meilen entfernt gewesen war. In seinem Namen erkannte Vespasian eine Andeutung der ihm beschiedenen Herrschaft. Kaum konnte, wer diese Wunder glaubte, an der Größe und Macht des Gottes zweifeln, dem sie die Stimme des Volkes zuschrieb.

Dieses Wunder gehört einer Zeit an, wo auf heidnischer Seite gewiß die Absicht noch nicht vorausgesetzt werden kann, den christlichen Wundern gleich überzeugende entgegenzustellen. Als nun aber das Ringen beider Religionen um die Herrschaft über die Menschheit begonnen hatte, da mußte auch, je länger der Kampf währte und je heißer er wurde, auf beiden Seiten die Wundersucht immer leidenschaftlicher werden. Man darf annehmen, daß um die Wende des 2. und 3. Jahrhunderts das Bedürfnis bereits bestand, dem Stifter der christlichen Religion einen Propheten der alten Götter von ebenso übermenschlicher Natur und gleicher Wunderkraft entgegenzustellen. Wahrscheinlich ist dieses Motiv auf den im Auftrage der Kaiserin Julia Domna († 217) verfaßten Roman des Philostratus von Apollonius von Tyana von Einfluß gewesen. Die Geburt des Apollonius ist hier ebenso wunderbar wie sein Ende und sein Erscheinen nach seiner Entrückung, um einen Jüngling vom Zweifel am Unsterblichkeitsglauben zu heilen. Zu den von ihm vollbrachten Wundern gehört eine Dämonenaustreibung und eine Totenerweckung. Seine Kenntnis des Zukünftigen und Verborgenen grenzt an Allwissenheit. Ein ungenannter christenfeindlicher Schriftsteller, gegen den Lactanz heftig polemisiert, stellte ihn über Christus, dessen Taten von den Aposteln durch Erdichtungen ausgeschmückt seien, während man die des Apollonius aus den Berichten untadliger Zeugen kenne. Dieser blieb nicht bloß bei den Heiden, sondern auch bei den Christen der nächsten Jahrhunderte in hohem Ansehen. In einer zwischen 474 und 491 entstandenen christlichen Sammlung von »Orakelsprüchen hellenischer Götter« heißt es: Gott gleich seien nur Moses, Hermes, Trismegistos und Apollonius gewesen. Der fromme Jansenist Tillemont († 1698) glaubte, der Teufel habe Apollonius, aus Furcht, sein Reich vernichtet zu sehen, fast gleichzeitig mit Jesus geboren werden lassen; Babyles Wörterbuch (1741) nennt ihn »den Affen des Gottessohns«.

Aber Heidentum und Christentum setzten nicht bloß Wunder gegen Wunder, sondern auch der Fall, daß dasselbe Wunder von beiden Seiten in Anspruch genommen wurde, kann kein seltener gewesen sein, wenngleich er nur einmal berichtet wird. Im Quadenkriege Marc Aurels sah sich im Jahre 171 das römische Heer einmal, in glühender Sonnenhitze schmachtend, von einer überlegenen Menge der Feinde eingeschlossen, mit der augenscheinlichsten Gefahr gänzlicher Vernichtung bedroht. Da zogen sich plötzlich dichte Wolken zusammen und ergossen sich in einem reichlichen Regenstrome, während auf der feindlichen Seite ein furchtbares Gewitter Verwirrung und Verderben anrichtete: die Römer waren gerettet, der Sieg wandte sich auf ihre Seite. Die Wirkung dieses Ereignisses war eine überwältigende, es wurde nach damaliger Sitte in bildlichen Darstellungen verewigt, allgemein galt es als ein Wunder, dessen man noch bis in das späteste Altertum gedachte, und auf das sich noch nach Jahrhunderten sowohl Christen als Heiden als einen Beweis für die Wahrheit ihres Glaubens beriefen. Die offizielle Darstellung dieses Ereignisses auf der Marc Aurelsäule führt die regenspendende Gottheit gewissermaßen als Naturelement in einem sehr charakteristischen Bilde ein, ohne einen bestimmten Gott als Urheber der Wunderhilfe zu bezeichnen. Auf einem Gemälde, das Themistius gesehen hatte, war der Kaiser selbst mit erhobenen Händen zu Juppiter flehend dargestellt, während die Soldaten den Regen mit ihren Helmen auffingen; diesem Gebet des Kaisers zu Juppiter wurde, wie es scheint, von den meisten die wunderbare Errettung zugeschrieben; doch behaupteten andre, daß sie der Kunst eines in seinem Gefolge befindlichen ägyptischen Zauberers Arnuphis zu verdanken gewesen sei, der durch eine Beschwörung der Götter, namentlich des »Hermes der Luft«, den Regenguß herabgezogen habe. Aber nach der Erzählung eines christlichen Zeitgenossen war das Wunder durch die Gebete christlicher Soldaten in der zwölften (melitenischen) Legion bewirkt worden. Dasselbe erzählt als ein bekanntes Ereignis 197 Tertullian, der sich dabei (ebenso wie Cassius Dio) auf einen Brief Marc Aurels beruft.

Der Platoniker Celsus hebt in seiner Schrift gegen das Christentum unter den Wundern, die er zum Beweise für das Dasein der Götter anführt, ganz besonders die Orakel sowie die Vorzeichen und Vorbedeutungen aller Art hervor, durch die sie das Künftige warnend oder mahnend vorausverkündeten, und die den Gläubigen nicht bloß die Existenz der Götter, sondern auch ihre Fürsorge für die Menschheit bewiesen. »Wozu«, sagt er, »soll man aufzählen, was alles aus Orakelstätten teils Propheten und Prophetinnen, teils andre begeisterte Männer und Frauen mit gotterfüllter Stimme vorhergesagt haben? Was für wunderbare Voraussagungen aus dem Innern der heiligen Räume ertönten? Was alles aus Opfertieren und andern Opfern den Befragenden geoffenbart wurde, was aus andern wunderbaren Zeichen? Manchen sind auch deutliche Erscheinungen zuteil geworden. Von all diesem ist das ganze Leben erfüllt. Wie viele Städte sind durch Orakel emporgekommen und von Seuchen und Hunger befreit worden, wie viele andre, die sie vernachlässigten oder vergaßen, elend zugrunde gegangen! Wie viele Kolonien sind ausgesandt worden und, wenn sie dem Gebote nachkamen, gediehen! Wie viele Fürsten, wie viele Privatpersonen sind auf solche Weise schlimmer oder besser gefahren! Wie viele, die mit Kinderlosigkeit heimgesucht waren, haben erlangt, worum sie baten, wie viele sind dem Zorn von Göttern entgangen oder von Leibesgebrechen geheilt worden! Wie viele, die bei Heiligtümern gefrevelt, sind sogleich von der Strafe ereilt worden, indem sie teils von Raserei ergriffen wurden, teils selbst aussagten, was sie getan hatten, oder Hand an sich selbst legten, oder in unheilbares Siechtum verfielen! Auch hat solche schon eine aus dem Innern des Heiligtums erschallende Donnerstimme der Vernichtung geweiht!«

Der Glaube an wunderbare Zeichen und Verkündigungen der Zukunft, von denen auch damals noch immer »das ganze Leben erfüllt war«, ist allem Anscheine nach wenigstens im späteren Altertum die verbreitetste Form des Wunderglaubens gewesen. Auch ein großer Teil der Philosophen und philosophisch Gebildeten bekannte sich zu ihm: zwar Epikureer, Kyniker und Aristoteliker verwarfen und Akademiker bestritten ihn: um so mehr hielten Platoniker, Pythagoreer und Stoiker daran fest, und namentlich in der Theologie der letzteren bildete er einen integrierenden Bestandteil. »Der Glaube an eine so außerordentliche Fürsorge der Gottheit für die Menschen erschien ihnen viel zu tröstlich, als daß sie darauf hätten verzichten mögen; sie priesen nicht allein die Weissagung als den augenscheinlichsten Beweis für das Dasein der Götter und das Walten einer Vorsehung, sondern sie schlossen ebenso auch umgekehrt: wenn es Götter gebe, müsse es auch eine Weissagung geben, da den Göttern ihre Güte nicht erlauben würde, den Menschen eine so unschätzbare Gabe zu versagen.« Dieser Glaube nun, der in der Tat den Götter- und Vorsehungsglauben notwendig voraussetzte und mit ihm stand und fiel, war auch unter den Gebildeten der damaligen Welt höchst verbreitet.

Livius sagt zwar, daß infolge derselben Indifferenz, welche die Ursache des jetzigen allgemeinen Unglaubens an wunderbare, von den Göttern gesandte Vorzeichen sei, Prodigien weder öffentlich bekannt gemacht noch in die Geschichtsbücher eingetragen würden. Aber diese Indifferenz kann nicht lange gewährt haben, denn alle Geschichtsschreiber der Kaiserzeit ohne Ausnahme verzeichnen dergleichen Wunder, viele mit besonderer Vorliebe, wie der zeichengläubige Cassius Dio; mit der Zeit sind die Prodigien sogar für die Gläubigen der Gegenstand eines ganz besonderen Interesses geworden, welchem die Sammlung aller in Italien geschehenen Wunder und Zeichen aus Livius (von einem Julius Obsequens, dessen Zeit wir nicht kennen) ihren Ursprung verdankt.

Auch Tacitus, der sich dem Glauben an Wunder und Zeichen gegenüber kritisch verhielt und sich ausdrücklich gegen den gemeinen Aberglauben verwahrt, der in jedem auffälligen Ereignisse eine Vorbedeutung sah, hat zwar deshalb ohne Zweifel einen großen Teil der angeblichen Prodigien als solche nicht anerkannt, aber an ihrem Vorkommen im allgemeinen nicht gezweifelt und in den späteren Büchern seiner großen Zeitgeschichte sie auch verzeichnet. Gegenüber der Frage nach der Geschichtlichkeit angeblicher Wunder befindet er sich wie andre Historiker derselben Zeit in einer gewissen Verlegenheit und wagt nicht eine prinzipielle Entscheidung zu fällen, sondern sucht sie von Fall zu Fall zu treffen. Schon in einem seiner ersten Bücher berichtet er, daß am Tage der Schlacht bei Bedriacum sich bei Regium Lepidum ein Vogel von nie gesehener Gestalt niedergelassen und weder von den Menschen noch von den ihn umschwärmenden Vögeln sich habe verscheuchen lassen, bis Otho sich selbst getötet; dann sei er verschwunden; als man die Zeit nachgerechnet, sei Anfang und Ende der Wundererscheinung mit Othos Tode genau zusammengetroffen. So sehr er es unter seiner Würde halte, fügt Tacitus ausdrücklich hinzu, sein ernstes Werk mit Fabeln zu schmücken, so wage er in diesem Falle doch nicht, dem, was allgemein berichtet werde, den Glauben zu versagen.

Die regelmäßigen Erwähnungen der Vorzeichen, namentlich solcher, die einem Privatmanne die künftige Kaiserwürde, und solcher, die den Tod des Kaisers verkündeten, bei Sueton, Cassius Dio, Herodian, den späteren Kaiserbiographen, lassen an der Fortdauer dieses Glaubens, den die Schriftsteller doch gewiß auch bei der großen Mehrzahl ihrer Leser voraussetzen mußten, keinen Zweifel, und oft genug zeigt die Erzählung, bis zu welchem Grade die hervorragendsten Männer jener Zeit in diesem Glauben befangen waren. Augustus, sagt Sueton, achtete auf gewisse Wahrzeichen, deren Bedeutung ihm für völlig sicher galt. Wenn er morgens einen Schuh auf den falschen Fuß zog, war es ein übles, wenn beim Antritt einer längeren Reise Tau fiel, ein gutes Vorzeichen; auch wunderbare Ereignisse machten immer großen Eindruck auf ihn, wie daß vor seinem Hause aus den Fugen der Steine eine Palme hervorsproßte, und bei seiner Ankunft in Capri die zu Boden gesenkten, schon kraftlosen Äste einer alten Steineiche neue Kraft gewannen. Und hätte Livius bei Sueton das mit wahrem Bienenfleiß aus Büchern und Überlieferungen zusammengetragene Verzeichnis aller der Vorzeichen lesen können, die Augustus' künftige Größe, seine Siege und seinen Tod verkündeten, so würde er vielleicht seine Klage über die Gleichgültigkeit gegen solche Dinge zurückgenommen haben. Dieser Starkgläubigkeit wurde jedes Ereignis bedeutungsvoll, und kein Wunder war ihr zu groß oder zu lächerlich: Sueton berichtet ernsthaft, daß Augustus als Kind, da er eben zu sprechen anfing, einmal auf einem Familiengute den quakenden Fröschen zu schweigen befahl, und man versichere, daß die Frösche seit jener Zeit dort nicht mehr quakten.

Daß auch bei den Gläubigen verschiedne Arten von Vorbedeutungen in verschiedner Geltung standen, daß das Ansehen der mannigfaltigen Methoden der Prophezeiung nicht zu allen Zeiten dasselbe war, sondern bald jene, bald diese den meisten Glauben fand, ist selbstverständlich. Aber niemals ist doch eine der anerkannten Arten der Weissagung aus Mangel an Glauben ganz außer Gebrauch gekommen. Der vernichtende Spott Ciceros über die Haruspicin und Eingeweideschau überhaupt könnte zu der Ansicht verleiten, als sei diese Weissagung in eine zu tiefe Mißachtung versunken gewesen, um (wenigstens bei den Gebildeten) jemals wieder zu Ansehen gelangen zu können: aber nichts würde irriger sein. Cicero führt jene Äußerung des Cato an, er wundere sich, daß ein Haruspex, der einen andern sehe, sich des Lachens enthalten könne; weiter die Frage des Hannibal an König Prusias, der das Liefern einer Schlacht von einer Eingeweideschau abhängig machen wollte: ob er einem Stückchen Kalbfleisch mehr glaube als einem alten Feldherrn! Er erinnert daran, wie namentlich auch im letzten Bürgerkriege fast immer das Gegenteil von dem Prophezeiten eingetroffen sei. Aber der Spott der Ungläubigen machte die Gläubigen ebensowenig irre wie die Tatsachen, die ihren Glauben Lügen straften. Wie immer in ähnlichen Fällen hatten sie nur für die wirklich oder angeblich eingetroffenen Prophezeiungen Gedächtnis, und zahlreiche Zeugnisse aus den folgenden Jahrhunderten bestätigen die Fortdauer des Glaubens an die Eingeweideschau, sowie ihre Verbreitung auch in den gebildeten Klassen.

Schon das Verbot des Tiberius, die Haruspices im geheimen und ohne Zeugen zu befragen, setzt eine sehr allgemeine Benutzung dieser Weissagungsform voraus. Die Besorgnis des Claudius (im Jahre 47), daß diese älteste Wissenschaft Italiens durch Vernachlässigung erlöschen könnte, hat nicht sowohl eine Abkehr des allgemeinen Interesses von der Eingeweideschau als die drohende Gefahr einer Verfälschung der altetruskischen Lehre durch das Eindringen fremder Vorstellungen zur Voraussetzung. Der ältere Plinius sagt ausdrücklich, ein großer Teil der Menschen stecke in dem Glauben, daß die Tiere durch ihre Muskelfasern und Eingeweide uns vor Gefahren warnen. Dem Kaiser Galba meldete an dem Morgen des Tages, an dem er ermordet wurde (15. Januar 69), der Haruspex Umbricius, daß die Eingeweide des Opfers auf gefahrdrohende Nachstellungen und einen Feind im Hause deuteten; was Otho, welcher dabeistand, als ein für ihn frohes und seinem Unternehmen günstiges Zeichen auffaßte. Epictet, der den Lehren seiner Schule gemäß auch hier Offenbarungen der Gottheit erkannte und an der Kunst, die sie deutete, keinen Zweifel hegte, mahnt nur, man solle sich in seinen Handlungen nicht allein durch die Weissagung, sondern vor allem durch das Pflichtbewußtsein leiten lassen; wozu er keine Veranlassung gehabt hätte, wenn das erstere nicht sehr allgemein geschehen wäre. Nur die Angst vor der Zukunft sei es, welche die Menschen so oft zu den Wahrsagern treibe. Man nähere sich ihnen, zitternd vor Aufregung, mit Bitten und Schmeicheleien, als könnten sie unsre Wünsche erfüllen: »Herr, werde ich meinen Vater beerben? Herr, habe Erbarmen mit mir, mache, daß ich ausgehen darf!« Aber der Eingeweide- oder Vogelschauer kann doch nichts voraussehen, als die bevorstehenden Ereignisse selbst, wie Tod, Gefahr, Krankheit oder dgl. Ob sie dem Betreffenden in Wahrheit heilsam oder schädlich seien, weiß er nicht. Herodian sagt, der tapfere Widerstand der Stadt Aquileja gegen Maximinus sei hauptsächlich infolge der Prophezeiungen der dort anwesenden Haruspices geleistet worden; »denn auf diese Art der Weissagung vertrauen die Bewohner von Italien am meisten«. Daß sie aber auch außerhalb Italiens Ansehen genug hatte, beweist außer den Äußerungen Epictets die Anerkennung, welche ihr der Traumdeuter Artemidor zollt, der neben seiner eignen Kunst nur sehr wenige Methoden der Weissagung gelten ließ: Sterndeutung, Opfer-, Vogel- und Leber- (d. h. Eingeweide-) Schau. Und daß es den Haruspicin auch unter den Gebildeten an Gläubigen niemals fehlte, darf man nach einzelnen zufälligen Angaben aus verschiedenen Zeiten schließen. Regulus, der in der Zeit von Nero bis Domitian als Redner und Ankläger in Majestätsprozessen eine unheilvolle Berühmtheit besaß, befragte jedesmal, wenn er auftrat, die Haruspices über den Ausgang des Prozesses. Nach Juvenal wurden sie von vornehmen Frauen wegen der Erfolge der von ihnen bewunderten musikalischen Virtuosen und Schauspieler so viel befragt, daß sie vom langen Stehen Krampfadern in den Beinen bekamen. Der Kaiser Gordian (der erste) war in dieser Wissenschaft über die Maßen erfahren, zu welcher auch Diocletian großes Zutrauen hatte, Constantin gestattete den privaten Gebrauch der Haruspicin, nur den innerhalb des Hauses vorgenommenen verbot er bei Todesstrafe; bei Blitzbeschädigung hat er sie noch selbst (321) von Staats wegen angeordnet. Ammianus Marcellinus zählt unter die Mittel, welche die Güte der Vorsehung den Menschen zur Erforschung der Zukunft verliehen habe, auch die Haruspicin und sagt, daß Julian schon in der Zeit, wo er noch das Bekenntnis des Christentums heuchelte, der Haruspicin und den Augurien ergeben war, »sowie allem übrigen, was die Verehrer der Götter von jeher getan haben«. Noch bei der Einschließung Roms durch Alarich im Jahre 408 wurden – zum letzten Male, soviel uns bekannt – die Ratschläge der Haruspices eingeholt und die von ihnen empfohlenen heidnischen Opfer sogar unter heimlicher Zustimmung des Papstes Innocentius zur Ausführung gebracht. Nach diesen Angaben über die Fortdauer und Verbreitung des Glaubens an die Haruspicin, die sich noch sehr vermehren ließen, läßt sich dasselbe für alle übrigen herkömmlichen Prophezeiungsmethoden voraussetzen.

Unter den Arten die Zukunft zu erforschen setzt nun allerdings die Lieblingswissenschaft jener Zeit, die Astrologie, die namentlich unter den höheren Ständen das meiste Ansehen genoß, den Glauben an die Götter und eine durch sie geübte Vorsehung nicht notwendig voraus, obgleich sie ihn ebensowenig ausschließt: in der vorsehungsgläubigen stoischen Schule war unter den Älteren Panätius der einzige, der sie verwarf: und dieser bestritt die Vorbedeutungen und die Weissagungen überhaupt. Doch liegt es in der Natur der Sache, daß der in der damaligen Welt so ungemein verbreitete Glaube an ein unabwendbares Verhängnis, welcher der Astrologie gerade am meisten Vorschub leistete, leicht zur Entfremdung vom Götterglauben führen konnte. Der Glaube, der »alle Ereignisse durch die Gesetze der Geburt ihren Gestirnen zuwies«, und dem, wie Plinius in einer bereits angeführten Stelle sagt, die Menge der Gebildeten wie der Ungebildeten gleich bereitwillig zufiel – dieser Glaube, nach welchem das einmal Beschlossene für alle Zukunft unabwendbar feststand, setzte die Gottheit für immer in Ruhe. Tiberius, sagt Sueton, verhielt sich in bezug auf die Götter und den Gottesdienst ziemlich gleichgültig, da er der Astrologie ganz ergeben und von der Überzeugung durchdrungen war, alles geschehe nach Verhängnis.

Aber auch die Weissagung der Orakel, in welcher die Götter gleichsam persönlich den Menschen die Zukunft offenbarten, die also, weil sie die unmittelbarste Eingebung der Gottheit voraussetzte, so auch am meisten den Glauben an sie befestigen und nähren mußte, auch sie hat in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten kaum weniger allgemeines Ansehen genossen als zu irgendeiner früheren Zeit; und daß diese Weissagung nicht bloß fortbestand, sondern auch nach einem zeitweiligen Verfall eine vollständige Restauration erleben konnte, ist ein um so unzweifelhafterer Beweis für die Kraft des Götterglaubens. Strabo, der den Verfall und die Vernachlässigung der griechischen Orakel in der Zeit des Augustus ausdrücklich bezeugt, ist zwar zu seinen Äußerungen wohl mit von dem Gedanken an die Zeiten des Glanzes von Delphi bestimmt worden, der doch schon seit Jahrhunderten erloschen war; aber auch für das damals eingetretene Sinken des Ansehens der griechischen Orakel überhaupt gibt er allem Anscheine nach die richtige Ursache an: daß nämlich die Römer sich mit den Weissagungen der sibyllinischen Bücher und der etruskischen Prophezeiung (durch Beobachtung der Eingeweide, des Vogelflugs und der himmlischen Zeichen) begnügten. Es war eine natürliche Folge der Weltherrschaft, daß das Römische auf allen Gebieten zunächst das Unrömische in seiner Bedeutung herabdrückte; und der überwältigende Eindruck römischer Macht und Größe hatte gerade damals auch in der griechischen Welt seine Kulmination erreicht. Doch wenn dieser Eindruck gleich vermochte, dem Glaubensbedürfnisse der Menschen neue Richtungen zu geben, so war er doch keinesfalls stark genug, sie auf die Dauer ganz zu beherrschen. Der alte Glaube stellte sich völlig wieder her, und nicht nur das niedere Volk der von der Kultur weniger durchdrungenen Länder hielt an den landesüblichen Formen der Erkundung der Zukunft fest, sondern auch die altberühmten Orakeltempel füllten sich aufs neue mit Wallfahrern. Dort sagten »von Gott erfüllte und mit ihm eins gewordene Propheten die künftigen Dinge voraus, gewährten Verhütung von Gefahren, Heilung von Krankheiten, Hoffnung für Betrübte, Hilfe für Unglückliche, Trost in Leiden, Erleichterung in Mühsalen«. Auch die christlichen Schriftsteller, welche behaupteten, mit dem Kommen des Erlösers in die Welt sei die Macht der falschen Götter gebrochen gewesen, der Zauber, durch den sie so lange Bildern von Holz und Stein Sprache verliehen, habe seine Kraft verloren, und ihre Orakel seien verstummt: auch sie mußten bekennen, daß die Dämonen in den Orakeltempeln aufs neue wahre Prophezeiungen und heilsame Warnungen erteilten und Heilungen bewirkten; aber freilich nur, um durch diese scheinbaren Wohltaten denen um so größeren Schaden zuzufügen, welche sie von dem Forschen nach der wahren Gottheit durch Einschwärzung der falschen ablenkten. Daß die Dämonen die Zukunft vorauswußten, erklärte man sich daraus, daß sie als ehemalige Diener Gottes seine Absichten kannten. Noch Petrarca, sonst auffallend frei von Aberglauben, glaubte an die heidnischen Orakel als von Dämonen erteilte.

Die Größe des römischen Reichs und der durch die Vortrefflichkeit seiner Kommunikationsmittel höchst entwickelte unaufhörliche Wechselverkehr aller seiner Teile miteinander hatte eine ungeheure Erweiterung des Gebiets zur Folge, auf das sich der Einfluß der angeseheneren Orakel erstreckte. Aus fernen Barbarenländern pilgerten nun Hilfe und Rat Suchende zu den griechischen Tempeln, und die Sprüche der griechischen Götter wurden mit Ehrfurcht in Gegenden vernommen, in die vor der Zeit der römischen Weltherrschaft ihre Namen nie gedrungen waren. Wenn (wie es scheint Ende des 2. Jahrhunderts) eine Kohorte von Tungrern in ihrem Standquartier zu Borcovicium (Housesteads) am Hadrianswall in Britannien »den Göttern und Göttinnen« eine Widmung darbrachte »gemäß der Auslegung des Orakels des klarischen Apollo« (bei Kolophon), und ähnliche Weihinschriften zu Corinium im nördlichen Dalmatien und in Cuicul in Numidien sich auf den Spruch desselben Orakels berufen: so wird man hier vielleicht an eine von Truppen verschiedner Provinzen vereinbarte Befragung dieses Gottes zu denken haben. Jedenfalls kann man nicht zweifeln, daß die berühmten Orakel in der römischen Kaiserzeit aus allen Provinzen des Reichs befragt wurden, und die zahlreichen gelegentlichen Erwähnungen der Schriftsteller bestätigen es. So befragte (um nur einiges anzuführen) Germanicus außer dem eben erwähnten Orakel des klarischen Apollo auch das des Stiers Apis zu Memphis, Tiberius das Losorakel des Geryones bei Patavium, Caligula das der Fortunen zu Antium, Nero das zu Delphi, Vespasian das auf dem Berge Karmel, Titus das der Venus zu Paphus auf Cypern, Caracalla das des Sarapis zu Alexandria und überhaupt alle berühmten Orakel. Wie sehr man in dieser Zeit bestrebt ist, die zukunftskündende Kraft aller Regionen und Völker sich nutzbar zu machen, zeigt die eigentümliche Tatsache, daß uns im Haushalte eines Statthalters von Ägypten eine germanische Prophetin, die semnonische Seherin Waluburg, begegnet. In den Kreisen der Gläubigen führte man Beweise von der Allwissenheit der Orakel an, die das noch überboten, was Herodot von den Antworten des delphischen auf die Fragen des Krösus berichtet. Bei Plutarch erzählt dessen Freund, der gelehrte Demetrius aus Tarsus, als ein selbsterlebtes Ereignis, wie ein ungläubiger Statthalter von Cilicien durch einen Orakelspruch zum Glauben bekehrt wurde. Er sandte auf Veranlassung einiger epikureischer Religionsspötter in seiner Umgebung einen Freigelassenen mit einem versiegelten Täfelchen, das die Frage enthielt, zu dem Traumorakel des Halbgottes Mopsus. Der Bote, der nach der dortigen Sitte im Tempel eine Nacht zubrachte, träumte, daß ein schöner Mann zu ihm trete und spreche: einen schwarzen – sodann sich entferne. Als er dies dem Statthalter meldete, erschrak derselbe, fiel auf die Knie, öffnete das Täfelchen und zeigte den Anwesenden seine Frage: werde ich einen weißen oder einen schwarzen Stier opfern? Auch die Epikureer waren bestürzt, der Statthalter aber brachte das Opfer und verehrte fortan den Mopsus.

Doch nichts zeigt so sehr, welcher Selbstbetörung der Wunderglaube fähig war, und macht zugleich so anschaulich, wie leicht und schnell Orakel in Gegenden Eingang und Geltung finden konnten, in denen sie früher unbekannt waren, als Lucians (allerdings durchaus voreingenommener und feindseliger) Bericht über das von dem Pseudopropheten Alexander in seiner Vaterstadt Abonuteichos in Paphlagonien eingerichtete angebliche Orakel des Apollo und Asklepios.

Alexander (geb. um 105, gest. gegen 175), schon als Knabe durch Schönheit ausgezeichnet, war von einem Landsmanne des Apollonius aus Tyana, einem Arzt, in den Gaukeleien der Magie unterwiesen worden und hatte diesem als Gehilfe gedient. Nachdem er dann mit einem Gefährten Bithynien und Mazedonien als Zauberer und Wahrsager durchzogen, wählte er zur Gründung eines eignen Orakels seine Vaterstadt, die dazu durch die krasse Götterfurcht und die Wohlhabenheit ihrer Bewohner besonders geeignet erschien. Erztafeln, von ihm im Apollotempel zu Chalcedon vergraben und wieder aufgefunden, meldeten, daß Apollo mit seinem Sohne Asklepios nach Abonuteichos übersiedeln werde, dessen hocherfreute Bewohner sogleich die Erbauung eines Tempels für den letzteren in Angriff nahmen. Nachdem sodann ein Sibyllenausspruch verbreitet worden war, daß Alexander, ein Abkömmling des Perseus und Asklepios, als Prophet erscheinen werde, hielt er selbst, eine imposante und gewinnende Erscheinung, prachtvoll in Weiß und Purpur gekleidet, die Sichel, wie sie einst Perseus geführt, in der Hand, seinen Einzug. Der Gott Asklepios sollte sich in der Gestalt einer Schlange zeigen. Alexander ließ seine Landsleute in dem Wasser, das sich beim Graben der Fundamente des Tempels gesammelt hatte, ein ausgeblasenes Gänseei finden, in dem sich eine kleine Schlange befand; bald darauf wies er eine längst in Bereitschaft gehaltene große, zahme vor, das schnelle Wachstum des Gottes erschien nur natürlich. Wenn Alexander sich mit der Schlange um den Hals in einem halbdunkeln Raume zeigte, ließ er statt ihres Kopfs einen aus bemalter Leinwand verfertigten Schlangenkopf aus seinem Gewande hervorstehen, der einem Menschengesicht ähnlich war und durch das Ziehen von innen angebrachten Pferdehaaren geöffnet und geschlossen werden konnte. Später wurde auch eine Röhre in den Kopf geführt, durch welche ein Gehilfe den Gott sprechen lassen konnte, doch wurden solche »selbstgesprochnen« Orakel nur ausnahmsweise und für hohe Bezahlung erteilt. Gewöhnlich wurden die Fragen versiegelt eingereicht und ebenso zurückgegeben; beim Eröffnen fand man die Antwort des Gottes darunter geschrieben. Dieser nannte sich selbst Glykon.

Schnell verbreitete sich der Ruf des Orakels in ganz Kleinasien und Thracien, und der Zudrang zu demselben, der während der ganzen Zeit seines Bestehens (über 20 Jahre) nicht abgenommen zu haben scheint, steigerte sich zuweilen so, daß in Abonuteichos Mangel an Lebensmitteln eintrat. Lucian schätzt das Einkommen des Propheten bei einer Gebühr von etwa 1 Mark für den Spruch auf etwa 60.000 Mark jährlich, wovon allerdings ein zahlreiches Personal von Gehilfen aller Art zu besolden war; doch zwei Exegeten rätselhafter Orakelsprüche mußten dem Propheten aus ihren Einnahmen eine Pacht von je etwa 4800 Mark jährlich entrichten. Öfters verhieß der Gott die Erfüllung der Wünsche der Fragenden, falls der Prophet für sie bitten würde. Nicht selten waren die Fragen in fremden Sprachen, wie in der syrischen und der (in Galatien sich als Umgangssprache behauptenden) keltischen, verfaßt, und es war nicht immer leicht, Leute zu finden, welche dieselben verstanden. Gelegentliche Mißgriffe in der Beantwortung schadeten dem Ansehen des Orakels nicht; seine Göttlichkeit offen zu leugnen, war nicht ohne Gefahr; denn Alexander verstand es, den Schwarm der Gläubigen gegen seine Widersacher (namentlich Epikureer) als »Atheisten und Christen« zu fanatisieren. Die Priester der angesehensten Orakel Kleinasiens machte er sich zu Freunden, indem er öfters die Besucher des seinigen an sie verwies.

Durch Emissäre ließ Alexander auch in andern Provinzen für seinen Gott Propaganda machen, und bald gewann er zahlreiche Gläubige auch in Italien und in Rom selbst. Viele der höchstgestellten und einflußreichsten Männer setzten sich mit ihm in Verbindung. Verfängliche Fragen (d. h. solche, die sich auf den Kaiser oder Staatsangelegenheiten bezogen) behielt Alexander zurück und hatte dadurch die Fragesteller in seiner Gewalt, die seine Verschwiegenheit teuer erkaufen mußten. In dem überaus gottesfürchtigen und abergläubischen P. Mummius Sisenna Rutilianus (consul suff. vor 172) gewann er einen so blindgläubigen Verehrer, daß der 60jährige Konsular sich auf das Geheiß des Gottes Glykon mit einer Tochter des paphlagonischen Schwindlers vermählte, deren Mutter angeblich die Mondgöttin war. Rutilianus war es auch, der den Kaiser Marc Aurel bewog, im Kampfe gegen die Markomannen, als ein Opfer, welches den Römern den Sieg sichern sollte, zwei Löwen in die Donau werfen zu lassen, worauf sie freilich eine große Niederlage erlitten (wohl unter Furius Victorinus 166). Als Lucian bei dem Statthalter von Bithynien, Lollianus Avitus, eine Klage wegen eines von Alexander gegen ihn gemachten Mordversuchs erheben wollte, beschwor ihn dieser, davon abzustehen, da er den Schwiegervater des Rutilianus nicht verfolgen könne. Mit den Schrecken des Kriegs vereinigten sich damals die verheerenden Wirkungen jener in einem großen Teile des Reichs wütenden Epidemie, um überall auch das religiöse Bedürfnis und die Glaubensseligkeit aufs höchste zu steigern. Überall las man auf den Haustüren einen von Alexanders Sendboten, die seinen Beistand gegen Seuchen, Feuersbrünste und Erdbeben empfohlen hatten, verbreiteten Orakelspruch, der ein sicheres Schutzmittel gegen jene Pest sein sollte.

Alexander starb im Alter von fast 70 Jahren in unangefochtenem Besitz von Ehre, Macht und Reichtum, und noch nach seinem Tode stand eine Statue von ihm auf dem Markt in Parium in Mysien, bei der ihm öffentliche Opfer und Feste gefeiert wurden. Lucians Berichte, die man als übertrieben ansehen könnte, erhalten volle Bestätigung durch Münzen von Abonuteichos mit den Köpfen der Kaiser Antoninus Pius und Marc Aurel, die auf der Rückseite eine Schlange mit einem Menschenkopfe, zum Teil mit der Beischrift »Glykon«, zeigen. Die Legenden dieser Münzen bestätigen ferner, daß Alexander, wie Lucian ebenfalls berichtet (wohl bei L. Verus während dessen Aufenthalts in Asien 162 bis 166) die neue Benennung »Ionopolis« für seine Vaterstadt durchzusetzen vermochte, welche sogar die ältere verdrängt und sich in wenig veränderter Form (Ineboli) bis heute erhalten hat. Der erwähnte Münztypus findet sich dort bis in die Zeit des Trebonianus Gallus (251-253), und unter Caracalla und Gordian III. auch in Nicomedien, wohin also der Kultus des Gottes Glykon ebenfalls gedrungen sein muß. Andere Zeugnisse für die Verbreitung desselben haben sich in dem hauptsächlich von Kleinasien aus kolonisierten Dacien und dem oberen Mösien gefunden: zwei in Apulum (Karlsburg in Siebenbürgen) zum Vorschein gekommene Inschriften sind dem Gotte Glykon »auf dessen Befehl« geweiht; nicht ganz sicher ist die Deutung einer in Mösien (in Üsküb) gefundenen Weihung »dem Juppiter und der Juno, dem Drachen und der Drachenfrau und dem Alexander«, wonach also Alexander, falls er hier gemeint ist, außer der von Lucian erwähnten Schlange noch ein weibliches Exemplar gehabt haben müßte.

Wenn ein so plumper Betrug so lange Zeit hindurch ohne ernstliche Bekämpfung und mit so ungeheurem Erfolge geübt werden konnte, so ergibt sich der Rückschluß auf den Glauben an die anerkannten Orakel und deren Einfluß von selbst. Mehrere derselben waren Traumorakel, wie das des Mopsus und Amphilochus zu Mallos in Cilicien, welches dem S. Quintilius Condianus seine und seines Bruders Ermordung durch Commodus in einem Traume (von dem die beiden Schlangen würgenden Herakleskinde) verkündete. Daß aber nicht bloß dort, sondern überall Träume die Zukunft voraussagten, war unter allen Formen des Glaubens an Vorbedeutungen die allgemeinste und die einzige, die selbst ein Teil derer nicht bestritt, welche den Weissagungsglauben im übrigen durchaus verwarfen. Aristoteles und Demokrit gaben das Vorkommen weissagender Träume zu, die aber nicht von den Göttern gesandt, sondern natürliche Wirkungen natürlicher Ursachen seien; und so neigte auch der ältere Plinius, der alle übernatürliche Offenbarung der Zukunft leugnete, zu dem Glauben an bedeutende Träume. In einem der früheren Bücher seiner Naturgeschichte läßt er die Frage unentschieden, aber in einem späteren berichtet er als unzweifelhafte Tatsache, daß ein Soldat der Kaisergarde in Rom, der durch den Biß eines tollen Hunds wasserscheu geworden war, durch ein Mittel gerettet worden sei, das seiner in Spanien lebenden Mutter ein Traum geoffenbart hatte. Ohne seinen Unfall zu ahnen, hatte sie ihm dieses in einem Briefe mitgeteilt, der gerade zur rechten Zeit ankam, um den Kranken wider alle Erwartung zu retten. Wenn Plinius sagt, dieses vorher unbekannte Mittel, das sich seitdem stets bewährte, habe »Gott« offenbart, so dachte er wohl an jenes geheimnisvolle Walten der Natur, das sich auch in den Sympathien und Antipathien ihrer Kräfte kundzugeben schien, keinesfalls an die Vorsehung einer persönlichen Gottheit.

Setzt aber der Glaube an weissagende Träume auch den Götter- und Vorsehungsglauben nicht notwendig voraus, so haben sicherlich immer nur die wenigsten den einen ohne den andern gehegt, bei der großen Mehrzahl hat sich der Glaube wie der Unglaube auf beide Gebiete zugleich erstreckt. Demokrits Theorie hat allem Anschein nach selbst bei den Epikureern wenig Eingang gefunden, und sie haben im allgemeinen mit der Vorsehung auch die Weissagung der Träume wie alles sonstige geleugnet. Dagegen allen, die eine Vorsehung annahmen, sagt Origenes, war es gewiß, daß es Erscheinungen im Traume gab, die teils ganz eigentlich göttlicher Natur waren, teils die Zukunft offenbarten, sei es deutlich, sei es in Rätseln. Im Schlafe, sagt der Vertreter des Heidentums in dem Dialoge des Minucius Felix, sehen, hören, erkennen wir die Gottheit, die wir am Tage gottlos leugnen, verschmähen, durch Meineid beleidigen. Namentlich die Stoiker legten den größten Wert auf diese von der Vorsehung den Menschen geschenkte »eigentümliche Tröstung eines natürlichen Orakels«; und auch die Christen glaubten, daß nicht bloß von Gott, sondern auch von Dämonen wahre Träume gesandt würden, freilich in der schon erwähnten bösen Absicht, und viel öfter trügerische und unreine. Man wird also nicht sehr irren, wenn man auf die Allgemeinheit und Festigkeit des Götter- und Vorsehungsglaubens aus der Allgemeinheit und Festigkeit auch des Glaubens an Träume schließt.

Über diese letztere kann nun aber niemand in Zweifel sein, der die Literatur der ersten Jahrhunderte, namentlich die historische, auch nur oberflächlich kennt. Selten wird ein großes Ereignis erzählt, ohne daß zugleich mindestens ein Traum mitgeteilt wird, der es ankündete. Die hervorragenden Männer räumten Träumen den größten Einfluß auf ihre Handlungen ein, man ließ sich durch sie zu Unternehmungen jeder Art bestimmen; so schrieb Galen über Mathematik, der ältere Plinius seine Geschichte der römischen Kriege in Deutschland infolge eines Traums. Träume entschieden über die Wahl des Lebensberufs: Galen war zum Studium der Medizin durch einen Traum seines Vaters bestimmt worden. Er ließ sich auch in der Behandlung seiner Kranken vielfach von Träumen leiten, und zwar mit bestem Erfolge. So hatte er einmal auf die Eingebung zweier deutlicher Träume die Ader zwischen dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand geschlagen und das Blut so lange fließen lassen, bis es von selbst aufhörte. Ebenso fest war übrigens sein Glaube an die Wissenschaft des Vogelflugs. Sueton wandte sich an den jüngeren Plinius mit der Bitte, den Aufschub eines Termins zu erwirken, an welchem er eine Verteidigung vor Gericht führen sollte, da ein Traum ihm einen unglücklichen Ausgang verkündet habe. Plinius rät, die Sache nochmals zu erwägen, da es darauf ankomme, ob Suetons Träume die bevorstehenden Ereignisse oder das Gegenteil bedeuten, er selbst befinde sich im letzteren Falle. Augustus, der nicht bloß seine eigenen Träume, sondern auch die auf ihn bezüglichen andrer sorgfältig beachtete, ließ sich durch einen Traum bewegen, alljährlich an einem bestimmten Tage und an einem bestimmten Orte den Vorübergehenden wie ein Bettler die hohle Hand hinzuhalten und die Kupfermünze in Empfang zu nehmen, die sie ihm reichten. Marc Aurel dankte den Göttern, daß sie ihm in Träumen Verordnungen gegen Schwindel und Blutspeien gegeben hatten. Über die Träume und Vorzeichen, welche die Herrschaft des Septimius Severus vorausverkündeten, schrieb Cassius Dio ein Buch, und Severus, der auf seine Träume so großen Wert legte, daß er z. B. einen derselben in Bronze ausführen ließ, nahm dasselbe sehr günstig auf. Einst hatte der spätere Kaiser sich auf eine hohe Warte geführt gesehen, von wo er alles Land und Meer überschaute; er griff hinein wie in die Saiten einer Laute, und Harmonien tönten ihm entgegen. Auch seine große römische Geschichte begann Cassius Dio »auf die Weisung der Gottheit im Traume« und fand den Mut und die Kraft, sie fortzusetzen und zu vollenden, durch neue Träume, in welchen Tyche (welcher als der Beschützerin seines Lebens er sich ganz geweiht hatte) ihm die Unsterblichkeit verhieß.

Das einzige, aus einer sehr umfangreichen, vorzugsweise griechischen Literatur auf uns gekommene Traumbuch ist namentlich auch als Beweis dafür interessant, wie sehr die Traumdeutung als eine Wissenschaft anerkannt war, deren Vertreter sich bemühten, auf Grund eines möglichst umfassenden und zuverlässigen Materials die Methode der Auslegung zum höchsten Grade der Strenge und Schärfe auszubilden. Der Verfasser, Artemidor von Daldis – so mochte er sich lieber nennen als nach seiner Geburtsstadt Ephesus, da er dem obskuren Geburtsorte seiner Mutter auch den Ruhm gönnen wollte, einen namhaften Mann hervorgebracht zu haben – lebte gegen Ende des 2. Jahrhunderts und schrieb auf das wiederholte Geheiß des Apollo, der ihm sichtbarlich erschienen war, und auf den Antrieb eines Cassius Maximus, der wahrscheinlich niemand anders ist als der Platoniker Maximus von Tyrus. Auch für Artemidor, der außerdem Schriften über Vogel- und Handbeschauung verfaßte, waren die Träume, welche die Götter »der von Natur prophetischen Menschenseele senden«, eine Betätigung der göttlichen Vorsehung, und seine Gegner setzte er hauptsächlich unter denen voraus, welche weder an diese, noch an Weissagung überhaupt glaubten. Seine tiefe Ehrfurcht vor dem Walten der Gottheit beweist unter anderm die Mahnung, wenn man Träume von den Göttern erbitte, nicht nach Unnützem zu forschen und ja nicht so zu beten, als wolle man ihnen Vorschriften machen, nach dem Traume aber ein Opfer und Dankgebet zu bringen. Er betrachtete den ihm gewordenen Beruf, die Kundgebungen der Gottheit auszulegen, wie ein Priestertum, seine »Wissenschaft« war ihm heilig. Sein ganzes Leben hatte er an ihre Erforschung gesetzt, Tag und Nacht studiert, alle irgend aufzutreibenden Traumbücher gekauft und auf seinen Reisen in Kleinasien, Griechenland, Italien und auf den Inseln so viel Fachgenossen wie möglich kennenzulernen und seine Kenntnisse durch Erfahrung zu bereichern gestrebt. Der hohe Begriff von der Wahrheit und Würde seiner Wissenschaft ließ ihn jede Scharlatanerie und Künstelei verschmähen. Streben nach Effekt bei dem großen Publikum und dem Beifalle gewerbsmäßiger Schönredner, sagt er, habe ihm ferngelegen: sonst wäre es ihm leicht gewesen, ebensogut wie andre blendende und frappierende Dinge zu sagen. Stets dringt er auf einfache und leicht verständliche Erklärungen der Träume und verwirft die spitzfindigen und künstlichen, mit welchen den Laien imponiert werde: ja er fand sie gotteslästerlich, weil man damit den traumsendenden Göttern gewissermaßen die Absicht zu täuschen beilege. Stolz war er nur auf die Genauigkeit und Schärfe seiner Auslegung. Von seiner Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit enthält sein Buch zahlreiche Beweise; auch hatte er die Genugtuung, daß, wenn übelwollende und kleinliche Beurteiler in bezug auf dessen Vollständigkeit und Ausführlichkeit einige Ausstellungen gemacht hatten, doch von niemandem behauptet worden war, daß es an Wahrheit auch nur im geringsten fehle. Je weniger nun dieses Buch (dessen Entstehung und Verbreitung ohne einen gebildeten Leserkreis von gleicher Gesinnung undenkbar ist) auch nur eine Spur von eigentlicher Mystik und Phantasterei zeigt, je konsequenter, verständiger und methodischer es ist, desto schlagender beweist es, wie wenig in jener Zeit auch Nüchternheit und selbst ein gewisser Rationalismus den Glauben an eine fort und fort in Wundern sich offenbarende Vorsehung der Götter ausschloß.

Von diesen Wundern waren nun die Heilungen von Krankheiten durch Eingebungen von Träumen die greifbarsten und überzeugendsten, folglich auch diejenigen, die der Glaube am liebsten und häufigsten schuf und die ihm immer neue Nahrung gaben. Diese Wunder vollzogen sich natürlich ganz vorzugsweise auf dem heiligen Boden der Tempel der Heilgötter Asklepios, Isis, Sarapis, bei deren Heiligtümern unter dem Kultpersonal Traumdeuter nie gefehlt haben werden. Diese Götter taten dort auch andre Wunder. So versichert Aristides von dem unversieglichen »heiligen Brunnen« im Tempel des Asklepios zu Pergamum, daß durch das Baden in seinem Wasser viele ihr Augenlicht wiedererlangten, von Brustkrankheiten, Atembeschwerden, Fußverkrümmungen geheilt wurden, daß ein Stummer, der daraus trank, die Sprache erhielt, manchem schon das Schöpfen aus dem Brunnen Heilung brachte. Auch leibhaft erschien der Gott den Gläubigen keineswegs selten. Origenes beschwert sich, daß Celsus, der die Christen wegen ihres Glaubens an die Wunder Jesu einfältig nennt, ihnen zumute, zu glauben, »daß eine große Menge von Hellenen und Barbaren (wie sie versichern) den Asklepios nicht als eine Vision, sondern persönlich Heilungen und Wohltaten vollbringen und die Zukunft vorhersagen gesehen haben und noch sehen«. Diesen Aussagen gegenüber beruft sich Origenes auf eine unzählbare Menge derer, welche die Wunder Christi bezeugen, und fügt hinzu, daß er selbst durch die bloße Anrufung des Namens Gottes und Jesu Menschen von schweren Krankheiten, von Besessenheit und Wahnsinn und vielen andern Leiden habe befreien sehen, »die weder Menschen noch Dämonen heilen konnten«. Auch die beiden halbgöttlichen Söhne des Asklepios waren vielen zu Epidaurus und an andern Orten erschienen. In einer zu Rom inschriftlich erhaltenen Widmung an Pan für Herstellung aus schwerer Krankheit heißt es, daß der Gott dem Geheilten sichtbarlich erschienen war, nicht im Traume, sondern mitten am Tage.

Selbstverständlich aber war in der heidnischen Welt das größere Wunder, daß die Heilgötter in Person zu den Hilfesuchenden herabstiegen, auch das seltenere, und gewöhnlich erfolgten, wie gesagt, die Heilungen durch Träume, und zwar ohne Zweifel nicht bloß bei solchen, die in Tempeln schliefen. Artemidor hat in einem eignen Abschnitte »Von den Verordnungen« auch dieses Wunder auf seinen wahren Gehalt zurückzuführen gesucht, indem er es der schmückenden Zutaten entkleidete, durch welche die geschäftige Phantasie der Gläubigen es zu vergrößern meinte, die aber nach seiner Auffassung der Erhabenheit der Götter unwürdig waren. »In bezug auf die Verordnungen«, sagt er, »daß nämlich die Götter den Menschen (im Traume) Behandlungen von Krankheiten verordnen, ist es unnütz, Fragen aufzuwerfen. Denn viele sind in Pergamum, Alexandria und an andern Orten durch Verordnungen geheilt worden, und manche glauben, daß die Wissenschaft der Heilkunde aus ihnen hervorgegangen sei.« Nun aber werden lächerliche und widersinnige Verordnungen berichtet, die niemals geträumt, sondern erdichtet sind. So sollen z. B. einem Kranken im Traume »beißende Mohren« verordnet und damit Pfefferkörner gemeint gewesen sein, weil sie schwarz sind und beißen, einem andern »Jungfrauenmilch« und »Sternenblut«, worunter Tau zu verstehen gewesen sei, und dgl. Diejenigen, die dergleichen ersinnen, zeigen, daß sie kein Verständnis für die Liebe der Götter zu den Menschen haben. Die wirklich von den Göttern in Träumen gegebenen Vorschriften sind einfach und ohne Rätsel: sie verordnen Salben und Einreibungen, Tränke und Speisen mit denselben Namen, mit denen wir sie nennen; kleiden sie einmal eine Vorschrift in Rätsel, so sind diese stets leicht verständlich. Eine Frau z. B., die eine Entzündung an der Brust hatte, träumte, sie lasse ein Schaf daran saugen; sie legte ein Kraut darauf, das Schafszunge heißt, und genas. Und so wird man immer finden, daß die vorgeschriebnen Kuren durchaus nichts der rationellen Medizin Widersprechendes enthalten, daß also die göttlichen Offenbarungen mit den sicheren Resultaten der Wissenschaft durchaus übereinstimmen. So träumte z. B. der sehr an Gicht leidende Fronto (der bekannte Konsular und Schriftsteller), der um Angabe einer Kur gebetet hatte, er wandle vor der Stadt umher: und in der Tat wurde er durch fortgesetztes Umhergehen erheblich gebessert. Aristides erhielt ganz besonders häufig im Traume die Anweisung von Asklepios, zu dichten und Reden zu halten. Wie der Gott einem Faustkämpfer, der damals im Tempel schlief, die Kunstgriffe angab, durch die er einen berühmten Gegner niederwarf, so hat er »mir Kenntnisse und Lieder und Stoffe zu Reden vorgeschrieben und dazu die Gedanken selbst und den Ausdruck, wie die Lehrer den Knaben die Buchstaben«. Galen erwähnt, daß Asklepios vielen, die infolge heftiger Gemütsaufregungen leidend waren, verordnet habe, Oden, Lieder und Possen zu schreiben; andern, zu reiten, zu jagen und Waffenübungen zu veranstalten, und zwar mit genauer Angabe, in welcher Art die verordnete Übung vorzunehmen sei. Die Patienten, die sich dem Gott in Pergamum in Behandlung gegeben hatten, unterwarfen sich auch den härtesten Verordnungen, welche sie auf den Rat eines Arztes niemals befolgt haben würden, z. B. sich 15 Tage lang aller Getränke zu enthalten. Galen verdankte dem Asklepios seine Heilung von einem lebensgefährlichen Geschwür; und Marc Aurel verzichtete auf seine Begleitung im Markomannenkriege, da der Gott (vermutlich vermittels eines Traums) sich dagegen erklärt haben sollte. Zuweilen sind es an Stelle des Kranken die Priester, welche im Tempel schlafen und im Traume die heilenden Anweisungen für ihn erhalten; so in der unterirdischen Höhle des berühmten Plutonions bei Nysa am Mäander, die in der Regel überhaupt nur von den Priestern betreten werden durfte.

Den Tempelschlaf, der noch jetzt in Griechenland und Süditalien in Krankheiten häufig angewandt wird, übernahm die christliche Kirche aus dem Heidentum, und an die Stelle der im Traume Anweisungen spendenden Götter und Heroen traten die Madonna, der Erzengel Michael und verschiedene Heilige und Märtyrer.

Ausgrabungen im Asklepiostempel zu Epidaurus in den Jahren 1883 und 1884 haben von den sechs Tafeln, auf denen die von dem Gott an den im Tempel schlafenden Kranken vollbrachten Wunderkuren berichtet waren, zwei zutage gefördert. Diese Aufzeichnungen sind auf den rohesten Wunderglauben berechnet. Außer Heilungen von Lahmen, Blinden und Stummen ist darunter z. B. auch die Genesung einer Frau nach fünfjähriger Schwangerschaft von einem Knaben, der gleich nach der Geburt sich badete und mit der Mutter umherging. Auch fehlt es nicht an Bekehrungen von Leugnern und Zweiflern sowie an Beispielen der Bestrafung von Frevlern und solchen, die das Honorar nicht bezahlten. Außer diesen aus vorrömischer Zeit stammenden, von den Priestern verfaßten Wundergeschichten, die überall den Gott selber im Traume die Heilung vollziehen lassen, so daß der Kranke genesen das Heiligtum verläßt, ist u. a. auch der Bericht eines gebildeten Mannes aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. über seine dort erfolgte Herstellung gefunden worden. Dieser, M. Julius Apellas aus Mylasa in Karien, der viel krank gewesen war und namentlich an mangelhafter Verdauung gelitten hatte, war von dem Gott (im Traume) nach Epidaurus beschieden worden. Auf der Fahrt erhielt er (bei der Insel Ägina) den Rat, sich nicht so viel zu ärgern; dann in dem Heiligtume selbst zahlreiche Verordnungen über die äußerlich und innerlich anzuwendenden Heilmittel, die zu befolgende Diät und die vorzunehmenden heilgymnastischen Übungen (wozu auch Schaukeln gehörte); bei der Anweisung, ohne Hilfe des Badewärters zu baden, unterließ der Gott nicht hinzuzufügen, daß er diesem nichtsdestoweniger ein Trinkgeld von einer Drachme geben solle. Als er den Gott gebeten hatte, ihn schneller abzufertigen, war es ihm, als ginge er mit Senf und Salz am ganzen Körper eingerieben aus dem Heiligtum hinaus, ein kleiner Knabe ging mit einem dampfenden Rauchfasse voran, und der Priester sagte: »Du bist nun hergestellt, mußt aber auch das Honorar bezahlen.« Später erfolgte noch eine Verordnung von Anis und Öl gegen Kopfschmerz. Der Kranke hatte aber keinen Kopfschmerz. Doch infolge von zu eifrigem Studieren bekam er Blutandrang nach dem Kopfe und wurde nun durch das verordnete Mittel davon befreit. »Er befahl mir, auch dies aufzuschreiben. Dankbar und gesund reiste ich ab«. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber den altern Heilberichten ist in denen der Kaiserzeit der, daß nicht mehr die Heilung selber während des Traumes erfolgt, sondern der Kranke hier nur Anweisungen darüber erhält, welche Mittel er anzuwenden und wie er sich überhaupt zu verhalten habe. Von vier Berichten einer an der Stelle des Äsculaptempels auf der Tiberinsel in Rom gefundenen Tafel über Heilungen durch Traumorakel beziehen sich zwei auf Blinde, zwei auf Brustkranke, die von den Ärzten aufgegeben waren.

Auf göttliche Verordnungen in Träumen beziehen sich offenbar auch manche Danksagungen auf römischen Inschriftsteinen für Wiedererlangung der Gesundheit. In der Nähe von Velleja und Placentia war ein Heiligtum der Minerva, die man »die gedenkende« oder »die Ärztin« Minerva von Cabardiacum nannte, weil sie sich in Krankheiten hilfreich erwies. Sie wurde natürlich besonders von Kranken der nächsten Umgegend angerufen, von deren Votivinschriften und Widmungen mehrere sich noch erhalten haben; eine darunter ist von einem Kohortenpräfekten aus Britannien gesandt, der wahrscheinlich aus jener Gegend gebürtig war. Eine Frau dankt der Göttin, daß sie sie »durch gnädige Gewährung von Arzeneien von einem schweren Gebrechen befreit« hatte, eine andre bezahlt ihr Gelübde wegen Wiederherstellung ihrer Haare; ein Mann bringt ihr »silberne Ohren« (für Herstellung von einem Gehörleiden) dar. Dieselbe Göttin hatte einen Tempel in Rom, dessen Lage (in der fünften Region) durch zahlreiche, in einem dazugehörigen unterirdischen Gewölbe gefundene Darstellungen menschlicher Glieder aus Ton (ebenfalls Darbringungen genesener Kranken) festgestellt ist. Ein Sklave der Pontifices zu Rom bringt laut einer in schlechtem Latein abgefaßten Inschrift der »Guten Göttin« (Bona Dea) das Dankopfer einer weißen Kuh für Herstellung des Augenlichts, »nachdem er von den Ärzten verlassen und nach zehn Monaten durch die Gnade der Herrin mit Arzneien geheilt war«. Außerordentlich groß ist die Zahl der griechischen und lateinischen Inschriften, die von auf Grund eines Traumgesichtes oder der Weisung eines Gottes erfolgten Weihungen Zeugnis ablegen.

Überall, wo der Gläubige eine höhere Einwirkung erkannte, bezog er sie am natürlichsten und unwillkürlich auf den Gott, zu dem er von Jugend auf gebetet hatte, dessen Heiligkeit, Ansehen und Ruhm in Stadt und Land am größten war, dessen Macht er schon selbst erfahren zu haben glaubte. So hatte Aristides manche sagen gehört, der Gott Asklepios habe ihnen im Sturm auf der See rettend die Hand gereicht. Und wie Asklepios nicht bloß für alle, die in seinem Tempel Heilung gefunden hatten, sondern auch für die Bewohner der näheren und ferneren Umgegend von Pergamum und seinen übrigen berühmten Kultorten, so war für Ephesus die große Artemis, für Alexandria Sarapis, für Cäsarea Panias in Palästina Pan, für ganz Lycien Leto, für Nordafrika die »Himmlische Göttin« von Karthago usw., überhaupt für jede Gegend die hauptsächlich dort verehrte Gottheit der natürlichste Helfer in aller Not, mochte er nun groß oder gering sein. Pausanias spricht von einem Tempel des Pan unweit Megalopolis in Arkadien und fügt hinzu: gleich den mächtigsten Göttern vermag auch dieser Pan die Gebete der Menschen zur Vollendung zu führen und den Bösen zu vergelten, wie es ihnen gebührt. In Stratonicea war neben Zeus (Panamaros oder Panemerios) die am höchsten verehrte Gottheit Hekate, die in dem unfern gelegenen Lagina ein berühmtes Mysterienheiligtum besaß. Beide hatten die Stadt von alters her oft aus den größten Gefahren errettet; daher beschloß einmal der Stadtrat nach einer noch vorhandenen Urkunde, daß täglich 30 Knaben aus guten Familien, in weißen Kleidern und mit Oliven bekränzt, beiden Gottheiten im Rathause, wo ihre Bildsäulen standen, unter Kitharabegleitung einen Lobgesang singen sollten. Außer den Göttern wurden (wie bemerkt) in den griechischen Ländern überall Heroen verehrt; jede Gegend hatte vermutlich ihren besondern Beschützer und Nothelfer, dessen Wirksamkeit in dem kleinen Gebiet, auf das sie sich beschränkte, um so erprobter und anerkannter war. Mochten die Ansprüche dieser Heroen auf Verehrung ursprünglich noch zweifelhaft gewesen sein: wenn ihre Kulte einmal Bestand gewonnen hatten, so behaupteten sie sich mit merkwürdiger Zähigkeit; was sich ja auch bei dem des Antinous zeigt. Ob die für Marathon und Rhamnus aus älterer Zeit bezeugte Verehrung eines »Arzt-Heros« Aristomachus auch in den späteren Jahrhunderten fortgedauert hat, ist unbekannt. Doch dem Skythen Toxaris, der Athen angeblich von einer großen Epidemie befreit hatte, opferte man noch in Lucians Zeit, und sein Grabstein heilte Fieberkranke. Dem T. Quinctius Flamininus ernannte man in Chalcis auf Euböa noch in Plutarchs Zeit einen Priester, brachte ihm Opfer und sang einen ihm zu Ehren gedichteten Lobgesang. Alexander der Große hatte nicht bloß in Alexandria, sondern auch an andern Orten, namentlich in den ionischen Städten Kleinasiens, Tempel und Priester. Noch bis ins 6. Jahrhundert opferten ihm die Bewohner der Oase Augila im Innern von Marmarica, und eine große Zahl von Tempelsklaven war dort seinem Dienste geweiht: erst Justinian bekehrte diese Heiden und erbaute ihnen eine Kirche der heiligen Jungfrau. Dem Olympiasieger Theogenes opferte man in Pausanias Zeit nicht bloß auf Thasus als einem Gotte, sondern auch an andern Orten in griechischen und Barbarenländern wurden seine Bildsäulen verehrt und heilten Krankheiten. Oft heftete sich die Verehrung an eine bestimmte Statue eines Heros, die ihre Wunderkraft bewährt haben sollte. In Alexandria Troas standen mehrere Statuen des Nerullinus, vermutlich eines Wundermannes vom Schlage des Alexander von Abonuteichos und Peregrinus Proteus, mit denen er zusammen genannt wird; von einer dieser Statuen glaubte man dort (im Jahre 177), daß sie Krankheiten heile und Orakel erteile, man opferte ihr, vergoldete und bekränzte sie. Zuweilen beschränkte sich der Glaube an die Wunderkraft eines Standbilds auf die Bewohner eines Hause, in dem es sich befand: kleine Münzen und Silberplättchen, zum Teil mit Wachs an dessen Beine geklebt, waren Dankopfer solcher, die durch seine Hilfe das Fieber verloren hatten; ruchlose Sklaven, welche diese frommen Gaben hatten entwenden wollen, waren auf schreckliche Weise umgekommen.

115. PORTRÄT EINER RÖMISCHEN DAME.
Um 200 n. Chr. Museum Berlin

Der Glaube, der so gar nicht durch Zweifel an fortwährenden übernatürlichen Offenbarungen der göttlichen Macht und Güte beirrt wurde, mußte um so bereiter sein, auch in allen dem nüchternen Sinne natürlich oder zufällig erscheinenden Erlebnissen und Ereignissen die waltende Hand der Vorsehung zu erkennen: denn das eigentliche Wunder war ja auch nur eine von ihren unablässig in Leben und Natur eingreifenden Machtäußerungen, freilich die augenfälligste und überzeugendste, gleichsam ihre durch hundertfältige unmerkliche Übergänge vermittelte Kulmination, und sein Begriff kein fester, seine Anerkennung subjektiv, durch das Gefühl der Gläubigen bedingt, also unendlich verschieden. Von den Göttern, die allein das Wunder wirken konnten, von ihnen allein konnte auch alles Gute kommen, vom kleinsten bis zum größten. Epictet schilt die Akademiker, die wie alles übrige, so auch das Dasein der Götter in Frage stellten: »wahrlich das sind dankbare und ehrfürchtige Menschen, die, wenn nichts andres, täglich ihr Brot essen und doch auszusprechen wagen: wir wissen nicht, ob es eine Demeter, Kore und Pluto (die Götter der Saat) gibt! Um nicht zu sagen, daß sie an Tag und Nacht, am Wechsel der Jahreszeiten, an den Gestirnen, dem Meer, der Erde und dem Bestände der menschlichen Gesellschaft ihren Anteil haben, ohne daß dies alles auf sie nur den geringsten Eindruck macht, ohne daß sie sich darum kümmern, welche schwere Folgen ihre Zweifel für die Sittlichkeit andrer Menschen haben können«.

Allerdings leugneten auch unter den Stoikern manche, wie Seneca, den Nutzen des Gebets, da die Gottheit ihrer Natur nach uns nichts andres als Gutes erweisen könne. Andre, wie Marc Aurel, mahnen, daß man ihr seine Gebete anheimgeben und nur um das wahrhaft Gute bitten solle; ebenso Juvenal: die Götter lieben den Menschen mehr als er sich selbst, sie wissen, wenn wir in unsrer Blindheit um eine Gattin, die Geburt eines Sohnes bitten, welche Folgen die Gewährung unsrer Bitten für uns haben werde; wolle man zu ihnen beten, so sei es um eine gesunde Seele in einem gesunden Leibe. Der jüngere Plinius sagt, die Götter erfreuen sich mehr an der Schuldlosigkeit der Betenden als an wohlgesetzten Gebeten, ihnen ist der gefälliger, der mit reinem Herzen, als der, welcher mit einer wohl eingeübten Litanei in ihre Tempel tritt.

Doch diese Erinnerungen bestätigen nur die Allgemeinheit des Gebets, und wer möchte zweifeln, daß die große Mehrzahl der Gläubigen nicht bloß bei jedem Unternehmen und Anliegen sich an die Götter wandte, sondern auch in regelmäßigen Gebeten ihnen Verehrung und Dankbarkeit bezeigte und sich und andre ihrem Schutz empfahl? Seneca vermochte sogar den Fatumglauben mit dem Glauben an Gebetserhörungen zu vereinigen. Man würde nicht überall die Stimmen der Betenden und Gelübde Tuenden vernehmen, wenn man nicht wüßte, daß die Götter Wohltaten nicht bloß freiwillig, sondern auch auf Bitten gewähren. Sie haben manches so in der Schwebe gelassen, daß es zum Guten ausschlagen kann, wenn Gebet und Gelübde hinzukommen. Wie Juvenal hat auch Persius die törichten Gebete der Menschen zum Gegenstande einer Satire gemacht. Nicht der Bildner, sagt Martial, sondern der Beter zeigt die Götter, wie sie wirklich sind, gnädig und gütig. Plutarch glaubte ausdrücklich erinnern zu müssen, man möge nicht glauben, mit dem Gebet alles getan zu haben, sondern seine Erhörung und die Hilfe der Götter nur dann erwarten, wenn man sich selbst helfe. Wenn die in Jerusalem belagerten Juden am Sabbat unbeweglich blieben, auch als die Römer schon die Leitern zum Sturm ansetzten, so waren sie in die Bande des Aberglaubens geschlagen. Gott ist die Hoffnung des Muts und der Kraft, nicht eine Entschuldigung für die Feigheit. Der Steuermann auf stürmischem Meer fleht freilich um Entrinnen und ruft die rettenden Götter an, aber zugleich stellt er das Steuer, läßt die Rahen herab und zieht die Segel ein.

Könnte irgendein Zweifel darüber entstehen, daß, wie die Gewährung jedes Gutes, so auch die Abwendung jedes Übels, jeder Not und Gefahr, auch in jenen Jahrhunderten fort und fort von den Göttern erbeten und ihnen verdankt wurde, so würde dies schon allein die unübersehbare Menge von Denkmälern und Inschriftsteinen religiösen Inhalts beweisen, die über den ganzen weiten Boden des römischen Reichs zerstreut sind. Sie bezeugen tausendfältig, daß der Glaube an die allgegenwärtige, Welt und Menschenschicksal lenkende Vorsehung der seit dem grauesten Altertum verehrten, sowie der erst in neueren und neuesten Zeiten bekanntgewordenen Götter in den Gemütern der Bevölkerungen fortlebte; daß er Hohen wie Niederen, Hochgebildeten wie Einfältigen in Nöten und Bedrängnissen jeder Art Trost und Hoffnung gab. Immerhin mag ein Teil dieser Gebete, Gelübde, Danksagungen, Verehrungen und Anbetungen äußerlicher Anbequemung an die Formen des herrschenden Kultus, gedankenloser Gewohnheit, bewußter Heuchelei seinen Ursprung verdanken: in überwiegender Mehrzahl sind diese Steine doch ebenso viele unverdächtige Zeugnisse eines aufrichtigen, naiven und innigen Glaubens. Wenige Beispiele aus ihrer unermeßlichen Fülle werden genügen, um die Natur dieses Glaubens anschaulich zu machen.

Es liegt im Wesen des Polytheismus, daß sich Verehrung, Bitte und Dank in der Regel nicht an die Gesamtheit der göttlichen Mächte wandte, sondern wie im Heiligenkult an einzelne, und die Wahl der einzelnen Götter war, wie gesagt, teils durch deren Machtsphäre und die ihnen vorzugsweise zugeschriebene Wirksamkeit und ihre Gaben, teils durch lokale und individuelle Gründe bedingt. Die letzteren sind selbstverständlich nicht immer mit Sicherheit nachweisbar. Wenn ein Unternehmer von kaiserlichen und Staatsbauten der »heiligen himmlischen Guten Göttin« (Bona Dea) dankt, daß er mit ihrer Hilfe die unterirdische Führung eines Arms der Claudischen Wasserleitung vollendet habe, und seinen Dank durch Herstellung einer alten, zerfallenen Kapelle bezeugt, so ist die »Gute Göttin« hier wohl wie öfters als Beschützerin des Orts oder des Baus gedacht. Wenn auf einem Steine bei Koblenz (spätestens aus der Zeit der Antonine) jemand für Befreiung von schrecklichen Qualen des Körpers und Geistes dem Mars dankt, so ist unter diesem wohl ein keltischer Landesgott zu verstehen.

Daß Dank und Bitte in unzähligen Fällen eher an Landes- und Lokalgottheiten gerichtet wurde als an diejenigen, in deren Machtsphäre die erbetene Wirkung lag, ist selbstverständlich. So wird einmal zu Smyrna der Dank für Herstellung von einer Epidemie nicht an die Heilgötter, sondern an den Flußgott Meles gerichtet. Dem Genius einer Stadt in Numidien stiftete jemand eine Statue oder ein Heiligtum für 8000 Sesterzen an der Stelle, »an welcher er die Hilfe seiner göttlichen Macht gespürt hatte«. Nicht bloß die Einheimischen, auch die Fremden verehrten natürlich die Gottheit, in deren Bereich sie verweilten, und empfahlen sich ihrem Schutze. Ein römischer Kaufmann, der mit feinem Tongeschirr nach Britannien handelte, bringt auf der Insel Walcheren der dortigen Göttin Nehalennia »wegen Erhaltung seiner Waren in gutem Zustande« sein Gelübde dar. Ein kaiserlicher Hausbeamter T. Pomponius Victor, der als Prokurator des kaiserlichen Vermögens zu Axima in den Grajischen Alpen (an der Straße von Lemens nach Aosta) stationiert und wahrscheinlich zu häufigen Dienstreisen verpflichtet war, richtet ein zierliches poetisches Dankgebet an den Waldgott Silvanus, dessen Bild in der Höhlung einer heiligen Esche als einer natürlichen Waldkapelle eingeschlossen war:

Weil auf der Reise über Täler und Alpenhöhn
Und durch deines duftenden Hains Bewohnerschaft,
Und während das Recht ich pflege in des Kaisers Dienst,
Du mich mit deiner glückverheißenden Gunst beschützt,
So bringe mich und die Meinen auch nach Rom zurück,
Und laß in deinem Schutz Italiens Flur uns bau'n ...
Dann will ich gern dir tausend große Bäume weihn.

Von der Verehrung der nichtrömischen Landesgottheiten in den westlichen und nördlichen Provinzen durch die dort ansässigen oder verkehrenden Römer ist bereits die Rede gewesen. Der von ihnen mit Apollo identifizierte carnische Gott Belenus gewann besondere Bedeutung auch über sein ursprüngliches Verehrungsgebiet hinaus durch ein geschichtliches Ereignis. Als im Jahre 238 der Kaiser Maximinus mit aller Macht die Stadt Aquileja belagerte, wurde der Mut der Verteidiger durch die Zuversicht auf die Hilfe des einheimischen Gottes Belenus aufrechterhalten, und auch die Belagerer sahen oft seine Gestalt über der Stadt in der Luft schweben. Herodian läßt es unentschieden, ob sie ihnen wirklich erschienen war, oder ob diese nur durch die Erdichtung seines wunderbaren Beistands die Schande der Niederlage von sich abwälzen wollten. Doch fügt er hinzu, »der unerwartete Ausgang lasse alles glauben«, und auch eine bewußte Erdichtung beweist die Verbreitung des Glaubens an die sichtbare Hilfe der Götter, ohne den sie sinnlos gewesen wäre.

Auch Reisende und Wanderer beteten im fremden Lande zu den Lokalgöttern und brachten an jeder ihnen geheiligten Stelle ihre Verehrung dar. Fromme Wanderer, sagt Apulejus, verweilten, wo sie auf ihrem Wege einen heiligen Hain antrafen oder einen blumenbekränzten Altar, eine laubumschattete Höhle, eine mit Hörnern von Opfertieren behängte Eiche, eine mit deren Fellen geschmückte Buche, einen eingehegten Hügel, einen mit der Axt zum Bilde behauenen Baumstumpf, einen von Opferspenden dampfenden Rasen, einen mit Wohlgerüchen beträufelten Stein. Wenn der Fremde schon an diesen Stätten eines einfach ländlichen Kults seine Andacht verrichtete, so forderte um so unwiderstehlicher die in großen Naturerscheinungen waltende göttliche Macht zur Anbetung auf. »Dem höchsten besten Juppiter, dem Genius des Orts und dem Rhein« löste zu Remagen ein römischer Gefreiter sein Gelübde, laut einem im Jahre 190 gesetzten Stein, der nicht der einzige dieser Art ist. Aber überall war man wohl in der Fremde, den Gefahren und Wechselfällen der Reise ausgesetzt, doppelt »der Götter eingedenk«, freilich auch der heimischen. Ein Stein von Urbisaglia hat die Erinnerung eines Geschenks aufbewahrt, das ein kaiserlicher Prokurator T. Flavius Maximus »den Göttern und Göttinnen von Urbssalvia« aus dem Orient sandte. Dagegen löst in Nemausus (Nîmes) ein aus Berytus gebürtiger Primipilus sein Gelübde dem Gotte seiner Heimat, dem Juppiter von Heliopolis, doch zugleich auch dem Gotte Nemausus. Denn am unmittelbarsten fühlte man sich doch immer zur Verehrung der Götter aufgefordert, denen man nahe war, und daher sind die Inschriften von Reisenden, die sich dem Schutz und der Huld der Landesgottheiten empfehlen, zahlreich. Am überwältigendsten scheinen die uralten, kolossalen Heiligtümer Ägyptens auf den religiösen Sinn der fremden Besucher des Landes gewirkt zu haben, wie die an den meisten Orten zu beiden Seiten des Nils auf Tempeln, Obelisken, Pylonen usw. eingehauenen Inschriften von Reisenden bezeugen. Zu Talmis (Kalabsche) in Nubien bringt im Jahre 84 eine Anzahl von dorthin kommandierten römischen Centurionen und Soldaten dem in dieser Gegend verehrten Sonnengott Mandulis in einer im Vorhofe seines Tempels angebrachten Inschrift ihre Huldigung dar.

Aber auch als Träger einer besonderen Wirksamkeit wurden die Götter natürlich häufig angerufen, weil und insofern sie diese an einem bestimmten Orte ausübten. So z. B. löst in Apulum in Dacien (Karlsburg) ein römischer Veteran sein Gelübde »nach einem Traumgesicht« zugleich im Namen seiner Frau und Tochter für die Wiederherstellung des Augenlichts »dem Äsculap und der Hygiea und den übrigen Heilgöttern und -göttinnen dieses Orts«. In vielen Fällen war die Wirksamkeit des Gottes eben an ein bestimmtes Lokal gebunden. So richtet sich selbstverständlich der Dank der in einem Bad genesenen Kranken an die Nymphen dieser Quelle; bei vielen Bädern sind Votivtafeln römischer Besucher gefunden worden, zahlreich unter andern auf Ischia für Apollo und die »Nymphen der Nitrumquellen«. Andre Heilquellen, bei denen sich Nympheninschriften gefunden haben, sind z. B. die von Les Fumades (Dep. du Gard), Warasdin-Töplitz, Tüffer bei Cilli, Bagnères de Bigorre, Lopresti haspól u. a. Bei den Quellen der Seine sind zahlreiche steinerne Nachbildungen menschlicher Glieder und andre von geheilten Kranken dargebrachte Votivgaben gefunden worden. Bei den noch heute so genannten Herkulesbädern bei Mehadia in Ungarn richtet sich der Dank an den »heilbringenden Herkules« als den Gott, der auf seinen Weltwanderungen der Entdecker aller warmen Quellen wurde. Ein Jäger, den die Bäder der Solfatara bei Tivoli von einer Gelenkgeschwulst (der Folge einer Verwundung durch den Zahn eines etruskischen Ebers) befreit hatten, ließ zum Dank dafür, daß er wieder zu Pferde steigen konnte, der Gottheit der Quelle (Lymfa) seine marmorne Reiterstatue aufstellen. Den Nymphen dankte man auch für die Auffindung neuer Quellen, deren Gottheiten dann als die »neuen« oder »neu entdeckten Nymphen« verehrt wurden, oder für die Wiederkunft einer versiegten Wasserader. Ein Magistrat von Lambäsis in Numidien weihte einen Altar besonders aus Freude darüber, daß im Jahre seiner Amtsführung die Nymphe »unsere Stadt Lambäsis mit reichlichem Strome getränkt hat«. Eine Inschrift bei Auzia in Mauretanien meldet die Darbringung einer Opfergabe an den Geist eines Bergs, »der die Gewalt der Stürme von unsrer Vaterstadt abhält«. Bei den alten Marmorbrüchen von Martignac in der Nähe der Pyrenäen spricht eine Votivtafel den Dank zweier römischer Unternehmer oder Besitzer, »welche zuerst von dort Säulen von zwanzig Fuß Länge brachen und ausführten«, »dem Silvanus und den Geistern der Nimidischen Berge« aus. Auch ein in Britannien dienender Reiteroffizier, der sein Gelübde dem Silvanus löste, weil er ihn einen gewaltigen Eber fangen ließ, den viele seiner Vorgänger nicht erlegen konnten, dachte sich den Waldgott doch sicherlich in diesem Walde hausend. Ihm brachten auch Holzsäger und Holzhändler ihre Verehrung dar. Ein Legat der 7. Legion errichtete bei deren Standquartier (Leon im nordwestlichen Spanien) etwa in der Zeit Trajans der Diana einen Tempel, »damit er flüchtige Rehe, Hirsche, borstige Eber und die Nachkommenschaft waldbewohnender Pferde mit dem Wurfspieß zu treffen vermöge«, und brachte ihr von seiner Jagdbeute Eberzähne, Hirschgeweihe und ein Bärenfell dar. Der Göttin von Turobriga danken Inschriften an verschiednen Orten in Spanien für Wiedererlangung der Gesundheit; an dieselbe wendet sich aber auch jemand in Emerita in Lusitanien mit der Bitte, den Dieb von 6 Tuniken, 2 leinenen Überziehmänteln, 1 Hemd usw. zu bestrafen. Dem Gott Nodon (im südwestlichen Britannien) verspricht jemand, der einen Ring verloren hat, im Falle der Wiedererlangung die Hälfte desselben zum Geschenk. Er fügt einen sehr ungrammatisch gefaßten Satz hinzu: »Wenn unter denen, welche sich jetzt des Rings erfreuen, des Senicianus Name ist, so wolle ihm nicht eher Gesundheit verstatten, als bis er den Ring zu deinem Tempel bringt.«

Wenn die Zahl der Götter, die an bestimmten Orten entweder in allen Fällen oder wenigstens vorzugsweise angerufen wurden, ungemein groß war, weil sie mindestens der Zahl der angeseheneren Kultusorte und -stätten gleich kam, so wurde doch auch andrerseits überall jeder Gott um die Hilfe oder Gabe angefleht, die er nach dem Glauben vor allen andern zu gewähren vermochte. Dies gilt nicht bloß von den großen, sondern auch von den geringeren und geringsten Göttern. Ein Beispiel für die Verehrung auch ganz untergeordneter und momentan wirkender Schutzgeister bietet das Zeugnis Tertullians, daß man immer noch an dem Tage, an dem das Kind zum erstenmal auf dem Boden feststand, der Göttin Statina gedachte. Noch immer schwuren Fuhrleute und Maultiertreiber bei der ursprünglich keltischen, dann aber durch die römischen Kavalleristen weit über die Grenzen Galliens hinaus verbreiteten Pferdegöttin Epona, die ihre kleine Kapelle in einer Nische des Hauptbalkens zu haben pflegte, welcher die Decke des Stalles trug. Dort wurde ihr Bild an Feiertagen mit Rosen und andern Blumen bekränzt; auch Bildwerke, die sie darstellen, für Ställe ausgeführt, sind noch vorhanden. An Orten, wo böse oder erstickende Dünste aus dem Boden aufstiegen, wie bei Benevent, Cremona und anderwärts, betete man zu der Göttin Mefitis, und das Fortbestehen der Verehrung der alten Fiebergöttin ist durch inschriftliche Belege auch für die spätere Kaiserzeit gesichert.

Wie gern aber auch das Volk an den zahllosen dienenden Gottheiten festhalten mochte, weil sie mit ihrer geringen, doch genau bestimmten und darum sehr deutlichen Wirksamkeit einem Teil der Gläubigen näherstanden und ihrem Bedürfnisse, mit der übersinnlichen Welt zu verkehren, mehr entsprachen als die oberen Götter, deren Allmacht und Majestät das menschliche Herz eher in scheuer Entfernung hielt, so blieben doch immer diese als gewaltigste, die Welt regierende, die Vorsehung ganz eigentlich ausübende Mächte die überall am höchsten verehrten, am allgemeinsten angerufenen. Überall betete der Soldat zum Vater Mars, der Schiffer zum Neptun, der Kaufmann und Gewerbetreibende, auch der sorgsame Haushalter zum Merkur, »dem Lenker der Gewinne und Erhalter«, der Handwerker und Künstler zur Minerva, der Landmann zur Ceres, die Weinbauer und Weinhändler zu Bacchus, die Jäger zu Diana und Silvanus, kreißende Frauen zur Diana und Lucina, getrennte Liebende in Griechenland zum Liebesgott: in einem Dialoge Plutarchs erzählt einer der Sprecher, wie seine Eltern bald nach ihrer durch einen Familienzwist lange verzögerten Hochzeit nach Thespiä wallfahrteten, um ihrem beiderseitigen Gelübde gemäß dem Eros zu opfern. Die Götter wurden um so öfter angerufen, je umfassender ihre Machtsphäre und je allgemeiner ihre Verehrung war. Herakles, den unbesiegten Überwinder aller Schrecknisse und Gefahren, rief man im Osten in jeder Bedrängnis zu Wasser und zu Lande, in Seegefahr und Krankheiten an.

Doch die meisten Gebete richteten sich ohne Zweifel überall an den höchsten Gott. Zu ihm betete man als dem Donnerer, dem Blitzeschleuderer, dem Herrn der himmlischen Wetter, des heiteren Himmels: in langer Dürre zogen Prozessionen von Frauen mit bloßen Füßen und aufgelösten Haaren auf eine Höhe und flehten ihn um Wasser an. Auf Bergeshöhen fühlte man sich ihm vor allem nahe, dort huldigte man ihm als dem Juppiter des Vesuv, des Appenninus usw. Auf der Paßhöhe des großen S. Bernhard, dessen Umwohner (die keltischen Veragrer) in Hannibals Zeit den Gott Pöninus verehrten, stand bis ins 11. Jahrhundert zwischen dem (seit 962 dem Hl. Bernhard geweihten) Hospiz und dem See ein Juppitertempel, von welchem der Berg ehemals den Namen Mont-Joux (Mons Jovis) führte. Dort, »wo die Schrecken des Gebirges dem Wandrer in ungleich stärkerem Maße als auf den übrigen Pässen entgegentreten«, sind außer zahlreichen Münzen und andern Weihgaben große Mengen von bronzenen Votivtafeln von Soldaten und andern römischen Reisenden gefunden worden, die dem höchsten gütigsten Juppiter Pöninus ihr Gelübde für glückliche Hin- und Rückreise lösten. Aber nicht die Natur allein lenkte sein allmächtiger Wille; er war zugleich der »Lenker der göttlichen und menschlichen Dinge und Herr der Geschicke«, und als solcher Schützer, Erhalter, Sieger, Schlachtengott und Friedensbringer, überhaupt Vollender jedes Beginnens, Helfer in jeder Not und Gefahr. Es gab kein großes oder kleines, öffentliches oder privates Anliegen, das ihm nicht anbefohlen, kein Ereignis, in dem nicht die Offenbarung seiner Allmacht erkannt werden konnte. Ein hoher Beamter von senatorischem Stande löst in Campanien dem Juppiter sein Gelübde, »weil er an diesem Orte eine dringende Gefahr bestanden und seine Gesundheit wieder erlangt hat«; ein Verwalter des vornehmen Hauses der Roscier als dem Erhalter der Besitzungen dieser Familie (in der Gegend von Brescia). In Apollonia in Phrygien weihte ihm ein Galater einen Altar, an dem sich zwei Ochsen in Relief befanden, zum Dank dafür, daß der Gott Menschen und Vieh in einer Hungersnot am Leben erhalten, dem Darbringer in sein Vaterland zurückgeleitet, seinem Sohne bei den Trokmern Ansehen verliehen hatte. Ein Bewohner von Apulum (Karlsburg) löste ihm sein Gelübde »für sein und der Seinigen Heil«, weil er durch ihn aus der Gewalt der Karper befreit worden war, der im 3. Jahrhundert häufig in Dacien einfielen. In der umbrischen Stadt Tuder hatte einst »ein verruchter Sklav der Kommune« »mit abscheulicher Arglist« eine Tafel mit den Namen sämtlicher Dekurionen (Stadträte) in einem Grabe vergraben, um dieselben so den Mächten der Unterwelt zu weihen. Aber der höchste Gott hat durch seine Macht das Verbrechen an den Tag gebracht, den Täter der Strafe überliefert und Stadt und Bürgerschaft von der Angst vor den drohenden Gefahren befreit. Darum löste ein von der Stadt besonders ausgezeichneter Freigelassener sein Gelübde für das Wohl der Stadt, des Stadtrats und des Volks von Tuder »dem höchsten besten Juppiter, dem Bewacher und Erhalter«.

 

Diese römischen Inschriftsteinen entnommenen Beispiele zu häufen würde überflüssig sein; die gewählten werden genügen, um die Natur des Glaubens an eine durch die Gottheit geübte Vorsehung anschaulich zu machen; ihre Masse, Mannigfaltigkeit und Verbreitung über alle Teile der römischen Welt läßt eine im großen und ganzen entsprechende Verbreitung des Glaubens annehmen, den sie bezeugen: wenn auch immerhin ein Teil dieser Denkmäler von Ungläubigen oder Indifferenten herrühren mag, welche die Erhaltung der herrschenden Kultusformen durch ihre Anerkennung unterstützen oder sich nicht zu ihr in Widerspruch setzen wollten. Eine solche Anbequemung und Nachgiebigkeit konnte aber nur gegenüber einen Glauben stattfinden, dessen Herrschaft unbestritten war. Auch gibt es gegen die Tatsache dieser Herrschaft kein einziges Zeugnis wohl aber manche unverwerfliche, die sie ausdrücklich bestätigen. Allerdings ist wegen der großen Verbreitung des Epikureismus glaublich, daß die Zahl der Leugner der Vorsehung an sich beträchtlich war; aber das Verhältnis dieser Ungläubigen zu den Gläubigen auch nur annähernd zu bestimmen, war selbst für den sorgfältigsten und weitblickendsten Beobachter in jener Zeit ebenso unmöglich wie in irgendeiner andern, und die unbestimmten Ausdrücke der Schriftsteller, die über die religiösen Zustände der Mitwelt sich im allgemeinen äußern, sagen uns nichts, was wir nicht ohnedies schon wüßten. Wenn Plinius sagt, daß ein Teil der Menschen keine Rücksicht auf die Götter nehme, daß der blinde Zufall als Gottheit verehrt werde; und Juvenal, daß nach manchen alles vom Zufall abhänge, kein Lenker, sondern die Natur den Gang der Weltordnung regele; oder der Jude Philo, daß nach dem Glauben vieler alles in der Welt sich ohne höhere Leitung aus eigner Kraft bewege und Gesetze und Sitten, Rechte und Pflichten der Menschen einzig und allein der menschliche Verstand festgesetzt habe: so sind dies nur ungenaue Umschreibungen der Epikureischen Lehre, die auch Tacitus, als die Ansicht, daß in den menschlichen Dingen der Zufall walte, dem stoischen Vorsehungsglauben entgegenstellt. Der Glaube an ein unabänderliches Fatum, dessen weite Verbreitung er sowohl als Plinius bezeugt, schließt den Vorsehungsglauben keineswegs aus, wie denn auch bekanntlich die stoische Schule den einen mit dem andern zu vereinigen wußte. Auch bei Plutarch, der in einer eignen Schrift Aberglauben und Unglauben als die entgegengesetzten Abirrungen von der wahren Frömmigkeit behandelt hat, sind unter den Atheisten hauptsächlich Epikureer zu verstehen; eine Andeutung über das Verhältnis ihrer Zahl zu der der Gläubigen gibt er nicht; doch wenn er, dessen religiöse Richtung dem Aberglauben so nah verwandt war, trotzdem den Atheismus für den minder schädlichen Irrtum erklärt, so kann man kaum glauben, daß er von seinem Umsichgreifen eine Gefahr für die Religion befürchtete: hätte sich die materialistische Weltanschauung in einer Besorgnis erregenden und das fromme Gefühl beleidigenden Weise breitgemacht, so würde Plutarch sie schwerlich als eine natürliche Reaktion gegen das Übermaß der Superstition anerkannt und so milde beurteilt haben.

Daß der Glaube an die Götter allgemein, der Gottesleugner sehr wenige waren, sagt nicht bloß Maximus von Tyrus, sondern auch Apulejus: »Die in die Philosophie uneingeweihte Masse der Unwissenden, der Heiligkeit ledig, der wahren Erkenntnis bar, arm an Frömmigkeit, unteilhaftig der Wahrheit, mißachtet die Götter teils durch überängstliche Verehrung, teils durch trotzige Verschmähung, jene im Aberglauben, diese im Unglauben, jene voll Furcht, diese voll Selbstgenügsamkeit. Denn diese Gesamtheit der hoch im Äther wohnenden, von menschlicher Berührung abgeschiedenen Götter verehren, doch nicht in gebührender Weise, die meisten: es fürchten sie alle, doch aus Unkenntnis; es leugnen sie wenige, doch aus Gottlosigkeit.« Hiernach erschien also mindestens damals die Zahl der Atheisten und Materialisten, wenn auch an und für sich nicht gering, doch der Masse der Gläubigen gegenüber als eine kleine Minorität: und diese Ansicht bestätigt im wesentlichen Lucian, dessen Zeugnis um so schwerer ins Gewicht fällt, als er ohne Zweifel sehr viel lieber die entgegengesetzte Wahrnehmung konstatiert hätte. Er läßt die um ihre fernere Verehrung besorgten Götter eine öffentliche Disputation zwischen einem Epikureer als Leugner und einem Stoiker als Verteidiger des Vorsehungsglaubens anhören, wobei der letztere eine schimpfliche Niederlage erleidet. »Aber«, sagt Hermes, »was ist denn dabei für ein großes Übel, wenn nur wenige mit dieser Überzeugung nach Hause gehen? Denn groß ist die Zahl derer, welche die entgegengesetzte Ansicht haben, die Mehrzahl der Hellenen, die große Masse, und alle Barbaren.«

Wie viele Erweiterungen auch die antike Götterwelt durch die massenhafte Aufnahme orientalischer und barbarischer Gottheiten erfahren hatte, so war doch im Verhältnis der Gläubigen zur Gottheit keine Veränderung eingetreten. Für die menschliche Schwäche und Hilflosigkeit, die nach Plinius' richtigem Ausdruck die Gottheit nicht anders als durch Auflösung in unzählige Einzelwesen begreifen konnte, war durch Vermehrung und Vermannigfaltigung der göttlichen Personen der Verkehr mit der höheren Welt eher erleichtert als erschwert. Nicht bloß der Glaube an eine durch die Götter geübte Vorsehung blieb der ungeheuren Mehrzahl der Menschen unentbehrlich, sondern das Glaubensbedürfnis dieser Mehrzahl forderte und schuf unaufhörlich das Wunder, und es waren nicht allein die Weiber und die große Menge, wie der aufgeklärte Strabo meinte, die der »Legenden und Wundergeschichten« bedurften. Aber auch daß, so weit sich die römisch-griechische Kultur erstreckte, die aus der Verschmelzung der beiden Religionen hervorgegangene Götterwelt trotz des Ansehens der neuen Götter im großen und ganzen die Herrschaft behauptete und trotz aller Mischungen sich in den Gemütern der Menschen immer von neuem herstellte: auch das wird sich hoffentlich aus der bisherigen Darstellung ergeben haben.

Zum Schluß ist hier noch der Kultus in Betracht zu ziehen, dessen Wirkung auf unaufhörliche Kräftigung und Neubelebung des Glaubens sehr hoch angeschlagen werden muß. Selbst eine völlige Überschwemmung des Occidents durch die Religionen des Ostens hätte den Glauben an die alten Götter nicht zu entwurzeln vermocht, solange überall ihre Kulte in den überlieferten Formen fortdauerten, die mit dem ganzen öffentlichen und Privatleben im innigsten Zusammenhange standen, allen bedeutenden Momenten des einen wie des andern Weihe und Verklärung gaben und Sinn, Gemüt und Phantasie aufs mannigfachste fort und fort in Anspruch nahmen und fesselten. Solange überall die Tempel, »mehr erhaben durch die persönliche Gegenwart der sie bewohnenden Gottheiten als reich an Schmuckstücken der Gottesdienstes und Geschenken«, die Beter einluden; solange sehr zahlreiche Feiertage, Festlichkeiten und religiöse Zeremonien aller Art, wie Opfer, Prozessionen, Bittgänge, Schauspiele, an die Macht, Größe und Herrlichkeit der Götter sowie an ihr Verhältnis zu den Menschen fortwährend aufs eindringlichste erinnerten: so lange konnte der Glaube der Menschen unmöglich von den Bahnen weichen, die ihm die ehrwürdige Überlieferung so vieler Jahrhunderte vorzeichnete, und die unzählige Generationen als die zur Wahrheit führenden erprobt hatten.

Nicht bloß die Fortdauer aller angeseheneren römischen und griechischen Gottesdienste bis in das späte Altertum ist eine unbestrittene Tatsache, sondern auch die Erhaltung obskurer und lokaler Kulte sowie unverständlich gewordener religiöser Zeremonien, Gebräuche und Formen durch zahlreiche Nachrichten für so verschiedne Länder bezeugt, daß bei einer so ungemein zähen Lebenskraft der religiösen Überlieferung eine große und wesentliche Verminderung ihres Bestandes im Laufe der Jahrhunderte überhaupt als unannehmbar erscheint.

Das römische Ritual hat sich mindestens zum großen Teil bis in die letzten Zeiten des Altertums in Formen erhalten, die einer jenseits der Anfänge der römischen Geschichte liegenden Zeit ihren Ursprung verdanken und auf jenen urältesten Anschauungen der Götterwelt beruhen, die in Latium lange vor der Überflutung der römischen Religion durch die griechische geherrscht hatten. Die liturgischen Gesänge, auch den Priestern selbst, die sie Jahr für Jahr vorschriftsmäßig absangen, zum Teil unverständlich, enthielten die Anrufungen der Götter mit den längst verschollenen Namen, mit denen die ältesten Ansiedler der Hügel am Tiberufer sie genannt hatten, und jahraus, jahrein wurde ein ebenfalls aus grauer Vorzeit stammendes gottesdienstliches Zeremoniell mit derselben peinlichen Genauigkeit von den Priestern vollzogen. Die Stationslokale für die Prozession der Salischen Priester, in welchen die heiligen Schilde ( ancilia) über Nacht aufbewahrt wurden, sind noch in der letzten Zeit des Heidentums restauriert worden. Der 354 nach offiziellen Quellen zusammengestellte Kalender des Philocalus führt noch eine nicht geringe Anzahl der angeblich von König Numa gestifteten, d. h. in eine unvordenkliche Zeit zurückreichenden religiösen Feste als damals in Rom gefeierte Staatsfeste auf, die auch selbst aus dem ein Jahrhundert jüngeren (448 aufgestellten) Kalender des Polemius Silvius noch nicht völlig verschwunden sind. Es waren gerade die ältesten Kulte, die noch fortdauerten, »als längst die geistigeren Gottesdienste der historischen Zeit der Religion des Kreuzes zum Opfer gefallen waren«: so der Umzug zu den 24 Kapellen der Argeer (Binsen- oder Strohpuppen) am 16. und 17. März, das Hinabstürzen derselben in den Tiber am 14. Mai und das am 15. Oktober auf dem Marsfelde vollzogene Opfer eines mit Broten bekränzten Pferds (des Oktoberrosses), um dessen Haupt als um ein Heiltum zwei der ältesten Stadtteile Roms sich stritten. Das ebenfalls aus uralter Zeit stammende Fest der Luperkalien bestand noch im Jahre 494, in welchem Papst Gelasius I. gegen seine Begehung aufs kräftigste Einspruch erhob.

Doch am deutlichsten ergibt sich die unveränderte Fortdauer tausendjähriger, wie in Versteinerung erhaltener Kultusformen aus den Protokollen der Ackerbrüder ( fratres Arvales), den einzigen einer geistlichen Genossenschaft, die sich erhalten haben. Diese Brüderschaft, in der Kaiserzeit regelmäßig aus Männern des höchsten Adels und den Kaisern selbst bestehend, feierte im Mai »der göttlichen Göttin« ( Dea Dia – eine uralte Benennung der mütterlichen Erdgöttin, der Spenderin des Fruchtsegens) ein dreitägiges Fest für das Gedeihen der jungen, sprossenden Saaten, in ihrem Haine mit uralten, von der Axt nie berührten Bäumen, der fünf Miglien von Rom an der »Felderstraße« lag. Jeder Gebrauch einer eisernen Axt in diesem Hain, wenn ein Baum durch Sturm oder Alter brach, überhaupt jeder Gebrauch eines eisernen Gerätes erforderte ein Sühnopfer: das Verbot des Eisens beim Gottesdienst ist aus der Unbekanntschaft der Zeit, aus welcher die Ritualgesetze stammen, mit diesem Metall zu erklären. Zu den Feierlichkeiten des zweiten Festtags gehörte, daß die Priester bei verschlossenen Türen im Tempel gewisse Töpfe berührten und mit frommem Gebet besprachen. Die neuesten Ausgrabungen im Arvalenhain haben Scherben von Gefäßen rohester Fabrik, ohne Drehscheibe aus freier Hand gefertigt, zutage gefördert, wie sie sonst in Latium nur unter dem Peperin (d. h. der Lava der in vorgeschichtlicher Zeit erloschenen Vulkane) des Albanergebirges vorkommen. »Offenbar waren dies die Breitöpfe aus jener Zeit, wo man das Korn noch nicht zum Brote buk, sondern als Brei stampfte.« In einer späteren Stunde desselben Tages gürteten die Priester, nachdem alle nicht zum Kollegium gehörigen Personen den Tempel verlassen hatten, in den heiligen Raum eingeschlossen, ihr Gewand zum Tanze und sangen oder sagten nur ein Gebet an den Mars und die Laren oder Lasen um Abwendung des Verderbens »in einem Latein, welches bereits 400 Jahre vor Cicero eine veraltete Sprache gewesen sein muß«, ihnen selbst »so unverständlich wie das Kyrie eleison dem Meßner, weshalb auch jedem Priester vorher sein Textbuch von den Dienern überreicht ward«. Der Text dieser Litanei, in einem im Jahre 218 unter Kaiser Elagabal abgefaßten Protokoll erhalten, ist das älteste Dokument der lateinischen Sprache, das wir kennen. Ein Jahrtausend mochte damals vergangen sein, seit die Ackerbrüder zum erstenmal die Dea Dia mit diesem Gebet angerufen hatten. In diesem Jahrtausend hatten die ungeheuersten Umwälzungen die Gestalt der bewohnten Erde völlig verwandelt. Die Tiberstadt war aus einem Bauerndorf zum Mittelpunkt eines Weltreichs geworden, ihr Morgen und Mittag war vergangen, ihr Abend dämmerte herauf. Auf dem Throne, den Augustus errichtet hatte, saß ein Sonnenpriester aus dem so oft gedemütigten und so tief verachteten Syrien. Und noch immer tönte das alte Lied, dessen Worten schon die Könige Roms mit Andacht gelauscht hatten:

Uns, Lasen, helfet!
Nicht Sterben und Verderben, Mars, Mars, laß einstürmen auf mehrere!
Satt sei, grauser Mars!

Mit derselben, allen zerstörenden Einflüssen trotzenden Zähigkeit erhielten sich auch im übrigen Italien uralte Lokalkulte: so in Oberitalien keltische und rätische, in Toscana etruskische, wie namentlich der der Schicksalsgöttin Nortia in Volsinii (Bolsena). Juvenal spricht von der Nortia als der Schutzgottheit des von dort stammenden Sejan, und noch im 4. Jahrhundert nennt sich der Volsinier Rufius Festus Avienus (Prokonsul von Achaja, auch als Dichter bekannt) einen Verehrer der Nortia. So hielten auch andre aus den Städten Italiens nach Rom übergesiedelte Familien an ihren heimischen Kulten fest, wie die Turpilier an dem der Feronia, die hauptsächlich am Soracte und bei Terracina, doch auch an vielen Orten des übrigen Italiens verehrt wurde. Die Göttin Vacuna, neben deren in der Nähe seines sabinischen Landguts gelegenem, verfallenem Tempel Horaz die Epistel an seinen Freund Aristius Fuscus diktierte, wurde im Sabinerlande an vielen Orten verehrt; ihr angesehenstes Heiligtum war ein Hain in der Ebene von Rieti in der Nähe der Einmündung des Velino in den Veliner See. Dagegen erstreckte sich das Ansehen andrer Lokalgottheiten, wie Tertullian spottet, gleich dem der Ratsherren kleiner Städte, nicht über deren Weichbilder hinaus: so war der Kultus des Delventinus auf Casinum, des Numiternus auf Atina, des Visidianus auf Narnia, der Ancharia auf Asculum, der Valentia auf Ocriculum, der Hostia auf Sutrium beschränkt. Einen Tempel der an der Küste von Picenum verehrten Göttin Cupra in der gleichnamigen Stadt erneuerte noch Hadrian. Auch sehr eigentümliche Feste, bei welchen Wallfahrer und Schaulustige von allen Seiten zusammenströmten, und seltsame Gebräuche bestanden an verschiedenen Orten fort. Noch in Marc Aurels Zeit fiel das Priestertum der Diana von Nemi dem zu, der, nachdem er von einem bestimmten Baume ihres Hains einen Zweig abgebrochen, den derzeitigen Inhaber der Stelle im Zweikampfe erschlug; die Bewerber um diesen blutigen Preis waren damals flüchtige Sklaven.

Die erstaunliche Menge und Mannigfaltigkeit der in Griechenland fortbestehenden, großenteils ebenfalls aus einem fernen Altertume stammenden, oft seltsamen, selbst rohen, blutigen und entsetzlichen Lokalkulte lernen wir hauptsächlich aus Plutarch, Pausanias und inschriftlichen Denkmälern kennen. Eine Anzahl von charakteristischen Beispielen wird hinreichen zu zeigen, sowohl wie überreich, bunt und vielgestaltig die Fülle der griechischen Gottesdienste noch immer war, als auch mit wie staunenswerter Zähigkeit auch hier im Kultus uralte Traditionen sich behaupteten. In Paträ feierte man jährlich das Fest der Artemis Laphria folgendermaßen. Um den sehr großen Opferaltar wurden im Kreise grüne Baumstämme von je 16 Ellen Länge aufgepflanzt, inwendig das trockenste Holz gehäuft und ein bequemer Aufgang am Altar durch aufgeschüttete Erde hergestellt. Am ersten Tage fand eine prachtvolle Prozession statt, deren Beschluß die jungfräuliche Priesterin der Artemis auf einem von Hirschen gezogenen Wagen machte. Am zweiten Tage war das Opfer, zu dem sowohl die Stadtgemeinde als die einzelnen wetteifernd beisteuerten. Alle Opfertiere wurden lebendig auf den Altar geworfen, worunter eßbare Vögel, Wildschweine, Hirsche, Rehe, junge und ausgewachsene Wölfe und Bären, hierauf das Feuer angezündet. Man sah dann wohl einen Bären oder ein andres Tier sich losreißen und ausbrechen, worauf es wieder zurückgeschleppt wurde, doch nie war ein Mensch von einem Tier beschädigt worden. In derselben Stadt wurde ein Bild des Dionysos, mit dem Beinamen »der Volksrichter«, in einem Schreine verehrt, der nach der Legende bei der Eroberung Trojas von dort fortgeführt worden war. Neun vom Volke aus den Angesehenen gewählte Männer und ebenso viele Frauen besorgten seinen Dienst. In einer bestimmten Nacht während des dem Gotte geheiligten Festes trug der Priester den Schrein aus dem Tempel heraus. Dann gingen alle Kinder aus der Stadt mit Ährenkränzen an den Fluß Meilichos: so waren nach der Legende die in alter Zeit der Artemis geopferten Kinder bekränzt worden. Die Kränze legten sie bei der Artemis nieder, badeten im Flusse, setzten Efeukränze auf und gingen so zum Tempel des Dionysos. In der Nähe des Flusses Krathis bei der achäischen Küstenstadt Aegae war ein Heiligtum der »breitbrüstigen Erdgöttin« mit einem uralten Holzbilde. Die Priesterinnen mußten keusch leben, und zugelassen wurden nur solche, die bis dahin nur einen Mann gekannt hatten. Die Wahrheit ihrer Aussage wurde durch einen Trunk von Ochsenblut erprobt, und die, welche die Probe nicht bestanden, sogleich bestraft, unter mehreren gleichberechtigten Bewerberinnen entschied das Los. Das Bild der Artemis Orthia zu Sparta war nach der auch von Pausanias geglaubten Sage dasselbe, das Orest aus dem taurischen Tempel entführt hatte; noch immer forderte die Göttin eine Bespritzung ihres Altars mit Menschenblut, daher wurden noch immer Jünglinge an ihrem Altar blutig gegeißelt. Die Priesterin hielt das kleine Holzbild der Göttin im Arm; wenn die Geißelnden einen Knaben wegen seiner Schönheit oder seines Standes schonten, wurde es ihr so schwer, daß sie es nicht tragen konnte: Plutarch sagt, man habe auch in seiner Zeit viele unter den Hieben sterben gesehen; diejenigen, welche sich durch Standhaftigkeit vor den andern auszeichneten, führten lebenslänglich den Titel »Altarsieger«. Zu Alea in Arkadien wurden bei einem Fest des Dionysos nach einem Spruch des delphischen Orakels Frauen gegeißelt. In Orchomenos in Böotien verfolgte alljährlich an dem Feste der Agrionien der Priester des Dionysos die angeblich von den fluchbeladenen Minyastöchtern stammenden Frauen mit dem Schwert in der Hand; die Frau, die er einholte, durfte er töten, und dies hatte zu Plutarchs Zeiten der Priester Zoilos wirklich getan. Aber für diese fromme Wut traf der Zorn der Götter nicht bloß ihn selbst, der an einer scheußlichen Krankheit starb, sondern auch die Stadt Orchomenos, die in Verlust und Nachteil geriet: die Orchomenier nahmen dem Geschlechte des Zoilos das Priestertum und verliehen es fortan durch Wahl. Auf Cypern waren nach Lactantius dem Zeus Menschenopfer gebracht worden, bis Hadrian sie verbot; doch noch unter Marc Aurel glaubte man, daß sie dem Zeus Lykaios in Arkadien im geheimen gebracht würden, und auch in Rhodus soll Kronos alljährlich ein solches Opfer empfangen haben, wozu man (wie angeblich bei dem Fest des Juppiter Latiaris in Rom) einen todeswürdigen Verbrecher nahm. Zu Aliphera in Arkadien wurde vor andern Gottheiten Athene verehrt, die nach der Ortslegende dort von Zeus geboren und auferzogen war; vor dem großen Feste, das ihr jährlich gefeiert wurde, opferten die Bewohner dem Heros Myiagros, d. i. Fliegenscheucher, und beteten zu ihm, und wurden dann während des Festes nicht von den Fliegen belästigt. In dem unfern von Sikyon gelegenen Titane war ein von Kranken viel besuchter Asklepiostempel; innerhalb der Mauer des Tempelbezirks standen alte Zypressen. Von dem Bilde sah man nur Kopf, Hände und Füße, im übrigen war es mit einem wollnen Leibrock und Mantel bekleidet; eine danebenstehende Statue der Hygiea war über und über mit Haaren bedeckt, welche die Frauen zu Ehren der Göttin sich abschoren, und mit Streifen babylonischer Teppiche. In der Nähe war ein Altar der Winde, denen der Priester jährlich in einer Nacht opferte, wobei er auch in vier Gruben geheime Opfer warf, um das Toben der Winde zu mildern, wozu er Beschwörungslieder, wie man sagte, von der alten Zauberin Medea sang. Bei Trözen war in der Nähe des Musentempels ein Altar des Schlafs, dem man mit den Musen zusammen opferte, da, wie sie dort sagten, dieser Gott den Musen der liebste sei. Hauptsächlich aber verehrte man zu Trözen Hippolyt, den Sohn des Theseus, in einem glänzenden Tempelbezirk. Die Trözenier leugneten, daß er von Pferden geschleift worden und so gestorben sei, vielmehr sei er zum Himmel aufgefahren und dort im Sternbilde des Wagenlenkers sichtbar. Sein Priester verwaltete das Amt lebenslänglich, jährlich wurde ihm ein Fest gefeiert, und außerdem schnitt jede Jungfrau ihm zu Ehren sich vor der Hochzeit eine Locke ab und legte sie in seinem Tempel nieder. Bei den Dionysosfesten dauerten die äußeren Zeichen der Verzücktheit, das Rohessen, das Würgen und Zerreißen von Schlangen durch die Bacchen fort.

Aus allem also, was wir über die religiösen Zustände Griechenlands bis zum Ende des 2. Jahrhunderts und zum Teil noch aus späterer Zeit wissen, gewinnt man, wie gesagt, den Eindruck, daß der alte Bestand der einheimischen Kulte durch die neu eingedrungenen ausländischen eine irgend wesentliche Einbuße oder Veränderung ebensowenig erlitten hatte wie in früherer Zeit durch die des Adonis, der asiatischen Göttermutter und des Ammon. Und doch waren auf dem griechischen Festlande wie auf den Inseln die (wenigstens zum Teil schon im 4. Jahrhundert v. Chr. eingeführten) Dienste der ägyptischen Gottheiten Isis, Osiris und Sarapis ungemein verbreitet und hochangesehen. Zu diesen hatten sich auf Delos bereits seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. die der phönizischen Aphrodite und der syrischen (dort als Sonnengott und Erdgöttin gepaarten) Gottheiten Hadad und Atargatis gesellt; selbst von dem im allgemeinen von Griechenland und Kleinasien ferngehaltenen Mithrasdienste lassen sich vereinzelte Spuren in Athen, Thespiae und Thera nachweisen; und Lucians Spöttereien über die Mischung der Göttergesellschaft lassen voraussetzen, daß noch manche andre Götter des Orients in Griechenland Verehrung gefunden hatten. Jener in Athen stattfindenden Disputation über die Vorsehung wohnen Bendis, Anubis, Mithras u. a. bei. Mindestens in vielbesuchten Häfen wie Korinth und Rhodus werden die fremden Götterdienste zahlreich gewesen sein, während allerdings in dem verödeten und vom Weltverkehr wenig berührten Innern des Landes die alten Kulte eine mehr oder minder ausschließliche Herrschaft behauptet haben mögen.

Nicht minder gewiß als die Fortdauer zahlloser alter römisch-italischer und griechischer Kulte in den Zeiten der Theokrasie ist, daß überall die regelmäßige Beteiligung am Gottesdienste eine so allgemeine war, daß die gänzliche Unterlassung der üblichen heiligen Gebräuche Anstoß erregte oder doch als Ausnahme auffiel. Gegen den Philosophen Demonax in Athen erhoben sich sogar Ankläger, weil man ihn niemals opfern sah und er allein von allen nicht in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht war: doch verstand er den ihm in der Volksversammlung drohenden Sturm (manche hatten bereits Steine gegen ihn in den Händen) zu beschwichtigen. Der Ankläger des Apulejus, Sicinius Ämilianus, hatte zu Öa wegen seiner ihn offenbar auszeichnenden Irreligiosität den Beinamen des aus Vergil bekannten »Verächters der Götter« Mezentius erhalten. Niemals hatte er zu einem Gotte gebetet, nie einen Tempel besucht; ging er an einem Heiligtume vorüber, so dachte er nicht daran, durch eine Kußhand seine Verehrung zu bezeigen. Selbst den Göttern des Lands, die ihn kleiden und nähren, sagt Apulejus, gibt er keinen Teil der Ernte oder die Erstlinge der Herde ab; auf seinem Gut ist kein Heiligtum, kein geweihter Ort oder Hain. Ja die, welche dort gewesen sind, sagen, daß auf seinem Gebiet nicht einmal ein Stein mit Wohlgerüchen beträufelt oder ein Baumast bekränzt ist. Bei seiner Übersiedlung nach Spanien empfahl Martial einem Marius, dem er sein Gütchen bei Nomentum überließ, die auf demselben befindlichen Heiligtümer: die den Faunen geweihten Pinien und Steineichen, die von der wenig geübten Hand des Verwalters errichteten Altäre des Juppiter und Silvanus (»die oft das Blut eines Lamms oder Bocks färbte«); ferner Kapellen oder Tempel der Diana und des Mars und einen Lorbeerhain der Flora. Marius möge bei seinen Opfern stets auch Martial der Gunst der Götter empfehlen und sie bitten, beiden zu gewähren, was der eine wünschen werde. Bei der ungeheuren Mehrzahl übte die Gewöhnung an die gottesdienstlichen Gebräuche ihren unwiderstehlichen Einfluß von Jugend auf. Schon im zartesten Alter, sagt Prudentius (zu Ende des 4. Jahrhunderts), kosteten die Kinder vom Opfermahl, sahen sie die schwarzgeräucherten Bilder der Laren mit Wohlgerüchen beträufeln, die Mutter angstvoll vor der Statue der Schicksalsgöttin mit dem Füllhorn beten, küßten, noch auf dem Arm der Amme, die Götterbilder und richteten kindische Gebete an sie.

Namentlich die Allgemeinheit der Opfer bei allen freudigen Ereignissen ist durch zahlreiche Angaben und Äußerungen bezeugt, und zwar für alle Stände. Persius spottet über Gutsbesitzer, die zu Merkur um Vermehrung ihres Viehstands beten und diesen gleichzeitig durch zahlreiche Opfer junger Kühe vermindern. Bei jeder Beförderung eines Senators zum konsularischen Range »rauchte der Vorplatz des Palastes vom Blut junger Stiere«. Einem Senator Rufus entschlüpfte im Rausch während einer Abwesenheit des Augustus von Rom der Scherz, sämtliche Stiere und Kälber wünschten, daß der Kaiser nicht glücklich zurückkehren möchte. Ein ähnlicher Scherz über die Wünsche der weißen Rinder während der Feldzüge Marc Aurels ist bereits erwähnt worden. Juvenal opferte für die glückliche Errettung seines Freundes Catullus aus Seegefahr den drei kapitolinischen Gottheiten zwei Lämmer und ein junges Rind; wäre er reich, sagte er, so würde er statt des letzteren einen gemästeten Stier von edler Rasse darbringen. Die für den Eintritt in die Tempel, das Darbringen des Opfers, das Einwerfen der Gabe in den Opferkasten ( thesaurus) von den Gläubigen gezahlten Gebühren machten die Priestertümer oft sehr gewinnreich, daher sie in bestimmten Gegenden (besonders in Kleinasien und auf den griechischen Inseln) von Staats und Gemeinde wegen verpachtet, teilweise sogar versteigert wurden; in Ägypten geschah es für Rechnung der Kaiser als Nachfolger der Ptolemäer. Aus Rom besitzen wir noch einen Tarif von Opfersporteln. Das Umsichgreifen des Christentums in der Provinz Pontus machte sich, wie Plinius in seinem bekannten Schreiben an Trajan im Jahre 112 berichtet, dadurch bemerkbar, daß (zunächst wohl in der Stadt Amastris und den benachbarten Orten) die Tempel fast leer standen, die Feier der heiligen Feste unterblieb und die Nachfrage nach Opfertieren fast ganz aufhörte: doch besserte sich dieser für Plinius ebenso auffallende wie besorgniserregende Zustand infolge seines Einschreitens gegen die Christen. Wie ungeheuer der Verbrauch von Opfertieren im römischen Reiche war, mag man versuchen, sich nach der Angabe Suetons vorzustellen, daß infolge der allgemeinen Freude über Caligulas Regierungsantritt in nicht vollen drei Monaten (selbstverständlich in Rom allein) deren über 160.000 geschlachtet wurden. Noch in der Zeit des Prudentius erscholl an Festtagen die heilige Straße vom Gebrüll der (zum Opfer auf das Kapitol geführten) Stiere.

Daß aber die Frömmigkeit der Gläubigen sich auch fort und fort durch Erbauung und Instandhaltung von Tempeln und deren Ausschmückung mit Götterbildern, Gaben, Widmungen und Stiftungen aller Art aufs eifrigste betätigte, ergibt sich namentlich aus den bezüglichen, so äußerst zahlreich erhaltenen Inschriftsteinen. Selbst in der Zeit, die man als die Periode des tiefsten Verfalls der Religion zu betrachten pflegt, schrieb Lucrez: noch immer sei den Gemütern der Menschen jene Furcht eingepflanzt, die den Glauben und die Verehrung der Götter ins Leben gerufen habe; sie lasse auf dem ganzen Erdkreis neue Göttertempel entstehen und fülle sie an Festtagen mit zahlreichen Besuchern. Daß in einer Zeit unausgesetzter, furchtbarster Erschütterungen der Staatsordnung von einer Menge von Tempeln und Heiligtümern in Rom ein Teil verfiel und ihr Areal selbst von Privatpersonen widerrechtlich in Besitz genommen wurde, kann gewiß kein Beweis für eine allgemeine Abnahme des Glaubens sein; und wenn die Zahl sämtlicher der Herstellung bedürftigen und von Augustus im Jahre 28 v. Chr. wirklich hergestellten sich auf 82 belief, so ist es nicht auszumachen, ob diese Zahl im Verhältnis zur Gesamtzahl für klein oder für groß zu gelten hat.

Auch von der ungeheuren Menge der Bauten, Schenkungen und Stiftungen aus Privatmitteln zu Kultuszwecken, die wir aus den Inschriften Italiens sowie aller Provinzen kennenlernen, wird ohne Zweifel ein Teil aus andern als religiösen Beweggründen herzuleiten sein; aber ebensowenig liegt ein Grund vor zu bezweifeln, daß bei weitem die meisten dieser frommen Gaben und Opfer gebracht worden sind, um die Gnade der Götter zu verdienen oder zu erhalten oder geängstete Gewissen zu beruhigen: sehr viele sind laut den Inschriften »nach einem Gesicht« oder »auf Geheiß« oder »Mahnung« der Gottheit im Traum erfolgt. Man darf nach diesen Zeugnissen annehmen, daß ein sehr großer Teil der Tempel im ganzen römischen Reiche von Privatpersonen auf eigene Kosten erbaut worden ist, die zuweilen überdies ein Kapital zur Instandhaltung des Gebäudes auswarfen. Namentlich in Italien (wo in Appians Zeit, d. h. unter Antoninus Pius, nächst dem kapitolinischen Juppitertempel die der Fortuna zu Antium, der Juno zu Lanuvium, des Herkules zu Tibur und der Diana zu Aricia die reichsten waren) wetteiferten die wohlhabenden Munizipalen mit ihren zu hohem Range aufgestiegenen Landsleuten in Rom, den Patronen und sonstigen Gönnern ihrer Städte, ihre Munifizenz und Anhänglichkeit an die Heimat vor allem auch durch deren würdige Ausstattung mit Gotteshäusern zu beweisen. Ein P. Lucilius Gamala z. B., dessen Lebenszeit vom Ende der Regierung Trajans bis zum Ende der Regierung Marc Aurels reicht, ließ in Ostia sieben Tempel teils neu erbauen, teils herstellen: des Vulkan, der Dioskuren, der Venus, Spes, Fortuna, Ceres und des Vater Tiberinus. Martials Freund Cäsius Sabinus in Sassina erbaute einen Tempel für die Nymphe eines dortigen Sees. Ein Ehepaar zu Assisi baute einen Tempel, wie es scheint des Castor und Pollux, und fügte auch die Bildsäulen derselben hinzu. Auf der Insel Malta verwandte ein Privatmann auf den Bau eines marmornen Apollotempels die Summe von 110.792½ Sesterzen (rund 24.000 Mark) usw. Aber auch für die inländischen Tempel wurde von den großen Besitzern, auf deren Grundstücken sie standen, gesorgt: so ließ Plinius einen verfallenen Tempel der Ceres auf einem seiner Güter größer und schöner erneuern. Außer vollständigen Neubauten, außer Herstellungen und Ergänzungen verfallener Heiligtümer sind in Inschriftsteinen Darbringungen und Herstellungen einzelner Teile und Baulichkeiten jeder Art, wie Altäre, Opferküchen, Säulen und Kapitale, Giebel, Fußböden, Ornamente usw., sowie Schenkungen und Stiftungen zu solchen Zwecken äußerst zahlreich verzeichnet.

116. BILDNIS DER ALINE.
Mumienporträt. Um 170 n. Chr., Berlin, Ägyptisches Museum

Besonders häufig wurden Götterbilder in die Tempel gestiftet, zum Teil sehr kostbare. So schenkte z. B. eine Priesterin zu Äclanum eine silberne Statue der Felicitas; und wenn ein ritterlicher Offizier zu Formiä 100.000 Sesterzen (21.750 Mark) vermachte, um für diese Summe Prozessionswagen der Minerva nebst allem Zubehör aus 100 Pfund (etwa 33 Kilogramm) Silber anfertigen zu lassen, so wird auch die Tempelstatue der Göttin aus Edelmetall gewesen sein. Bei der testamentarischen Bestimmung einer Frau, daß das Bild eines Gottes in einem bestimmten Tempel ihrer Vaterstadt mit ihrer Namensunterschrift aus 100 Pfund errichtet werden sollte, entstand die Frage, ob die Erben eine Bronzefigur liefern dürften, oder angehalten werden könnten, eine silberne oder goldene machen zu lassen. Der berühmte Jurist Cervidius Scävola (Lehrer des Septimius Severus) entschied mit Rücksicht darauf, daß sich in dem Tempel nur silberne und bronzene Weihgeschenke befanden, daß eine silberne Statue zu liefern sei. Eine kleine silberne Figur des Merkur in Lambäsis hatte 14.000, eine silberne Statue zu Hippo regius über 51.000, eine ebensolche zu Vienna 100.000 Sesterzen gekostet. Fromme, deren Vermögen zu solchen Gaben nicht ausreichte, ließen die Bilder der verehrten Gottheiten wenigstens vergolden, ganz oder teilweise, z. B. die Füße, besonders aber das Gesicht oder den Bart; zu Corfinium ließ z. B. einmal eine »Dienerin der Großen Mutter die Große Mutter ausbessern und vergolden, dem Attis die Haare vergolden und die Bellona ausbessern«, während zugleich der Priester des Attis für diesen einen Altar und silbernen Mond machen ließ.

117. MUMIENPORTRÄT DES SÖHNCHEN DER ALINE.
Aus Hawara. Berlin, Ägyptisches Museum

Ferner stattete man die Götterbilder nach Vermögen mit Kleidungsstücken, Attributen oder Schmucksachen und Kostbarkeiten aus. Der Kaiser Galba träumte als Jüngling, Fortuna stehe Einlaß begehrend vor seiner Tür; beim Erwachen fand er eine Bronzestatue der Göttin an der Schwelle, die er persönlich auf sein Gut bei Tusculum brachte und lebenslänglich mit monatlichen Bettagen und einer jährlichen Nachtfeier verehrte. Als Kaiser hielt er kurz vor seinem Ende ein sorgfältig ausgewähltes Halsband aus Perlen und Edelsteinen zum Schmuck der Statuette bereit, beschloß dann aber, es der Venus auf dem Kapitol darzubringen; worauf Fortuna ihm im Traum erschien und drohte, ihm nun auch ihrerseits ihre Geschenke zu entreißen. In der Regel waren dergleichen fromme Gaben natürlich für Tempelstatuen bestimmt. In einem Tempel zu Puteoli ließ z. B. jemand nach Eingebung eines Traumes die Schlange (etwa des Äskulap) aus eigenem Gelde machen. Ein Augustale zu Ariminum bestimmte im Testament die Errichtung einer Statue, wie es scheint einer Bacchantin (in einem Bacchustempel), mit einem goldenen Halsbande, einem Thyrsus und einem silbernen Becher von 2½ Pfund. Zu Reji (Riez im südlichen Frankreich) brachte ein Ehepaar dem Äskulap »wegen der ungemeinen Wirkung der Kraft des Gottes, die sie an sich erfahren hatten«, gemäß ihrem Gelübde eine Bronzestatue des Schlafgottes (vermutlich waren sie von dem Leiden der Schlaflosigkeit befreit worden) und einige Pretiosen dar, wie eine goldene Kette aus Schlänglein und eine silberne Schreibtafel. Zu Acci im Tarraconensischen Spanien schenkte eine Großmutter zu Ehren ihrer Enkelin der Isis eine Statue oder ein andres Weihgeschenk von 112⅔ Pfund Silber und außerdem einen Schmuck von Perlen, Smaragden und andern Edelsteinen für Kopf, Hals und andre Körperteile, unter anderm laut dem Verzeichnis: in den Ohren 2 Smaragde und 2 Perlen, am kleinen Finger 2 Diamantringe, am folgenden einen mit verschiedenen Steinen, Smaragden und einer Perle, am Mittelfinger einen mit einem Smaragd, an den Schuhen 8 walzenförmig geschliffene Edelsteine. Häufig wurden (wie in dem angeführten Falle in Reji) in die Tempel andre Statuen als die der dort verehrten Götter gestiftet und überhaupt Schenkungen gemacht, die nicht auf den Kultus Bezug hatten, sondern zur Erhöhung der Pracht und Schönheit der Tempel, zur Vermehrung ihrer Schätze dienen sollten: so vermachte ein Bürger von Rhegium dem Apollotempel seiner Vaterstadt ein kleines Pergamentbuch mit Elfenbeindeckeln, eine elfenbeinerne Büchse und 19 Gemälde.

Erwägt man, wie zahlreiche Angaben über silberne, auch goldene, zum Teil sehr kostbare Weihgeschenke wir selbst aus Mittelstädten des Orients wie des Occidents (z. B. Ostia) besitzen, deren Erhaltung doch nur dem Zufall verdankt wird; ferner daß des Augustus Gaben an fünf Tempel Roms (des kapitolinischen Juppiter, des Divus Julius, des Apollo, der Vesta, des rächenden Mars aus der Kriegsbeute einen Gesamtwert von etwa 100 Millionen Sesterzen (21¾ Millionen Mark) hatten; daß alte und schadhaft gewordene Tempelgeschenke, aus denen Hadrian (136) in Lanuvium eine Statue herstellen ließ, 3 Pfund Gold und 206 Pfund Silber ergaben u. a. dgl.: so möchte man glauben, daß es im römischen Reiche Tempel gab (und vielleicht nicht wenige), deren Reichtum an kostbaren Weihgaben hinter dem ehemaligen der Schatzkapelle der Casa Santa zu Loreto nicht zurückstand. Solche Schätze bedurften eines Schutzes, und zu ihrer Bewachung werden die einige Male erwähnten Militärposten bei Tempeln bestimmt gewesen sein. Zu den reichsten werden übrigens auch die gehört haben, deren Gottheiten nach Senatsbeschlüssen oder kaiserlichen Erlässen zu Erben eingesetzt werden konnten: wie der kapitolinische Juppiter, der didymäische Apollo zu Milet, Mars in Gallien, die Minerva in Ilium, der Herkules in Gades, die Diana zu Ephesus, die Göttermutter vom Sipylus, die Nemesis in Smyrna und die »Himmlische Göttin« in Karthago.

Aber auch an Zuwendungen für Priester und Tempeldiener fehlte es nicht. Scävola erörterte die testamentarische Bestimmung einer Frau, daß ihre Erben dem »Priester, dem Tempelwächter und den übrigen Freigelassenen« in einem bestimmten Tempel am Tage eines von ihr bei demselben gestifteten Jahrmarktes 10 Denare geben sollten: dies sei als eine jährlich zu leistende Zahlung zu verstehen.

Im ganzen Kultus wirkt ohne Zweifel nichts so mächtig und zugleich so stetig zur Erhaltung und Kräftigung des Glaubens wie der Bilderdienst, das Anschauen der im Bilde gegenwärtigen Gottheit, das selbst widerstrebende oder wankende Gemüter überwältigend ergreifen konnte; die Möglichkeit, sie persönlich zu verehren, mit ihr gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht zu verkehren. Wenn auch ein Teil der Philosophen, wie Seneca, den Bilderdienst verwarf, so machten andre, wie Maximus von Tyrus, im Anschlüsse an Gedanken des Posidonius, mit vollem Rechte geltend, die Schwäche der menschlichen Natur, deren Abstand von der Gottheit so groß sei wie der der Erde vom Himmel, bedürfe der sinnlichen Zeichen, um die Gottheit zu erfassen, und die wenigsten könnten ihrer entbehren; und von den bei den verschiednen Völkern so verschiednen Symbolen der göttlichen Wesen sei das würdigste, weil das gottähnlichste, die Menschengestalt. Eine Rechtfertigung und wissenschaftliche Begründung des Bilderdienstes hat dann der Neuplatonismus unternommen.

Es bedarf nicht erst der Zeugnisse dafür, daß der naive Glaube der Massen das Bild unwillkürlich und unbewußt in den Gott selbst verwandelte, und daß jeder Gott sich für sie in ebenso viele Personen spaltete, als es berühmte und weit und breit verehrte Bilder von ihm gab; wie ja auch jetzt das Volk in Italien an verschiedne Madonnen, in Griechenland an verschiedne Panagias glaubt. Werden doch sogar in Griechenland und Süditalien noch gegenwärtig antike Götterbilder als örtliche Schutzheilige verehrt, so eine verstümmelte Ariadne bei Mateleone als Santa Venere, die besonders bei Frauenkrankheiten angerufen wird. Die Wegführung einer kolossalen Statue der Demeter aus Eleusis (1801, jetzt in Cambridge), deren Wohlwollen man den Erntesegen zuschrieb, rief dort ein ebenso allgemeines Jammern und Klagen hervor, wie einstmals die Wegführung der Ceres aus Henna durch Verres, welche Freveltat man in ganz Sicilien als den Grund des Darniederliegens des Ackerbaues ansah. Auch im Altertume wurden Lippen, Hände und Füße der Götterbilder von Andächtigen so viel geküßt, daß ihr Umfang merklich abnahm. Die Betenden ließen sich von dem Tempeldiener möglichst nah ans Ohr des Götterbilds bringen, um besser gehört zu werden, und flüsterten ihm Gebete und Gelübde, die geheim bleiben sollten, zu; sie hefteten die Wachstafeln, auf denen ihre Gelübde verzeichnet waren, an die Knie des Bildes, damit der Gott ihr Anliegen nicht vergessen möchte. Aber sie stießen auch, wenn ihre Gebete unerhört blieben, Verwünschungen und Drohungen gegen die Götter aus, wie später die Christen gegen die Heiligen. Paulinus von Nola berichtet, gewiß ganz der Wirklichkeit gemäß, wie ein Bauer dem heiligen Felix in ziemlich grober Weise die bestimmte Erwartung ausspricht, daß er ihm seine zwei entwendeten Ochsen wiederschaffen werde: »der Märtyrer ergötzte sich an dem unhöflichen Beter und belachte mit dem Herrn die an ihn gerichteten Schmähungen«. In ähnlicher Weise fluchten nach Epictet die Landleute bei schlechtem Wetter und die Schiffer im Sturme dem Juppiter und enthalten ägyptische Papyri Drohungen gegen die Götter, falls sie die an sie gerichteten Bitten nicht erhören sollten.

Doch damit begnügte man sich im Altertume ebensowenig wie in späteren Zeiten. Wo Bilderdienst in welcher Form auch immer bestanden hat oder noch besteht, haben die Gläubigen zu allen Zeiten ihren Zorn über die Nichterhörung ihrer Gebete und das Ausbleiben des erwarteten Beistands auch an den Bildern ihrer Götter oder Heiligen ausgelassen. Die alten Arkadier prügelten ihren Pan, wenn sie mit leeren Händen von der Jagd heimkehrten; der Ostjake und Lappe mißhandelte seinen Götzen und zerbricht ihn, wenn ihm ein Unglück widerfährt; der Lazzarone in Neapel tritt die Heiligen, mit denen er unzufrieden ist, mit Füßen, der Spanier wirft die Mutter Gottes ins Wasser, der bayrische Bauer den hölzernen Herrgott, wenn das Hagelwetter nicht nachläßt, auf den Mist. Die französischen Soldaten verbrannten 1692 bei der Belagerung von Namur die Bilder des heiligen Medardus, weil nach dem Volksglauben der Regen am Medardustage ihnen eine Regenzeit von 40 Tagen gebracht hatte. Daß Heilige, die bei großer Dürre den erbetenen Regen nicht senden, mit Stricken gebunden, auch ins Wasser geworfen werden, ist in Süditalien und Sizilien gewöhnlich. Während der Napoleonischen Feldzüge ließ ein altbayrisches Bataillon den heiligen Petrus Spießruten laufen, weil er ihm das erbetene gute Marschwetter versagt hatte. Eine alte hochadlige Spanierin züchtigte (1871) den sonst von ihr hochverehrten heiligen Martial (Feldmarschall der spanischen Armee) an dem Tage, wo die Karlisten die Waffen strecken mußten, mit der Reitpeitsche usw. Wenn, wie diese Beispiele zeigen, dergleichen Ausschreitungen zu den notwendigen Begleiterscheinungen des Bilderdienstes gehören, kann es nur Zufall sein, daß wir nicht mehr als einen derartigen gegen Heiligtümer und Götterbilder gerichteten Ausbruch der Wut schmerzlicher Enttäuschung aus dem späteren Altertume kennen; auch aus der Art, wie Sueton denselben erzählt, geht hervor, daß er keineswegs etwas Auffallendes zu erzählen glaubte. Als nach den ersten beunruhigenden Nachrichten von der Krankheit des Germanicus sich in Rom das Gerücht von seiner Genesung verbreitete, strömte noch am späten Abend alles mit Lichtern und Opfertieren auf das Kapitol, und die Pforten des Tempels wurden beinahe erbrochen, weil alle meinten, ihre Gelübde nicht schnell genug lösen zu können: am Tage seines Todes wurden Steine gegen die Tempel geschleudert, Altäre der Götter umgestürzt, von manchen die Hauslaren auf die Straße geworfen. Auch hier war der Glaube an die Existenz sowie an die Macht der Götter ein durch nichts zu erschütternder.

Kaum wäre es zu ermessen, wie weit der von keiner Reflexion, geschweige denn einem Zweifel, angekränkelte Volksglaube die Identifikation des Bildes mit der Gottheit durchzuführen und festzuhalten vermochte. Was Senecas Unwillen bei einem gelegentlichen Besuch auf dem Kapitol so sehr erregte, war zum Teil altes Ritual, zum Teil aber erschien ihm eben der Glaube, der in dem Bilde die Gottheit selbst sah, unbegreiflich kindisch, und doch waren die Äußerungen dieses Glaubens kaum seltsamer und lächerlicher als die bisher erwähnten. Nach uraltem gottesdienstlichen Brauche wurde den kapitolinischen Göttern von verschiednen dienenden Personen aufgewartet: Juppiter hatte einen Diener zum Vorstellen der Verehrer, einen zum Ansagen der Tagesstunden, einen zum Polieren des Bildes, einen andern zum Salben. Wie dieser mit Bewegungen der Arme in der Luft seine Verrichtung nur pantomimisch ausführte, ebenso bewegten Tempeldienerinnen der Juno und Minerva die Hände, als ob sie den Göttinnen die Haare ordneten, andre hielten ihnen den Spiegel vor. Dagegen diejenigen, welche »die Götter zu ihren Terminen vor Gericht einluden, ihnen ihre Klagschriften vorwiesen und ihre Sachen vortrugen«, waren offenbar Betende, die den Beistand der Gottheit anflehten. Seneca sah auch Frauen auf dem Kapitol sitzen, die (vermutlich nach Träumen) glaubten, von Juppiter geliebt zu werden, und dort seinen Willen erwarteten. Alles dieses und ähnliches, wie die Übertragung von Ämtern an Götter, die Bekleidung ihrer Bilder mit der Tracht der Senatoren und hoher Beamten, das Vorausgehen von Liktoren mit Rutenbündeln vor ihnen (bei Prozessionen), ist nicht befremdender als z. B. Verleihungen der höchsten Orden an Madonnen in Spanien, das Einherziehen des heiligen Georg von Cappadocien am Fronleichnamsfeste zu Lissabon an der Spitze der portugiesischen Armee unter Begleitung von Pagen und Stallmeistern mit Handpferden, oder die Ernennung der heiligen Jungfrau von Guadeloupe zur Feldmarschallin des gegen die Spanier kämpfenden Insurgentenheeres in Mexiko durch dessen Führer Hildalgo, nebst der Anweisung eines Gehalts, das sie volle vierzehn Jahre (bis 1824) bezog, und der heiligen Jungfrau dos Dolores durch Don Carlos zu der gleichen Würde (1834). Wie jede Bilderverehrung in ihrer niedrigsten Form gestaltete sich also auch die damalige zu einem rohen Götzendienst. Seltsamer übrigens als jene nur angedeuteten Toiletten der kapitolinischen Gottheiten war eine Zeremonie, die bis 1864 alljährlich in der Kirche S. Maria del Carmine auf dem Mercato in Neapel vollzogen wurde. Einer dort befindlichen Figur des Heilands wurde am zweiten Weihnachtsfeiertage unter großem Zudrange des Volks in Gegenwart obrigkeitlicher Personen feierlich Haar und Bart geschnitten, was man far la barba di Gesù nannte.

So genügte also der Götterglaube noch immer dem Bedürfnisse der antiken Menschheit, indem er, dessen unendlich verschiednen Richtungen sowie den unzähligen Entwicklungsstufen des geistigen Bewußtseins entsprechend, sich in ebenso unzähligen Formen gestaltete. So groß der Abstand von dem Glauben eines Plutarch und Marc Aurel zu dem jener Schiffer und Bauern war, die bei schlechtem Wetter dem Juppiter fluchten: diese wie jene glaubten gleich fest an dieselben Götter und an deren Macht und Fürsorge für die Menschheit, und der Unterschied zwischen den voneinander am meisten abweichenden Glaubensformen war kein größerer als zwischen dem höchsten und niedrigsten Verständnis des Göttlichen innerhalb des Christentums.

2. Judentum und Christentum

An der strengen und intoleranten Ausschließlichkeit der monotheistischen Religionen fand die Expansivkraft des Polytheismus ihre Schranke, mit ihnen war keine Vereinbarung möglich. Was den Bekennern des Götterglaubens als das Höchste und Heiligste galt, das verdammte das Judentum wie das Christentum als greuelvoll, fluchwürdig und seelenmörderisch. Unheilig, sagt Tacitus, ist bei den Juden alles, was bei uns heilig ist, wiederum erlaubt bei jenen, was für uns unrein; er nennt sie ein dem Aberglauben ergebenes, der Religion abgeneigtes Volk. Die Götter, zu denen die Heiden beteten, waren den Juden wie den Christen tote Götzen oder böse Dämonen. Griechen und Römer, die die göttliche Lebensfülle als eine Göttergesamtheit, eine Götterwelt, auffaßten, verstanden den Glauben nicht, der die Gottheit zu einer einsamen, kaum zu fassenden Erhabenheit in eine unnahbare Ferne rückt, durch einen unermeßlichen, nicht auszufüllenden Zwischenraum von der anbetenden Menschheit trennt. Der Himmel des Judentums und des Christentums mutete sie an wie »eine erklärte Öde«, der Glaube an Einen Gott war ihnen Entgötterung des Alls, Gottlosigkeit; Christen und Atheisten waren den göttergläubigen Heiden gleich verhaßte und oft nebeneinander genannte Feinde der Religion.

Beide Religionen kommen hier nur in ihrem Gegensatze zum Heidentum, und insofern sie mit ihm in Wechselwirkung standen, in Betracht. Eine Andeutung ihrer Stellung innerhalb des römischen Weltreichs und der wesentlichen Momente, die ihre Verbreitung beförderten oder hemmten, ist für den Versuch, eine Gesamtanschauung der religiösen Zustände auch in der früheren Kaiserzeit zu gewinnen, unerläßlich, doch kann diese Betrachtung nur die Spitzen der Erscheinung streifen.

Das Verhältnis der beiden monotheistischen Religionen zum Götterglauben war ein sehr verschiedenes. Obwohl die Verdammung des Heidentums bei beiden eine gleich unbedingte und uneingeschränkte war, stand doch nur das Christentum dem Heidentum eigentlich feindlich gegenüber. Das Judentum, »eine Religion, wunderbar geeignet zur Abwehr, aber niemals zur Eroberung bestimmt«, schloß sich vielmehr ab, als daß es suchte, sich auf Kosten des Heidentums auszubreiten. Die überall zerstreuten, innig unter sich zusammenhängenden jüdischen Gemeinden übten allerdings auf das Heidentum eine gewisse Anziehung, taten ihm aber niemals in einer Weise Abbruch, daß seine Existenz hätte gefährdet erscheinen können, und trotz gelegentlicher Reibungen und Konflikte war die Stellung des Judentums zum Heidentum im großen und ganzen eine friedliche. Das Christentum dagegen trat von Anfang an mit dem vollen Bewußtsein seiner welterobernden Mission in die Geschichte ein und kündigte dem Heidentume den Kampf auf Leben und Tod an. Schon in seinen unscheinbaren ersten Anfängen, als seine Bedeutung nur dunkel geahnt werden konnte, wurde sein Gegensatz zur Welt, der als sein eigentliches Wesen erschien, als »Haß des Menschengeschlechts« empfunden und mit unversöhnlichem Hasse erwidert. Diese Feindseligkeit steigerte sich, je länger der Kampf dauerte, je mehr der noch im Besitz der Herrschaft und weltlichen Macht befindliche Glaube den Boden unter sich schwinden fühlte. Mindestens schon zu Anfang des 3. oder zu Ende des 2. Jahrhunderts, als das Christentum wie eine stetig wachsende Flut nach Überschwemmung der tieferen Schichten der Bevölkerungen mehr und mehr in höhere Lebenskreise eindrang, verbreitete sich unter den Anhängern des alten Glaubens die Neigung, alles öffentliche und allgemeine Unglück vom Zorne der Götter über den zunehmenden Verfall ihres Dienstes abzuleiten und das Christentum und seine Bekenner als die Verschulder dieses Zorns verantwortlich zu machen. Je länger desto mehr gewann die Ansicht Boden, daß mit dem Eintritt des Christentums in die Welt eine ununterbrochene Reihe schwerster Heimsuchungen und Unglücksfälle über das Menschengeschlecht gekommen sei. Bald sollte die Zeit kommen, wo als Ursache des göttlichen Zorns der Irrglaube der Juden und Heiden betrachtet und ihnen nun dieselben Übel und Unglücksfälle zur Last gelegt wurden, als deren Urheber früher die Christen gegolten hatten.

Die erste Verbreitung des Christentums ist durch die Zerstreuung der Juden in der ganzen alten Welt aufs wirksamste gefördert worden. Diese Zerstreuung hatte früh begonnen und schon in der vorchristlichen Zeit einen hohen Grad erreicht. In einem gegen Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. verfaßten Sibyllenorakel heißt es, daß jegliches Land und jegliches Meer vom jüdischen Volke erfüllt sei. Strabo sagt, daß »bereits in Sullas Zeit in jede Stadt eine Judenschaft eingedrungen war, und daß man nicht leicht einen Ort der Welt auffinden könne, der diesen Stamm nicht aufgenommen habe und von ihm behauptet werde«; Josephus, daß kein Volk auf der Erde sei, unter dem nicht ein Teil von ihnen lebe. Die Apostelgeschichte nennt als Juden und Judengenossen aus »allerlei Volk, das unter dem Himmel ist«, die in Jerusalem die Apostel in Zungen reden hörten: Parther, Meder, Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Cappadocien, Pontus, Asia, Phrygien, Pamphylien, Ägypten, Cyrene, Rom, Kreta und Arabien. Der König Herodes Agrippa I. zählt in einem Schreiben an Caligula die Länder auf, wo sich jüdische Kolonien befanden: Ägypten, Phönizien, Syrien, Cölesyrien, Pamphylien, Cilicien, den größten Teil von Asia bis Bithynien und die Küsten der innersten Buchten des Schwarzen Meeres; in Europa Thessalien, Böotien, Mazedonien, Ätolien, Attika, Argos, Korinth, die meisten und besten Landschaften des Peloponnes, von Inseln Euböa, Cypern, Kreta; endlich die Länder jenseits des Euphrat.

Dafür, daß die jüdische Emigration vorzugsweise oder auch nur zum großen Teil eine handeltreibende war, fehlen nicht bloß ausdrückliche Zeugnisse, sondern auch Anhaltspunkte irgendwelcher Art, und manches spricht dagegen. Daß die Städte, in denen Juden sich nachweisen lassen, großenteils Handelsplätze waren, beweist es keineswegs, da diese zu jedem Erwerb, namentlich zu industriellem, die reichste und mannigfaltigste Gelegenheit boten. Auch zeigt sich eine einseitige Vorliebe für den Handel, der von dem Umsatz fremder Arbeit lebt, bei den Juden im Altertume nirgends; und in den 63 Schriften, aus denen der Talmud besteht (der voll ehrenvoller Anerkennung der Handarbeit und des Handwerks ist), findet man kaum ein Wort zu Ehren des Handels, wohl aber manches, welches auf die Gefahren der Geldmacherei und des vagierenden Lebens hinweist. »Ein arbeitsames Volk waren die Juden immer. Solange sie einen eignen Staat bildeten, waren Feldbau, Gartenbau und Handwerk ihre vorherrschende Beschäftigung. Auch in den ersten Jahrhunderten n. Chr. und nach der Zerstreuung des Volkes blieb dieses seinen alten Sitten getreu. Josephus rühmt noch im Anfange des 2. Jahrhunderts den Fleiß seiner Volksgenossen in Handwerk und Feldbau. In der römischen Literatur und den Gesetzen der Kaiser findet sich keine Spur, daß die Juden dem Schacher und Kleinhandel sich ergeben hätten, oder überhaupt ein Kaufmannsvolk geworden wären.« Dagegen spricht auch die Armseligkeit der Juden in Rom und die großen Aufstände in Ägypten, Cyrene und auf den griechischen Inseln: eine Handel oder Trödel treibende Bevölkerung pflegt nicht zu den Waffen zu greifen. Inwiefern die von christlichen Schriftstellern des 4. und 5. Jahrhunderts den Juden im allgemeinen gemachten (gewiß mit Vorsicht aufzunehmenden) Vorwürfe der Habsucht, des Betrugs, der Bosheit und Treulosigkeit schließen lassen, daß diese damals mehr als früher Handel trieben, muß dahingestellt bleiben.

Außerhalb des römischen Reichs war es namentlich das parthische, das eine starke jüdische Bevölkerung hatte. In den dortigen Griechenstädten (von denen Seleucia am Tigris, mit angeblich 500.000 Einwohnern, der größte Handelsplatz außerhalb der römischen Grenzen war) fehlte es nicht an Konflikten zwischen den drei Nationen, aus denen die Bevölkerung bestand (Griechen, Syrern und Juden): unter Caligula z. B. wurden unter den Augen der parthischen Regierung die Juden aus den größeren Städten ausgetrieben. Sie zählten in Mesopotamien, Medien und Babylonien nach Millionen, Nisibis und Nehardea am Euphrat waren dort ihre Hauptsitze, und nach Unterdrückung der letzten nationalen Bestrebungen in Palästina wurde Babylonien das Zentrum eines neuen jüdischen Lebens, das sich über alle Teile des persischen Reiches verbreitete. Auch in Palmyra wohnten Juden, wahrscheinlich zahlreich; die dortige, im 3. Jahrhundert n. Chr. nachweisbare Gemeinde scheint im Mittelalter fortbestanden zu haben, im 12. Jahrhundert bezeugt Benjamin von Tudela ihr Dasein; Pfeiler und Oberschwelle einer Synagoge mit der Inschrift des Gebets »Höre Israel« sind dort gefunden worden. Zenobia und ihr Sohn Vaballath Athenodorus waren ihnen zum mindesten nicht abgeneigt, wie ihre Bestätigung des – von Ptolemäus Euergetes, wohl dem ersten (247-221), erteilten – Asylrechts einer Synagoge in Unterägypten beweist. In Arabien bieten jüdische, byzantinische und arabische Nachrichten viele Spuren eines weitverzweigten jüdischen Lebens. Die früher unabhängigen Juden, welche die Insel Jotaba im arabischen Meerbusen bewohnten, unterwarf Justinian. Der letzte König der jüdischen Homeriten (Himjariten) im südwestlichen Arabien, Dhu Nuwâs (Dunaas), war ein eifriger Christenverfolger, bis er 525 im Kampfe gegen Elesbaas, den König der christlichen Abessinier (Auxumiten), Reich und Leben verlor. In Abessinien scheinen die Niederlassungen der Juden sehr alt zu sein. Als ums Jahr 330 Frumentius das Christentum dorthin brachte, sollen sie die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht haben.

Innerhalb des römischen Reichs mag die jüdische Bevölkerung außer Palästina in Kleinasien, Phönizien und Syrien am dichtesten gewesen sein. Namentlich in der Einwohnerschaft von Antiochia bildete die schon von Seleucus Nikator hier angesiedelte jüdische Kolonie ein sehr bedeutendes Kontingent, und die dortige Hauptsynagoge beschreibt Josephus als besonders prachtvoll. Wie in Alexandria war ihnen ein gewissermaßen selbständiges Gemeinwesen und eine privilegierte Stellung eingeräumt, und daß beide Städte Zentren der jüdischen Diaspora waren, ist nicht das schwächste Element in ihrer Entwicklung gewesen. Noch zu Ende des 4. Jahrhunderts war, wie die Predigten des Johannes Chrysostomus wider die Juden bezeugen, ihre dortige Gemeinde durch ihre Anziehungskraft der christlichen Kirche gefährlich. Auch hier waren sie als Ärzte gesucht. In Damascus sollen im jüdischen Kriege 10.500 oder 18.000 Juden niedergemetzelt worden sein.

Nach Kleinasien, das von altersher ein Hauptsitz der jüdischen Diaspora gewesen war, hatte schon König Antiochus der Große aus Mesopotamien 2000 jüdische Familien verpflanzt, um in Lycien und Phrygien eine zuverlässige und tapfere Bevölkerung zu haben. Zwei von den Synagogen auswärtiger Gemeinden in Jerusalem gehörten den Juden aus Asia und Cilicien. In Ionien hatte Ephesus früh eine zahlreiche Judengemeinde, die schon um die Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. mannigfache Privilegien zu erwirken vermochte. In Smyrna und (wahrscheinlich) in Phocäa sind Synagogengemeinden durch Inschriften bezeugt; die letztere ehrte die Erbauerin des Betsaals und der Umfassungsmauer des Hofs der Synagoge durch einen goldenen Kranz und einen Ehrensitz. In Cappadocien ist Meschag, in Cilicien Tarsus, in Groß-Phrygien Apamea (Κιβωτός) als Sitz jüdischer Gemeinden bekannt; den Einfluß der letzteren zeigen Münzen von Apamea aus der Zeit des Septimus Severus, Macrinus und Philipp, auf welchen Noah in der Arche nebst dem Raben und der Taube mit dem Ölzweig geprägt ist. Von der aus Apamea in Bithynien nach Jerusalem zu sendenden Tempelsteuer belegte der Prätor Cn. Flaccus 62 v. Chr. gemäß seinem Verbote der Goldausfuhr fast 100 Pfund Gold öffentlich mit Beschlag, doch war dies schwerlich die ganze Summe; kleinere Summen derselben Steuer wurden in Laodicea, Adramyttium, Pergamum konfisziert. Zu Antiochia in Pisidien wie zu Iconium in Lycaonien predigte Paulus in den Schulen der Juden. Auch in Armenien waren sie zahlreich. Im 2. Jahrhundert n. Chr. sollen sie (aus Persien) in China eingewandert sein; mohammedanische Berichte erwähnen dortige Juden im 9. Jahrhundert, Marco Polo 1286; die Nachkommen dieser Einwanderer lebten dort nach dem Bericht eines Jesuiten im 18. Jahrhundert »treu ihrer Religion, ihrem Charakter, ihren Gebräuchen«, und sind noch heute nicht ausgestorben.

Von den griechischen Inseln werden Kreta und Melos, wo Katakomben einer christlichen Gemeinde aus dem 3. Jahrhundert gefunden worden sind, als Wohnsitze wohlhabender jüdischer Bevölkerungen genannt, die unter Augustus einen Prätendenten, der sich für den von Herodes ermordeten Alexander ausgab, aufs reichste unterstützten; die zweite Frau des Josephus war eine Jüdin aus Kreta, »von sehr edeln und im Lande sehr angesehenen Eltern«. Cäsar gestattete die religiösen Vereinigungen der Juden auf Delos und anderwärts; auch auf Kos lebten Juden. Euböa und Cypern sind in dem Briefe des Herodes Agrippa genannt; auf der letzteren Insel (wo namentlich die Gemeinde von Salamis aus der Apostelgeschichte bekannt ist) waren die Juden zahlreich bis zum Jahre 116; seit den in dem damaligen Aufstande verübten Greueln durften sie die Insel nicht mehr betreten. In Griechenland und Mazedonien sind die Gemeinden von Athen, Korinth, Thessalonice, Beröa und Philippi aus der Apostelgeschichte bekannt. Zwei Erlasse von Arcadius (397) und Theodosius II. (412) an den Präfekten von Illyricum (Mazedonien und Dacien) verbieten Beunruhigungen der dortigen Juden und ihrer Synagogen. Vor dem eben genannten Theodosius, der sie aus Konstantinopel verbannte, hatten sie ihre Synagoge dort auf dem von ihren Offizieren benannten Platze der Chalkopratien gehabt. Auch an den nördlichen Küsten des Schwarzen Meeres ist ihre Verbreitung früh erfolgt. Zu Panticapäum bestand eine jüdische Gemeinde ums Jahr 81 n. Chr.: in dortigen griechisch abgefaßten Freilassungsurkunden erfolgt die Freigabe der Sklaven in der Form des Scheinverkaufs an den jüdischen Gott.

Die jüdische Bevölkerung Ägyptens betrug im Anfange des 1. Jahrhunderts eine Million, mehr als ein Achtel der gesamten Einwohnerschaft. Die Anfänge ihrer dortigen Niederlassungen reichen bis in das 7. Jahrhundert v. Chr. Aus Papyrusurkunden wissen wir jetzt, daß in Elephantine schon vor der Eroberung durch Kambyses (525 v. Chr.) eine jüdische Gemeinde bestanden hat, deren Heiligtum 410 v. Chr. auf Betrieb der ägyptischen Priester zerstört wurde, wahrscheinlich aber bald darauf wiederhergestellt worden ist. Wahrscheinlich waren die dortigen Juden, die zum Teil auch in der gegenüber am Nilufer liegenden Festung Syene in Garnison lagen, militärische Ansiedler. In Alexandria hatte schon Alexander der Große Juden angesiedelt, wenn auch die spätere Behauptung der Juden, daß er ihnen auch das volle Bürgerrecht verliehen habe, durch die Urkunden widerlegt wird. Nach Alexanders Tode wanderten sie dorthin sehr zahlreich aus. Von den meisten Ptolemäern wurden sie begünstigt. In Philos Zeit bewohnten sie von den fünf Quartieren Alexandrias zwei (im Nordosten der Stadt) hauptsächlich, in der Zeit des Josephus besonders das sogenannte Delta, d. h. den vierten Stadtbezirk, saßen aber auch in den übrigen zerstreut, in allen Stadtteilen sah man ihre von Bäumen umgebenen Synagogen, sie hatten auch ihre eigne Synagoge zu Jerusalem. Die unter Trajan zerstörte Hauptsynagoge in Alexandria, in Form einer Basilika mit doppeltem Peristyl, hatte einen so großen Umfang, daß ein Tempeldiener ein Banner entfalten mußte, wenn die Gläubigen auf den Segensspruch des Vorbeters mit Amen einfallen sollten. Die alexandrinischen Juden trieben Handel und Schiffahrt, aber auch Handwerke. An der mit der Bewachung der Nilschiffahrt (Potamophylacia) verbundenen Verwaltung des Netzes der Nilzölle waren sie stark beteiligt. Unter den in der Gegend von Theben gefundenen Steuerquittungen auf Tontafeln finden sich zahlreiche Namen jüdischer Steuerpächter. Unter Ptolemäus Philometor (um 170 v. Chr.) gründete Onias, der Sohn eines Hohenpriesters, zu Leontopolis (im heliopolitischen Gau) eine jüdische Kolonie mit eignem Tempel, in welchem seitdem bis zur Zeit Vespasians geopfert wurde. Die hier wohnenden Juden müssen eine ansehnliche Macht dargestellt haben.

Auch auf dem Gebiet von Cyrene, wo schon Ptolemäus Lagi Juden angesiedelt hatte, war eine starke jüdische Bevölkerung, der ebenfalls eine von den fünf erwähnten Synagogen zu Jerusalem gehörte. Einen Aufruhr derselben hatte schon Lucullus zu bekämpfen. An dem Aufstandsversuche eines Jonathas im Jahre 70 n. Chr. nahmen dort ihrer 2000 teil. Die Gemeinde von Berenice hatte (nach einem noch erhaltenen Ehrendekret für einen M. Titius), wie es scheint, im Jahre 13 v. Chr. neun Vorsteher (Archonten). Bei dem furchtbaren und weitverzweigten Aufstande der Juden, der im Jahre 116 in Cyrene, Ägypten und gleichzeitig auch in Cypern und Mesopotamien ausbrach, sollen dort 220.0000, in den beiden letzten Ländern 240.000 Menschen von ihnen umgebracht worden sein. Die an der großen Syrte gelegene Küstenstadt Boreum war größtenteils von Juden bewohnt und hatte einen besonders heilig gehaltenen, angeblich von König Salomo erbauten Tempel, welchen Justinian nach ihrer Bekehrung zum Christentum in eine Kirche verwandelte. In der Provinz Afrika, wo die jüdische Gemeinde zu Karthago die größte gewesen sein wird, ist kürzlich der Mosaikfußboden der Synagoge einer Stadt Naron entdeckt worden, nebst lateinischen Wandinschriften derer, die ihn machen ließen, aus später Zeit; wobei sich außer dem siebenarmigen Leuchter auch das christliche Monogramm befindet. Im westlichen Afrika hat sich die Spur einer jüdischen Gemeinde zu Sitifi in Mauretanien, jüdischer Einwohner auch anderwärts (namentlich in Cirta) erhalten. »Selbst im äußersten Westen von Mauretanien, in Volubilis, ist eine hebräische Inschrift gefunden worden.«

Die Nachricht des Valerius Maximus, daß im Jahre 139 v. Chr. von dem Prätor Cn. Cornelius Hispalus außer den Chaldäern auch die Juden, »welche die römischen Gebräuche durch den Dienst des Juppiter Sabazius zu verunstalten versucht hatten«, aus Rom und Italien ausgewiesen wurden, bezieht sich höchstwahrscheinlich auf die von Simon Makkabäus 140/139 nach Rom geschickten Gesandten: ansässige Juden gab es also damals in Italien offenbar noch nicht; die Identifizierung des Judengottes mit Sabazius erklärt sich daraus, daß die griechischen Juden den Namen Zebaoth Sabaoth aussprachen. Achtzig bis neunzig Jahre später bildeten sie, teils ohne Zweifel infolge der Kriege des Lucullus und Pompejus als Gefangene massenhaft nach Rom geführt und dort freigelassen, teils infolge der zwischen Orient und Occident so viel inniger und mannigfaltiger gewordnen Beziehungen, eine ansehnliche Masse: durch ihre Zahl, ihr enges Zusammenhalten und ihren Einfluß hofften (im Jahre 59 v. Chr.) die Ankläger des Prätors Flaccus eine Unterstützung zu erhalten. Die ganze Region jenseits des Tibers wurde hauptsächlich von ihnen bewohnt, wahrscheinlich war dort auch eine Synagoge. Eine Gesandtschaft des Judenkönigs Herodes wurde angeblich von 8000 ihrer in Rom ansässigen Glaubensgenossen zu Augustus begleitet, und im Jahre 19 n. Chr. 4000 Freigelassene in waffenfähigem Alter, »die von jüdischem und ägyptischem Aberglauben angesteckt waren«, zur Deportation nach Sardinien verurteilt. Trotzdem spricht Philo im Jahre 40 von einer jüdischen Gemeinde in Rom, und unter Claudius waren die Juden dort wieder zu einer solchen Menge angewachsen, daß ihre infolge der unter ihnen ausgebrochenen Unruhen für rätlich erachtete Ausweisung wenigstens nur sehr teilweise ausgeführt werden konnte; jedenfalls fand der Apostel Paulus eine Gemeinde in Rom vor. Auch die römischen Juden hatten eine Synagoge in Jerusalem. Aus den Inschriften geht hervor, daß sie eine größere Anzahl einzelner, selbständig organisierter Gemeinden bildeten, jede mit eigner Synagoge und einem eignen Rat der Ältesten, an dessen Spitze ein Vorsteher (Gerusiarch) stand, und dessen geschäftsführende Beamte (Archonten) teils auf Zeit, teils lebenslänglich gewählt wurden; auch Unmündige konnten zu diesem Amt designiert werden. Den Gottesdienst leiteten Synagogenvorsteher (ἁρχισυναγωγοί), denen ein Diener (ὐπηρέτης, Chassan) zur Seite stand; die Titel »Synagogenvater, Synagogenmutter« bezeichnen Ehrenstellungen; auch die Schriftgelehrten (γραμματεῖς) waren keine Beamten, und auch für diesen Stand wurden bereits Kinder designiert. Die verschiednen Gemeinden in Rom hatten teilweise gemeinsame Begräbnisplätze. Ein von Bosio entdecktes, hauptsächlich von den Juden der Transtiberinischen Region benutztes Cömeterium (an der Via Portuensis bei Colle rosato) ist neuerdings wieder aufgefunden worden; ein andres lag in der Vigna Randanini an der Appischen Straße vor dem Capenischen Tor (wo in Juvenals Zeit der Hain der Egeria und der Camenen von ihnen gepachtet war), ein drittes an derselben Straße jenseits der Kirche S. Sebastiano in der Nähe des altchristlichen ad catacumbas; ein viertes an der Via Labicana im Osten der Stadt, das aus der Zeit der ersten Antonine stammt, zeigt, daß auch der Esquilin und Viminal ein Zentrum der jüdischen Bevölkerung Roms bildeten; ein fünftes ist 1885 an der Via Appia Pignatelli gegenüber dem an zweiter Stelle genannten entdeckt worden. Die Inschriften sind überwiegend griechisch, allerdings zum Teil bis zur Unverständlichkeit jargonartig; daneben finden sich lateinische (manchmal mit griechischen Buchstaben geschrieben), aber verhältnismäßig nur wenige hebräische. Das Hebräische erhielt sich in jenen Jahrhunderten nur im kirchlichen Gebrauch, die allgemeine Verkehrssprache der jüdischen Diaspora war (mit Ausnahme Syriens, wo Aramäisch gesprochen wurde) Griechisch. In gelegentlichen Erwähnungen erscheinen die römischen Juden armselig und zigeunerhaft, als Bettler und Wahrsager. Die Gräber sowie die ganze Anlage des zuerst von Bosio gefundnen Kirchhofs sind roh und dürftig, nirgends begegnen Fragmente von Marmor oder Malerei außer dem grob aufgemalten siebenarmigen Leuchter. Dagegen auf dem Begräbnisplatz in der Vigna Randanini finden sich Malereien und darunter sogar Figuren der heidnischen Mythologie, mit wahrscheinlich symbolischer, doch noch unenträtselter Bedeutung. Auch in Portus sind Spuren einer früh dort angesiedelten jüdischen Gemeinde vorhanden. Von dort stammte wahrscheinlich auch der zu Anfang des 8. Jahrhunderts geborene Peitan ( poeta) Elazar, der für einen Dichter liturgischer Gesänge gilt, die noch heute bei dem Gottesdienst an großen Festen in Deutschland, Frankreich und Italien in Gebrauch sind.

Im übrigen Italien wird Puteoli ein Hauptsitz der Juden gewesen sein, von wo sie sich in die Städte Campaniens verbreiteten. In Pompeji ist der Inhalt eines irdenen Gefäßes als gar(um) cast(imoniale), d. h. koschere (aus schuppenlosen Fischen, gemäß »dem Aberglauben der Juden«, sagt Plinius, bereitete) Fischbrühe bezeichnet; eine dortige Wandinschrift in einem Triclinium Sodoma-Gomora kann nur von einem Juden oder Christen herrühren; eine (vielleicht alexandrinische) Karikatur des Urteils des Königs Salomo setzt die Bekanntschaft mit jüdischen Traditionen allerdings nicht notwendig voraus; in Wandinschriften kommen die Namen Maria (in einer Liste von Sklavinnen) und Martha vor. Die Existenz einer Gemeinde zu Capua ist durch die Grabschrift eines dortigen Synagogenvorstehers, zu Venusia durch die Entdeckung jüdischer Katakomben (aus dem 6. Jahrhundert) erwiesen, in denen sich u. a. die Grabschrift eines Oberarztes ( archiater) gefunden hat. Bei der Belagerung Neapels durch Belisar erklärten die dortigen Juden, die Stadt mit Lebensmitteln versorgen zu wollen, und leisteten bei der Einnahme hartnäckigen und unerwarteten Widerstand. Auch in Tarent und Fundi sind jüdische Grabschriften gefunden worden. In Apulien und Calabrien (dessen Küstenbeschaffenheit der Midrasch besonders im Auge haben soll) bildeten die Juden im 4. Jahrhundert einen so großen Teil der Bevölkerung, daß nach einem kaiserlichen Erlaß vom Jahre 398 der Bestand der Gemeinderäte in vielen Städten in Frage gestellt war, weil sie zur Übernahme der städtischen Ämter nicht verpflichtet zu sein behaupteten. Im mittleren und nördlichen Italien, wo ihre Ansiedlungen vermutlich ebenso alt sind wie im südlichen, finden sich deren Spuren meist erst spät. In Brixia lassen die Inschriften eines Synagogenvorstehers und einer »Synagogenmutter« mit Sicherheit auf eine jüdische Gemeinde schließen. Den Juden in Genua erlaubte Theoderich, ihre Synagoge herzustellen, doch nicht zu erweitern; er bestätigte die Rechte der Synagoge in Mailand, soweit dadurch der Kirche nicht Eintrag geschehe; während seiner Anwesenheit in Ravenna brach dort zwischen Christen und Juden ein Tumult aus, die ersteren zündeten die Synagogen an, wurden jedoch von dem Könige gezwungen, sie wieder herzustellen. In Bononia waren die Märtyrer Agricola und Vitalis auf einem Grundstücke der Juden unter deren Gräbern bestattet; Ambrosius ließ ihre Überreste von dort fortschaffen. Auch in Pola hat sich eine jüdische Grabschrift erhalten; eine römische Grabschrift nennt Aquileja als Geburtsort eines Gerusiarchen. Gregor der Große (der in seinen Briefen auch die Synagoge in Terracina erwähnt) schreibt an den Bischof von Luna, daß er keinem Juden auf seinen Gütern gestatten solle, christliche Sklaven zu besitzen, was dort vorgekommen war. Daß auch in Sizilien Juden früh in großer Anzahl gewohnt haben, ist an sich wahrscheinlich. Der Quästor und Scheinankläger des Verres, Q. Cäcilius Niger, war ein (von Freigelaßnen stammender) Jude. In den Schreiben der Päpste ist mit Bezug auf die Bewirtschaftung der Patrimonien der Kirche, die sich über beide Sizilien und Sardinien erstrecken, vielfach von ihnen die Rede. Nach den Briefen Gregors des Großen gab es in Palermo, Messina, Agrigent jüdische Gemeinden; er ließ sich 594 ein Verzeichnis aller Besitzungen, auf denen Juden lebten, anfertigen, um jedem einzelnen im Falle der Bekehrung ein Drittel der Steuer erlassen zu können. In Sardinien wird sich sicherlich die von Tiberius dorthin zwangsweise ausgeführte jüdische Kolonie fortgepflanzt haben; in Cagliari war jahrhundertelang ein jüdisches Gemeindeleben.

Nach Spanien, »das in Mischna und Talmud erwähnt wird«, beabsichtigte Paulus zu reisen – eine Absicht, die er vielleicht auch ausgeführt hat –, woraus man mit Wahrscheinlichkeit schließen kann, daß schon damals Juden dort lebten. Sonst haben sich in Spanien vor dem Illiberitanischen Konzil (nach der gewöhnlichen Annahme zwischen 300 und 309), das der Juden bestimmt Erwähnung tut, nur sehr schwache Spuren von ihnen erhalten: so eine Grabschrift eines jüdischen Kindes in Abdera (Adra) in Bätica, die nach der Form der Buchstaben dem Anfange des 3. Jahrhunderts anzugehören scheint. Auf Minorca gab es eine ansehnliche jüdische Gemeinde um 417 n. Chr. Mit Sisebut (612-620) beginnt die Reihe der drakonischen Gesetze des westgotischen Reichs gegen die Juden.

Auch von alten Verbindungen mit Gallien sollen jüdische Nachrichten zeugen. Archelaus, Sohn des Herodes, wurde von Augustus nach Vienna verwiesen, Herodes Antipas von Caligula im Jahre 39 nach Lugdunum Convenarum. Unter den Ländern, die Rabbi Akiba aufgesucht haben soll, um die Juden zur Teilnahme an dem Aufstande Bar-Cochebas zu bewegen, wird auch Gallien genannt. Hilarius von Poitiers († 366) vermied selbst Begrüßungen von Juden und Ketzern auf der Straße. An die Dekurionen von Köln erließ Constantin im Jahre 321 die Verfügung: die Juden sollten im allgemeinen zur Übernahme des Dekurionats genötigt, nur zwei bis drei (wohl die Geistlichen und Beamten der Gemeinde) davon befreit werden dürfen. Die Kölner Gemeinde (deren Synagoge zuerst 1012 erwähnt wird) war also wohl nicht klein und auch ziemlich alt. Andre Erwähnungen in griechischen oder römischen Quellen vor Sidonius Apollinaris sind spärlich. Im 7. Jahrhundert vertrieb König Wamba die Juden aus Narbo; doch im 9. sollen sie dort sehr reich gewesen sein, die Mühlen der Stadt und viel Land besessen, Weinbau durch christliche Arbeiter, Handel (hauptsächlich mit den Arabern in Spanien) getrieben haben. Aus Gregors von Tours Geschichte der Franken ergibt sich ihre große Verbreitung in ganz Gallien im 6. Jahrhundert, die auf ein hohes Alter ihrer dortigen Niederlassungen schließen läßt. Als z. B. im Jahre 576 das Volk ihre Synagoge in Clermont zerstörte und der Bischof Avitus ihnen die Wahl ließ, ob sie auswandern oder sich taufen lassen wollten, nahmen mehr als 500 den christlichen Glauben an; die übrigen zogen nach Marseille. Der König Chilperich ließ 582 zu Paris viele Juden taufen. Als König Guntram 585 in Orléans einzog, vernahm man in den Lobgesängen der ihn empfangenden Menge auch die Sprache der Juden. Benjamin von Tudela nennt als Städte, in denen Juden wohnten, Narbonne (etwa 300), Béziers, Montpellier Lunelle (300), Beaucaire (400), Bourges de St.-Gilles, Arles (200), Marseille (300). Unter den Inschriften der Donauländer sind nur wenige jüdische im unteren Pannonien.

In England scheinen die Juden zur Zeit des Erzbischofs Theodor von Canterbury (im Amt 669-691) zahlreich, also wohl mindestens seit der Mitte des 7. Jahrhunderts dort ansässig gewesen zu sein, wahrscheinlich aber schon früher. Denn aus dem Mangel von Nachrichten auf das Fehlen einer jüdischen Bevölkerung zu schließen, ist überall um so weniger zulässig, als dieser vielmehr gewöhnlich seit dem frühen Mittelalter ein Beweis für ihre ungestörte Existenz ist. Hieronymus sagt, daß sie »von Meer zu Meer, vom britannischen bis zum Atlantischen Ozean, von Westen zu Süden, von Norden zu Osten, auf der ganzen Welt« wohnten. Sie glaubten, daß, wenn der Messias sie nach Jerusalem zurückführen würde, diejenigen von ihnen, die den senatorischen oder sonst einen hohen Rang hätten, aus Britannien, Spanien, Gallien (selbst von dessen äußersten Grenzen, aus dem Gebiete der Moriner, von den Ufern des Rheins) in Karossen kommen würden.

Seit dem großen jüdischen Kriege hatten die Juden die früher nach Jerusalem entrichtete Steuer von zwei Drachmen an den Tempel des kapitolinischen Juppiter zu entrichten; dies führte namentlich unter Domitian zu Vexationen und Bedrückungen, welche Nerva abstellte, ohne jedoch die Steuer zu erlassen. Abgesehen von derselben war die bürgerliche Berechtigung der Juden als solcher im römischen Reiche nicht bloß vollkommen unbeeinträchtigt, sondern sie erfreuten sich auch wichtiger Vorrechte. Septimius Severus und Caracalla erließen ihnen bei der Bestätigung ihrer Befähigung zur Bekleidung städtischer Ämter (die damals allerdings kein Vorzug mehr war) ausdrücklich diejenigen Leistungen, die ihrem »Aberglauben« zuwiderliefen. Ob eine allgemeine und dauernde Befreiung vom Militärdienste, die man auf einen Erlaß Cäsars zurückgeführt hat, bestanden hat, ist strittig. In Hinsicht der Teilnahme am Kaiserkult machte man ihnen, wenn auch nicht rechtlich, so doch tatsächlich weitgehende Konzessionen: wenn sie hierin und sonst vor den Christen bevorzugt waren, so rührt dies daher, daß sie immer noch als eine Nation betrachtet wurden, die Christen nur als eine Sekte. Augustus, der Cäsars judenfreundliche Politik im wesentlichen fortsetzte, hatte angeordnet, daß sie am Sabbat nicht gezwungen werden durften, vor Gericht zu erscheinen; daß die Verteilungen von Geld und Getreide in Rom, falls sie auf einen Sabbat fielen, für sie am folgenden Tage stattfinden, daß ihnen statt des von der Kommune gelieferten, für sie unbrauchbaren Öls eine Geldentschädigung gezahlt werden sollte: ein Recht, in dessen Genusse sie der Freund Vespasians Mucianus in Antiochia schützte. Außer der freien Übung ihres Kultus war den jüdischen Gemeinden das Recht der eignen Vermögensverwaltung und, wenigstens in einem gewissen Umfange, auch die eigne Gerichtsbarkeit gegen ihre Mitglieder eingeräumt worden. »Eine sehr weitgehende Machtbefugnis muß der jüdische Ethnarch oder Patriarch in Palästina gehabt haben, der nach dem Untergange des jüdischen Staatslebens das Oberhaupt der Nation bildete; das Amt war in der Familie Hillels geradezu erblich. Seiner Jurisdiktion scheinen sich die sämtlichen jüdischen Diasporagemeinden freiwillig unterworfen zu haben. Und seine Befugnisse waren so weitgehend, daß die Kirchenväter sich ernstlich Mühe geben mußten zu beweisen, daß trotzdem schon zur Zeit Christi das Szepter von Juda genommen worden sei«. Seine Stellung war ähnlich der des griechischen Patriarchen in Konstantinopel unter der türkischen Herrschaft. Für die Juden war er der alte Hohepriester: und so hatten sie sich trotz der Zerstörung Jerusalems in gewissem Sinne als Nation wieder rekonstruiert.

Wenn nun trotz aller den Juden eingeräumten Rechte und Privilegien Philo sagt, daß sie schon zufrieden sein müßten, wenn sie andern gegenüber nur nicht zurückgesetzt würden, so erklärt sich dies aus ihrer sozialen Stellung, die allerdings im ganzen eine sehr ungünstige war: am meisten natürlich da, wo, wie in Ägypten, ein besonders starker Nationalhaß gegen sie bestand, oder unmittelbar nach Kriegen und Aufständen, in denen sie Ströme von Blut vergossen hatten; wie denn die Äußerungen des Judenhasses namentlich bei dem älteren Plinius, Quintilian, Tacitus wohl mit auf Rechnung des Eindrucks zu setzen sind, den der jüdische Krieg hinterlassen hatte. Aber auch abgesehen von dem wilden Fanatismus, der in diesen Verzweiflungskämpfen wütete, reichte schon ihre hochmütige Verachtung aller andern Nationen, Kulturen und Religionen, ihre Absonderung von Tisch und Bett ihrer Nachbarn, verbunden mit ihrem hartnäckigen Zusammenhalten untereinander, hin, sie »allen Menschen zuwider« zu machen und als ein von Menschenhaß erfülltes Volk erscheinen zu lassen. Die von judenfeindlichen Schriftstellern (hauptsächlich auf Grund ägyptischer Quellen) verbreiteten Beschuldigungen, Übertreibungen und Erdichtungen trugen dazu bei, den Judenhaß zu nähren, dessen Ausbrüche nicht selten gewesen zu sein scheinen. Nach Tacitus unterrichteten sie vor allem in Verachtung der Götter, Verleugnung des Vaterlandes, Geringschätzung der Eltern, Kinder und Geschwister. Nach Juvenal lehrte Moses, man solle nur Beschnittenen den Weg weisen, wenn sie verirrt sind, nur sie an die Quelle führen, wenn sie verschmachten. Nach Apio mästeten in der Zeit des Königs Antiochus Epiphanes die Juden jährlich einen Griechen mit Leckerbissen, opferten ihn dann feierlich an einem bestimmten Tage in einem Walde, aßen seine Eingeweide und schwuren dabei den Griechen ewige Feindschaft. Und zu der Feindseligkeit gegen die Juden gesellte sich Verachtung ihrer Niedrigkeit und Armseligkeit, ihrer widrigen Unsauberkeit, ihrer peinlichen, als abergläubisch verspotteten Befolgung so vieler anscheinend grundloser, lächerlicher und seltsamer Gebräuche und Satzungen. Außer der Beschneidung wurde besonders die Enthaltung von Schweinefleisch belacht, zu dessen Genuß sie der tumultuierende Pöbel wohl (wie bei der von Philo beschriebenen Judenhetze zu Alexandria) zu zwingen suchte; ferner das unverbrüchliche Festhalten an der Sabbatruhe, durch die sie, wie Seneca sagt, den siebenten Teil ihres Lebens verloren, sowie die Umständlichkeit der zur Vermeidung jeder Arbeit am Sabbat getroffenen Anstalten. Juvenal erwähnt die mit Heu gefüllten Körbe, in denen die Tags zuvor bereiteten Speisen warm gehalten wurden, als ein unentbehrliches Stück auch der ärmsten jüdischen Haushaltung. Rabbi Abahu klagte, daß Sticheleien auf die Juden bei dem geringsten Aufwande von Witz die Theater zum Lachen brächten. Dazu kam dann auch der geschäftliche Antisemitismus, dessen erstes Zeugnis ein aus dem Jahre 41 n. Chr. stammender Brief eines alexandrinischen Großkaufmanns ist, der einen Verschuldeten mit den Worten »hüte dich vor den Juden« vor den jüdischen Geldverleihern warnt.

Aber es fehlte dem Judentum auch nicht an Freunden, und diese gewannen ihm zum Teil jene Tugenden, die selbst seine Gegner anerkannten, und die Josephus in seiner (unter Trajan verfaßten) Verteidigungsschrift rühmt; ihre unwandelbare Frömmigkeit, ihr strenger Gehorsam gegen das Gesetz, ihre Bedürfnislosigkeit, ihre Mildtätigkeit, ihr einträchtiges Leben untereinander, ihre Todesverachtung im Kriege, ihr Fleiß in Handwerken und im Ackerbau im Frieden, ihr unerschütterliches Gottvertrauen. Sodann zog diese Religion wohl gar manche der aus dem Polytheismus zu einer reineren Gotteserkenntnis Strebenden als die wahrhaft aufgeklärte an: die Verwerfung des griechischen und ägyptischen Bilderdienstes ließ dem Strabo den jüdischen Gesetzgeber als einen wahren stoischen Philosophen erscheinen, und der geistvolle Verfasser der Schrift vom Erhabenen (um 40 n. Chr.) führt die Anfangsworte der Genesis als Musterbeispiel des großartigen Stils an und rühmt den Gesetzgeber der Juden als einen nicht gewöhnlichen Mann. Doch vermutlich war die Zahl derer weit größer, deren Glaubensbedürfnis im Judentume vollste Befriedigung fand als dem vor der Entstehung und Verbreitung des Christentums einzigen Bekenntnisse, das ein auf Offenbarung beruhendes, also jedem Zweifel entrücktes Dogma bot; und wie oft war die unerschütterliche Überzeugung, daß es die einzig wahre Religion sei, von seinen Bekennern heldenmütig bewährt worden. Daß es in allen Ländern sehr viele gab, die ganz oder teilweise das mosaische Gesetz befolgten, darin stimmen judenfreundliche und judenfeindliche Berichte überein, und namentlich die Frauen erwiesen sich auch hier als »Führerinnen zur Gläubigkeit«. »Solche Macht«, sagt Seneca, »haben die Bräuche dieses höchst verruchten Volks bereits gewonnen, daß sie in allen Ländern eingeführt sind; sie, die Besiegten, haben ihren Siegern Gesetze gegeben.« Horaz, Ovid, Persius und Juvenal bezeugen, daß zu Rom viele sich am Neumondstage und am Sabbat aller Geschäfte enthielten, am letzteren nicht reisten, fasteten und beteten, Lampen anzündeten und Kränze aufhängten; andre studierten auch das mosaische Gesetz, besuchten Synagogen und sandten die Tempelsteuer nach Jerusalem. Schon lange, sagt Josephus, hat sich Nacheiferung unserer Frömmigkeit auch unter den Massen verbreitet, und es gibt keine griechische noch barbarische Stadt oder Provinz, wohin nicht unsere Sabbatruhe gedrungen ist, und die Fasten und das Lampenanzünden und die Enthaltung von den uns verbotenen Speisen beobachtet wird. Sie versuchen auch die unter uns herrschende Eintracht nachzuahmen und die Mitteilung vom Eignen und die Arbeitsamkeit in den Handwerken und die Standhaftigkeit in den für das Gesetz zu ertragenden Leiden. Was aber das wunderbarste ist, ohne das Lockmittel der Lust hat das Gesetz sich selbst in sich selbst stark erwiesen, und wie Gott durch die ganze Welt gegangen ist, so ist das Gesetz durch alle Völker gewandert. »Alle Menschen«, sagt Philo, »unterwirft es sich und ermahnt sie zur Tugend, Barbaren, Hellenen, Festlands- und Inselbewohner, die Nationen des Ostens so gut wie des Westens, Europäer, Asiaten, die Völker der ganzen Erde«. Der alexandrinische Philosoph glaubte hoffen zu dürfen, daß das Judentum dereinst die Religion der Welt sein werde.

Der Übertritt zum Judentum war bis auf Hadrian (jene kurze Zeit der Verfolgung unter Tiberius abgerechnet) gesetzlich durchaus unbehindert, sowie die von Cäsar und Augustus gewährleistete volle Religionsfreiheit der Juden, abgesehen von vorübergehenden Unterdrückungsversuchen, unangetastet. Im Jahre 42 erließ Claudius ein Edikt, »daß die Juden in seinem ganzen Reiche ihre väterlichen Gebräuche unbehindert beobachten sollten, wobei er sie zugleich erinnere, seine freundliche Gesinnung nicht zu mißbrauchen und nicht die Superstitionen andrer Völker zu verachten, sondern sich mit Beobachtung der eignen Gesetze zu begnügen«; und dieses Edikt blieb auch später in Kraft. Daß es auch von seiten der Juden an Bekehrungsversuchen Andersgläubiger nicht fehlte, bezeugt Horaz, und namentlich von den Pharisäern ist bekannt, daß sie »Wasser und Land umzogen, um einen Proselyten zu machen«. Doch nach der Zerstörung Jerusalems wurde mit der Ausbildung des starren Rabbinismus die Abschließung des Judentums gegen das Heidentum eine immer schroffere, und die Kluft zwischen beiden erweiterte und vertiefte sich je länger je mehr: der babylonische Talmud nennt die Proselyten einen Aussatz für Israel. Nachdem Antoninus Pius die von Hadrian verbotene Beschneidung der Juden zwar an ihren Kindern nach wie vor zu vollziehen erlaubt, dagegen die Beschneidung von Nichtjuden aufs strengste untersagt hatte, können infolge dieses auch später in Kraft gebliebenen Edikts, abgesehen von den gewiß seltnen Übertretungsfällen, keine förmlichen Übertritte zum Judentum mehr stattgefunden haben, die Proselyten dieser späteren Zeit also nicht mehr »Proselyten der Gerechtigkeit«, sondern nur sogenannte »Gottesfürchtige« (φοβούμενοτ oder σεβόμενοιτὸν θεόν) gewesen sein, die besonders den Sabbat beobachteten und sich der verbotenen Speisen enthielten. Zu dieser Klasse dürfte aber der größte Teil der Anhänger, die das Judentum im Heidentum gewann, schon in der vorhadrianischen Zeit gehört haben. Übrigens reichte der Einfluß des Judentums über die Kreise seiner eigentlichen Anhänger hinaus und führte zu heidnisch-jüdischen Mischbildungen. Zu diesen gehörten die Kultvereine der »Verehrer des höchsten Gottes« (σεβόμενοι θεὸν ὕψιοτον), die in Tanais im Bosporanischen Reich zu Anfang des 3. Jahrhunderts bestanden, und die von den Kirchenvätern des 4. Jahrhunderts bekämpfte Sekte der Hypsistarier in Kleinasien ist allem Anschein nach eine gleichartige gewesen.

Setzte aber die Natur des Judentums als der Religion eines auserwählten Volks seiner Verbreitung auf Kosten des Heidentums an und für sich Schranken, so hatte dagegen das Christentum ebensowohl die Tendenz, alle seinem Weltgange im Wege stehenden Hindernisse zu durchbrechen, als auch die Kraft dazu; und galt den Juden die Bekehrung von Ungläubigen höchstens als ein verdienstvolles Werk, so gab es für die Christen keine höhere und heiligere Pflicht als die Ausbreitung der Lehre des Heils. Das Beispiel der ersten Apostel erweckte unaufhörlich Nachfolger in stets wachsender Zahl, die wohl auch ihre Habe an die Armen verteilten und den Wanderstab ergriffen, um das Wort Gottes von Volk zu Volk zu tragen, und deren Eifer auch unter den größten Schwierigkeiten und Gefahren weder ermattete noch erkaltete. Die Christen waren eifrig, sagt Origenes, in der ganzen Welt das Wort auszusäen. Die Sendboten der neuen Lehre besuchten nicht bloß Städte, sondern auch Dörfer und Gehöfte, ja sie scheuten sich nicht, ins Innere der Familien einzudringen und sich zwischen Blutsverwandte zu stellen. Christliche Sklaven suchten, wie die Heiden ihnen vorwarfen, Frauen und Kinder ihrer Herren zu ihrem Glauben herüberzuziehen; ja die eifrigeren reizten die Kinder, Vätern und Lehrern den Gehorsam zu versagen, um die Seligkeit zu erwerben. So mußten, wie bei jeder welterschütternden und neugestaltenden Bewegung, auch damals nur zu oft Bande der Natur zerrissen, Herzen gebrochen und »Lieb und Treu wie ein böses Unkraut ausgerauft« werden.

Die der jüdischen Nation als solcher ausnahmsweise zugestandere Toleranz, die eine stillschweigende Entbindung von allen ihrem Aberglauben zuwiderlaufenden Verpflichtungen, also auch vom Götter- und Kaiserkult, zur Folge hatte, konnte nach römischer Ansicht einer vom väterlichen Glauben abgefallenen Sekte nicht gewährt werden, am wenigsten der christlichen. Dem Christentum gegenüber befand sich der römische Staat im Stande der Notwehr. Die Erkenntnis seiner auf völlige Vernichtung der Staatsreligion zielenden, jeden Kompromiß ausschließenden Tendenz muß seit der Ablösung des neuen Glaubens vom Judentum (der die Zerstörung Jerusalems starken Vorschub leistete) schnell unabweisbar geworden und in die weitesten Kreise gedrungen sein.

Früher und öfter als die Verweigerung des Götterkults hat ohne Zweifel die des Kaiserkults, der zu den fundamentalen Institutionen des Reichs gehörte, Verfolgungen der Christen veranlaßt. Die ersten, von denen wir wissen, fanden in der Provinz Asia statt, die in mehreren Städten (Pergamum, Smyrna, Ephesus u. a.) Tempel für diesen Kult hatte, bei denen die jährlichen Versammlungen der ihm gewidmeten Festgemeinschaften stattfanden. »Es scheint, daß die Entscheidung über die Stellung, die der Staat dem Christentum gegenüber in der Folge einnahm, unter Domitian gefallen ist, wenn die Überlieferung es auch nicht gestattet, bestimmt zu sagen, in welcher Form eine solche Entscheidung, die tatsächlich maßgebend war, erfolgt ist.« Die Offenbarung Johannis, eine unter Domitian entstandene Bearbeitung einer älteren jüdischen Apokalypse, von einem Judenchristen, in der der christliche Fanatismus gegen das Reich zu so lodernder Glut entflammt ist, wie sonst nie wieder, spricht von dem Tode des »treuen Zeugen« Antipas und andrer Christen in Pergamum, »wo der Satan wohnt«, von solchen, »die geköpft sind wegen des Zeugnisses Jesu und wegen des Wortes Gottes, und die da nicht angebetet hatten das Tier noch sein Bildnis«.

Als eine kriminalrechtliche konnte die Bestrafung der Christen erfolgen auf Grund der Auffassung des Majestätsverbrechens, welche die Verletzung der nicht bloß dem Kaiser als Gott, sondern auch den Nationalgöttern zu leistenden Huldigung als Vergehen gegen den Staat auffaßte. Doch ist bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts in diesem Sinne nur von einzelnen Kaisern und Statthaltern verfahren worden. Viel häufiger wurde das den Oberbehörden, namentlich den Provinzialstatthaltern, gegen religiöse Kontraventionen zustehende außerordentliche Strafverfahren angewandt, sowohl gegen Proselytenmacher als gegen Proselyten, um den Abfall (zunächst der Bürger) vom nationalen Glauben zu hindern oder doch einzudämmen. Dieses nicht dem Gebiete der Rechtspflege angehörige, administrative, also von Willkür untrennbare Verfahren war seinem Wesen nach »abhängig von der Individualität der einzelnen Beamten und von der jeweiligen Volksstimmung«; deshalb waltete hier »eine Unstetigkeit, wie sie in der Rechtspflege auch in dieser Periode des Verfalls keineswegs wahrgenommen wird«.

Die Volksstimmung aber war den Christen von Anfang an feindlich und wurde es je länger je mehr. Von den Gebildeten wurden sie verachtet wegen ihrer Niedrigkeit, ihrer Unwissenheit, ihrer Geringschätzung von Kunst und Wissenschaft sowie von allem, was dem Leben Anmut und Schmuck verleiht, wegen ihres Mangels an Patriotismus und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den vitalsten Staatsinteressen. Von den Massen wurden sie gehaßt; ihre Absonderung von der nichtchristlichen Gesellschaft, verbunden mit ihrem festen Zusammenhalten untereinander, ihr Abscheu mindestens vor allen mit dem heidnischen Kultus zusammenhängenden Festlichkeiten, die Strenge ihres Wandels, die wie eine Zensur jeder laxeren Lebensführung erschien, ihre Bedrohung der Andersgläubigen mit ewiger Verdammnis, überhaupt alles, worauf der Gegensatz des Christentums zur Welt beruhte: dies reichte schon hin, um ihnen »Haß des Menschengeschlechts« vorzuwerfen. Aber weit mehr noch machte sie ihr »Atheismus« verhaßt, ihre Feindseligkeit gegen die nationale Religion, ihre Verhöhnung dessen, was Millionen heilig war, ihre Schmähung der Götter, die den römischen Staat seit Jahrhunderten beschützt und zu solcher Größe emporgehoben hatten, und deren Gnade auch der einzelne alles zu verdanken glaubte, was ihm das Leben wert machte. Je länger je mehr verbreitete sich unter den Anhängern des alten Glaubens die Neigung, alles öffentliche und allgemeine Unglück vom Zorn der Götter über den zunehmenden Verfall ihres Dienstes abzuleiten und das Christentum und seine Bekenner als die Verschulder dieses Zorns verantwortlich zu machen. Die meisten Todesurteile gegen Märtyrer sind in der Zeit vor Decius, »wie das über den Stifter der Religion selbst verhängte, durch den blinden Fanatismus der Massen und die Schwäche der Statthalter herbeigeführt worden«. War der Tiber aus seinem Bette getreten, sagt ein christlicher Autor, hatte der Nil sich nicht auf die Felder ergossen, blieb der Himmel fest und regenlos, bebte die Erde, brach Hunger oder Seuche aus, so erhob sich sofort der Ruf: »Die Christen vor die Löwen!«. Der greise Bischof Pothinus endete zu Lyon im Jahre 177 als Märtyrer unter den Mißhandlungen des Volks: »Alle glaubten sich schwer zu vergehen und gottlos zu handeln, wenn sie sich an dieser Roheit nicht beteiligten, denn ihre Götter würden sie dafür bestrafen.« Je länger desto mehr gewann die Ansicht Boden, daß mit dem Eintritt des Christentums in die Welt ein allgemeiner Verfall des Menschengeschlechts begonnen habe.

Das unzweifelhafte Symptom der Stärke und Leidenschaftlichkeit des Christenhasses ist, daß der Glaube an abscheuliche Verbrechen, die man ihnen andichtete, nicht bloß bei den Massen, sondern auch bei den Höchstgebildeten sehr verbreitet war und lange unausrottbar blieb. Allerdings trug dazu auch das Geheimnis bei, mit dem die Christen ihren Gottesdienst umgaben. Von jeher haben geheime religiöse Zusammenkünfte Außerhalbstehenden den Verdacht erregt, daß dort unter dem Deckmantel der Religion Dinge geschähen, die das Licht zu scheuen hätten. In der altrömischen Welt hat der Eindruck des großen Bacchanalienprozesses (186 v. Chr.) jahrhundertelang nachgewirkt. Damals war in der Tat ein über Etrurien eingedrungener Geheimdienst des Bacchus als Deckmantel der schändlichsten Ausschweifungen und ärgsten Verbrechen benutzt worden; die endlich gegen die Teilnehmer eingeleitete Untersuchung hatte die Bestrafung von Tausenden, großenteils mit dem Tode, zur Folge gehabt. In ähnlicher Weise wiederholten sich gegen die Christen immer von neuem die Anklagen von »öpodeischen Verbindungen und thyesteischen Mahlzeiten«, die mit ihrem Gottesdienst verbunden sein sollten, d. h. widernatürlichen Ausschweifungen und Ritualmorden. Man berief sich dabei auf Geständnisse, die von Sklaven, Weibern und Kindern erfoltert waren, doch allerdings auch auf gegenseitige Anklagen der christlichen Parteien und Sekten, die, wie ein heidnischer Autor sagt, einander die schändlichsten Dinge vorwarfen, die man gar nicht nennen könne. Hier sei nur erwähnt, daß Hippolyt, der Gegenpapst des Callistus, dem letzteren in seiner noch erhaltenen »Widerlegung aller Ketzereien« vorwirft, er habe Ehebruch und Mord gelehrt. So erhielt der Glaube an die schamlosen Orgien und Ritualmorde der Christen immer neue Nahrung. Beides hatte Tacitus im Sinne, als er (im Anfange der Regierung Hadrians) schrieb, der verderbliche Aberglaube der Christen, der durch die Kreuzigung des Stifters in Judäa unterdrückt war, sei aufs neue in Rom ausgebrochen, »wohin alles Scheußliche und Schamlose ( cuncta atrocia et pudenda) zusammenströmt und Anhang gewinnt«. Daß auch der jüngere Plinius in diesem Sinne inquiriert hatte, ergibt sich aus der von ihm an Trajan berichteten Aussage der Christen, sie seien zu einem unschuldigen Mahle zusammengekommen. Noch um das Jahr 200 wurde behauptet und geglaubt, daß bei der Einweihung zum Christentum ein Kind geopfert und mit dem in sein Blut getauchten Brote verzehrt werde. An die Leuchter seien Hunde gebunden; werde ihnen ein Bissen vorgeworfen, so werfen sie die Leuchter um, und in der Finsternis geschehe das Schlimmste.

Dieser Glaube an die Missetaten der Christen ist die Hauptveranlassung der sogenannten Neronischen Christenverfolgungen gewesen. Um den Verdacht der Urheberschaft des ungeheuren Brandes von sich abzuwälzen, der im Juli 64 Rom zum größten Teile in Asche legte, gab Nero der nach Opfern verlangenden Volkswut »die durch ihre Schandtaten verhaßten Christen« preis. Man ergriff zuerst diejenigen, die sich zum Christentum bekannten, dann nach deren Angabe eine sehr große Menge andrer. Wenn auch nicht der Brandstiftung, so doch des »allgemeinen Menschenhasses« überwiesen, wurden sie unter so gräßlichen Martern hingerichtet, daß sie Mitleid erregten, »obwohl sie schuldig waren und die härtesten Strafen verdient hatten«. Sie wurden, in Tierfelle gehüllt, von Hunden zerfleischt oder ans Kreuz geheftet oder in Flammen gesetzt, die die einbrechende Dunkelheit erhellten. Die kaiserlichen Gärten, in denen die »Fackeln des Nero« durch die Stadt leuchteten, lagen in der Gegend der Peterskirche.

Die ersten uns bekannten Normen für die Behandlung der Christenfrage hat Trajan aufgestellt, und zwar in seinem Reskript an den jüngeren Plinius, der, als Statthalter von Bithynien und Pontus, im Jahre 112, von dem Umsichgreifen der neuen »Superstition« erschreckt, Anweisungen erbat, da er noch niemals einer Verhandlung gegen die Christen beigewohnt hatte. Trajan bestimmte, daß jeder des Christentums Beschuldigte und Überführte zu bestrafen sei; wer aber das Christentum ableugne und seine Lossagung von ihm durch ein den Göttern gebrachtes Opfer bestätige, solle ohne Rücksicht auf die Vergangenheit straflos ausgehen. Gefahndet solle auf die Christen nicht werden, auch mißbilligte der Kaiser die Berücksichtigung anonymer Denunziationen. Hadrian ist der einzige Kaiser gewesen, der den Christenglauben freigab, indem er in einem Erlasse an den Statthalter von Asia anordnete, daß der Christ nur wegen eines ihm zur Last gelegten nichtreligiösen Verbrechens zur Rechenschaft gezogen werden dürfe, und den falschen Ankläger auch in diesem Falle unnachsichtlich die gesetzliche Strafe treffen solle. Im allgemeinen hielten jedoch die Kaiser den Standpunkt des religionspolizeilichen Einschreitens auf geschehene Anzeige fest und straften, wo es sich nicht vermeiden ließ. Die Christen befanden sich in stetiger Rechtsunsicherheit.

Unter Marc Aurel verschlimmerte sich ihre Lage. Ein von ihm um 177 erlassenes Reskript, das die Bestrafung derjenigen befahl, die dazu beitragen würden, »die leicht erregbaren Gemüter der Menge durch Wahnglauben in Angst zu versetzen«, fand auch auf die Christen Anwendung. In verschiednen Provinzen brach die Wut der städtischen Bevölkerungen gegen sie los. Wir besitzen das höchst interessante Schreiben der Gemeinden von Vienne und Lyon über die Verfolgungen in der letzteren Stadt (zu deren Opfern der Bischof Pothinus gehörte) an die Brüder in Asia und Phrygien. Von den verurteilten Christen in Lyon wurden die Bürger enthauptet, die Nichtbürger wilden Tieren vorgeworfen. Im Gegensatz zu der Verordnung Trajans hatte der Statthalter auf die Christen fahnden lassen, und dies ist nach der Äußerung eines Zeitgenossen damals allgemein oder doch vielfach geschehen.

Der Ausbruch eines fanatischen Christenhasses in jener Zeit ist sehr begreiflich. Niemals vorher war das Reich von so schwerem Unglück jeder Art heimgesucht worden. Im Jahre 166 waren deutsche Stämme, durch Völkerschiebungen gedrängt, über die Donau eingebrochen, hatten die nordöstlichen Grenzprovinzen von Ungarn und Siebenbürgen bis zur Ostschweiz überschwemmt und verheert und Hunderttausende von Gefangenen fortgeschleppt; bis Italien und Griechenland waren einzelne ihrer Horden vorgedrungen. Zum ersten Male wankte das Reich in seinen Fugen. Neun Jahre dauerten die schweren, verlustvollen, mit der äußersten Anspannung aller Kräfte geführten Kriege, in denen sie endlich überwältigt wurden. Zugleich wütete seit 162 jene furchtbarste Epidemie des Altertums, die, aus dem Orient eingeschleppt, bis nach dem Rhein und Gallien vordrang, die Lager der Legionen verheerte und ganze Landstriche in Einöden verwandelte. Dazu kamen Mißwachs und Hungersnot, um die Lasten der Bevölkerungen aufs höchste zu steigern. Wenn je, so hatte man damals Grund zu glauben, daß die Götter dem so lange von ihnen sichtbar beschützten Reiche ihre Gnade entzogen hätten; und welche Ursache ihres Zorns lag näher als der immer mehr um sich greifende Abfall vom Glauben der Väter, den die Irrlehren der lichtscheuen, von Menschenhaß erfüllten »Atheisten« verschuldeten? Schwerlich hat Marc Aurel solchen Anschauungen ganz ferngestanden. Er war ein nicht nur sehr gottesfürchtiger, sondern auch starkgläubiger Mann. In einer Welt ohne Götter, hat er gesagt, wolle er nicht leben.

Endlich kommt hier in Betracht, daß damals innerhalb des Christentums eine schwärmerische Glaubensrichtung aufgekommen war, die der Staatsgewalt mit herausforderndem Trotze gegenüberstand. Ihren schärfsten Ausdruck fand sie in der unter dem Einflusse des phrygischen Orgiasmus entstandenen Sekte der Montanisten, deren Stifter Montanus um 156 in Kleinasien mit dem Anspruch aufgetreten war, der erschienene Paraklet zu sein. Die Montanisten, deren Anschauungen sich auch in der abendländischen Kirche verbreiteten, forderten strengste Askese und unbedingte Lossagung von allem Irdischen, verkündeten das nahe Bevorstehen des Weltendes und des tausendjährigen Reichs, legten übermäßigen Wert auf das Märtyrertum und ermahnten dazu. Diese Märtyrersucht, die auch in gemäßigten christlichen Kreisen Mißbilligung fand, erregte in heidnischen nur Spott und Hohn; man empfahl ihnen, sich doch selbst umzubringen, anstatt andern Leute Mühe zu machen. Als der Prokonsul A. Arrius Antoninus (etwa 185) die Christen in seiner Provinz Asia heftig verfolgte, zogen sie (wohl in Ephesus) haufenweise von sein Tribunal und boten sich freiwillig dar. Einige von ihnen ließ er abführen, zu den andern sprach er: »Ihr Elenden, wollt ihr durchaus sterben, so habt ihr ja Abgründe und Stricke.«

Wie in Gallien und Kleinasien hat die damalige Verfolgung auch in Afrika, wo bisher noch kein Christenblut geflossen war, Opfer gefordert. Wir besitzen das Protokoll einer Verhandlung, die gegen 3 Christen und 3 Christinnen aus Scili in Numidien am 17. Juli 180 in Karthago von dem Prokonsul von Afrika geführt worden ist. Trotz seiner offenbaren Bemühung, ihnen den Rücktritt zum Heidentum zu erleichtern, beharrten die Angeklagten bei ihrem Bekenntnisse, wiesen das Ansinnen, beim Genius des Kaisers zu schwören und für sein Heil ein Opfer zu bringen, zurück und lehnten auch die angebotene Bedenkzeit von 30 Tagen ab. Sie wurden an demselben Tage enthauptet; über ihrem Grabe erhob sich später eine Basilika. In Rom sind damals oder wenig später die Christen zur Zwangsarbeit in den sardinischen Bergwerken verurteilt worden, deren Befreiung die Maitresse des Commodus, Marcia, um 190, erwirkte. Die Bergwerksstrafe war nächst der Todesstrafe die härteste; die Verurteilten waren durch sie zum Sklavenstande degradiert, arbeiteten (auf der einen Seite des Kopfes kahl geschoren) in Ketten und waren körperlichen Züchtigungen ausgesetzt.

Wenn auch die Verfolgung in den nächsten Jahren nach dem Tode Marc Aurels noch fortdauerte, so kam doch nun (zunächst durch Marcias Einfluß) für die Kirche eine bessere Zeit. Sie erfreute sich nun während einer Periode von fast 70 Jahren eines nur durch vereinzelte Verfolgungen unter Septimius Severus und Maximinus Thrax unterbrochenen Friedens. Die Märchen von den Ritualmorden und schamlosen Orgien verstummten allmählich, je mehr das Christentum mit zunehmender Ausbreitung aus der Verborgenheit ans Licht trat, je mehr Christen und Heiden (auch durch Ehen und Familienbeziehungen) in Berührung kamen. Es ist ein Beweis für die Abnahme des Christenhasses, daß die tausendjährige Säkularfeier der Stadt Rom, die im Jahre 248 drei Tage und drei Nächte hindurch aufs feierlichste begangen wurde und unzweifelhaft eine große Steigerung des religiösen Gefühls bewirkte, ohne christenfeindliche Demonstrationen verlief. War nun die Zahl der Märtyrer bis dahin eine an sich nicht geringe gewesen, so war sie es doch (abgesehen von den nicht im eigentlichen Sinne zu ihnen zu rechnenden Opfern der Neronischen Verfolgung) im Verhältnis zu der Größe des Reichs und einem Zeitraum von zwei Jahrhunderten. Dies bestätigt ausdrücklich in einer 248 verfaßten Schrift Origenes, der gelehrteste christliche Schriftsteller der vorconstantinischen Zeit. Er sagt: »Wenige und leicht zu Zählende haben von Zeit zu Zeit den Tod erlitten, um des Glaubens willen und um die übrigen zu mahnen.« Sein Zeugnis wiegt um so schwerer, als seine persönlichen Erfahrungen ihn eher geneigt machen konnten, den Umfang und die Schrecklichkeit der Verfolgungen zu übertreiben. Er hatte selbst deren zwei erlebt und war von der ersten aufs schwerste mitbetroffen worden. Sein Vater Leonidas war im Jahre 202 in Alexandria als Christ zum Tode durch das Schwert verurteilt worden; er selbst, noch nicht 17 Jahre alt, hatte ein so stürmisches Verlangen nach dem Märtyrertum empfunden, daß die Mutter ihm die Kleider verstecken mußte, um ihn zu nötigen, zu Hause zu bleiben. Aber an den Vater im Gefängnis schrieb er einen eindringlichen Brief über das Martyrium, in dem er ihn mahnte, nicht etwa auf seine Familie Rücksicht zu nehmen: »Halt an Dich, daß Du Dich nicht unseretwegen umstimmen lassest!« Während der Verfolgung unter Maximinus Thrax hat er dann eine Aufforderung zum Martyrium geschrieben, in der er aufs dringendste mahnt, auch unter der Todesdrohung, auch auf der Folter sich mit keinem Worte zu beflecken.

Eine Bestätigung (deren es allerdings nicht bedarf) findet das Zeugnis des Origenes von der geringen Zahl der Märtyrer bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts in der sehr leidenschaftlich (im Jahre 313) geschriebenen Schrift des Lactantius »Von den Todesarten der Verfolger«. Hier folgt Decius (249 bis 251) unmittelbar auf Nero und Domitian. Wenn Lactantius sagt, die nach Domitian regierenden guten Kaiser seien nicht Feinde der Kirche gewesen, und die Leiden und Bedrängnisse der Christen in der Zeit zwischen Domitian und Decius ganz mit Stillschweigen übergeht, so konnten diese unmöglich einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen haben. Aber selbst die Verfolgung des Diocletian ist »kein Schatten von dem gewesen, was Herzog Alba in den Niederlanden getan hat«. Die Zahl der unter Karl V. um des Glaubens willen Hingerichteten schätzt Fra Paolo auf 50.000, Hugo Grotius auf 10.000.

Den Glaubens- und Bekehrungseifer der Christen haben übrigens die Verfolgungen bekanntlich eher entzündet als gedämpft. »Unsre Lehre«, sagt Clemens von Alexandria, »hindern seit ihrer ersten Verkündigung Könige und Herrscher, Vorsteher der Provinzen und Statthalter, indem sie mit all ihren Söldnern und einer ungeheuren Menschenmenge wider uns streiten und unser, so viele sie nur können, zu vertilgen suchen: und doch blüht sie nur immer mehr. Sie stirbt nicht wie eine menschliche Lehre und welkt nicht wie eine schwache Gabe, denn keine Gabe Gottes ist schwach. Sie bleibt und kann nicht gehindert werden, ob man sie gleich, wie geweissagt ist, bis ans Ende verfolgen wird«.

Doch trotz des glühendsten Bekehrungseifers der Christen hätte die erhabene – für einen großen, wenn nicht den größten Teil der heidnischen Welt nur zu erhabene – Lehre des Evangeliums nicht verhältnismäßig so schnell sich verbreiten können, wenn nicht noch andre Ursachen zu dieser Verbreitung mitgewirkt hätten, die teils in den Bedürfnissen und Schwächen der menschlichen Natur überhaupt, teils in den Zuständen der damaligen Gesellschaft begründet waren.

Die neue Lehre richtete sich an die ganze Menschheit, sie schloß keinen von der Verheißung des Heils aus, auch nicht den Geringsten und Verachtetsten. Sie fand naturgemäß den günstigsten Boden in der ungeheuren Mehrzahl der Mühseligen und Beladenen, der Armen und Unglücklichen. Die froheste Botschaft brachte sie den Sklaven; sie verkündete ihnen ihre Erhebung aus Niedrigkeit, Verachtung und Rechtlosigkeit, ihre Gleichstellung mit den Freien. In ihren Kreisen muß sie sich am schnellsten fortgepflanzt haben und ist gewiß oft genug aus den Sklavenzellen in die Wohnungen der Herren gedrungen. Sie spendete aber überhaupt den Verzweifelnden und Zagenden einen ungeahnten Trost, sie eröffnete auch dem Schuldbeladensten Aussicht auf Vergebung. Die Heiden spotteten: während zu andern gottesdienstlichen Weihen diejenigen geladen würden, die sich rein von Schuld fühlten, versprächen die Christen, das Reich Gottes werde auch die Sünder und die Toren aufnehmen, kurz gerade die Unseligen. Die Sprache, in der das Evangelium verkündet wurde, konnte hiernach nur die der kleinen Leute sein. Wie das Griechische, in dem die Bücher des Neuen Testaments verfaßt sind, ist auch das Latein, in dem sie zuerst dem Abendlande bekannt wurden, nicht die Schrift- oder Gelehrtensprache, sondern die alltägliche des Hauses und der Familie, des Markts und der Straßen, der Werkstätten, des platten Lands, des Feldlagers.

Sehr hoch ist auch der Einfluß anzuschlagen, den die Empfänglichkeit der Frauen für die neue Lehre auf deren Verbreitung übte. Das Christentum erhob die Frau in den griechischen Ländern, wo ihre Stellung eine tief herabgedrückte war, zur ebenbürtigen Gefährtin des Mannes; es gab der Ehe durch die innigere Seelengemeinschaft des gleichen Glaubens und der gleichen Hoffnung eine neue Weihe, dem Jungfrauentum eine neue Heiligkeit, dem ganzen Leben der Frau für die Gesellschaft eine höhere Geltung. Nicht immer hielten die Frauen sich innerhalb der Schranken, die für ihre Stellung auch in der christlichen Gemeinde gezogen bleiben sollten. Paulus hatte zu rügen, daß sie in Korinth mit unbedecktem Haupte beteten und weissagten; er mußte ermahnen, daß sie in der Gemeinde schweigen, nach dem Gesetz den Männern Untertan sein sollten.

Was aber dem Christentum die meisten Gläubigen zuführte, das war dasselbe, wodurch selbst das Judentum bei aller seiner Ausschließlichkeit eine so starke Anziehungskraft geübt hatte: die innerhalb des Heidentums vergeblich gesuchte Befriedigung des Glaubensbedürfnisses, die nur ein über jede Skepsis erhabenes, weil auf göttlicher Offenbarung beruhendes Dogma gewähren konnte; und das Unbegreifliche dieses Dogmas entsprach »dem Hange des menschlichen Geistes, am liebsten das Geheimnisvolle zu glauben«, im höchsten Grade. Vielleicht ergriff aber nichts in diesem Dogma die Gemüter so unwiderstehlich wie die nie zuvor mit so überzeugender, alle Zweifel niederschlagender Gewißheit verkündete Verheißung eines bessern Jenseits, einer ewigen Seligkeit, während zugleich mit dieser beglückenden Hoffnung die Furcht vor den ewigen Strafen, die dem Unglauben drohten, nicht minder gewaltig wirkte, um so mehr, als der Glaube an das nahe Bevorstehen des tausendjährigen Reichs bei den Christen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts allgemein war.

Auch Wunder und Zeichen, nach denen die Gläubigen nicht minder als die Zweifelnden und Schwankenden verlangten, geschahen mindestens ebenso zahlreich zur Bekräftigung des christlichen wie des heidnischen Glaubens. Im Namen Jesu, sagt Irenäus, vollbringen seine Schüler, die von ihm die Gabe empfangen haben, Austreibungen von Teufeln, andre sehen und sagen die Zukunft voraus, andre heilen Kranke durch Auflegen der Hände und wecken Tote wieder auf. Es ist unmöglich, die Erweisungen der Gnade zu zählen, welche die Kirche für die ganze Welt von Gott erhalten hat und im Namen Jesu Christi, des unter Pilatus gekreuzigten, zum Wohle der Völker vollbringt, ohne Betrug zu üben oder Bezahlung anzunehmen; denn wie sie diese Gaben als Geschenk von Gott empfangen hat, teilt sie sie auch als Geschenk mit. Arnobius, für den (wie gewiß für die meisten) die von Christus vollbrachten Wunder die Göttlichkeit seiner Natur erwiesen, legte (auch für die Zurückweisung der heidnischen Behauptung, er sei ein Zauberer gewesen) besondern Wert darauf, daß er durch sein bloßes Wort und durch Handauflegen Kranke zu heilen und Tote zu erwecken vermochte, während die Heidengötter nur, wie Ärzte, Heilmittel verordneten, vielen Tausenden von Kranken aber zu helfen gar nicht imstande waren. Ebenso sagt Origenes, er habe Kranke durch die bloße Anrufung des Namens Gottes und Jesu von ihren Leiden befreit gesehen, »die weder Menschen noch Dämonen zu heilen vermochten«. Augustinus berichtet zahlreiche selbsterlebte Wunder, darunter nicht weniger als fünf Totenerweckungen; besonders viele wunderbare Krankenheilungen hätten sich bei den Grabzellen des heiligen Stephanus zu Calama und Hippo Regius ereignet: über die bei der letzteren, die noch nicht zwei Jahre stand, erfolgte hatte man schon an 70 schriftliche Berichte. Und so sind, wie später im germanischen Norden, dem neueren Glauben unzählige Bekenner durch die Überzeugung gewonnen worden, »daß der Christengott den besseren Willen habe zu helfen als die Heidengötter und vor allem die größere Macht«. Als in Gaza bei einem Pferderennen, bei welchem die Pferde eines eifrigen Christen und eines eifrigen Heiden liefen, »Christus den Marnas schlug«, ließen viele Heiden sich taufen. Daß der Übertritt zum Christentum sich durch die Vorteile empfehle, die der Christengott seinen Bekennern gewähre, spricht aufs naivste ein Gedicht des Rhetors Endelechius im 4. oder 5. Jahrhundert aus. Bucolus hat seine Herden durch eine Rinderseuche verloren, während die des Tityrus verschont geblieben sind. Welcher Gott, fragt jener, hat dich vor diesem Schaden bewahrt? und Tityrus antwortet, das Zeichen des Kreuzes, auf die Stirnen der Tiere gemalt, habe sie gesund erhalten: wolle Bucolus den Beistand des wahren Gottes erbitten, so genüge der bloße Glaube an ihn. Wenn das sich wirklich so verhalte, sagt Bucolus, so zögere er nicht, den wahren Glauben anzunehmen und den Irrtum zu fliehen, und der bei diesem Gespräch anwesende Ägon ist bereit, dasselbe zu tun: »denn warum sollte ich zweifeln, daß dasselbe Zeichen, das diese Krankheit überwindet, auch für die Menschen immerdar heilsam ist?« Welche Beispiele von wunderbaren Bestrafungen hartnäckigen Festhaltens am Heidentum erzählt wurden, zeigt der Bericht des Augustinus über die Bekehrung des Oberarztes ( archiater) Dioscorus. Dieser, der gewohnt gewesen war, die Christen zu verhöhnen, rief bei einer Erkrankung seiner Tochter das Erbarmen Christi an und gelobte, falls sie genese, Christ zu werden. Als er nach ihrer Genesung mit der Erfüllung des Gelübdes säumte, wurde er blind, und als er es erneuerte, wieder sehend; eine Zögerung, das christliche Bekenntnis abzulegen, hatte eine Lähmung aller Glieder, auch der Zunge, zur Folge; als er sich dazu bereit zeigte, hörte auch diese Heimsuchung auf.

Sodann erfüllte der felsenfeste, so oft und so heldenmütig bewährte Glaube der Christen mit Ehrfurcht vor einer Religion, die solche Bekenner fand. »Je mehr wir hingemäht werden«, sagt Tertullian, »desto mehr wächst unsre Zahl. Das Blut der Christen ist Samen. Jene starre Hartnäckigkeit, die ihr uns vorwerft, wird zur Lehrerin. Denn wer würde durch ihr Anschauen nicht erschüttert und zum Forschen angeregt, was hier eigentlich verborgen ist? Wer tritt, wenn er geforscht hat, nicht bei? Wer wünscht nicht, wenn er beigetreten ist, selbst zu dulden?« Die Sittlichkeit der Christen nötigte auch Gegnern Bewunderung ab. Plinius war bei jener Untersuchung, die er als Statthalter von Bithynien gegen die dortigen Christen (zunächst in Amastris) einzuleiten sich veranlaßt sah, in dem allgemeinen Vorurteil befangen, daß sie in ihren geheimen Versammlungen Schandtaten verübten; doch fand er nach einer strengen Untersuchung, bei der auch zwei Sklavinnen gefoltert wurden, keine andre Schuld an ihnen, als einen »verkehrten und maßlosen Aberglauben«. Die Angeklagten beteuerten ihm, ihr Vergehen oder ihr Irrtum habe darin bestanden, daß sie gewöhnlich an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang zusammengekommen seien, ein Gebet an Christus wie an einen Gott gesprochen und gelobt hätten, keinen Diebstahl, Raub oder Ehebruch zu begehen, die Treue nicht zu brechen, anvertrautes Gut nicht abzuleugnen. Dann wären sie auseinandergegangen und wieder zu einem unschuldigen gemeinsamen Mahle zusammengekommen. Galen fand, daß die Christen ihr Glaube so handeln lehre, wie die Vorschriften der echten Weltweisheit; er erkannte namentlich ihre Verachtung des Todes, ihr keusches, züchtiges, enthaltsames, streng sittliches Leben an: es gebe unter ihnen solche, die in Beherrschung des Gemüts und eifrigem Streben nach Tugend wahren Philosophen nicht nachständen.

Daß die christlichen Gemeinden freilich auch unlautere Elemente enthielten, daß nicht alle Sünder, die sie in der Hoffnung auf Besserung aufnahmen, wirklich gebessert wurden, dafür zeugen schon die Vorwürfe, die Paulus und ein in seinem Namen redender Autor den Gemeinden zu Korinth und Kreta machten; sowie »daß Jacobus sich genötigt sah, den sittlichen Mißbrauch der Paulinischen Lehre von der allein selig machenden Kraft des Glaubens zu rügen, und daß die Apokalypse gegen Verführer in Pergamus (Nikolaiten) zu eifern hatte, welche nicht nur die den Heidenchristen gegebenen Speisegesetze, sondern auch das Verbot der Unzucht nicht achteten«. Gerade die werktätige Liebe und Barmherzigkeit, welche die Christen untereinander übten, wurde auch von Heuchlern mißbraucht, die sich der neuen Gemeinschaft in Hoffnung auf Unterstützung und andre Vorteile anschlossen, zumal da mit der Zeit übertriebne Gerüchte von dem Reichtume der christlichen Gemeinden in die heidnische Welt drangen. Man erzählte, daß »die Brüder« ihre Güter verkauften und den Erlös der Kirche darbrächten, daß es bei ihnen für die höchste Frömmigkeit gälte, die eignen Kinder zu entblößen, um die Kirche zu bereichern. Schon Paulus spricht von wandernden Christen, welche die fremden Gemeinden aufzehren und ihnen das Ihre nehmen, und er selbst mußte sich bei den Korinthern gegen den Vorwurf beabsichtigter Übervorteilung rechtfertigen. In der etwa in Hadrians Zeit verfaßten »Apostellehre« heißt es, daß die reisenden Missionäre höchstens zwei Tage an einem Ort bleiben dürfen; wer drei bleibe, sei ein falscher Prophet; ebenso, wer Geld zur Reise verlange; sie dürfen nichts nehmen als Brot, das bis zur nächsten Herberge ausreicht. Nicht jeder, der im Geist redet, sei ein Prophet, als solcher erweise man sich durch einen Lebenswandel, der dem des Herrn ähnlich sei. Lucian hat vom christenfeindlichen Standpunkte die Teilnahme geschildert, die der Philosoph Peregrinus Proteus bei den Christen in Palästina fand, als er sich zu ihrem Glauben bekannte und um seines Bekenntnisses willen ins Gefängnis geworfen wurde. Nachdem sie vergeblich alles aufgeboten hatten, um ihn zu befreien, suchten sie wenigstens seine Gefangenschaft auf jede Weise zu erleichtern. Vom frühen Morgen an sah man bei dem Gefängnis alte Frauen, Witwen und Waisenkinder. Die Vorsteher erlangten durch Bestechung der Wächter die Erlaubnis, auch die Nächte bei dem Gefangenen zuzubringen. Reichliche Mahlzeiten wurden hineingetragen und bei den Mahlen Gebete gehalten. Selbst von den Gemeinden in Kleinasien kamen Gesandte, um zu trösten, zu raten und zu helfen; denn sie beweisen, sagt Lucian, in solchen Fällen eine unglaubliche Hilfsbereitschaft, sie geben geradezu unbedenklich alles hin. So erhielt Peregrinus viel Geld und machte seine Gefangenschaft zur Quelle einer nicht unerheblichen Einnahme. Denn die Unseligen, heißt es weiter, bilden sich ein, daß sie ewig leben werden, und achten daher dieses Leben und seine Güter nicht; auch hat sie ihr erster Gesetzgeber gelehrt, daß sie alle untereinander Brüder seien, wenn sie nur alle hellenischen Götter verleugnet haben, dagegen jenen ihren gekreuzigten Weisen verehren und nach seinen Gesetzen leben. Sie achten also alles in gleicher Weise gering und halten es für gemeinsam, indem sie solcherlei Lehren ohne irgendeine Bürgschaft annehmen. Kommt nun ein verschmitzter Betrüger zu ihnen, so kann er mit den einfältigen Leuten sein Spiel treiben und in kurzem reich werden. Übrigens rügt auch Tertullian das Übermaß der leiblichen Pflege, das von Seiten der Gemeinden den um des Glaubens willen eingekerkerten Brüdern zuteil wurde, und Ambrosius warnt die Priester ernstlich, ihre Gaben nicht an Unwürdige zu verschwenden, die unter den verschiedensten Vorspiegelungen Unterstützung erbaten.

Daß falsche Propheten aller Art, sowohl Betrüger als Schwärmer und Fanatiker, in den christlichen Gemeinden für Verbreitung ihrer Irrlehren und damit für die Gewinnung von Ansehen und Macht einen besonders günstigen Boden fanden, ist ebensowenig zu bezweifeln, wie daß Ehrgeizige, denen niedrige Lebensstellung oder sonstige Ungunst der Verhältnisse die Erreichung ihrer Ziele unmöglich machte, in dieser Genossenschaft eine Rolle zu spielen suchten, die ihnen im Staatsleben versagt war. Von Anfang an wucherte im Christentum das Sektenwesen, und die Kirche verfolgte die Sekten und diese einander mit bitterem Haß und leidenschaftlichen Beschuldigungen, die kaum hinter den von den Heiden gegen die Christen überhaupt gerichteten Anklagen an Heftigkeit zurückblieben. So sehr, behauptete Celsus, seien die Christen unter sich gespalten, daß sie außer dem Namen kaum noch etwas gemein hätten.

Die oben erwähnte, von dem stark zu montanistischer Strenge neigenden Gegenpapst des Callistus (213-228), Hippolyt, um 230 verfaßte »Widerlegung aller Ketzereien« gibt einen höchst interessanten Einblick in die innerhalb der christlichen Gemeinden, namentlich durch Verschiedenheit der Lehrmeinungen, entstandenen Spaltungen und Gegensätze sowie in die Übelstände und Schwierigkeiten, die sich aus den Berührungen der christlichen Welt mit der heidnischen ergaben. Hippolyts Angriff gegen das Oberhaupt der römischen Gemeinde beweist nur zu klar, wie häßliche Leidenschaften schon damals Glaubensstreitigkeiten in der christlichen Welt wachriefen und nährten. Sein in mehr als einer Beziehung charakteristischer Bericht ist im wesentlichen folgender.

Callistus war ein christlicher Sklave eines ebenfalls christlichen Freigelaßnen im Hause des Kaisers Commodus, namens Carpophorus. Dieser vertraute ihm eine nicht unbedeutende Summe an, mit welcher Callistus unter dem Namen seines Herrn, aber zu seinem eignen Vorteil ein Bankgeschäft begründen sollte. Viele Witwen und Brüder legten darin ihr Geld an. Callistus aber geriet an den Rand des Bankrotts; um sich der Rechnungsablegung zu entziehen, floh er nach dem Hafen von Portus und begab sich auf ein zur Abfahrt bereites Schiff. Carpophorus folgte ihm; als jener seinen Herrn am Hafen erscheinen sah, sprang er ins Meer, wurde aber herausgezogen, nach Rom gebracht und von Carpophorus in die Stampfmühle (zu einer gewöhnlichen Strafarbeit der Sklaven) geschickt. Doch ließ sich Carpophorus bewegen, ihn wieder zu entlassen, da mehrere bei der Bank beteiligte Brüder ihm mit Tränen vorstellten, daß sie im Vertrauen auf ihn dem Callistus ihr Geld übergeben hätten, und daß dieser eingestehe, eine Summe in Sicherheit gebracht zu haben. Callistus aber, nicht imstande, seinen Verpflichtungen nachzukommen, wollte seinem Leben ein Ende machen und zugleich die Glorie des Märtyrertums erwerben. Er begab sich, unter dem Vorwande, Geld einfordern zu wollen, am Sabbat in eine Synagoge und störte den Gottesdienst. Die Juden fielen über ihn her und schleppten ihn vor das Tribunal des Stadtpräfekten Fuscianus, der ihn geißeln ließ und zur Arbeit in den Bergwerken Sardiniens verurteilte, wo sich bereits andre wegen ihres Glaubens verurteilte Christen befanden. Die Geliebte des Kaisers Commodus aber, die bereits erwähnte Marcia, ließ in der Absicht, ein gutes Werk zu tun, sich von dem Bischof Victor ein Verzeichnis der dortigen Märtyrer geben und erwirkte deren Befreiung. Callistus, dessen Namen Victor absichtlich nicht auf die Liste gesetzt hatte, bewog den Überbringer der Botschaft, den Eunuchen Hyacinthus, der Marcias Pflegevater und damals Presbyter in der Gemeinde war, auch seine Befreiung bei dem Prokurator von Sardinien durchzusetzen. Victor war damit unzufrieden, begnügte sich aber, dem Zurückgekehrten Antium als Aufenthaltsort anzuweisen, wo er von einer monatlichen Unterstützung lebte. Die bisher erzählten Ereignisse fallen in die Zeit zwischen 186 und 190.

Nach Victors Tode wußte Callistus sich bei dessen Nachfolger Zephyrinus, der nach der Versicherung des Autors ein einfältiger, ungelehrter, in geistlichen Doktrinen unwissender, überdies bestechlicher und geldgieriger Mann war, in Gunst zu setzen, so daß ihn Zephyrinus nach Rom berief und über den von ihm neu begründeten Friedhof setzte. Callistus verstand es, jeder der in der Gemeinde hadernden Parteien die Meinung beizubringen, daß er auf ihrer Seite sei, und erreichte so seine Wahl zum Bischof. Als solcher trat er mit einer verderblichen Irrlehre auf, indem er die Einheit des Vaters und des Sohns behauptete, stiftete eine Schule und erklärte, daß, wer dieser beitrete, Vergebung der Sünden erhalte. Viele, die ihr Gewissen schlug, darunter solche, die der Verfasser nach erfolgtem Urteilsspruch aus der Gemeinde gestoßen hatte, traten der Schule bei. Callistus lehrte, daß ein Bischof auch wegen einer Todsünde nicht abgesetzt werden dürfe, setzte Bischöfe, Presbyter und Diakonen ein, die in zweiter und dritter Ehe lebten, und ließ Geistliche, die heirateten, im Amte. Er machte von dem Spruche »Lasset das Unkraut mit dem Weizen wachsen« die Anwendung, daß die Sünder in der Gemeinde bleiben sollten, deren Gleichnis die Arche Noah sei, in der reine und unreine Tiere waren. Er übte eine sträfliche Nachsicht, namentlich gegen vornehme Frauen, denen er gestattete, mit Sklaven oder Männern von niedrigem Stande zu leben, mit denen sie keine gültige Ehe eingehen konnten, ohne ihres Standes verlustig zu werden; und die Abneigung, Kinder von solchen Männern zu erziehen, führte diese Frauen zu neuen Verbrechen. So lehrte jener Gottlose zugleich Ehebruch und Mord. Unter ihm wurde auch von seinen Anhängern zuerst die Wiedertaufe versucht.

An der materiellen Wahrheit der hier berichteten Tatsachen kann kein Zweifel sein, aber ebenso klar ist, daß sie in feindseliger Weise zusammengestellt, gedeutet und beleuchtet sind. Inwiefern die Lehre des Callistus und seine Handhabung der geistlichen Zucht eine günstigere Beurteilung zuläßt, soll hier nicht erörtert werden. Nach der Darstellung des Autors bleibt es unbegreiflich, wie er von derselben Gemeinde, die ihn als gemeinen Verbrecher kannte, zum Oberhaupt gewählt werden konnte. Verschwiegen ist hier mindestens sein Eintritt in die Geistlichkeit, und wahrscheinlich noch manches andre, was eine solche Erhebung nach einer derartigen Vergangenheit verständlich machen könnte. Callistus scheint Archidiakonus des Papstes Zephyrinus gewesen zu sein; als solcher hatte er die Verwaltung der Gemeindekasse, die Austeilung des Gehalts an die Geistlichen, der Almosen an die Witwen und Waisen; in dieser Stellung konnte er schwer vermeiden, Unzufriedenheit zu erregen, aber kaum zum Bischof gewählt werden, wenn seine (achtzehnjährige) Verwaltung nicht eine im wesentlichen untadelhafte gewesen war.

Mit dem Namen des Callistus ist eine ehrwürdige, für die Geschichte des ältesten Christentums bedeutungsvolle Anlage und zugleich eine der glänzendsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Archäologie unzertrennlich verknüpft. Jener von Zephyrinus an der Appischen Straße auf Besitzungen der Cäcilier neubegründete Begräbnisplatz ist allem Anscheine nach der erste staatlich anerkannte Friedhof der römischen Christengemeinde gewesen, während bis dahin die Bestattungen auf den Grundstücken einzelner Mitglieder erfolgten, an deren Besitztitel der Bestand der Begräbnisplätze geknüpft war. Diesen fortan nach Callistus benannten Friedhof, der die Ruhestätte der Päpste bis auf Miltiades (gest. 314) war, hat in unsern Tagen die unermüdliche, geniale und glückliche Forschung De Rossis wiederentdeckt.

Die Erzählung Hippolyts erinnert daran, was zuweilen vergessen wird, daß die christlichen Gemeinden sich von der übrigen Welt unmöglich völlig abschließen konnten, vielmehr fort und fort in die Mitleidenschaft der Gebrechen und Schäden der damaligen Kultur gezogen wurden. Daß freilich die Apologeten des neuen Glaubens dort nur Liebe und Eintracht, hier nur Haß und gegenseitige Verfolgung sahen, ist begreiflich. Man möge, sagt Origenes, die christlichen Gemeinden zu Athen, Korinth und Alexandria mit den dortigen heidnischen zusammenhalten: jene seien sanftmütig und ruhig, weil sie Gott gefallen wollen, diese voll Aufruhr und mit jenen durchaus nicht zu vergleichen; auch die Häupter und Ältesten der Gemeinde Gottes, selbst die Lässigeren und minder Vollkommenen, werde man auf dem Wege der Tugend weiter vorgeschritten finden als die Vorsteher der Bürgerschaften. Doch kann man kaum glauben, daß z. B. die Gemeinde zu Korinth seit jener Zeit, wo Paulus von ihr so viel Übles sagte, sich völlig umgestaltet hätte. Damals gab es in ihren Versammlungen »Uneinigkeit, Eifersucht, leidenschaftliche Ausbrüche, Parteiumtriebe, geschäftige Verleumdung, zischelnde Ohrenbläsereien und gespreizte Aufgeblasenheit, Unbotmäßigkeit«, kurz Unordnungen jeder Art; und auch der gegen das Ende des 1. Jahrhunderts geschriebne Brief des sogenannten Clemens Romanus hat den Zweck, eine dort entstandene Parteiung beizulegen: es sei eine Schande für diese alte und zuverlässigste Gemeinde, daß sie sich wegen einer oder zweier Personen gegen ihre Ältesten auflehne. Nach dem (gegen die Mitte des 2. Jahrhunderts abgefaßten) »Hirten« des Hermas litt damals auch die römische Gemeinde an mannigfachen sittlichen Schäden und Gebrechen. Es fehlt nicht an Streitigkeiten und Feindseligkeiten, und auch gegen Ehrbegier, Hochmut, Habsucht, Ehebruch, Trunksucht u. a. richtet der Verfasser seine Ermahnungen. Der Bischof Cyprianus von Karthago, der 257 den Märtyrertod erlitt, sagt, die Verfolgung (unter Decius, welcher er sich durch die Flucht entzogen hatte) sei vielmehr eine von Gott angestellte Erprobung gewesen; die Christen hatten durch ihre Sünden mehr zu leiden verdient, der lange Friede hatte die sittliche Zucht untergraben. Bei den Priestern war keine Frömmigkeit, in den Amtsverrichtungen keine lautere Rechtlichkeit, in den Werken keine Barmherzigkeit, in den Sitten keine Strenge. Die Männer verkünstelten den Bart, die Frauen schminkten sich, malten die Augen, färbten die Haare. Er klagt ferner über unersättliche Habsucht, über schlaue Betrügereien zur Täuschung Einfältiger, über Listen zur Hintergehung von Brüdern, über Schließungen von Ehen mit Ungläubigen, leichtsinnig geschworene Eide und Meineide, hochmütige Verachtung der Vorgesetzten, giftige Schmähungen, hartnäckigen gegenseitigen Haß von Entzweiten. Viele Bischöfe waren mit Vernachlässigung ihres geistlichen Amts Agenten (Prokuratoren) weltlicher Herren geworden, hatten ihre Gemeinden im Stiche gelassen, um, in andern Provinzen umherreisend, gewinnreiche Geschäfte zu machen. Während Brüder in der Gemeinde darbten, jagten sie dem Gelde nach, rissen Grundstücke durch hinterlistigen Betrug an sich, erhöhten ihre Einnahmen durch Wucherzinsen. Johannes Chrysostomus sagt, da Wunder nicht mehr geschehen, seien die Heiden nur durch das Vorbild des Wandels der Christen zu bekehren: aber dieser sei durch und durch verderbt, und auch von Liebe bei ihnen nirgends eine Spur zu finden. Und bei Augustinus erwidert der Heide dem Christen, der ihn bekehren will: »Wie kannst du mir zureden, Christ zu werden? Mich hat ein Christ betrogen, und ich habe es niemals getan; mir hat ein Christ falsch geschworen, und ich habe es niemals getan.« Die äußersten Ausbrüche der Glaubenszwietracht wurden allerdings in den ersten Jahrhunderten noch durch den auf der ganzen christlichen Welt lastenden Druck der Verfolgung niedergehalten; später, als kirchliche Streitigkeiten zu Rom in blutigen Kämpfen ausgefochten wurden (367), äußerte ein wohlwollender und verständiger Heide, daß kein wildes Tier dem Menschen so feindlich und verderblich sei, wie die meisten Christen einander.

So viele Ursachen nun auch zur Verbreitung des Evangeliums zusammenwirkten, so hat es doch offenbar in den höheren Ständen vor der Mitte oder dem Ende des 2. Jahrhunderts nur vereinzelte Anhänger gefunden. Hier leistete nicht bloß die philosophische sowie die sonstige, mit dem Götterglauben innig zusammenhängende Bildung den stärksten Widerstand, sondern hier führte das christliche Bekenntnis auch zu den gefährlichsten Konflikten mit der bestehenden Ordnung; endlich mußte die Lossagung von allen irdischen Interessen in den Kreisen, die im Besitz von Ehre, Macht und Reichtum waren, am schwersten fallen. Die Armen und Niedrigen, sagt Lactantius, glauben leichter als die Reichen; bei den letztern wird ohne Zweifel vielfach eine geradezu feindselige Stimmung gegen die sozialistischen Tendenzen des Christentums bestanden haben. Dagegen in den untern Schichten der Gesellschaft muß die (durch die Zerstreuung der Juden so ungemein begünstigte) Ausbreitung des Christentums sehr schnell erfolgt sein, namentlich in Rom selbst, wo ihre Menge schon im Jahre 64 sehr groß war. Ein Teil der unterirdischen christlichen Friedhöfe Roms gehört nach ihrer architektonischen Anordnung sowie nach dem Stil ihrer künstlerischen Dekoration wohl noch dem 1. Jahrhundert an. Gerade die ältesten Krypten sind reich an Stukkaturen und Fresken, und zwar im Stil und Geschmack dieser Zeit, wie namentlich der ursprüngliche Teil des Cömeteriums der Priscilla an der Via Salaria; die Wand- und Deckenmalereien mehrerer Teile des Friedhofs der Domitilla stimmen ganz mit den pompejanischen überein. Auch die ältesten Teile der Krypten der Lucina, des frühesten Bestandteils des Cömeteriums des Callistus, zeigen den klassischen Dekorationsstil und scheinen aus dem 1. Jahrhundert zu stammen.

Weit größere Fortschritte machte das Christentum im 2. Jahrhundert. Jener allgemeine Abfall von der Volksreligion in Bithynien, der dort die Tempel verödete und den jüngeren Plinius erschreckte, wird wenigstens in den östlichen Provinzen damals keine vereinzelte Erscheinung mehr gewesen sein. Das Bestehen christlicher, von Kleinasien aus gegründeter Gemeinden in Vienne und Lyon unter Marc Aurel läßt annehmen, daß auch in den Kulturzentren des Westens die Saat des Christentums verhältnismäßig früh aufgegangen ist. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts führten christliche Schriftsteller bereits eine sehr stolze Sprache. Es gibt kein Volk, sagt Justinus (gest. 166), von Barbaren oder Hellenen, oder wie es sonst genannt werden möge, mag es selbst ohne feste Wohnungen auf Wagen umherziehen oder in Zelten ein Nomadenleben führen, in dem nicht im Namen des gekreuzigten Jesus Dank und Gebet an den Vater und Schöpfer des Alls gerichtet wird. Irenäus (Bischof von Lyon 177-202) spricht von christlichen Gemeinden in Germanien, Iberien, Gallien, im Orient, Ägypten, Libyen und im Mittelpunkte der Welt (Rom). Noch überschwenglicher und schon drohend äußert sich Tertullian. An wen, ruft er den Juden zu, glauben denn alle Völker als an den Gesalbten, der schon gekommen ist? Er zählt außer den Ländern, in denen nach der Apostelgeschichte Juden wohnten, auch Gätulien, Mauretanien, Spanien, »die von den Römern unbetretenen, Christus aber unterworfenen Gegenden Britanniens«, sowie die der Sarmaten, die der Germanen und »viele andre ferne und unbekannte Länder, Provinzen und Inseln« auf. Er behauptet, daß die Christen bereits fast überall die größere Hälfte der Bevölkerungen ausmachten. »Würde es uns etwa«, fragt er (im Jahre 197), »wenn wir nicht Rache im Verborgenen, sondern offene Feindseligkeit üben wollten, an Zahl und Menge fehlen? Sind etwa die Mauren, Markomannen und selbst Parther, und die größten, doch auf eine Gegend und ihr eignes Gebiet beschränkten Völker zahlreicher als die Bevölkerung der ganzen Erde? Wir sind von gestern, und schon haben wir euer ganzes Gebiet erfüllt, die Städte, Inseln, Kastelle, Munizipien, Flecken, selbst die Lager, die Tribus, die Dekurien, den Palast, den Senat, das Forum.«

Diese Äußerungen sind nun freilich große, vielleicht um das Zehnfache größere Übertreibungen, als sie es heutzutage in bezug auf das Verhältnis der christlichen zu den Gesamtbevölkerungen in allen Weltteilen sein würden. Auch stehen sie im entschiedensten Widerspruche mit der um mehrere Dezennien späteren Äußerung des Origenes, der, in entgegengesetzter Richtung übertreibend, sagt, daß die Christen im Vergleich zur gesamten Bevölkerung des römischen Reichs nur »sehr wenige« waren. Aus den vorhandenen Angaben, deren Erhaltung freilich eine ganz zufällige ist, ergibt sich, daß bis 98 etwa 42, bis 180 etwa 74 Orte nachweisbar sind, in denen es christliche Gemeinden gab; bis 325 mehr als 550.

Im römischen Reiche aber waren die Christen nicht bloß noch im 3. Jahrhundert eine kleine Minorität, sondern diese Minorität gehörte wenigstens bis zu dessen Anfang fast ausschließlich den untersten Schichten der Gesellschaft an. Die Heiden spotteten, daß sie nur die Einfältigsten, nur Sklaven, Weiber und Kinder zu bekehren vermöchten, daß sie ungebildete, rohe und bäurische Menschen seien, ihre Gemeinden vorwiegend aus geringen Leuten, Handwerkern und alten Frauen beständen. Auch bestritten die Christen dies nicht. Nicht aus dem Lyceum und der Akademie, sagt Hieronymus, sondern aus dem niedern Volke ( de vili plebecula) hat sich die Gemeinde Christi gesammelt. Galen sagt, die Christen, unfähig, ihren Glauben philosophisch zu begründen, hätten ihn aus Parabeln geschöpft, deren die meisten Menschen zu ihrer Belehrung bedürften. Ausdrückliche Zeugnisse christlicher Schriftsteller bestätigen, daß der neue Glaube selbst bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts in den höheren Ständen nur vereinzelte Anhänger zählte. Eusebius sagt, der Friede, den die Kirche unter Commodus genoß, habe sehr zu ihrer Ausbreitung beigetragen, »so daß auch von den zu Rom durch Reichtum und Geburt hervorragenden Männern mehrere mit ihrem ganzen Hause und Geschlecht sich dem Heile zuwandten«. Unter Alexander Severus sagt Origenes, daß gegenwärtig auch Reiche und manche der hohen Würdenträger sowie üppige und edelgeborene Frauen die christlichen Boten des Worts aufnahmen: Erfolge also, deren das Christentum sich früher nicht zu rühmen gehabt hatte. Nach Tertullian nahm Severus Männer und Frauen von senatorischem Stande, deren christliches Bekenntnis offenkundig war, in Schutz; und wie bereits erwähnt, erregte in der römischen Gemeinde die von Callistus gegen vornehme Proselytinnen geübte Nachsicht Ärgernis. Der Kaiser Valerianus erließ 258 ein Reskript an den Senat, wonach die dem Senatoren- und Ritterstande angehörigen Christen ihrer Güter verlustig sein und, wenn sie bei ihrem Glauben beharrten, mit dem Tode bestraft werden, die christlichen Angehörigen des kaiserlichen Hauses und Hofstaats in Ketten zur Strafarbeit auf die kaiserlichen Besitzungen verteilt werden sollten. Von der Zeit des Commodus ab ist also die Verbreitung des Christentums in den höheren Ständen ebenso ausdrücklich und vielfach bezeugt, wie es an solchen Zeugnissen für die frühere Zeit durchaus fehlt.

118. KLYTHIA.
(Vielleicht ein Porträt der Antonia, Tochter des Marcus Antonius.) London, British Museum

Damit stimmt vollkommen, daß Christen und Christentum bis gegen Ende des 2. Jahrhunderts in der klassischen Literatur nur sehr selten und beiläufig, gleichgültig und geringschätzig erwähnt werden. Die Äußerungen des jüngeren Plinius und Tacitus zeigen, daß die neue Sekte in Trajans Zeit die Aufmerksamkeit der höheren Kreise Roms noch nicht so weit erregt hatte, daß man es der Mühe für wert hielt, sich genauer über sie zu unterrichten. Epictet und Marc Aurel gedenken zwar des Mutes, mit dem die Christen in den Tod gingen, aber beiden schien dieser Mut nicht auf vernünftiger Überzeugung, sondern auf Gewöhnung und hartnäckigem Trotze zu beruhen; Marc Aurel fand überdies, daß er der Würde ermangle und selbst etwas Theatralisches habe. Daß Lucian in dem Glauben der Christen nichts als Betörung und Einfalt sah, ist bereits angeführt worden. Bei Aristides sind wohl unter den »Gottlosen in Palästina«, mit denen der Redner die verworfenen Philosophen gleichstellt, die Christen zu verstehen; ihm erschien ihre Demut als Niedrigkeit der Gesinnung, ihre Überzeugungstreue als Anmaßung, und die Vereinigung zweier so entgegengesetzter Eigenschaften als für sie besonders charakteristisch. Galen, der die Tugend der Christen anerkannte, hatte für den unbedingten Glauben, mit dem die Anhänger des Moses und Christus an unbewiesenen Sätzen hingen, nur verächtliches Staunen, da ihm wie allen Heiden der Begriff eines religiösen Dogmas etwas völlig Fremdes war. In der weitschichtigen und höchst ausführlichen Geschichte Roms, die Cassius Dio unter Alexander Severus bis auf seine eigne Zeit fortführte, war offenbar der Christen nirgends gedacht: die unter Domitian verfolgten Christen waren nach seiner Angabe »des Atheismus und der Befolgung jüdischer Gebräuche« angeklagt, auch er hielt also das Christentum für eine jüdische Sekte. Auch Herodian nennt sie nicht, und selbst die Verfasser der Kaiserbiographien, die zum Teil schon unter Constantin schrieben, erwähnen sie nur äußerst selten und beiläufig. Die ersten heidnischen Schriften gegen das Christentum erschienen nicht vor der Mitte des 2. Jahrhunderts. Die des Fronto wiederholten noch die absurdesten Erdichtungen des Pöbels; aber auch der Platoniker Celsus, der durch einen Juden über den Inhalt der christlichen Lehre genau unterrichtet war, sprach sich in seiner ausführlichen gegen sie gerichteten Schrift dahin aus, daß der Streit zwischen Juden und Christen (der seiner Meinung nach sich einzig darum drehte, ob der prophezeite Heiland bereits erschienen sei oder nicht) ein Streit »um des Esels Schatten« sei.

119. MARMORKÖPFCHEN EINER VESTALIN.
Gefunden auf dem Palatin. Rom, Nationalmuseum

Die einzigen Personen der höheren Stände in der Zeit vor Commodus, deren Bekehrung zum Christentume mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit angenommen worden ist, sind der im Jahre 95 hingerichtete Konsul Flavius Clemens und dessen nach Pontia verbannte Gemahlin Flavia Domitilla. Dagegen für die gleichzeitig erfolgte Hinrichtung des Acilius Glabrio (Konsul 91) das Bekenntnis des Christentums als Grund vorauszusetzen, bietet wenigstens das unklare Exzerpt aus Cassius Dios Geschichte keinen hinlänglichen Anhalt; nach Sueton erfolgte seine Verurteilung auf Grund angeblicher Umsturzpläne.

Auch für die alte Sage von persönlichen Beziehungen des Philosophen Seneca zu dem Apostel Paulus hat sich trotz eifriger Bemühungen ein tatsächlicher Anhalt bisher nicht auffinden lassen, während andrerseits ihre Entstehung sehr begreiflich ist. Die theologische Anschauung, welche dem Heidentum die Fähigkeit einer sittlichen Erhebung aus eigner Kraft durchaus bestritt, wollte und durfte damals so wenig wie jetzt die mit der christlichen so wesentlich übereinstimmende Sittenlehre Senecas als ein Produkt der heidnischen Philosophie allein gelten lassen. Ihren Ursprung auf die Einwirkung des Apostels zurückzuführen, lag um so näher, als seine zweijährige Gefangenschaft in Rom ihn leicht in Berührung mit Seneca bringen konnte, zumal da der Prokonsul Junius Gallio, der den in Korinth von den Juden vor sein Tribunal geführten Apostel freisprach, dessen Bruder war. Tertullian kennt die Tradition noch nicht, er sagt, Seneca »ist häufig der Unsere«: seine Übereinstimmung mit christlichen Lehren erschien ihm also keine durchgängige und als die eines außerhalb Stehenden. Ebensowenig kennen sie Lactantius und Augustinus. Der erstere nennt Seneca »des wahren Glaubens unkundig«; er hätte ein Verehrer des wahren Gottes sein können, wenn jemand ihn ihm gezeigt hätte; er würde Zeno und seinen Lehrer Sotion verachtet haben, hätte er einen Führer zur wahren Weisheit gefunden. Augustinus betrachtet seine Freiheit vom Wahnglauben der Heiden, die er aber als römischer Senator nicht öffentlich kundzugeben wagte, als eine Wirkung der Philosophie; über die Ausbreitung des ihm verhaßten Judentums habe er gestaunt, weil er die Absicht Gottes nicht kannte; die Christen habe er niemals erwähnt, um sie nicht loben oder tadeln zu müssen; das erstere wäre gegen die alte römische Sitte, das letztere vielleicht gegen seine Neigung gewesen. Doch las bereits Hieronymus Briefe, die zwischen dem Philosophen und dem Apostel gewechselt sein sollten, von denen einige noch vorhanden sind: eine der zahlreichen literarischen Fälschungen, die der christliche Glaubenseifer verursachte. Eine Inschrift etwa vom Ende des 3. oder Anfang des 4. Jahrhunderts zeigt, daß in einer christlichen Familie, die ihren Ursprung auf die Annäus Seneca zurückführte oder doch ihren Namen von ihnen ableitete, jene Tradition wert gehalten wurde: eine Grabschrift zu Ostia ist von einem M. Annäus Paulus seinem Sohne M. Annäus Paulus Petrus gesetzt worden. Die Namen der Apostel waren bei den Christen sehr beliebt, der letztere sowie die Verbindung beider bei Heiden unerhört; ohne Zweifel sind beide Annäus Christen gewesen.

Die oft fast wörtlich mit den Äußerungen des Paulus über die allgemeine Sündhaftigkeit übereinstimmenden Aussprüche Senecas, die freilich »aus gleichartigen Zuständen, Erfahrungen und Stimmungen hervorgegangen« sein müssen, sowie alles, was bei Seneca an christliche Anschauungen streift, erklären sich vollkommen aus einer Entwicklungsform der stoischen Philosophie, die in deren innerstem Wesen begründet war und in milden Geistern sehr natürlich gerade so sich gestaltete, wie wir es nicht bloß bei Seneca, sondern bei Epictet und Marc Aurel finden, von denen keine Tradition behauptet, daß sie aus christlichen Quellen geschöpft haben.

Nach allem also, was wir über die ersten Jahrhunderte wissen, ist es kaum denkbar, daß in der heidnischen Welt vor der Zeit der Severe die welthistorische Bedeutung der neuen, so wenig beachteten und so geringschätzig beurteilten Religion auch nur geahnt worden ist. Was konnte dieser Haufe geringer, unwissender, weltscheuer Menschen gegen die Ordnung des für die Ewigkeit gegründeten Weltreichs vermögen? Herrschen die Römer, rief man ihnen zu, nicht ohne euren Gott über die ganze Welt und über euch selbst? »Euer Gott«, sagt Celsus, »hat denen, die sich zu ihm bekennen, seinen Beistand versprochen und noch viel Größeres, wie ihr sagt, und seht nun selbst, wie er jenen (den Römern), und wie er euch geholfen hat. Statt daß ihr Herren der ganzen Erde sein solltet, ist euch nicht einmal eine Erdscholle oder ein Herd geblieben, und irrt ihr noch im Verborgenen umher, so wird nach euch gefahndet, um euch mit dem Tode büßen zu lassen.« Vollends die Idee einer Weltreligion mußte in einem Reiche, wo so viele Religionen nebeneinander bestanden, unbegreiflich erscheinen. »Wäre es nur möglich«, sagt derselbe Autor, »daß alle Hellenen und Barbaren in Asien, Europa und Afrika bis zu den Grenzen der Erde einmütig an ein Gesetz glaubten! Aber wer das für möglich hält, ist ohne allen Verstand!«

120. DER BARBARISCHE FAUN.
Brunnenfigur von den Gärten der Caesaren bei der Engelsburg. Marmor, griechische Originalarbeit hellenistischer Zeit. München, Glyptothek

Als sich aber der Sieg des Christentums mit der Gewährleistung der vollkommenen Religionsfreiheit seiner Bekenner durch Constantin entschieden hatte, und nun auch die siegreiche Religion sogleich ihre Macht zur Unterdrückung des Heidentums zu üben begann, als der alte Glaube nicht nur keinen Vorteil mehr gewährte, sondern seinen Anhängern je länger je mehr Ungemach und Verfolgung brachte: da hätte sein völliger Untergang und der Fortschritt zur Alleinherrschaft des Christentums sich in kürzester Zeit vollziehen müssen, wenn das Heidentum wirklich schon seit Jahrhunderten in Verfall und Auflösung begriffen gewesen wäre. Daß sein Widerstand noch zwei Jahrhunderte währte, obwohl auf beiden Seiten mit den ungleichsten Waffen gekämpft wurde; daß der nun völlig macht- und wehrlose Götterglaube so lange nicht sterben konnte, obwohl das Christentum unermüdlich und je länger desto schonungsloser alle seine Lebensregungen mit Zwang, Plünderung, Zerstörung und Verfolgung jeder Art zu töten fortfuhr: das beweist allein schon, wie gewaltig die Lebenskraft auch des gealterten Heidentums noch war. Nachdem seit den Toleranzedikten Constantins das Christentum sich (mit Ausnahme der kurzen Reaktion unter Julian) während eines Zeitraums von siebzig Jahren der Gunst und Förderung durch die weltliche Macht erfreut hatte, hatte es doch, wie bemerkt, schwerlich auch nur die Hälfte der Bevölkerungen gewonnen. Fast der ganze römische Adel war zur Zeit Julians der alten Religion ergeben, zu der auch noch unter Theodosius etwa die Hälfte des Senats sich bekannte, obwohl das Christentum damals und später in den Städten weit mehr als auf dem Lande verbreitet war; im Laufe des 4. Jahrhunderts nahm das Wort paganus (Landmann) die Bedeutung Heide an, und noch Endelechius nennt in dem oben erwähnten Gedicht von der Rinderseuche Christus den Gott, der in den großen Städten als einziger verehrt wird. Auch das Judentum in der Diaspora war vornehmlich Städtereligion, wenn auch nicht ausschließlich.

Aber auch in der seit 380 von Theodosius begonnenen Verfolgung, die nach dem Falle des von dem Vorkämpfer des Heidentums Nicomachus Flavianus unterstützten Prätendenten Eugenius 394 mit erneuerter Stärke fortgesetzt wurde, erwies der alte Glaube eine ungemein zähe Widerstandskraft. Mit Feuer und Eisen wurden erst im Orient, dann im Occident Tempel, Kapellen und Stätten der alten Kulte in Schutt und Asche gelegt. Doch wenn die zerstreute und wehrlose ländliche Bevölkerung unter bitteren Klagen die Zerstörung der Heiligtümer geschehen lassen mußte, »auf die sie für Mann, Weib und Kind, für ihr Vieh, ihre Staaten und Pflanzungen ihre Hoffnung setzten, und mit denen ihnen alle Freuden des Lebens unterzugehen schienen«: so kam es in den Städten oft genug zu blutigen Kämpfen zwischen den gegen die Tempel wütenden Scharen der Geistlichen und Mönche und dem Volke. Mit Ausnahme der direkten Zwangsbekehrung wurde jede Art der Gewalt zur Unterdrückung des Heidentums angewendet: Verbote aller Opfer und Kulthandlungen sowie des Tempelbesuchs unter Androhung der schärfsten Strafen, Aufhebung der Privilegien der Priester, deren Verweisung aus den Städten, Einziehung der Tempelgüter; doch die wiederholte Einschärfung dieser Anordnungen und Strafen während des 5. und noch im 6. Jahrhundert zeigt, wie äußerst langsam die Ausrottung des alten Glaubens auch dann erfolgte, als ihm scheinbar schon alle Lebensbedingungen entzogen waren. Daß mit der drakonischen Härte der Gesetzgebung sich zur Verfolgung des wehrlosen Heidentums nun auch Frevel und Raubgier verbanden, beweisen die wiederholten Ermahnungen des Augustinus, nicht unter dem Deckmantel der Religion die Heiden zu plündern, und ein kaiserliches Reskript vom Jahre 423. Oft zeigen noch jetzt zu Tage kommende sorgfältig vermauerte Verstecke, in denen heidnische Götterbilder und Kultgeräte verborgen sind, von diesen Jahren schwerster Verfolgung. Auch das Heidentum hatte nun seine Märtyrer, und die scheußliche Ermordung der schönen und tugendhaften Hypatia zu Alexandria im Jahre 415 zeigt, bis zu welchen Greueln der Fanatismus des christlichen Pöbels fortgerissen werden konnte.

Anderthalb Jahrhunderte hatte der systematische Vernichtungskampf gegen das Heidentum gewährt, und noch immer war sein Leben nicht völlig erloschen. Im Jahre 528 sah Justinian sich veranlaßt, eine große Verfolgung der sogenannten Hellenen anzuordnen. In Constantinopel selbst wurden unter Patriziern, Gelehrten und Ärzten zahlreiche Anhänger des alten Glaubens entdeckt und ergriffen, von denen sich einer den Tod gab, die übrigen das Christentum annahmen. Der Bischof Johannes von Ephesus bereiste 532 in kaiserlichem Auftrage die Provinzen Karien, Lydien und Phrygien und bekehrte und taufte dort 70.000 Menschen. Wer auf Götzenopfern betroffen wurde, sollte mit dem Tode bestraft werden. Im Occident hat die Flut der Völkerwanderung, die mit den Fundamenten der antiken Kultur zugleich die des Heidentums zerwühlte, dessen Untergang mächtig beschleunigt; doch wurde der letzte Apollotempel auf Monte Cassino erst 529 (wo die Landbevölkerung der Umgebung noch größtenteils heidnisch war) von dem heiligen Benedikt in ein Kloster umgewandelt, in demselben Jahre, in welchem die sieben letzten athenischen Philosophen, durch ein Edikt Justinians vertrieben, auswanderten, um eine Zuflucht in Persien bei König Chosroes zu suchen. Gregor der Große (Papst 590-604) erfuhr zu seiner Betrübnis, daß alle Bauern in Sardinien Götzendiener seien, und sandte den Bischof Victor zu ihrer Bekehrung; den Bischof von Caralis wies er an, gegen Götzendiener, Haruspices und Sklaven, die sich nicht durch Predigten bekehren lassen wollten, einzuschreiten; Wahrsager sollten körperlich gezüchtigt, Freie durch strenge Haft »zur Reue gebracht werden«. Mit den alten Götterbildern erhielt sich im Verborgenen auch deren Verehrung namentlich in Griechenland bis über die Grenzen des Mittelalters hinaus. Unter Alexius Komnenus (1081-1118) zerstörten Mönche das Bild der Artemis auf Patmos; Michael Apostolius, der Anhänger des Gemistius Pletho, fand um 1465 in Kreta Götterstatuen, an die er seine Gebete richten konnte.

Wenn nun die alte Fabel von der mit der Entstehung des Christentums beginnenden und durch vier Jahrhunderte fortwährenden Auflösung des Götterglaubens trotz aller mit ihr unvereinbaren Tatsachen immer noch (namentlich unter Theologen) zahlreiche Gläubige findet, so ist doch auch die richtige Ansicht, und zwar von keinem Geringeren als J. Burckhardt, ausgesprochen worden. Zum Untergange der Religionen, sagt er, genügt noch lange nicht, was man die innere Zersetzung nennt. Ja, es genügt noch nicht die Anwesenheit einer neuen, dem zeitweiligen metaphysischen Bedürfnis viel besser entsprechenden Religion. Beim Volk ist von alters her die Religion das wesentliche Stück der Kultur. »Eine neue Religion kann sich neben die alte stellen, sich mit ihr in die Welt teilen, aber von sich aus sie unmöglich verdrängen, selbst nicht, wenn sie die Massen für sich hat, – falls nicht die Staatsgewalt eingreift. Jede ausgebildete Religion höheren Rangs ist vielleicht relativ ewig (d. h. so weit ewig, als das Leben der sie bekennenden Völker), wenn nicht ihre Gegner diese Macht gegen sie aufzubieten vermögen. Vor der Gewalt unterliegen sie alle, wenn dieselbe konsequent gehandhabt wird, und zumal wenn es sich um ein einziges, unentrinnbares Weltreich wie das römische handelt. Ohne Gewalt oder doch ohne gleichmäßig gehandhabte Gewalt leben sie fort und tränken ihre Macht stets neu aus dem Geiste der Massen.« »Ohne die Kaisergesetzgebung von Constantin bis auf Theodosius würde die römisch-griechische Religion noch bis heute leben. Ohne ein wenigstens zeitweises völliges, vom weltlichen Arm gehandhabtes (nötigenfalls mit den äußersten Mitteln verbündetes) Verbot würde die Reformation sich nirgends behauptet haben. Sie hat alle diejenigen Territorien wieder verloren, wo sie diesen Vorteil des weltlichen Arms nicht besaß und irgend eine beträchtliche Quote von Katholiken mußte fortleben lassen. So kann selbst eine junge und kräftig scheinende Religion partiell, gebietweise untergehen, vielleicht für solche Gegenden auf immer.«

Übrigens konnte die Vernichtung des Heidentums keine völlige sein. In ihm waren Elemente, die aller Zerstörung Trotz boten, weil sie auf unabweisbaren Bedürfnissen eines großen Teils der Menschheit beruhten: und diese haben in neuen Formen innerhalb des Christentums Raum gefunden und so den Untergang des alten Glaubens überdauert. Es war nicht bloß das unter jeder Glaubensform auftretende Streben, durch Anrufung höherer Mächte Unheil von sich und seinem Besitze abzuwenden, das sich auch unter den Anhängern des Christentums der nur wenig abgeänderten Mittel des heidnischen Aberglaubens bediente, sondern auch die heidnische Festlust, die auch im neuen Glauben Befriedigung forderte und die Kirche veranlaßte, Gelage und Lustbarkeiten an den Gräbern der Märtyrer zu dulden und durch Verlegung christlicher Fest auf die Tage der abgeschafften heidnischen dem Volke für diese Ersatz zu leisten. So ist die Weihnachtsfeier seit dem 4. Jahrhundert auf den 25. Dezember gelegt, weil an diesem Tage im Osten die Wintersonnenwende gefeiert wurde und im römischen Festkalender auf diesen Tag der Geburtstag des von Aurelian zum Reichsgotte erhobenen Sonnengottes fiel; die Lichtmeßprozession des 2. Februar knüpft an den uralten städtischen Sühnumgang, das (sacrificium) amburbale an, und ähnliches mehr. Doch noch ganz andre Wirkungen übte die tiefe Sehnsucht, den unendlichen Abstand zwischen Menschheit und Gottheit durch Mittelwesen zu füllen, die den entgötterten Himmel aufs neue mit einem bald ins Unermeßliche wachsenden Chor heiliger Gestalten bevölkerte. Wenn Augustinus die Vergleichung des Kultus der Heiligen und Märtyrer mit dem Polytheismus zurückweist, haben andre Kirchenschriftsteller, wie Basilius, ihnen genau denselben Platz in der Weltordnung angewiesen wie der spätere Platonismus den Dämonen und Heroen, oder, wie Theodoret, zwischen diesem und jenem Kultus geradezu Parallelen gezogen, um nachzuweisen, »daß an die Stelle des Falschen und Irrigen das wahrhaft Göttliche getreten sei«. »An allem demjenigen«, sagt Theodoret, »was an den Gräbern der Märtyrer geschieht, sollten die Griechen am wenigsten sich stoßen; denn von ihnen kommen ja die Libationen, die Sühnungen, die Heroen, die Halbgötter, die vergöttlichten Menschen. Herakles, Asklepios, Dionysos, die Dioskuren und so viele andre sind zu Göttern erhobene Menschen: wie kann man es also den Christen vorwerfen, wenn sie die Märtyrer nicht zu Göttern machen, sondern als Zeugen und Diener Gottes ehren? – wer verdient es besser als sie, die die Vorfechter der Menschen, ihre Helfer und Beschützer, die Abwehrer der Übel, die Vertreiber der von den Dämonen verhängten Plagen sind? Kinderlose und unfruchtbare Frauen bitten sie, daß sie Mütter werden; wer eine Gabe erlangt hat, fleht sie um ihre Bewahrung an; die eine Reise unternehmen, bitten sie um ihre Begleitung auf dem Wege, Zurückkommende bringen ihnen ihren Dank dar; Zeugnisse der erfüllten Wünsche sind die ihnen geweihten Geschenke, goldene und silberne Bilder von Augen, Füßen und Händen. Die Tempel der Götter sind zerstört, denn seine eigenen Toten hat der Herr des Alls statt jener eingeführt, jene hinausgewiesen und ihre Ehren diesen verliehen. Statt der Pandien, Diasien, Dionysien und der andern Feste werden jetzt die festlichen Tage des Petrus, Paulus, Thomas, Sergius, Marcellus und andrer Märtyrer begangen.« Wenn Theodoret hinzufügt, dies geschehe nicht mit heidnischem Gepränge und sinnlicher Lust, sondern mit christlicher Nüchternheit und Sittsamkeit, so ergibt sich auch aus den oben angeführten Zeugnissen christlicher Autoren, daß diese Behauptung mindestens großer Einschränkungen bedarf.

Die im Heiligenkultus der katholischen Kirche enthaltenen antiken Elemente treten so unverkennbar hervor, daß ein moderner Kulturhistoriker behaupten konnte, in Sizilien habe sich »der Polytheismus so vollkommen im Heiligenkulte erhalten, daß man es begreiflich finde, wenn dort gebildete Männer noch heutigentags alles Ernstes dem monotheistischen Islam den Vorzug vor dem Christentum geben«. Aber der Prozeß der Angleichung ist nicht in der Weise vor sich gegangen, daß einfach alte Götter in der Ganzheit ihres Wesens sich in bestimmte christliche Heilige verwandelt hätten, und z. B. eine ganze Anzahl namentlich in der Heilung von Krankheiten und im Schutze gegen Seenot wirksamer Heiligen, insbesondere wenn sie paarweise auftreten, nichts andres wären als die ins Christliche übersetzten Dioskuren: diese Anschauung hat sich, mit soviel Geist und Scharfsinn sie auch verfochten worden ist, nicht als haltbar erwiesen. Aber wie man in späteren Jahrhunderten zuweilen aus einer antiken Statue einen Heiligen gemacht hat, so haben für die Ausgestaltung der Heiligenvorstellungen an bestimmten Orten die dort heimischen Götterdienste des alten Glaubens reiche Beiträge geliefert, und es sind vielfach auch die neuen Heiligen in gewisse Funktionen eingetreten, in denen sie alte Götter und Dämonen ablösten; so hat sich z. B. der bis tief ins Mittelalter hinein fortlebende heidnische Kultus heiliger Bäume vielfach mit der Verehrung bestimmter christlicher Heiligen, wie des heiligen Silvester und des heiligen Silvanus, verbunden. Hier und da in Gallien kehren die »Mütter« des keltischen Volksglaubens als die heiligen drei Marien wieder, und der in der ostjordanischen Landschaft verehrte Lenker des Sonnenwagens Helios Aumu gestaltete sich zu dem mit feurigen Rossen gen Himmel fahrenden Propheten Elias um. In viel weiterem Umfange als die Volksvorstellung war es die literarische Fixierung der Heiligenlegende, die mit Vorliebe an Motive aus dem antiken Mythus anknüpfte, wie sie z. B., um nur ein Beispiel von sehr vielen anzuführen, den christlichen Märtyrer Hippolytus von Pferden zerreißen ließ, weil dies das Ende des attischen Königssohnes war, dessen Namen er trug. Im einzelnen Falle muß immer sorgfältig unterschieden werden, ob es sich um ein Fortleben von Stücken heidnischen Glaubens oder um eine Weiterverwendung allgemein verbreiteter Ausdrucksformen religiösen Denkens oder um die Herübernahme novellistischer Wandererzählungen handelt.


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