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Da kam das Jahr 1848 und stellte Aufgaben, die größer waren als alle Eroberungen auf der deutschen Bühne. Als die erste Nachricht von den Berliner Barrikaden in Dresden eintraf, legte ich meinen Theaterkram beiseite; ich dachte mir, daß der Staat Kraft und Leben jedes einzelnen für sich fordere, mein Heimatland Preußen auch mich. Der Ausbruch erfolgte plötzlich, doch nicht unerwartet. Seit einem Jahre hatten wir dahingelebt wie Leute, welche unter ihren Füßen Getöse und Schwanken des Erdbodens empfinden. Alles in den deutschen Verhältnissen erschien haltlos und locker, und jeder rief, daß es nicht so bleiben könnte, aber die Ansichten über das, was werden sollte, gingen himmelweit auseinander ins Blaue. Nun war seit einem Jahre in Preußen der Versuch gemacht worden, eine Volksvertretung zu schaffen. Es war halbes Werk, aber wenn irgendwo, so hätte man in Preußen bei der Tüchtigkeit und Jugendkraft des ganzen Wesens und bei der Anhänglichkeit an den Staat, die hinter allem Geschrei doch im Volke vorhanden war, auf eine friedliche Entwicklung hoffen können. Da verbreitete sich vom Auslande her der wilde Rausch in die großen Städte; die allzulange Bevormundung der Presse und der öffentlichen Meinung waren weit größere Schäden gewesen, als man wohl angenommen hatte.
Dennoch war, was die gewaltsame Erhebung verursachte, im letzten Grunde durchaus nicht eine Zerrüttung des Staates, nicht schlechte Verwaltung, nicht unerträgliche Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern vielmehr der Umstand, daß die Deutschen der jüngeren Generation zu wenig vorfanden, woran sie angeborenes, untilgbares Bedürfnis, zu lieben und zu verehren, befriedigen konnten. Die Person Friedrich Wilhelms III. hatten sich die Preußen nach ihren gemütlichen Wünschen zugerichtet und an diesem Idealbilde mit treuer Wärme festgehalten, so lang er lebte, das Wesen seines Nachfolgers war ihnen unverständlich und unsympathisch, das unablässige Hervortreten eines persönlichen Willens, dem die Festigkeit so sehr fehlte, hatte gereizt und erbittert, es gab, wohin man die Augen richtete, keinen Menschen in herrschender Stellung, dem man sich mit vollem Herzen hingeben konnte. Das war die deutsche Gefahr. Dieser Umstand verursachte, daß eine lange Kette widerwärtiger und abgeschmackter Erscheinungen die Seelen verstörte. Den Mangel an Helden suchten sich die Deutschen in der nächsten Zeit immer wieder zu ersetzen, der Eifer, mit welchem sie ihr Herz an helltönende Redner oder auch an österreichische Herren mit volkstümlichem Anstrich hingen, war bezeichnend für den Zustand einer unbefriedigten Sehnsucht.
Ich fühlte mich in dieser Zeit zu Dresden vereinsamt, meine Verleger Ruge und Fröbel wurden mir schnell entfremdet, und ich sah umher, ob ich irgendwo Gelegenheit finden könnte, mich in meiner Art tätig zu erweisen.
Zu den politischen Vereinen, welche in Sachsen zusammentraten, hatte ich, solange sie bestanden, keinerlei Verhältnis. Der deutsche Verein, welcher für den gemäßigten galt und besonnene Männer enthielt, schwankte in seinen Beschlüssen und Flugblättern unsicher umher, weil es in jenen Monaten auch einem verständigen Sachsen fast unmöglich wurde, den Glauben an eine Führerschaft Preußens und die Trennung von Oesterreich festzuhalten. Den Vaterlandsverein aber, offenbar den stärkeren, beurteilte man am mildesten, wenn man ihn mit Humor betrachtete; oft freilich wurde der Aerger übermächtig. Er war keine neue und keine sächsische Erfindung. In Preußen war seit Jahren an dem jüngeren Geschlecht genau dieselbe Gemütsrichtung erkennbar gewesen, sie hat unter verschiedenen Namen bis zur Gegenwart bestanden und wird wahrscheinlich dauern, solange unser Volkstum besteht.
Diese Richtung hatte in den letzten Jahrzehnten überall in Deutschland Zusammenhang und eine gewisse Vereinserfahrung gefunden. In Sachsen war Robert Blum, welcher damals für den ersten Leiter galt, mir seit einem Besuche zu Leipzig im Jahre 1845 durch seine Stellung als Theatersekretär wohl bekannt als ein gutmütiger behaglicher Mann, den seine große Gabe, wirkungsvoll zu reden, und sein pathetischer Schwung zum Volksführer machten. Er hatte mich in jener Zeit eingeladen, der Gründung einer christkatholischen Gemeinde in Leipzig beizuwohnen. Denn obgleich seine eigenen kirchlichen Bedürfnisse nicht stark waren, und ihm, wie er vertraulich gestand, die Sache nicht nahe lag, so wollte er doch als Katholik sich dieser Bewegung nicht entziehen. Ich hörte deshalb erstaunt, mit welchem Feuer er in der Versammlung gegen die Schäden der herrschenden Kirche wetterte. Als aber einer der Anwesenden den klugen Einwand erhob, daß diese Schäden zwar durchaus vorhanden wären, daß man aber als liberaler Katholik eine Besserung vor allem innerhalb der Kirche selbst durch Beschwerden und Vorstellung der Gemeinden bei den Regenten der Kirche erstreben müsse, da wurde Blum in seinem konstitutionellen Gewissen sichtlich unsicher, und Professor Wuttke, der als historischer Ratgeber mit vielen großen Büchern zur Seite saß, mußte ihm unter dem Tisch einen Zettel zustecken, auf welchem eine Festsetzung des Tridentinischen Konziliums angezogen war, welche jede Tätigkeit der Laien beseitigte. Er warf nur einen Blick auf den Zettel und erhob sich sofort gewaltig, gab dem Vorredner warme Beistimmung wegen des Einwandes zu erkennen und vernichtete dann die Forderung mit tiefster Bewegung, indem er den Paragraphen mit einer Stimme anführte, die wie der Donner rollte. Dagegen war nichts zu machen und die Gemeinde wurde ohne Widerrede gegründet.
Jetzt im Frühjahr 1848 erließ der Verein viele harte Urteile gegen die bestehenden Staatsgewalten, und seine Mitglieder tappten Schritt für Schritt in die Republik hinein. Wenn ihnen aber auch beide Großmächte des alten Bundes für gemeinschädliche Erfindungen feudaler Vergangenheit galten, so war doch die stille Abneigung gegen den Nachbar Preußen, von dem sie am meisten beeinflußt wurden, die größere, was bei Sachsen nicht zu verwundern war.
Während nun überall die Menschen in Sorge, Zweifel und törichten Hoffnungen umhertrieben, empfand ein Preuße unter den Nachbarn das Glück, einem Staate anzugehören, dem trotz allem die Zukunft in dem zerrissenen und haltlosen Deutschland gehören mußte. Die häßlichen Erscheinungen, welche das Tagesleben auch in der Heimat zeigte, waren nicht so nahe, daß sie das Urteil verwirrten, und was daheim groß war, das wurde bei den Nachbarn wärmer empfunden. So war es wohl einem Preußen zu verzeihen, wenn er, trotz der Berliner Tumulte und dem Fahnenritt Friedrich Wilhelms IV. mit stillem Stolze zwischen den streitenden Parteien dahinging.
In diesen Wochen steigender Bewegung kam einmal Laube zu mir, erzählte, daß er sichere Aussicht habe, von Deutsch-Böhmen in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt zu werden, und forderte mich zur Bewerbung für einen andern Wahlkreis Böhmens auf, wo der Kandidat durchaus fehle; der Erfolg sei sicher. Ich aber konnte von einem böhmischen Ort eine Wahl in einen deutschen Reichstag nicht annehmen, ich hätte mich ja selbst wieder hinauswerfen müssen. Außerdem hielt ich eine Volksvertretung, in welcher Oesterreich mit seinem ganzen Bundesgebiet lagerte, nicht für die Stätte, auf welcher die Entscheidung über die deutsche Zukunft getroffen werden konnte.
Doch fand auch ich bald darauf Gelegenheit, den Drang nach politischer Tätigkeit auf einem kleinen Seitenwege zu befriedigen. Unter den zahlreichen Versammlungen, welche zusammenliefen, waren auch die der »Fremden«, der in Dresden lebenden Nichtsachsen, welche für sich die Wahl eines besonderen Abgeordneten zu der Nationalversammlung zu Frankfurt begehrten, ein Verlangen, dessen Erfolglosigkeit selbstverständlich war. Da diese Versammlungen aber meist aus Arbeitern, Gesellen und Gehilfen der Dresdener Geschäfte bestanden, so kam dabei alles mögliche, was den Mitgliedern in ihrem bescheidenen Leben beschwerlich war, zur Sprache; zahlreiche Redner schilderten den Druck und das Unleidliche ihrer eigenen Verhältnisse, die Härte der Arbeitgeber, das elende Hausen in Schlafstellen ohne ein Daheim, den Mangel an Gelegenheit, sich weiterzubilden, und anderes Traurige. Endlich gab einer von ihnen aufgeregt und wirksam den bitteren Gefühlen Ausdruck, die ein fremder Arbeiter haben müsse, wenn er ohne jeden Familienhalt allein und müde in der großen Stadt am Feierabend durch die Straßen gehe, vorüber an großen Sälen mit schönen Tapeten, wo die Kronleuchter brennen, vergoldete Spiegel hängen und die reichen Leute sich gesellig vergnügen, immer vorüber, um selbst eine schlechte Spelunke aufzusuchen oder seine kalte Dachkammer. Als er geendigt hatte und die Versammelten gerade ihr Schicksal düster empfanden, da lag es nahe, ihnen zu sagen, daß sie selbst dies Behagliche, was ihrem Leben fehlte, ebensogut haben könnten wie die Reichen, wenn nicht einer allein, doch im Bunde mit anderen. Dazu gerade seien die Vereine gut, und ich rechnete ihnen vor, wenn jeder der Anwesenden von seinem Verdienste monatlich nur wenige Groschen abgebe, so könnten sie sich auch einen Saal mieten mit Kronleuchter und Tapeten, mit einem erwählten Kastellan, der ihnen zu billigem Preis Speise und Getränk verkaufe, mit Zeitungen zum Lesen, vielleicht später mit einer kleinen Bibliothek, einem Gesangverein usw. Wenn sie wirklich dazu den guten Willen hätten, so werde sich wohl jemand finden, der die nötige Bürgschaft gegen den Besitzer des Lokals übernehme, und wenn 500–600 Mann zusammenkämen, so wollte ich ihnen das besorgen. Die Hauptsache freilich müßten sie selbst tun. Und ich erzählte ihnen von dem Berliner Handwerkerverein, den ja manche von ihnen bereits kannten. Der Gedanke gefiel, es wurde sogleich ein Komitee niedergesetzt, darauf Statuten entworfen, vierundzwanzig Ordner, mit Schärpen, gewählt, ein passendes großes Lokal wurde gemietet mit schönem großen Kronleuchter, vergoldetem Spiegel und blauer Tapete – es war damals dergleichen in Dresden billig zu haben –, und der Fremdenverein, der sich bald Handwerkerverein nannte, trat zusammen. Es gelang auch, was weniger leicht war, ihn zusammenzuhalten und zu wirklichem Nutzen für die Mitglieder zu verwerten. An mehreren Abenden der Woche wurden Vorträge gehalten, bald wurde ein Gesangverein eingerichtet, ein Fragekasten aufgestellt und die zahlreichen hineingeworfenen Zettel am Abend von dem Vorsitzenden besprochen. Es erwies sich, daß dieser Kasten ein gutes Mittel abgab, die Bedürfnisse und Stimmungen der Mitglieder kennenzulernen und unberechtigten Wünschen entgegenzutreten.
Für die Leitung des Vereins war am ersten Anfange Karl Banck, der Musiker, ein zuverlässiger und treuer Gehilfe, der in dieser Zeit der Prüfungen die Tüchtigkeit seines festen Wesens und großes Geschick für die Verwaltung bewährte; er war es auch, der das Quartett einrichtete und der nach meinem Abgang im nächsten Winter die beste Stütze des Vereins blieb.
Der Verein hatte in seinen Statuten erklärt, daß er keiner politischen Partei angehöre, doch war natürlich die Politik von den Erörterungen nicht fernzuhalten, und es galt hier zunächst den Unsinn abzuwehren und zu verhindern, daß die Gesellschaft nicht von dem werbelustigen Vaterlandsverein als Jagdgebiet benutzt wurde. Dies war keine bequeme Aufgabe und die wackeren Knaben, welche sich bald mit deutschem Zutrauen den Führern anschlossen, hatten manchen Abend großer Aufregung durchzumachen. Vor allem damals, wo von ihnen verlangt wurde, den Mord Lichnowskys und Auerwalds als eine schwere Missetat zu verurteilen. Da war eiserne Festigkeit notwendig und Aufgebot aller Kraft, um die Verwirrung des Urteils zu bändigen, welche mehr als einmal die Gesellschaft zu sprengen drohte. Doch diese und ähnliche Gefahren wurden überwunden. Die Mitglieder gewöhnten sich, die Abende unter den Glaskristallen ihres Saales zuzubringen, einzelne verloren sich, dafür traten andere zu. An den Vorträgen, für welche die Hilfe guter Freunde geworben wurde, fanden sie Behagen, noch mehr an den Gesprächen darüber, die nachher eingeleitet wurden. Wir hielten darauf, daß jeden Abend einer von uns, Banck oder ich, anwesend war.
Auch die vierundzwanzig Ordner erwiesen sich in der großen Mehrzahl als treue Gehilfen, sie waren von den Mitgliedern gewählt und die Wahl im ganzen vortrefflich – unter ihnen wurde eine gute Stütze der junge Maler Plockhorst; einige lebten verheiratet und in leidlich gesicherter Stellung. Natürlich durfte auch die leichte Unterhaltung nicht fehlen; an Sonntagen machte der Verein unter seiner Fahne, zuweilen mit Gästen, mit Frauen und Mädchen bei leidlichem Wetter Ausflüge in die Umgegend. Auch hier übten die Ordner gute Polizei, was namentlich gegenüber den weiblichen Gästen wünschenswert war, deren Angemessenheit nach einem besonderen Gesetzbuch der Ethik beurteilt wurde. Soweit dies dem Vorstand deutlich wurde, bestanden Rangstufen: die verheirateten Frauen und ihre Töchter, die Bräute, und als dritte die Mädchen, welche mit schärferer Kritik betrachtet wurden. Bei Gesellschaften, die zuweilen weit über tausend Personen umfaßten, ist nie ein Fall von Trunkenheit und Ungebühr vorgekommen; die Mitglieder waren darin gegeneinander selbst sehr streng und ängstlich bemüht, dem Vorstand keinen Grund zum Einschreiten zu geben.
Es waren die Monate des Frühlings und Sommers, bis zu meinem Abgange nach Leipzig, in welchen ich für den Verein lebte und die meisten Abende in ihm zubrachte. Sie boten in vielem eine gute Ergänzung zu den Erfahrungen, welche ich bei den Webern und Spinnern in Schlesien gemacht. Die Vereinsgenossen gehörten in der großen Mehrzahl dem Arbeiterstande an und ihre sozialen Forderungen liefen zwar damals noch in Kinderschuhen, aber sie waren fast sämtlich vorhanden und beschäftigten die Seelen darum nicht weniger, weil sie noch als gemütliche Klage der einzelnen zutage traten.
Im ganzen muß ich wahrlich sagen, daß mich der Verkehr gelehrt hat, wie gutherzig und anhänglich die Seelen in diesen Kreisen des Volkes sind. Aber auch, daß sie in der Empfindung eigener Schwäche zu Werkzeugen ihrer Führer werden, und daß ein Vereinsleben, wie das geschilderte, nur gedeihlich wirken kann, wenn es von gebildeten Männern unablässig behütet wird. Untereinander hadern die Mitglieder, Mißtrauen, Eitelkeit und kleine Eifersucht stören leicht den Zusammenhang; wo die Deutschen aber einmal dem Bedürfnisse germanischer Natur nachgehend lieben und vertrauen, da sind sie treu und opferfähig. Im kleinen wie im großen.
Auch von Leipzig aus besuchte ich zuweilen den Verein, und das freundliche Verhältnis zu den Mitgliedern blieb erhalten. Als im nächsten Jahre zu Dresden der Straßenkampf ausbrach, hatten wir die hohe Genugtuung, daß von den 500 Genossen des Vereins sich nicht mehr als fünf an dem Aufstande beteiligten. Der Verein überdauerte deshalb die Sturmzeit, er wurde seitdem von der sächsischen Regierung nicht unfreundlich betrachtet und erhielt für die Bildungsstunden, die er einrichtete, wohl auch einen kleinen Zuschuß. Doch wurde er in den nächsten Jahren allmählich schwach und verging, weil die Leiter fehlten. Aber er hatte sich in der gefährlichen Zeit bewährt.
Während dies Vereinsleben mich in den Abendstunden des tollen Jahres beschäftigte, fand sich auch neue Arbeit für den Tag, ich ging unter die Journalisten.
Es war in den ersten Monaten des Jahres 1848, als ich bei einem Besuch in Leipzig einem kleinen Herrn gegenübersaß, dem hübsche blonde Locken ein rundliches, rosiges Kindergesicht einfaßten, und der hinter großen Brillengläsern starr und schweigsam auf seine Umgehung sah. Es wurde mir gesagt, daß dies Julian Schmidt, Verfasser des gelehrten Werkes »Geschichte der Romantik« sei. Längere Zeit hörte er schweigend dem politischen Gespräch mit Bekannten zu, plötzlich aber, als ihm irgendeine Behauptung mißfiel, brach der Strom der Rede aus seinem Innern, wie schäumender Wein aus entkorkter Flasche. Schnell und kräftig flossen die Worte im scharfen ostpreußischen Dialekt. Was er sagte war so klar, energisch und warm, daß alle verwundert zuhörten und daß die Unterhaltung nicht wieder in Fluß kam, auch als er geendet hatte und sich wieder schweigend hinter seine Brille zurückzog. Darauf gerieten wir beide in ein Gespräch, das lange dauerte, und es ergab sich eine solche Uebereinstimmung in den Ansichten, nicht nur über Preußen und die deutsche Unordnung, auch über verkehrte literarische Richtungen der Zeit, daß ich in großer Hochachtung von ihm schied. Seitdem suchten wir einander, so oft sich die Gelegenheit bot. Julian Schmidt hatte damals sein Lehramt in Berlin aufgegeben und war von dem Oesterreicher Ignaz Kuranda als Mitarbeiter für die Grenzboten gewonnen worden, da diesen selbst der politische Umschwung in Oesterreich nach der Heimat trieb. Den deutschen politischen Teil der Wochenschrift besorgte Schmidt, die österreichischen Korrespondenzen und die Revision Jakob Kaufmann. Dieser war ein Judenkind aus Böhmen, den sein Schicksal nach Deutschland und unter die Herrschaft seines Landsmanns Kuranda geführt hatte, einer der harmlosesten und liebenswertesten Menschen, welche je mit dem Rotstift schlechte Aufsätze lesbar gemacht haben. Dreiundzwanzig Jahre später war mir beschieden, seinen Verlust zu betrauern und den Deutschen von ihm zu erzählen. Als ich ihn kennen lernte, war er bereits in guter Kameradschaft mit Julian Schmidt. Und die beiden Gesellen saßen bei der Arbeit und abends am Schenktisch in der aufgeregten Sachsenstadt nebeneinander wie zwei kluge Käuzlein unter dem schwirrenden und schreienden Vogelvolk. Als ich einige Monate später mit Schmidt zusammentraf, machte er mir den Vorschlag, ich möge den Eigentumsanteil, welchen Kuranda an den Grenzboten hatte, übernehmen. Da dies ganz zu dem stimmte, was ich in dieser Zeit für mich wünschte, so erklärte ich mich sogleich bereit, wenn nämlich Schmidt mein Partner und Kollege werden wolle. Er schlug ein und wir erwarben zu gleichen Teilen Eigentumsrecht an dem Blatt.
Die Wochenschrift »Die Grenzboten« war einige Jahre vorher von Kuranda in Belgien gegründet, bald nach Leipzig verlegt worden, sie brachte bis zum März 1848 außer gelegentlicher Lyrik österreichischer Flüchtlinge literarische Besprechungen, Reiseeindrücke und dergleichen; aber auch Korrespondenzen über die politische Lage, soweit dies unter der milden sächsischen Zensur möglich war, und sie stellte nach dieser Richtung einen großen Fortschritt gegenüber den belletristischen Wochenschriften Leipzigs dar. Eine besondere Bedeutung aber hatte sie für Oesterreich dadurch erhalten, daß sie unter der Herrschaft Metternich ein Sammelpunkt politischer Klagen, Hoffnungen, Projekte aus allen Teilen des Kaiserstaates geworden war. Dort war sie streng verboten, aber zurzeit das gesuchteste Blatt. Nun war selbstverständlich, daß nach dem Aufhören der österreichischen Zensur und nach Gründung zahlreicher österreichischer Zeitungen diese maßgebende Bedeutung einer auswärtigen Wochenschrift für den Kaiserstaat aufhören mußte. Die neuen Inhaber beschlossen, die Zeitschrift zu dem Organ zu machen, in welchem das Ausscheiden Oesterreichs aus Deutschland und die preußische Führung leitende Idee des politischen Teils sein sollte, dazu von liberalem Standpunkt ein Kampf gegen die Auswüchse der Demokratie und den Schwindel des Jahres. In dem literarischen Teil aber eine feste und strenge Kritik aller der ungesunden Richtungen, welche durch die jungdeutsche Abhängigkeit von französischer Bildung und durch die Willkür der alten Romantik in die Seelen der Deutschen gekommen waren.
Vom 1. Juli 1848 begann die selbständige Tätigkeit der neuen Redaktion. Einem jüngeren Geschlecht mag es nicht leicht sein, sich in die journalistischen Zustände jener Zeit hineinzudenken und diesen ersten Flugversuchen der befreiten Presse Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es gab damals keine erprobten Staatsmänner mit festen Zielpunkten und keine maßgebenden Politiker, ja es gab nicht einmal feste politische Parteien. Die Regierenden folgten mit großer Willensschwäche der Strömung und standen neuem Verlangen der aufgeregten Massen ratlos gegenüber. Die konservativen Kräfte in der Nation schienen geschwunden, das nationale Selbstgefühl war schwach; die liberalen Forderungen gingen weit auseinander, und der süddeutsche Liberalismus, auch der Gemäßigten, krankte an dem Uebelstand, daß ihm die sämtlichen Staatsregierungen, vorab Preußen, für Feinde der deutschen Zukunft galten. Wärme für den eigenen Staatsbau bestand im Grunde nur in Preußen und war auch dort zurzeit ein verschüchtertes Gefühl. In der Nationalversammlung zu Frankfurt aber begannen erst die großen dialektischen Prozesse, welche zu dem Verfassungsentwurf von 1849 leiteten, auch dort bildete sich erst allmählich unter dem Zwang der Tatsachen das Parteileben und eine Majorität für die berechtigten nationalen Forderungen. Wer in solcher Zeit als Journalist über Politik schrieb, hatte keinen anderen Anhalt als das Idealbild, das er sich selbst von einer wünschenswerten Zukunft des Vaterlandes gemacht hatte, und keinen anderen Maßstab für sein Urteil als die Ansichten, die ihm zufällige Eindrücke seines eigenen Lebens vermittelt hatten; Sprache, Stil und die notwendige journalistische Taktik, alles was er haßte und was er liebte, mußte ihm der eigene Charakter geben. Er war frei wie der Vogel in der Luft, ohne Führer, ohne Partei, ohne die Erfahrung und ohne die Bescheidenheit, welche die Gewöhnung einer Nation an parlamentarische Tätigkeit dem einzelnen zuteilt. Das war eine wundervolle Lehrzeit des deutschen Journalismus, und es ist kein Zufall, daß aus dem Jahre 1848 viele tüchtige Redakteure unserer größeren politischen Zeitungen erwachsen sind, klug, welterfahren, gewandt, von sicherem Urteil in großen Fragen, denen ein jüngerer Nachwuchs nicht ebenso reichlich gekommen ist.
Mit frohem Herzen gingen auch die Redakteure der kleinen Grenzboten an ihr Werk. Das Arbeitsgebiet war nicht fest verteilt, doch besorgte Julian in der Regel die deutschen Artikel, ich die österreichischen und das Ausland, er außerdem fast die ganze Literatur und Kunst mit Ausnahme des Theaters, dazu, solange ich noch in Dresden wohnte, mit Kaufmann die Redaktion der einlaufenden Mitteilungen. Und wir richteten Offene Briefe, wie damals Zeitgeschmack war, an die verschiedenen Staatsmänner und Parteiführer, predigten ihnen schonungslos Tugend und Weisheit ohne nähere Kenntnis der Personen und der Verhältnisse, durch welche sie beschränkt wurden. Wir gaben dem Oesterreicher Pillersdorf den verständigen Rat, sich von Deutschland zu trennen, auch Italien aufzugeben, und machten ihn aufmerksam, daß es wünschenswert sei, Bosnien zu nehmen und die Völker des unteren Donaulandes in einen großen Bundesstaat zu vereinigen. Wir verurteilten die Demokratie der Straße mit großer Verachtung und benutzten jede Gelegenheit, den aufgeregten Deutschen zu sagen, daß Preußen noch vorhanden und unter allen Umständen unentbehrlich sei. Die Versammlung zu Berlin fand geringes Wohlwollen, selbst die Mittelparteien der Nationalversammlung zu Frankfurt flackerten nach unserer Meinung noch zu unsicher hin und her und mußten sich manche strenge Ermahnung gefallen lassen. In dieser Zeit waren der starke Menschenverstand Julians, seine Tapferkeit, die souveräne Verachtung des leeren Scheines und der Phrasen und daneben seine warme Anerkennung mannhafter Selbständigkeit, wo diese einmal bemerkbar wurde, eine wahre Erquickung.
Im Herbst 1848 zog ich nach Leipzig; dort wohnte Schmidt eine Zeitlang bei mir, ich aber verfiel bald einer schweren Krankheit, und er hatte unterdes die ganze Sorge der Redaktion zu tragen, und zwar in ungünstiger Zeit, denn das Blatt, welches den Oesterreichern nicht mehr bequem war, verlor im Süden seinen Einfluß und hatte solchen in Deutschland erst zu gewinnen. Dieser plötzliche Wechsel der Abonnenten, der gefährlichste Umstand für eine Zeitschrift, machte das Jahr 1849 zu dem mühevollsten, welches die Redaktion durchzumachen hatte, und ich vermute, daß Julian, der seine ganze Zukunft dem kleinen Fahrzeug anvertraut hatte, zuweilen mit stiller Sorge bedrückt war; er hat sie nie gezeigt, war immer frisch, heiter und tapfer bei der Arbeit, obwohl ihm das Blatt damals keinen anderen Ertrag brachte als das geringe Honorar, welches er wie jeder andere Korrespondent bezog.
Unterdes lebten wir uns zu Leipzig in einem größeren Kreise guter Bekannter ein bei friedlichem Abendverkehr. Zunächst natürlich mit solchen, welche der Zeitschrift nahe standen und Beiträge lieferten. Außer Kaufmann wurde ein werter Freund Konstantin Rößler, der damals als Privatgelehrter in Leipzig weilte. Zu den Genossen gehörte auch Wilhelm Hamm, Redakteur der agronomischen Zeitung, ein frischer und unternehmender Gesell, der sich als Freiwilliger im Tannschen Freikorps gerührt hatte und später nach mehreren industriellen Unternehmungen als Ministerialrat nach Wien ging. Dazu fanden sich alte Anhänger des Blattes aus Oesterreich, welche kamen und gingen, wie Alfred Meißner, Max Schlesinger und zahlreiche Flüchtlinge, denen angemessen schien, sich den Kroaten des Windischgrätz zu entziehen. Auch Friedrich Bodenstedt kam, und nicht als ein Fremder. Er hatte nach seiner Rückkehr aus dem Kaukasus in Wien die Wochen des Oktoberaufstandes zugebracht und dort in einem Kreise guter Freunde der Grenzboten die wilden Zustände mit freiem Urteil beobachtet. Oft hatte er unsere Genossen von den quälenden Eindrücken des Tages befreit, indem er sie im Kreise um sich sammelte und ihnen mit guter Laune die Weltweisheit und die Poesie seines Mirza Schaffy dramatisch vorführte. Mit den bewundernden Empfehlungen unserer Angehörigen brachte er guten Bericht über das Erlebte zu uns.
Die Zeit war schlecht, dennoch fehlte dem Kreise der frohe Uebermut nicht. Unter den fremden Gästen war auch eine riesige Gestalt, der Tscheche Mickowetz; er hatte bei dem Aufstand in Prag das Theaterkostüm eines Swornosters getragen, sich der Untersuchung rechtzeitig durch eine Reise zu Knicanin entzogen, hatte dort mit wilden Serbenhaufen Ferkel gegessen, die an großen Stangen gebraten wurden, und zugesehen, wie die Kannibalen abgeschnittene Köpfe der Feinde aus den Säcken schütteten. Unter den Tschechen galt er für einen hoffnungsvollen Gelehrten, er wußte in der Geschichte und Literatur seiner Heimat guten Bescheid, gab auch, wenn er gesprächig geworden war, geheimnisvolle Andeutungen über Hankas Königinhofer Handschrift und die anderen Funde, durch welche die Gelehrten seines Stammes ihrem Volke eine glorreiche literarische Vergangenheit zurechtmachen wollten. In seiner Reisetasche brachte er das Manuskript eines Trauerspieles mit, »Der Przimislawiden Glück und Ende«, welches er in Leipzig aufführen wollte; darin wurde das Glück Tschechiens durch die Niedertracht eines deutschen Bösewichts vernichtet. Bei allem Ungeschlachten seines Wesens war er doch im Grunde gutartig und wurde auch dem Blatt nützlich, für welches er eine Anzahl Artikel schrieb. Als er nun eines Abends sehr wegwerfend über Schiller sprach und erklärte, der ganze Wallenstein sei voll von Schnitzern, der Name Terzky sei grundfalsch, Max sei ein ganz anderer Mann gewesen und er wolle ein Buch gegen Schiller schreiben, da wurde er freundlich gebeten, uns den Schiller vor der Welt nicht klein zu machen, und es wurde ihm zugemutet, gegen eine Flasche weißen Arraks sein besseres Wissen zu verkaufen. Er hatte Laune genug, darauf einzugehen, erhielt die Bestechung und trank, zu unserem geheimen Entsetzen, ein ganzes Wasserglas gemütlich aus; reuig beobachteten wir die Wirkung, es tat ihm gar nichts. Harmloser war ein ähnlicher Kauf. Als Alfred Meißner einmal die Unterredung erzählte, welche ein uns wohlbekannter Wiener Redakteur mit seinem Journalisten gehabt und wie er diesen aufgefordert hatte, gewichtig und brillant zu schreiben, kaufte ich ihm das Anrecht auf die hübsche Geschichte um einige Flaschen Rüdesheimer ab; sie ist im letzten Akt der Journalisten durch Schmock, mit der Klage des gedrückten Mitarbeiters, fast wortgetreu auf das Theater gekommen.
Auch den Leipzigern blieben 1849 die Schrecken des Straßentumults nicht erspart. Da nach dem ersten Barrikadenbau der Stadtrat alle wohlgesinnten Bewohner aufgefordert hatte, sich bewaffnet, durch eine weiße Armbinde kenntlich, in der nächsten Nacht zur Verstärkung der Kommunalgarde einzufinden, holte auch ich eine alte Jagdflinte hervor, band die weiße Binde um den Arm und ging zur Nacht von Gohlis, wo ich damals im Sommerquartier wohnte, durch das stille Rosental nach der Stadt. Auf den Straßen fand ich alles leer, die Türen verschlossen, den Markt wie ausgestorben, nur ein Haufe verlotterter Buben zog trunken und johlend mit allerlei Waffen und einer roten Fahne an mir vorüber. Als ich aber auf die Hauptwache kam und mich bei dem Offizier der Kommunalgarde, welcher die Wache befehligte, zum Dienst meldete, Namen und Absicht nannte, fand ich keine willige Annahme, ja, weil ich keinem von der Wache bekannt war, wurde ich mit unverhohlenem Mißtrauen betrachtet und mir endlich erklärt, hier könne man mich nicht brauchen, ich müsse mich da und dort melden und legitimieren. »Jetzt bei Nacht? Dann also gehe ich weiter.« Wieder ging ich durch leere Straßen, es war die schläfrigste Revolution, die man sich denken kann. Endlich öffnete sich schnell eine Haustüre, eine kleine rundliche Gestalt stolperte einige Stufen herab, die Türe wurde wieder zugeschlagen, in dem schwindenden Lichtschimmer erkannte ich den Kleinen, es war Julius Seybt, der bekannte Uebersetzer des Boz und vieler anderer Werke, auch ein Mitarbeiter der Grenzboten. Seybt war ein gewandter, zuweilen flüchtiger Schriftsteller, am Morgen ebenso schnell und regelmäßig bei seinem Werke, wie abends beim Becher. Er übte den Brauch, seine Uebertragungen aus dem Englischen einem Stenographen zu diktieren und wußte so in wenigen Wochen einen starken Roman zu bewältigen. Blieb bei diesem Verfahren auch vieles für die Uebersetzung zu wünschen übrig, sie war immer noch besser, als die große Mehrzahl ähnlicher behender Leistungen. Obgleich er nach Geburt und Sprache ein echter Sachse war, erwies er sich doch in seiner Gesinnung durch sein ganzes Leben dem preußischen Wesen leidenschaftlich zugetan, und wenn er des Abends mit sächsischen Offizieren zusammensaß, was er regelmäßig tat, so war er unermüdlich, ihnen Gutes von Preußen zu erzählen. Es ist wohl möglich, daß sie den werten Tischgenossen in diesem Punkte lange für unzurechnungsfähig hielten, bis die Zeit erwies, daß er nicht unrecht gehabt. In jener Nacht also gingen wir, jetzt zu zweien, den Ereignissen nach, zuerst in die Gegend, wo Schmidt wohnte, auch dort war alles still, endlich saßen wir nieder und waren bald in feuriger Unterhaltung über Macaulay, den Seybt gerade den aufständischen Deutschen zur Lektüre empfehlen wollte.
Da die Sorge für die österreichischen Berichte mir zugefallen war, wurde ich genötigt, mich ernsthaft um die Verhältnisse des Kaiserstaates zu kümmern, und ich habe durch einige Jahre vom Standpunkt eines »Kleindeutschen« tapfer darüber geschrieben. Bald aber fand sich ein Freund, welcher weit besser als ich unterrichtet und in der Hauptsache nach denselben Gesichtspunkten die Zustände Oesterreichs für das Blatt behandelte. Anton Springer, der damals als junger Gelehrter zu Bonn seine erfolgreiche akademische Laufbahn begonnen hatte, wurde mir durch Otto Jahn, seit dieser Professor in Bonn war, bekannt. Springer und seine Gattin, die Tochter eines treuen Gönners der Grenzboten in Prag, wurden mir bald zuverlässige Freunde, er aber einer der wichtigsten und treuesten Mitarbeiter des Blattes, nicht nur als Kunstschriftsteller auf dem Gebiet, welchem er wegen einer seltenen Verbindung von strengen historischen Untersuchungen mit edlem Schönheitssinn seine größten Erfolge verdankt, sondern fast noch mehr durch seine politischen Aufsätze. Die Bedeutung, welche der Verfasser der »Geschichte Oesterreichs« als politischer Schriftsteller zu beanspruchen hat, ist gerade in Oesterreich nicht nach Gebühr gewürdigt worden, vielleicht deshalb, weil sein klares Urteil oft keiner der kämpfenden Parteien zustimmte. Wer aber, wie ich, durch eine lange Reihe von Jahren seinen Auffassungen gefolgt ist, muß innige Hochachtung vor der Sicherheit und Größe seines politischen Urteils empfinden und vor der seltenen Begabung eines Mannes, der zwei grundverschiedene Gebiete, schöne Kunst und leidige Politik, so sicher beherrscht.
Als die Politik nicht mehr das ganze Interesse der Leser in Anspruch nahm, begann Schmidt literarische Artikel gegen die Jungdeutschen und Romantiker. Seine energische Tätigkeit nach dieser Richtung schuf ihm und dem Blatt viele Gegner, unter denen Gutzkow der erbittertste war, aber sie ist wohl wert, daß man mit Anerkennung daran zurückdenke. Es war damals die Zeit, wo alle Gegensätze scharf gegeneinander schlugen und Schmidt war nicht der Mann, in seinem Feuereifer jedes Wort vorsichtig abzuwägen. Doch der letzte Grund seines Unwillens war immer ehrenwert, es war der Haß gegen das Gemachte und Gleißende, gegen ungesunde Weichlichkeit und gegen eine anspruchsvolle Schönseligkeit, welche an den Grundlagen unseres nationalen Gedeihens, an Zucht und Sitte und deutschem Pflichtgefühl rüttelte mit einem Hochmut, dessen letzte Ursache Schwäche des Talents oder gar des Charakters war.
Jetzt, wo diese Schwächen und Fehler überwunden oder mit anderen vertauscht sind, wird uns eine unbefangene Beurteilung leichter. Damals galt es, das anspruchsvolle, noch mächtige Schädliche zu beseitigen. Es ist auch nicht richtig, daß durch die Bewegung des Jahres 1848 und deren Folgen bereits eine Besserung bewirkt war und daß es absterbende Richtungen waren, welchen die Grenzboten den Krieg erklärten. Denn indem Schmidt verurteilte, was in unserer Literatur krank war, wies er auch unablässig auf die Heilmittel hin und wurde dadurch in Wahrheit ein guter Lehrer für die Jüngeren, welche falschen Vorbildern, die in unbekämpftem Ansehen stehen, zu folgen bereit sind. Ihn selbst haben die Gegenangriffe der Gekränkten, an denen es nicht fehlte, vielleicht einmal geärgert, nie beirrt.
Und doch, obgleich er als Kritiker dafür galt, daß ihm Anerkennung schwer wurde, stand er nichts weniger als kalt dem geschaffenen Dichterwerke gegenüber. Er hatte an allem wohl Gelungenen eine tief innige Freude und behielt vor echter Poesie die Wärme und Begeisterung eines Jünglings bis in sein höheres Alter. Vor allem fesselte ihn originelle Zeichnung der Charaktere, nächstdem die Grazie in Schilderung und Sprache. Die Darstellungsweise der englischen Dichter war ganz nach seinem Herzen, den Zauber der wundervollen Färbung bei Dickens empfand er so voll, wie nur ein Engländer jener Zeit, und für die stärkeren Talente der Franzosen, z. B. für Balzac fühlte er weit größere Sympathie als sein Mitredakteur. Wo er hohe Intentionen fand, wurde er auch durch große Mängel in der Ausführung nicht erkältet. Er ließ nicht ab, mit dem Schwulst und der Neigung zum Häßlichen bei Hebbel abzurechnen, aber obgleich ihn in jedem neuen Werk desselben vieles verletzte, so blieb ihm doch das Bedürfnis dieses Talentes, Großartiges darzustellen, sehr ehrenwert. Wo er vollends die Gabe erkannte, gesunde Menschen zu schildern, wurde er ein freundlicher Ratgeber. Er war es, der in der Presse zuerst das kräftige Talent Otto Ludwigs verkündete, und vollends Fritz Reuter hat keinen wärmeren und besseren Beurteiler gefunden als ihn. In gehobener Stimmung und mit schöner Herzensfreude trug er die Gestalten und Situationen jeder neuen Geschichte des wackeren Mannes in sich herum und wurde nicht müde, sie in heiterer Gesellschaft zu rühmen. In derselben bereitwilligen Anerkennung eigenartiger Schilderung von Charakteren und Zuständen wurde er auch später ein Bewunderer und Freund Iwan Turgenjews. – Fand er aber in einer Dichternatur nicht viel von dem, was ihn kräftig anzog, so ging er in seiner Kritik an den Grenzen solcher poetischen Begabung herum, er bornierte sich gewissermaßen das, was ihm fremdartig blieb, und weil er dann, um seine Kälte zu rechtfertigen, mehr von den Schwächen als von dem Guten des Werkes sprach, so machte seine Besprechung wohl einmal den Eindruck zu großer Strenge. Aber er selbst war, wo er später zu besserer Würdigung kam, sogleich bereit und eifrig, sein Urteil zu ändern. Denn immer urteilte er ehrlich seiner eigenen Natur gemäß und ehrlich gegen die Kunst, nur um der guten Sache willen, und immer vom Standpunkt eines tüchtigen Mannes und eines wackeren Deutschen. Und diese Eigenschaft hat ihm, dem Kritiker, bei der jüngeren Generation auch zuerst seine Bedeutung verschafft, denn bei einer Kritik sucht der Leser geradeso wie bei der Geschichtschreibung nicht nur geistvolles Urteil, sondern über allem in dem Beurteilenden einen Mann, in dessen Charakter er Vertrauen setzen kann.
Langjährige fortgesetzte Beschäftigung mit Kritik, zumal mit ästhetischer, bereitet auch dem Beurteilenden Gefahren, leicht wird die Fähigkeit gemindert, Neues warm aufzunehmen, eine gewisse Sättigung macht anspruchsvoll, und die Gewöhnung, nach festgewordenen Ansichten zu urteilen, bedroht Einseitigkeit. Deshalb ist besonders bezeichnend für die Tüchtigkeit Julian Schmidts, daß er mit den Jahren nicht absprechender und mürrischer, sondern milder, vielseitiger und anerkennender wurde.
Bei der zunehmenden Gleichgültigkeit der Leser gegen Fragen der Politik wurde es fortwährend nötig, neuen Stoff der Unterhaltung und Belehrung heranzuziehen, und während Schmidt vorzugsweise literarische Artikel schrieb, nahm ich frühere Arbeiten wieder auf und begann geschichtliche Bilder aus der Vergangenheit mitzuteilen, soweit die Grenzboten dergleichen vertragen konnten.
Die Wochenschrift setzte sich allmählich bei den Lesern fest, sie erwarb sich die Achtung, welche selbständiger Ueberzeugung und dem festen Ausdruck derselben von den Deutschen niemals versagt wird. Sie gewann auch gute und bedeutende Mitarbeiter, unter diesen einige, welche seitdem in der politischen Literatur unserer Nation Bedeutung gewonnen haben, außerdem namhafte Gelehrte: Philologen, Historiker und Kunstschriftsteller, welche einem größeren Leserkreis neue Funde der Wissenschaft und den Gewinn eigener Forschung entgegenbrachten, darunter eine lange Reihe unserer besten Namen.
Allerdings gelang es nie, dem Blatt die Fülle und Reichlichkeit der Beiträge zu verschaffen, deren eine große Revue bedarf; die besten französischen und englischen Unternehmungen blieben nach dieser Richtung ein unerreichtes Vorbild. Der kleinen Wochenschrift war die Vielteiligkeit Deutschlands hinderlich, die Enge unserer Verhältnisse und die immer noch bescheidene Abonnentenzahl des Blattes. Oft blieb zufällig, ob eine wichtigere literarische Erscheinung oder ein größeres Tagesinteresse in dem grünen Umschlage die geeignete Besprechung fand, und es fehlte auch nicht an solchen Wochen, in denen der Mangel an gutem Manuskript dazu zwang, sehr Unbedeutendes zu bringen. Trotzdem sagt die Behauptung wohl nicht zu viel, daß die Grenzboten einen wesentlichen Einfluß auf die Bildung der jungen Generation ausgeübt und allmählich den Ruhm erwarben haben, viel von deutscher Einsicht und deutschem Gewissen zutage zu bringen. Der Hauptverdienst aber dieses Erfolges in den dreizehn ersten Jahren herben Kampfes gegen eine öde Reaktion und gegen die Mutlosigkeit und Zerfahrenheit im Volke kommt Julian Schmidt zu, der Regelmäßigkeit seines Fleißes, seiner festen Vaterlandsliebe, dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Tüchtigkeit der Nation und zu der Kraft des preußischen Staates, und seiner tapferen Rücksichtslosigkeit.
Er war ein schneller Arbeiter, pünktlich im Abliefern des Manuskriptes, Freude und Trost der Setzer; die Gedanken strömten ihm voll und gleichmäßig aus der Feder, auf den Seiten, die er von oben bis unten zu beschreiben liebte, fand sich selten ein Wort korrigiert. Die Rückseite seiner Konzepte war gewöhnlich mit algebraischen Formeln beschrieben, solches Rechnen trieb er unablässig als Privatvergnügen zur Erholung.
Mit der Redaktion wechselten wir nach den ersten Semestern halbjährig, und da ich einen Teil des Sommers auf dem Lande zubrachte, so machte sich's, daß Schmidt im Sommer, ich im Winter die Redaktionsgeschäfte besorgte, dadurch erhielt jeder von beiden für ein halbes Jahr Muße zu größerer Arbeit. Doch war bei diesem Wechsel nicht zu vermeiden, daß Verschiedenheiten in der Behandlung der Eingänge bemerkbar wurden. Schmidt hatte z. B. eine souveräne Stimmung gegenüber dem Mannigfaltigen, wodurch ein Blatt den Lesern anmutig zu werden sucht, und besserte ungern an dem mangelhaften Stil solcher Artikel, welche aus der Fremde kamen und wegen des zeitgemäßen Stoffes nicht zu verachten waren; ja, er schrieb lieber ein halbes Heft selbst, als daß er verstruwwelten Gedanken und Sätzen den redaktionellen Bürstenstrich vergönnte. Nun war uns der treue Kaufmann verloren. Die österreichische Regierung hatte wegen eines mißliebigen Artikels seine Auslieferung verlangt und wir hatten, um ihn vor dem Spielberg zu bewahren, seine Abreise nach England veranlaßt. Deshalb wurde, zumal auch das sächsische Preßgesetz ein Landeskind zum verantwortlichen Redakteur forderte, allmählich wünschenswert, einen besonderen Redakteur zu bestellen. Damals war Moritz Busch aus Amerika zurückgekehrt und hatte in dem Blatt ein ganz ungewöhnliches Talent für Schilderungen und erzählende Artikel erwiesen. So wurde er 1857 zum Redakteur bestellt. Und es soll bei dieser Gelegenheit gesagt werden, daß er durch eine Reihe von Jahren mit treuer Hingabe für das Blatt tätig war, zum großen Nutzen für die Grenzboten und zur Freude der Eigentümer, und daß er in dieser Zeit uns beiden auch im persönlichen Verkehre wert und vertraulich wurde. Erst in dem Jahre 1865 zog ihn das Schicksal in andere Bahnen.
Unterdes hatte Schmidt auch sein eigenes Leben redigiert, er hatte sich eine liebenswerte Gattin aus einem niederdeutschen Pfarrhause geworben; sie wurde die Vertraute seiner Gedanken, das beste Glück seines ganzen späteren Lebens. Vergnügt richtete er sich den eigenen Haushalt ein und verlebte von da an meiner Seite einige friedliche Jahre, freilich in doppelt angestrengter Tätigkeit. Die erste Ausgabe seiner Literaturgeschichte war erschienen, sein Ruf als Kritiker festgestellt; auch gesellschaftlich hatte er sich in Leipzig eingelebt, die früheren Tischgenossen Jahn und Mommsen waren fortgezogen, aber Heinrich v. Treitschke, damals in blühender Jugend, wurde den Grenzboten ein lieber Gefährte, Freude und Stolz des Kreises, und Karl Mathy kam als Direktor der Kredit-Anstalt nach Leipzig und wurde ein hochgeschätzter Mitarbeiter. Seitdem gab es wohltuenden Familienverkehr und täglich anregendes Männergespräch, zu dem sich am runden Tisch eine Anzahl gescheiter und tüchtiger Leipziger mit den Grenzboten zusammenfand.
Julian Schmidt hatte der Zeitschrift dreizehn Jahre angehört, als ihm 1861 von Berlin aus der Antrag gestellt wurde, dort unter sehr günstigen Bedingungen die Leitung einer neuen, unabhängigen Zeitung zu übernehmen. Er erhielt dadurch die Aussicht auf eine größere Wirksamkeit und auf festere Stützen seines äußeren Lebens. Als er sich entschloß, dem Rufe Folge zu leisten, da durften seine alten Freunde zwar unsicher sein, ob das Zeitungswesen ihm auf die Dauer gedeihen könne, aber daß er selbst in dem literarischen Treiben der großen Stadt sich ehrenvoll behaupten werde, das war uns allen zweifellos. Die neue Zeitung dauerte nicht, Schmidt aber gewann in der Hauptstadt eine neue Heimat, die ihm lieb wurde. Der kleine Haushalt, in dem er mit der geliebten Frau waltete, wurde eine Stätte, an welcher sich viele der besten und vornehmsten Geister der großen Stadt an dem Frieden, der seelenvollen Heiterkeit und den klugen Gedanken eines alten Vorkämpfers der deutschen Journalistik erfreuten. Denn durch sein ganzes Leben trug er in sich den Adel einer guten und kräftigen Menschennatur, Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der Gesinnung, die Unschuld einer Kinderseele bei gereiftem Urteil und einem hochgebildeten Geiste, als ein reiner und guter Mann ohne Falsch, warmherzig, treu seinen Freunden. Es ist nach seinem Tode 1886 dem älteren Genossen beschieden, hier von seinen Verdiensten um die Grenzboten zu erzählen.
Noch zehn Jahre blieb ich nach seinem Abgange an der Wochenschrift beteiligt, und es sei mir gestattet, hier vorgreifend die Schicksale des Blattes in dieser Zeit kurz zu berichten. –
Den Anteil am Eigentum der Grenzboten, welchen Schmidt besessen, übernahm ein anderer Freund, Max Jordan. Durch ihn wurden dem Blatt regelmäßige Berichte über die Literatur der bildenden Künste zugeführt, er ist mein treuer Geschäftsgenosse geblieben bis zu unserem gemeinsamen Ausscheiden.
Für die Deutschen war seit 1861 eine Zeit neuer Hoffnungen gekommen, ich schrieb wieder häufiger politische Artikel und besprach literarische Neuigkeiten. Als im Frühjahr 1866 Moritz Busch aufhörte, Redakteur zu sein, wurde Julius Eckardt aus Riga für die Zeitschrift gewonnen. Daß die Politik siegreich wurde, welcher die Wochenschrift diente, kam auch ihr zugute; die Zahl der Leser wuchs mit jedem Jahr, neue Kräfte wurden gewonnen, die Mitarbeiter schrieben jetzt in gehobener Stimmung. Auch ich fand in meiner Tätigkeit als Journalist wieder erhöhte Befriedigung und ich dachte oft, daß es schön sei, mit der Feder in der Hand die größten Ereignisse zu begleiten und der Begeisterung und leidenschaftlichen Teilnahme in der Nation Ausdruck zu geben. Drei Jahre lang gereichte die ungewöhnliche Arbeitskraft und die gute Kenntnis der osteuropäischen Verhältnisse, welche Eckardt zubrachte, dem Blatt zum Vorteil und der persönliche Umgang mit ihm mir selbst zur Freude. Als den zuverlässigen Mitarbeiter die Rücksicht auf seine Familie und Zukunft von uns fortführte, trat Alfred Dove an seine Stelle. Aber nur bis zum Ende des Jahres 1870 genoß das Blatt die Fürsorge dieses reichen Geistes. Da veranlaßte ein Gegensatz mit dem Verleger, welcher durch die Haltung des Blattes in konfessionellen Fragen schon oft schmerzlich berührt worden war, uns alle von den Grenzboten zu scheiden. Dove übernahm noch auf einige Jahre die Leitung der Zeitschrift »Im neuen Reich«, welche Hirzel für unseren Kreis einrichtete, auch dorthin lieferte ich Beiträge, doch war ich der Ansicht, daß die Aufgabe, die ich als Tagesschriftsteller übernommen, gelöst sei.
Durch fünfundzwanzig Jahre hatte ich, wenn auch in den bescheidenen Verhältnissen einer Wochenschrift, unter den Stimmführern der deutschen Presse gestanden. Was Traum und Sehnsucht meiner Jugend gewesen war, das war auf den Schlachtfeldern und in den Kabinetten, durch die Tapferkeit unserer Soldaten und durch die Größe unserer politischen Führer Wirklichkeit geworden: ein machtvoller, deutscher Staat.
Ich kehrte zu meinen Büchern und zu meiner Dichterarbeit zurück. Hier aber sei einem alten Journalisten gestattet, in Freude zurückzudenken an die lange Reihe tüchtiger und guter Männer, welche mit ihm vereint an dem Blatte Anteil gehabt haben, fast sämtlich nahe persönliche Freunde und Kampfgenossen auf verschiedenen Gebieten unseres geistigen Lebens. Die meisten der regelmäßigen Mitarbeiter und Redakteure hat das große Preußen den kleinen Grenzboten einen nach dem andern abgenommen, sie sind dort in einflußreicher und angesehener Stellung tätig. Nicht alle gehören demselben Parteilager an, aber ich hoffe, daß sie sämtlich die Jahre ihrer teilnehmenden Sorge für die grünen Blätter nicht für verlorene Zeit halten.