Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Eindrücke aus der Fremde

Wenn der Sohn den Vater auf einem Spaziergange begleiten durfte, so bemerkte er wohl die Achtung, mit welcher die Leute grüßten. Der Vater hatte viele als Kinder gekannt und als Arzt behandelt. Er sprach oft an, und die Männer frugen ihn um Rat und freuten sich ihm zu zeigen, was in ihrem Hause und Geschäft sehenswert war, nur die Bäuerlein, welche am Ende der Markttage mit wankendem Schritt heimwärts zogen, wichen im großen Bogen aus.

Wie beliebt aber auch der Vater bei den Bürgern war, er behielt im Verkehr eine Zurückhaltung, welche jede Vertraulichkeit ausschloß, und die Sünder gegen die Stadtordnung wußten wohl, daß er gewaltig gegen die Missetäter losbrechen konnte. Die volle Wärme seines Gemüts kam nur gegen Weib und Kind zutage, gegen die Söhne war er von immer gleichbleibender Milde und Freundlichkeit, die Strafen vollzog die Mutter, sie war Mahnerin und Vertraute, der Vater aber, der doch nie schalt, gefürchtet und verehrt. Er hatte in der Jugend schönes, kastanienbraunes Haar gehabt, lange trug er es im Zopf, den die Mutter aufbewahrte und den Kindern zuweilen als Familienkleinod zeigte; später quollen ihm die Löckchen unter dem Hut hervor, sie wurden früh silbergrau und die Hände der Kleinen griffen gern danach. Ich habe meinen Vater nur mit ergrautem Haar gekannt. Er sah sehr würdig aus, wenn er unter seinem Zylinderhut, der in der Form altmodisch, aber ein feines Kunstwerk des Hutmachers war, über die Straße schritt, hoch aufgerichtet, in langem Ueberrock, in der Hand einen starken, oben gekrümmten Bambusstock, auf den er viel hielt – er war ein Erwerb aus der hallischen Zeit, und die Knaben wurden nicht müde, ihn zu bewundern.

Es war natürlich, daß der kleine Sohn des Bürgermeisters zu der bewaffneten Macht der Stadt in ein freundliches Verhältnis trat. Da Kreuzburg damals keine Garnison hatte, so war der berittene Gendarm des Kreises die stolzeste kriegerische Gestalt. Die Stadt selbst aber wurde von zivilen Gewalten behütet. Diese waren die beiden Ratsdiener mit der Dienstmütze, dem roten Kragen und einem dicken Rohrstock in der Faust, sie sahen stattlich aus und waren der Schrecken der Vagabunden und der trunkenen Landleute aus den polnischen Dörfern; einer war lang, der andere kurz, der kleinere aber trug als früherer Husar noch seinen mächtigen Schnauzbart; er hatte im Felde die schwere Kunst erlernt zu trinken, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen, war ein furchtloser und heftiger Mann, Tyrann der Straße und in Polizeisachen die rechte Hand des Bürgermeisters. Der Wachtdienst in der Stadt und an den Toren wurde von den vierundzwanzig Jüngsten besorgt. Nach der neuen Städteordnung sollten nämlich die jüngsten Bürger diesen Dienst versehen, da aber Stellvertretung gestattet war und gerade die jungen Bürger die Nachtwachen ungern ertrugen, so wurde die Stellvertretung bald allgemein, und die, welche die jüngsten hießen, waren in Wirklichkeit bedächtige Grauköpfe, welche in ihrem Handwerk zurückgekommen waren – die meisten Tuchmacher – und sich jetzt mit der kleinen Entschädigung durchbrachten. Sie trugen um ihren langen Rock einen schweren Säbel, als Anzeichen, daß sie zu fürchten waren, erwiesen sich aber stets als der ruhigste und friedfertigste Teil der Bürgerschaft. Den Schlaf machten sie bei Tag und Nacht in anspruchsloser Weise ab; bei Tage saßen sie auf der Bank der Wache neben dem Rathause, bei Nacht saßen sie an den verschlossenen Stadttoren oder wandelten langsam und niemanden schädlich durch die Straßen. Aber jeden Morgen und jeden Abend um acht Uhr lärmte die Rassel an der Haustür des Bürgermeisters; der Gefreite brachte den Rapport über die Ereignisse der letzten zwölf Stunden und begann jedesmal mit den Worten »Herr Bürgermeister, 's ist weiter nichts Neues«, auch wenn in Wahrheit etwas Aufregendes gemeldet werden mußte, ein ertappter Dieb oder ein Feuerschein am Horizont. Der Vater hörte den Bericht ernsthaft an und entließ mit einer Mahnung zur Wachsamkeit, welche ebenfalls im Laufe der Jahre formelhaft geworden war. Doch wußten die Wächter, daß es mit dem Dienst streng genommen wurde und daß der Bürgermeister selbst nicht selten zu später Nachtzeit in die Ratswache und an die Tore kam, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Für außerordentliche Fälle galt der Stadt die Schützengilde als Hilfstruppe, sie war nach der Städteordnung auch für die Sicherheit der Gemeinde neu eingerichtet worden, und am Tage des Königschießens marschierten die wirklichen vierundzwanzig Jüngsten stolz hinter den grünen Uniformen der Büchsenträger.

Es war feste Ordnung in der Stadt, in der Verwaltung Pünktlichkeit und Sorgfalt, den Bürgern gegenüber ein altfränkisches, väterliches Regiment. Nur ein Nachtbrand in der Vorstadt oder auf nahem Dorfe störte zuweilen die Ruhe. Dann rief die kleine Feuerglocke auf dem Ratsturm mit gellendem Ton die Bürger zusammen. Die Spritzen wurden aus ihrem Haus am Markte geschoben, die plumpen Wasserbottiche fuhren auf ihren Schleifen hinterher, die Leute rannten mit ledernen Eimern der Brandstätte zu. Der Vater war einer der ersten auf dem Platz, er leitete die Ordnung des Löschens und blieb zur Stelle, bis er jede Gefahr beseitigt sah. Auch die Kinder wurden von der Unruhe erfaßt, sie waren nicht im Bett und schwer im Zimmer zu halten.

Der Vater erkrankte. Es war ein Leiden, welches eine Operation nötig machte, und wir reisten deshalb in kleinen Tagesfahrten die dreizehn Meilen bis Breslau, wo wir einige Wochen verweilten. Aber die Erinnerungen an die große Stadt, welche die Seele des Kindes bewahrt hat, sind nur spärlich. Eine enge dunkele Gasse mit himmelhohen Häusern, in der wir wohnten, Gedränge der Menschen auf den Straßen, ein großer Hofraum, in welchem ein Wagenbauer einen Kutschwagen braun lackierte; ich stand täglich dabei und sah der sorgfältigen Arbeit bewundernd zu. Zuweilen war von einer großen Illumination die Rede und von einer silbernen Wiege, welche die Stadt der neuen Kronprinzeß Elisabeth geschenkt hatte. Mir schien es natürlich, daß die Königskinder in silbernen Wiegen lagen. Dann war ein kleiner rundlicher Knabe – er war ein Enkel jenes Hermes, welcher »Sophiens Reise« geschrieben hat, und wir müssen wohl irgendwie mit der Familie verwandt gewesen sein, denn es bestand ein Besuchsverhältnis –, dieser wies mir viele große Bilderbücher, darunter eine Sammlung von Karikaturen auf Napoleon, und ich sehe noch ein Blatt vor mir, den Kaiser auf einem Berge von Menschenschädeln. Das Bild war mir widerwärtig, nicht weil mir der böse Mann leid tat, dessen Aussehen ich bereits kannte, sondern weil es so garstig aussah. Wir alle waren froh, als der Vater geheilt mit uns heimkehrte.

Und wieder ging es fort in stillem Frieden. Nur selten sandte die Fremde Unerhörtes in die alten Ringmauern. Einst war der Tag einer Ratssitzung, die Mutter hatte gerade eine Gans gebraten und die Kinder erwarteten ungeduldig die Heimkehr des Vaters. Es schlug zwei Uhr, und er kam nicht. Im Hause entstand Aufregung, endlich wurde der älteste Sohn in das Rathaus geschickt, um sich bei den Dienern zu erkundigen. In der Vorhalle standen der Gendarm und einige von den Jüngsten mit ihren großen Säbeln, an der Tür der Ratsstube die Diener, und ihre Gunst erlaubte dem Knaben einen Blick in den ehrwürdigen Raum. Dort sah er sehr Befremdliches. Um den grünen Ratstisch saß der ganze Magistrat in feierlichem Schweigen, der liebe Vater obenan mit strengem Antlitz; auf dem Tisch lag ein ungeheurer Haufen Goldstücke, ein märchenhafter Anblick, und der Kämmerer war mit dem Ratsschreiber beschäftigt, den Schatz auf einer Wiege zu wiegen, in große Leinwandbeutel zu packen und zu versiegeln. Außerhalb der Schranke aber standen unter Bewachung zwei fremde Männer mit braunem Angesicht, schnurrbärtig, rote Mützen mit blauen Quasten auf den Köpfen, dem einen waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. Dies waren zwei Griechen, oder solche, die sich dafür ausgaben; der eine, welcher etwas deutsch sprach, der Dolmetsch des andern. Sie waren in eigenem Wagen zugereist und hatten am Morgen ihre Pässe dem Vater zum Visieren gebracht. Bei der Durchsicht erinnerte sich dieser, daß er früher einmal den Namen des Fremden in einem Steckbrief des Amtsblattes gelesen hatte; er schlug nach und fand, daß die Verhaftung des Griechen befohlen wurde, weil er unter dem Vorgeben, Lösegeld für seine Familie zu sammeln, die in türkischer Gefangenschaft sei, bettelnd umherzog. Seit dem Erlaß des Steckbriefes waren mehrere Jahre verflossen und der Vater freute sich im stillen seines guten Gedächtnisses. Als nun aber dem Fremden auf dem Rathause mitgeteilt wurde, daß er nicht weiterreisen dürfe, bevor von der Regierung seinetwegen Bescheid eingegangen sei, geriet er in Wut und brachte ganz unsinnig eine Waffe zum Vorschein, mit welcher er den versammelten Rat der Kreisstadt zu bedrohen wagte. Dies auffällige Benehmen machte der Höflichkeit ein Ende und erregte Argwohn; sofort wurde sein Kutscher, auch ein Fremder, verhaftet und der Wagen durchsucht. Es ergab sich sehr Bedenkliches. Der Wagen war eigens zu einem Versteck geheimnisvoller Dinge gebaut, mit doppeltem Boden und verborgenen Behältern, in denen der schon erwähnte Goldschatz lag, Geldstücke aus aller Herren Ländern, wie sie kein Kreuzburger jemals gesehen hatte, außerdem aber Verzeichnisse vornehmer Spender von Geldgeschenken, ebenfalls aus aller Welt, und große Stöße von Briefen und Schriftstücken, sämtlich in griechischer Kurrentschrift, welche am Orte niemand zu deuten wußte. Dies machte den Fall besonders geheimnisvoll und erregte Mutmaßungen. Die Fremden wurden unter Bewachung in einer Herberge untergebracht, das Gold in der Ratstruhe unter Siegel gelegt, die Ballen mit Papieren aber einer hochlöblichen Regierung nach Oppeln zur Entzifferung nebst dem Berichte zugeschickt. Schleunig kam als Antwort ein Schreiben mit höchster Billigung des Geschehenen und mit Gebot zur strengsten Ueberwachung der Fremden; dann zog sich die Sache in die Länge, die Griechen saßen als zornige Querulanten und wurden durch unablässige Beschwerden lästig. Endlich nach langer Zeit kam der unerwartete Befehl, man solle dem Fremden alles Geld und seine Papiere zurückgeben und ihn mit Zwangspaß über die Grenze schicken. Jahrelang hatte der Mann durch ganz Europa die griechische Erhebung ausgedeutet; jetzt hatte er entweder verstanden, Schonung zu gewinnen, oder man wußte überhaupt nicht, was man mit ihm und seinem Gelde anfangen sollte. Der Vater hatte Mühe und Aerger umsonst gehabt, Vorteile nur der Gastwirt, über dessen hohe Rechnung der Fremde sich zuletzt noch ungebärdig beschwerte, als er den Staub von seinen Füßen schüttelte. Dies waren die ersten Eindrücke, welche das moderne Hellenentum auf den Knaben machte.

Harmloser waren die Grüße aus aller Welt, welche die wandernde Kunst in die Stadt brachte. Zuweilen reiste ein Maler zu, welcher die Güte hatte, gegen mäßiges Entgelt die Köpfe ansehnlicher Männer und Frauen in Oel abzuschildern. Dann freute sich der ganze Kreis von Bekannten, wenn man die Gemalten zu erkennen vermochte. So kam auch ein schöner großer Mann mit schwarzem Bärtchen, der den Frauen sehr gefiel und deshalb in seiner Kunst achtungsvolle Bewunderung fand, bis ihm die Erfolge dadurch gestört wurden, daß er sich als ein großer Nachtwandler erwies. Denn er sprang in einer Mondscheinnacht mit gellendem Schrei aus dem Oberstock des Gasthauses auf das Pflaster, glücklicherweise ohne sich zu beschädigen und lief im Hemde nach dem Stadttor, wo ihn endlich der Nachtwächter zum Stehen brachte. Doch beruhigte er sich wieder, verheiratete sich auch in der Stadt und gewann die Nachtruhe eines ehrlichen Bürgers. Häufiger ließ sich die Muse der Musik durch Künstler auf allen möglichen Instrumenten vernehmen, vom Brummeisen bis zur Trompete, aber die Gitarre und Flöte waren noch besonders geachtet. Größeren Genuß hatten die Kinder an dem wandernden Volk der Seiltänzer und Kunstreiter; waren diese mit guten Zeugnissen versehen, so erwies sich der Magistrat als wohlwollend. Dann wurde in der polnischen Vorstadt vor dem Salzmagazin eine künstliche Schranke aus Stricken errichtet und darin die Seile gespannt; die kleinen Kinder tanzten auf den niederen Seilen, während Väter und Mütter darunter hingingen, um die etwa fallenden aufzufangen. Aber sie fielen nicht, sondern bewegten die Beinchen unter allgemeiner Bewunderung und sammelten dann die Gröschel, welche ihnen die Kinder spendeten. Und erst Bajazzo! Oft habe ich seitdem diesen Charakter der Sägespäne gesehen, aber niemals war er so unsäglich lustig wie in Kreuzburg, wenn er sich in der Luft überschlug, mit den Stühlen Purzelbäume schoß und immer wieder von dem Pferde, auf dem er durchaus reiten sollte, in den Sand fiel; er konnte aber ganz gut reiten. Dann die klugen kleinen Pferde! Wenn ihr Herr ihnen ein Kartenblatt auf den Boden legte, so gaben sie durch Scharren mit dem Fuße genau die Zahl der Kartenzeichen an, und wenn der Herr frug, welches das artigste Kind in der Gesellschaft sei?, so blieb das Pferd vor dem Knaben des Bürgermeisters stehen und begrüßte ihn durch ein Kopfnicken. Der Kleine wurde vor Scham rot, aber er ging dann schüchtern zu dem Pferde und versuchte es zu streicheln.

Sehr berühmten Künstlern wurde wohl auch gestattet, das große Seil aus dem obersten Turmloch bis auf den Markt zu spannen und darauf die Großmutter im Schiebkarren zu fahren; wir wußten aber, daß dies nur eine Puppe war. In dieser gefährlichen Tätigkeit sah ich den bekannten Kolter, von dem in Kreuzburg die Sage ging, daß kurz zuvor Großfürst Konstantin in Warschau heimlich einen andern Künstler angestiftet hatte, dem Kolter, als dieser mit dem Karren vom Turme herab kam, mit einer andern Großmutter auf dem Seil entgegenzufahren. Als die beiden auf der Höhe zusammentrafen, verlor der andere den Mut; da rief der stolze Kolter »bücke dich«, warf seinen Karren zur Erde, setzte im gewaltigen Sprunge über den Nebenbuhler weg und kam, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, auf dem Seile herab. Einen Mann von solchen Eigenschaften ehrte auch der Vater, und ich erinnere mich, daß Kolter mit seiner Frau in der guten Stube den Eltern gegenübersaß und ein Glas Wein vor sich hatte.

Alljährlich unternahm nach längerer Erwägung die Familie wenigstens einmal eine Vergnügungsreise nach der Stadt Pitschen. Für uns Kinder gehörten die zwei Meilen Fahrt und der Aufenthalt bei werten Freunden der Eltern zu den großen Festfreuden des Jahres. Ich eilte dann mit kleinen Gespielen sobald als möglich auf den Sandberg, der nahe der Stadt hinter den letzten Scheunen lag, dort suchte ich stundenlang nach kleinen gerundeten Kieseln, auf denen sich gerade dort schöne moosähnliche Zeichnungen fanden, und nach Feuersteinknollen, welche mit vieler Mühe aufgeschlagen wurden, weil zuweilen eine Versteinerung darin saß. Von der Höhe starrte ich neugierig auf die schwarzen Wälder in der Ferne. Dort drüben lag Polen, das unheimliche Land, von dem daheim oft die Rede war.

Zur Seite aber sah man die Stadt hinter ihrer Mauer, über welche noch einzelne Türme ragten. Der Ort ist die älteste der drei Städte im Kreise, kein Chronist, keine Urkunde weiß zu sagen, wann er entstand; er war als Straßensperre gegen Polen bereits vorhanden, als im dreizehnten Jahrhundert die Besiedelung der Umgegend mit deutschen Kolonisten erfolgte. Seitdem war der Wald, welcher ihn von dem Binnenlande geschieden hatte, fast ganz verschwunden, auch die Stadt hatte man irgendeinmal nach demselben Plane wie Kreuzburg aufgebaut, in der Mitte den Ring mit Rathaus und Kaufhäusern, die vier Gassen, welche von den Toren nach dem Markte führten, und seitwärts den Kirchhof mit Kirche und Pfarrhaus. Aber immer noch bestand der Ort abseits vom Verkehr der Landschaft, einsam an seinen Sandhügeln. Ihm gegenüber achtete sich Kreuzburg als Großstadt. Die Pitschner betrieben noch in der Mehrzahl Ackerbau wie im Mittelalter, der Verkehr mit Polen war gering, wahrscheinlich zumeist Schmuggel in den Händen weniger jüdischer Kaufleute, in der Stadt ragte mitten unter Häusern noch der hohe Balken eines Ziehbrunnens mit dem Eimer an der Kette, was bei uns ganz unerträglich gewesen wäre. Auch die Schützengesellschaft von Pitschen hatte bei ihrem Königschießen noch altväterischen Brauch. Dem Zug voran schritt ein Narr mit einer langen Schlittenpeitsche, welche die Waden der andrängenden Straßenjungen geschickt zu treffen wußte, dann kamen zwei Mohren, welche Hörner bliesen; aber wer jemals schwarzen Peter gespielt hatte, wußte recht gut, daß ihre Farbe durch Korkstöpsel hergestellt war; hinter ihnen tanzte und sprang auf offener Straße der Zieler, die große Scheibe auf dem Rücken, ihm folgte der Hauptmann unter einem ungeheuren Hahnenfederbusch, und nach diesem marschierte eine kleine Zahl Schützen in Uniform, seltsamen Erbstücken, mit sehr hohem Kragen. Es waren der Schützen vor den Augen des Knaben sehr wenige, bei uns in Kreuzburg wimmelte es beim Königschießen von Uniformen.

Aber wie altväterisch die bewaffnete Macht der Pitschner auch einherzog, sie war in Wahrheit mit kriegerischem Mut erfüllt und hatte diesen zuweilen in ernstem Kampf erwiesen. Denn seit undenklicher Zeit stand Pitschen ganz für sich allein auf Kriegsfuß mit Polen. Wenn die Waffen durch ein Jahr geruht hatten, so wurden sie doch zur Zeit der Heuernte ergriffen.

Jenseits der Stadt lag hinter dem Stadtwald eine Wiesenfläche zwischen einem breiten Graben und dem Grenzbach, welchen alte Leute von Pitschen in meiner Kinderzeit mit halbdeutschem Namen Briesnitz nannten, der sonst aber Prosna heißt. Der Wiesengrund gehörte zum Teil der Kämmerei, zum Teil einzelnen Bürgern der Stadt. Sein jährlicher Ertrag von 300–500 Taler war in jener armen Zeit den Besitzern von hohem Wert. Und gern hätten sie friedlich ihr Heu gemäht, aber dies war nicht möglich; denn um diesen Grund bestand ein uralter Streit zwischen Pitschen und Polen, beide erhoben Anspruch darauf. Doch waren diese Wiesen nicht die einzige Stelle, wo die Polen Streit wegen der Landesgrenzen erregten. Auch weiter aufwärts, bis in den Kreis Lublinitz, hatten die Rittergüter ähnliche Kämpfe um ihre Wiesen am Grenzwalde zu bestehen. Allerdings hatte schon im sechzehnten Jahrhundert ein Vertrag zwischen Herzog Georg von Liegnitz und Brieg und König Stephan von Polen die Grenze festgesetzt, aber die Polen hatten sich wenig an den Vertrag gekehrt und durch fast zweihundert Jahre versucht, Heuraub zu üben, bis unter Friedrich dem Großen General von Lossow 1773 die alte Grenze wieder herstellte und Grenzpfähle mit dem preußischen Adler längs der Prosna aufrichtete. Doch als im unglücklichen Kriege von 1806 Südpreußen verloren ging, hieben die Polen bei Nacht die Pfähle wiederholt ab und setzten ihre weißen Adler so, daß die Wiesen auf polnischer Seite lagen. Damals hatten sogar die Franzosen, welche die Grenze besetzt hielten, für die Pitschner Partei genommen und die Grasdiebe durch Schüsse vertrieben.

Seit dem Jahre 1822 wurde die Erbitterung beider Teile der Regierung bedenklich, denn auch die Polen erhoben helle Klage, der Bürgermeister von Pitschen sollte eigenhändig in der Prosna einen polnischen Ochsen erschossen und seine Bewaffneten sollten eine polnische Frau getötet haben. Dagegen verteidigten sich die Pitschner wie die Löwen und klagten: erst mausen sie das Heu und dann lügen sie unmenschlich, und sie behaupteten, der Ochse habe räuberisch auf ihren Wiesen geweidet und die Frau sei als Heudiebin bei Nacht vor ihnen geflohen und in der Prosna ertrunken. Die Polen rächten sich dadurch, daß sie einen unschuldigen Bürger, der in Geschäften durch das Dorf Woiczin kam, erbärmlich zerschlugen und zu dem Geistlichen, ihrem Anführer, schleppten, dort wurde er wieder gemißhandelt und mit Vergeltung und Tod bedroht. Die Behörden der Grenzkreise auf beiden Seiten vertraten das Recht ihrer Landsleute, die preußische Regierung aber schickte Kommissare, welche untersuchten und berichteten.

Man war jedoch damals in Berlin ängstlich bemüht, der Nachbarregierung nicht lästig zu sein. Die Gendarmen versagten den Pitschnern ihre Beihilfe, und man erzählte sich, der kommandierende General Zieten, welcher die Geschäfte des Oberpräsidenten versah, habe ihnen überhaupt verboten, sich in diesen Streit mit Rußland einzumischen. Nach vielen Protokollen und Gutachten wurde endlich, um des lieben Friedens willen, von Berlin aus entschieden, daß die Pitschner den Polen alljährlich den Wert des halben Heuertrages herauszahlen sollten. Da diese Entscheidung in jedem Fall ungerecht war, erhob sich unter den gekränkten Bürgern laute Wehklage. Doch mußten sie gehorchen. Nur wurde auch jetzt nicht Friede. Neue Klagen über polnische Uebergriffe kamen an die preußischen Behörden, diese schrieben wieder nach Wielun und Warschau, die späte Antwort war regelmäßig: an den Polen sei keinerlei Schuld zu finden. Und so zog sich eine öde Schreiberarbeit aus einem Jahr in das andere, während die polnischen Beschwerden über die ungenügende Zahlung und die Kämpfe um das Heu fortgingen. Einmal brach während der Heuernte in Pitschen ein großes Feuer aus, die Besitzer der brennenden Häuser standen zum Teil auf Wache an der Prosna. Sie rannten heimwärts um zu löschen, auch von den benachbarten Dörfern kamen die Spritzen hilfreich hinzu. Aber auch die Polen sahen den Feuerschein über der Stadt und rückten in Masse aus, um die Verwirrung der Gegner zu benutzen und sich des Heues zu bemächtigen. Und von den Wiesen kam der Alarmruf nach der Stadt: »Die Polen brechen über die Grenze.« Da riefen die Bürger vor ihren brennenden Häusern: »Fort zu den Wiesen!«, sie baten die hilfreichen Nachbarn, allein das Feuer zu löschen, ergriffen ihre Waffen, verjagten die Diebe und retteten ihr Heu.

Die Pitschner hatten für die gesetzliche Seite ihres Widerstandes einen guten Berater in ihrem Stadtrichter Konrad. Er war ein tapferer, feuriger Mann, natürlich auch Hallenser, und der nächste Freund des Vaters, an dem er mit großer Wärme hing. So oft ihn irgendetwas beschäftigte und aufregte, kam er die zwei Meilen nach Kreuzburg herübergefahren. Als das Ministerium des Innern einmal von ihm verlangt hatte, er solle wegen der Teilung des Wiesenertrages zwischen Pitschen und den Polen mit den Bürgern verhandeln, verweigert er dies mannhaft, denn die Forderung der Polen sei gegen alles Recht der alten Urkunden und gegen die Hypothekenrechte, die auf den Wiesen seit längerer Zeit ruhten.

Da der Freund noch im guten Mannesalter starb, verlor der Vater viel von dem, was ihm Frische und Frohsinn erhalten hatte; er trug das Leid in seiner Weise still, erst in späterer Zeit merkte der Sohn, wie groß der Verlust gewesen war.

Oft, wenn ich als Knabe dem Männergespräch zuhörte, wehte etwas von dem Wiesengras der Prosna, von dem Aerger über den Hohn der Woicziner, von Trauer über die preußische Lammesgeduld und die endlose Schreiberei der Beamten in meine Seele, dort bewahrte ich es still.

Aber noch von anderer Seite wurde unser Haushalt an den Streit der Nachbarschaft erinnert. Man hatte endlich zu Berlin ein Einsehen – Merkel war wieder Oberpräsident, auch er ein Studienfreund von Halle –, es wurde mit der polnischen Regierung verhandelt und von jeder Seite ein Kommissar erwählt, um die Ansprüche der Streitenden zu prüfen und neue Grenzpfähle zu stecken. Deshalb kam zu uns als Besuch ein hagerer Mann mit faltigem Gesicht, der russische Staatsrat Falz, wieder ein Universitätsfreund. Er war als junger Beamter von Südpreußen in das russische Polen verschlagen worden, dort zu Rang und Ehren gelangt und jetzt von Warschau abgeschickt. Auch der preußische Kommissar ließ sich sehen, dies war der vielgenannte Regierungsrat Neigebauer, der seinen Namen gern französisch aussprach, ein geckenhafter Geselle, der später als diplomatischer Agent in den Donaufürstentümern und als Schriftsteller geringen Ruhm gewonnen hat. Die Herren arbeiteten lange, sie hatten in Pitschen ein Standquartier und bereisten von dort die Grenze; der Winter kam heran, bevor für die Pitschner die Frage entschieden wurde. Die Nachbarn mußten wohl in ihrer gerechten Sache guten Erfolg gehabt haben, denn sie wurden vergnügt und veranstalteten eine große Schlittenfahrt nach der Grenze, wobei sie in dem berechtigten Streben, etwas Ungewöhnliches zu leisten, den großen Federbusch des Schützenhauptmanns dem Pferde eines Prachtschlittens aufsteckten, in welchem weißgekleidete Jungfrauen saßen. Die Jungfrauen aber zogen an Ort und Stelle feierlich die Schleife mit den Pfählen längs der Grenze eine Strecke entlang. Darauf wurde zu Ehren der Kommissare im Gasthof des Ortes ein großer Ball veranstaltet, und als die beiden Herren am späten Abend durchfroren in ihr Quartier zurückkehrten, vermochten sie wegen der Tanzmusik und Fröhlichkeit nicht einzuschlafen und erfuhren auf ihre Beschwerden, daß dies ja ein Ball sei, der ihnen zu Ehren gegeben würde.

Zuletzt darf nicht verschwiegen werden, daß diese feierliche Regelung der Grenze die polnischen Uebergriffe keineswegs bändigte. Wenn auch der Streit um die Stadtwiesen gestillt war, so wurden die der benachbarten Rittergüter nach wie vor alljährlich heimgesucht, die Polen trieben ihre Herden herauf, zogen sich, wenn die Gutsherren zum Schutze ihres Eigentums herauskamen, hinter den Bach zurück, schmähten und höhnten. Und die Klagen sowie die Schreiben der Beamten liefen nach wie vor nutzlos hin und her. Die Bitten der Geschädigten, daß man ihr Recht besser schützen möge, blieben lange erfolglos, auch der Gebrauch von Waffen zur Abwehr wurde ihnen verweigert. Als der deutsche Förster eines Rittergutes einst einen Grasdieb durch einen Schuß verwundet hatte, erhielt er Festungsstrafe, und der loyale Gutsherr, welcher Weib und Kind des Verurteilten erhalten mußte, damit sie nicht verhungerten, soll zuletzt in seiner Not der Regierung erklärt haben, daß er keine Steuern mehr zahlen werde, wenn der Staat ihm sein Eigentum nicht zu verteidigen vermöge. So zog sich die Fehde hin bis über das Jahr 1840, und ich vermag nicht anzugeben, wann sie geendigt hat.

 


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