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Der Name »Freytag« ist ein altdeutscher Männername wie Hildebrand, Wilhelm. Die erste Silbe ist Name der germanischen Göttin Frija, die zweite unser Wort Tag, welchem in alter Zeit die Nebenbedeutung: Licht, Glanz anhing. Der Name Freytag ist aus dem frühen Mittelalter nicht bei allen deutschen Stämmen nachzuweisen, er erscheint selten in Oberdeutschland, wo eine andere Zusammensetzung: Fridutag überliefert ist. Dagegen ist er in Thüringen altheimisch. In Schlesien führt ihn 1382 ein Bürger der Neustadt Breslau.
Meine Vorfahren aber, an deren Sippe sich das Wort als Familienname befestigte, waren deutsche Landleute unweit der polnischen Grenze.
Zwischen Schlesien und Polen, da, wo der kleine Bach Prosna die Länder scheidet, ragte im frühen Mittelalter ein unwegsamer Grenzwald. Er war mit seinem Sumpfgrund und den Verhauen, die darin angelegt wurden, der Landesschutz gegen feindliche Einfälle. Solche Grenzbefestigungen bestanden im Osten Deutschlands, wenn nicht ein breites Wasser von den Nachbarn schied, wohl überall, wo einst Germanen gewohnt hatten; und in den Kämpfen der Sachsenkaiser gegen die Slawen, wie in den Kriegsreisen des deutschen Ordens gegen Preußen und Litauer, ist der Zug durch Baumverschanzungen, die Unterhaltung des Heeres in der Wildnis, das Lichten mit der Axt, die Abwehr plötzlicher Angriffe, und die Wahrung der Schutzsperren, welche am Eingange und Ausgange der Waldwege errichtet wurden, bis ans Ende des Mittelalters fast die schwierigste Aufgabe der Heerfahrten, ähnlich wie zur Zeit des Cäsar und Tacitus an der deutschen Westgrenze.
Als im 13. Jahrhundert Schlesien unter den Piasten mit deutschen Ansiedlern besetzt wurde, entstand am Binnenrande des großen Waldes, da wo ein Reiseweg von Burg Namslau nach Polen führte, die deutsche Stadt Konstadt. Zwei Meilen oberhalb wurde durch die Kreuzherren vom roten Stern, einen der zahlreichen geistlichen Ritterorden, welche damals Krankenpflege und Kampf gegen die Heiden auf sich nahmen, die Kreuzburg gegründet, dazu eine Stadt mit deutschem Recht. Auf der Außenseite des Grenzwaldes war nahe der Prasna eine von den Wegsperren, welche in Preußen Beitschen, in Schlesien Pitschen hießen, auch dort erwuchs eine deutsche Stadt. In dem Dreieck, welches durch die drei Städte Konstadt, Kreuzburg, Pitschen gebildet wird, verlief durch Jahrhunderte das Leben meiner Familie.
Denn auch der Grenzwald wurde gelichtet und durch deutsche Dörfer besetzt. Nahe bei Konstadt entstand Schönfeld, mitten im Walde Schönwald, in gleicher Entfernung von den drei Städten. Es wurde ein einsehnliches Dorf mit zwei Scholtiseien.
Dort lebte der älteste Vorfahr, von welchem Kunde erhalten ist. Simon Freytag (geb. 1578), ein Freibauer, wie die Besitzer des Hofes sich nannten. Er und seine Nachkommen saßen auf Höfen mit fränkischen langen Ackerbeeten, sie bauten die Scholle unter wohlwollenden Landesherren, den Herzögen von Brieg, und erlitten, was die Kriege der Fürsten und die Einbrüche fremder Haufen dem Landmann zu bereiten pflegten. Wie ihre Landesherren waren sie seit der Reformation evangelisch geworden. Ueberall standen in den Dörfern neben den Kirchtürmen die Pfarrhäuser mit ihren Familien als Stützpunkte des deutschen Wesens. Die Vorfahren hielten unter slawischem Volk auf die deutsche Art, wie man aus den Namen ihrer Frauen schließen darf, die bis zu dem meiner Mutter sämtlich deutsch sind. Als Johann Freytag, der Sohn des Simon, eine Anna Wüterich – althochdeutsch Wuotanarich – heiratete, da wurden auf einem Bauernhofe die Namen unserer beiden großen Heidengötter Frija und Wuotan nach den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges zu christlicher Ehe verbunden.
Um 1700 heiratete Adam, ein Enkel jenes Simon, die Erbtochter einer Scholtisei von Schönwald, Marie Anna Victor. Durch sie kam der Scholzenhof des Dorfes in das Geschlecht. Eine Erinnerung an die Ahnmutter erhielt sich bis in meine Kinderzeit; sie soll eine kleine, kluge Frau gewesen sein, die bei den Geschlechtsgenossen in hohem Ansehen stand. Die Männer des Geschlechts aber sind in der Mehrzahl hochgewachsen mit rundem Kopf, blondem Haar, starken Knien und großer Faust, in jedem Nest ein oder mehrere behende Linktotschel. Der Kindersegen der Höfe pflegte reichlich zu sein.
Die Scholtisei und die freien Bauernhöfe waren nach altem Herkommen Minorate, der jüngste Sohn erbte den Hof, die älteren Söhne wurden vom Vater ausgestattet, soweit die Mittel reichten, sie heirateten in andere Höfe, suchten ihr Glück in der Fremde oder blieben als Knechte auf dem Hofe des jüngsten Bruders. Es war Brauch in den Grenzdörfern, ältere Söhne in Städte oder Dörfer, welche im Deutschen lagen, »auf Wechsel« zu geben, dann erhielten die Knaben in einem befreundeten Hause Unterkunft, Kost und deutschen Unterricht, auch die Bürger schickten im Tausche ihre Söhne bisweilen in das Bauernhaus zum gründlichen Erlernen des Landbaus. Denn noch brachte die Landwirtschaft den Städten einen großen Teil der Nahrung.
In dieser Weise gab der Urgroßvater, Johann Simon Freytag, Erb- und Gerichtsscholz in Schönwald, seinen ältesten Sohn Georg (geb. 1737), als dieser acht Jahre alt war, zu Verwandten nach Namslau, damit er dort deutschen Stil und etwas Latein erwerbe; drei Jahre später auf das Gymnasium nach Brieg, wo er aus der Quarta bis zur Universität hinaufsteigen sollte, um dereinst Geistlicher zu werden.
Georg war im Januar 1755 ein hochgewachsener Primaner, als der Oberst der Garnison Brieg eine Razzia gegen die großen Schüler veranstaltete. Georg erhielt Nachricht, daß er in der Rolle der sieben stand, welche der Oberst sich aneignen wollte. Er vertauschte deshalb seine Wohnung mit der eines anderen Gymnasiasten, und als der Oberst den Rekruten abholen ließ, erhielt er statt des langen einen unbrauchbaren kurzen unter das Maß. Derweile war ein eiliger Bote die neun Meilen bis Schönwald gelaufen, dort im Scholzenhofe die Gefahr zu verkünden.
Der Vater schickte sogleich Wagen und Pferde in die Nähe von Brieg und dem Sohne die Botschaft, er solle zusehen, wie er aus der Stadt kommen könne. Allen Torwachen war anbefohlen, keinen großen Menschen passieren zu lassen und Georg war nach siebenjährigem Aufenthalt in Brieg auch den Soldaten bekannt. Er ging deshalb gegen 11 Uhr vormittags unter den finstern Schwibbogen des Odertores, wartete dort, bis die Ablösung der Torwache vorbeimarschiert war, und folgte den Soldaten über die Oderbrücke, da er wußte, daß diese bei dem Marsch und der Ablösung sich nicht umsehen durften. Während die Wache vor dem Wachthaus in die Linie trat, wandelte er glücklich ins Freie, fand seinen Wagen und fuhr unter falschem Namen nach Breslau, von da in einer Landkutsche nach Königsberg. Dort studierte er drei Jahre Theologie, hörte auch etwas Philosophisches bei Kant. Doch auch zu Königsberg wurde ihm ein friedliches Beharren über seinen Büchern nicht vergönnt. Die Russen überzogen die Landschaft und sperrten den Verkehr mit der Heimat. Von dort drangen im Februar 1758 ängstliche Briefe zu ihm durch. Die Mutter war schwer erkrankt, der Vater durch einen Schlaganfall gelähmt, auch zu Hause war Kriegsnot und Einquartierung und der älteste Sohn nicht länger zu entbehren. Aber von den Russen wurde niemand in das Gebiet König Friedrichs hinaus gelassen. Wieder kam Georg in Bedrängnis, und wie er als Flüchtling zur Universität gezogen war, mußte er auch auf heimlichen Pfaden die Rückkehr suchen. Er nahm deshalb in der russischen Kanzlei einen Reisepaß nach Danzig und übergab sich und sein Gepäck einem Fuhrmanne, der mit seiner Ladung unweit Danzig über die Weichsel gelangen wollte. Der Strom war noch mit Eis belegt, aber an den Rändern floß bereits das Tauwasser. Als Georg das Eis betreten hatte und unter sich das Brechen der Schollen und das Rauschen der Flut vernahm, rief er an das Ufer nach einem kleinen Handschlitten, ließ Koffer und Bettsack darauf laden und folgte dem Schlitten vorsichtig nach dem Ufer. Wagen und Pferde, welche vom Fuhrmann auf die Versicherung der Anwohner, daß das Eis noch halte, über den Strom getrieben wurden, brachen hinter ihm ein und versanken.
In der Heimat fand er Trauer und Sorge, die Mutter starb wenige Stunden nach seiner Ankunft, der kranke Vater hatte sein Gedächtnis fast ganz verloren, dazu sechs jüngere Geschwister im Hause und im Lande fremdes Kriegsvolk. Da mußte der Kandidat das Scholzenamt versehen, die schweren Lieferungen auf die einzelnen Höfe verteilen, das Gelieferte von den Dorfleuten empfangen und absenden, bald österreichische, bald sächsische Kommandos aufnehmen, bewirten und vorsichtig behandeln, außerdem der Wirtschaft des Gutes vorstehen und jeden Morgen früh um drei Uhr nach Stall und Scheuer sehen. Dennoch bestand der kranke Vater darauf, daß er alle vier Wochen predigen mußte. So versah der Jüngling durch zwei Kriegsjahre die Geschäfte des Scholzenhofes, es war eine schwere Lehrzeit, die ihn zum Manne machte. Im Jahre 1760 wurde er als Diakonus nach Konstadt berufen, dort wurde er später Pastor und Senior der Diözese.
Aber auch von Konstadt aus besorgte er noch immer die Wirtschaft des Vaters, nach dem Tode desselben für den jüngsten kleinen Bruder, bis dieser mündig geworden war.
Von den drei Städten war Konstadt damals wohl die kleinste, sie war keineswegs zu allen Zeiten die harmloseste gewesen. Ihrem Gedeihen mag schon im Mittelalter geschadet haben, daß sie wiederholt in den Besitz kleiner Grundherren kam. Im fünfzehnten Jahrhundert setzte sich ein Bandenführer der Hussiten dort so fest, daß die schwachen Landesherren ihm die Stadt abkaufen mußten, und fünfundzwanzig Jahre später wurde der Ort ein Nest verwegener Raubgesellen, welche im Stegreif die ganze Landschaft unsicher machten, bis endlich die Breslauer im Bunde mit dem Landesherrn mitten im Winter einen Kriegszug gegen Konstadt unternahmen und die Räuberburg brachen, welche für eine der festesten in ganz Schlesien galt. Wahrscheinlich war es der Grund der zerstörten Raubfeste, auf welchem die Kirche und die Pfarrwohnung erbaut wurden. Zur Zeit des Großvaters war freilich in dem kleinen Ort jede Erinnerung an die alte wilde Zeit verschwunden, die Fuhrleute, welche dort rasteten, klagten über das schlechte Pflaster, und anspruchsvolle Reisende wollten die Sauberkeit der Gassen und Häuser nicht loben. Aber die Bürger lebten doch in einem mäßigen Wohlstand, denn ihre Stadt war ein Markt für viele deutsche Dörfer, und die zahlreichen Gutsherren der Umgegend hielten dort im Winter gern ihre geselligen Zusammenkünfte.
Von der Gemeinde wurde der Nachbarsohn freundlich aufgenommen und er vergaß dies seinen Konstädtern niemals. Er wurde ein wirksamer Prediger, der es mit seinem Kanzelamte ernst nahm. Daß er nach damaligen Verhältnissen wohlhabend war, erleichterte ihm den gastfreien Verkehr und half dazu, daß er auch unter den Anspruchsvollen vom Landadel und Militär sich fest und in gutem Einvernehmen behauptete. Dies Verhältnis zu vornehmer Nachbarschaft, welches in gelegentlichem Patenstehen und umständlichen Einladungen zur Kirmse Ausdruck fand, hinderte ihn nicht, mit einem gewissen Selbstgefühl die Kreise zu betrachten, welche sich im Bewußtsein höherer Geltung damals mehr als jetzt abschlossen. Er wies seinen Söhnen zuweilen mit guter Laune den Bettelbrief eines Herrn vom höchsten Adel, der ihn in sorgfältig geschnörkeltem Schreiben um ein Darlehen von einigen Dukaten ersucht hatte, und er gab dabei den Söhnen die gute Lehre, solchen, die sich für vornehmer halten, lieber zu geben, als von ihnen zu nehmen. Der Großvater war es auch, der aus den Kirchenbüchern der Nachbarschaft und aus Einzeichnungen in Familienbibeln die Stammtafel der Vorfahren zusammenstellte und mit Bescheinigung der Richtigkeit auf seine Nachkommen brachte. Als er 1799 noch in voller Kraft starb, hinterließ er fünf Töchter und zwei Söhne; die Töchter gingen durch Heirat in preußische Beamtenfamilien über, der älteste Sohn war mein Vater.
Mein Vater, Gottlob Ferdinand (geb. 1774) erhielt schon reichlicher und bequemer seinen Anteil an der Bildung der Zeit. Er verlor die liebe Mutter, als er acht Jahr alt war, und wuchs unter älteren Schwestern heran, bis er vom Großvater auf das Gymnasium nach Oels gebracht wurde; im Jahre 1793 ging er, um Mediziner zu werden, nach Halle, der großen Universität jener Jahre, welcher fast alle studierenden Schlesier zuzogen.
Das wohlgeordnete, ernste Wesen, welches er auf die Universität mitbrachte, Redlichkeit und treue Wärme für seine näheren Freunde, machten ihn dort während eines Aufenthaltes von fast vier Jahren zu einem wohlbekannten Mann, zum Vertrauten und Ratgeber vieler Jüngeren. Das erfuhr sein Sohn später aus rühmenden Schilderungen alter Kommilitonen. Unter den Studenten bestanden damals außer zwei verbotenen Orden als erlaubt die großen landsmannschaftlichen Verbindungen, von denen die der Schlesier die meisten Mitglieder zählte. Der Vater hielt zu seinen Landsleuten, aber bei seiner Abneigung gegen jede Art von Dienstbarkeit, die er aus dem Vaterhause mitgebracht hatte, weigerte er sich fest, ein Mitglied der Verbindung zu werden, obgleich ihm wegen seiner Länge und wegen des guten Wechsels, mit welchem er ausgestattet war, wiederholt Anträge gemacht wurden. In demselben Unabhängigkeitssinn hat er auch später vermieden, Freimaurer zu werden, in einer Zeit, wo der Orden größere Bedeutung für die Mitglieder hatte als wohl jetzt. Sein Aufenthalt in Halle fiel in das für Deutschland glücklichste Jahrzehnt des scheidenden Säkulums. Diese Jahre, in welchen die Bundesgenossenschaft von Goethe und Schiller über unsere Literatur so hellen Glanz ausstrahlte, waren auch für viele andere Richtungen der deutschen Volkskraft eine Zeit jugendfrischer Erhebung, welcher leider die Bürgschaft der Dauer fehlte. Die edlen Forderungen der Humanität waren in die Seelen der Regierenden übergegangen, der Wohlstand im Volk hatte sich gehoben, Handel und Industrie arbeiteten unternehmungslustig mit stärkerer Triebkraft, das deutsche Leben erblühte wie unter dem Sonnenlicht eines warmen Frühlingstages, während sich über Frankreich die wilden Wetter entluden. Auch das Studentenleben hatte gewonnen, die alte wüste Roheit war gemindert, die Schönseligkeit der letzten Jahrzehnte hatte den Universitäten eine größere Innigkeit der kameradschaftlichen Beziehungen hinterlassen, das Bedürfnis nach großen und edlen Gefühlen war in den jungen Seelen mächtig geworden. Der Vater hatte reichen Anteil an den geselligen Freuden jener Zeit, an den Fahrten nach Lauchstädt, wo er die Aufführungen des Theaters von Weimar bewunderte und einige der Schauspieler kennenlernte, an den Besuchen in der Gartenwirtschaft des wunderlichen Dr. Bahrdt und an den Zusammenkünften auf den Wohnstuben der Studenten, von denen die seine, ein geräumiges Zimmer, viel in Anspruch genommen wurde. Als der neue Doktor nach vier Jahren in das Vaterhaus zurückkehrte, brachte er einen Schatz von Erinnerungen mit, die ihm sein ganzes späteres Leben verklärten. Denn für die Gebildeten seiner Zeit hatte das akademische Zusammenleben weit höhere Bedeutung als in der Gegenwart. Wer damals aus dem freien Burschentreiben in die engen Verhältnisse der Heimat kam und in das Amt, welches er sich gewann, der bewahrte nicht nur in seinem Stammbuch die Freundschaftsversicherungen, die Symbola und die kurzen geheimnisvollen Andeutungen fröhlicher »Suiten«, an denen er teilgenommen, sondern auch in seinem Gemüt eine ideale Freundschaft für die Gefährten der schönsten Jahre, welche ihm das Schicksal gegönnt hatte. In einer Zeit, wo das Reisen noch beschwerlich und die Isolierung in dem Wohnort und Beruf viel größer war als jetzt, bildete die Genossenschaft der »Koätanen« einen Verband, welcher sich über die ganze Provinz erstreckte; sie saßen überall in den Städten und auf dem Lande als die kleinen Regenten ihrer Umgebung: Pastoren, Gymnasiallehrer, Juristen und Aerzte; jeder von ihnen wußte genau, wo die anderen hausten und wie es ihnen erging; und wer einmal reisen mußte oder in der Ferne irgendwie Rat und Beistand suchte, war sicher, alte treue Gesellen und bereitwillige Helfer zu finden, die sämtlich den liebsten Genuß darin fanden, bei einem guten Trunk die Freuden und Abenteuer der Studentenjahre immer aufs neue durchzusprechen. Auch ältere und jüngere Jahrgänge der Hallenser Kommilitonen wurden zu dieser stillen Bruderschaft gerechnet; sie hat nicht nur den geselligen Verkehr, auch das Geschäftsleben beeinflußt und nach dem Jahr 1806 sogar einen politischen Zusammenhang gefördert.
Ein Jahr nach seiner Heimkehr ließ sich der Vater als Arzt in der Kreisstadt Kreuzburg nieder. Das Einleben dort wurde ihm durch den Tod des Großvaters erschwert, denn er hatte jetzt um die Verheiratung von Schwestern und für einen jungen Bruder zu sorgen. Der neue Arzt fand in seinem Berufe viel zu tun, nicht nur bei Honoratioren und Bürgern, auch in den Dörfern der Umgegend; die Kranken erinnerten sich gern daran, daß er in irgendwelchem Grade zur Verwandtschaft gehörte. Der angestrengteste Teil seiner Tätigkeit aber war jenseits der Landesgrenze. Das Herzogtum Warschau war damals preußisch, dort fehlten die Aerzte, und eilige Boten kamen Tagereisen weit geritten, um in schweren Fällen Hilfe zu holen. Da gab es für den Arzt oft lange Fahrten auf elendem Wege, durch Kieferwald und fußhohen Schnee in federlosen Wagen oder offenen Schlitten; der Reisende saß in einen dicken grauen Mantel oder in die Wildschur gehüllt, den Arzneikasten unter dem Sitz, Säbel und Pistolen zur Seite. Denn die Grenzwälder waren durch streifendes Gesindel unsicher und im Winter durch hungrige Wölfe. Diese unholden polnischen Gäste trabten damals zahlreich und gefürchtet durch die Wälder, sie kamen noch viele Jahre später über die Grenze und umheulten im Winterschnee die Dörfer, und die ersten Wölfe, welche ich als Knabe sah, lagen tot auf einem Karren vor dem Steueramt der Vaterstadt, wo dem Erleger das Schußgeld gezahlt wurde, für den Wolf zehn, für die Wölfin elf Taler. – War der Vater auf dem polnischen Gut angekommen, so fand er zuweilen einen wilden Haushalt und fremdartige Gewohnheiten, und ihm begegnete auch, daß ein störriger Edelmann, dem er einen Trank aus dem Arzneikasten gemischt hatte, die Flasche mißtrauisch betrachtete und frug: »Was kostet's?« Als die Antwort nur die wenigen Groschen der Taxe nannte, warf er die Flasche verächtlich in die Stubenecke: »Solcher Bettel kann nichts nutzen!« »Dann bin auch ich unnütz,« sagte der Vater und verließ das Haus.
Im Jahre 1807 wurde die Grenze gesperrt und die polnische Praxis doppelt beschwerlich. Für das Land kam eine Zeit des härtesten Druckes und unsäglicher Not, die an der Grenze am meisten gefühlt wurde. Den Städten aber bereitete diese Angstzeit einen großen Fortschritt, die Selbstregierung. Als die Städteordnung in Kreuzburg eingeführt wurde, bot die Bürgerschaft dem Vater das Amt des Bürgermeisters an, und er entschloß sich, den neuen Beruf zu übernehmen. Ihm war trotz zehnjähriger Praxis nicht völlig gelungen die Gemütsruhe zu finden, welche der Arzt sich erwerben muß, wenn er nicht unglücklich werden will; vor jedem schweren Fall raubte ihm das Gefühl der Verantwortung die Nachtruhe, und vollends seit dem Kriege schnürten ihm die vielen Szenen von Armut und Not, die er als Arzt durchzumachen hatte, das Herz zusammen. Das neue Amt nahm bald seine ganze Kraft in Anspruch, er hatte nicht nur sich selbst in die Verwaltung, auch seine Bürgerschaft in das Selbstregiment einzugewöhnen; die erhöhten Anforderungen, welche an die Stadt gemacht wurden, die Regelung der Kämmerei, die Tätigkeit der Stadtverordneten, das Polizeiamt gaben viel zu tun. Und kaum war die neue Ordnung wirksam geworden, da kamen das schwere Jahr 1812 und die Freiheitskriege. Sie wurden auch für ihn eine große Zeit hochgespannter Tätigkeit und innerer Erhebung.
Ein Jahr lang waren die Lieferungen, welche der Stadt und ihren Dörfern zugemutet wurden, in die Ferne gegangen, jetzt brach der kriegerische Schwall über die Grenze und flutete durch die Stadttore. Den französischen Flüchtlingen folgten russische Vortruppen, Schwärme von Kosaken tummelten sich vor dem Rathause, Baschkiren zündeten auf dem Ringe ihre Lagerfeuer an, ein fremder Heerhaufen drängte den andern, und was der Stadt von dem rohen Volk zugemutet wurde, ging oft über das Mögliche hinaus. Der Landrat des Kreises, ein alter Herr, verließ sich gern auf den Bürgermeister, der unter ihm auch Kommandant des Landsturmes geworden war, und es vergingen Monate, wo die anstrengende Tätigkeit durch Tag und Nacht ihn fast unaufhörlich in Anspruch nahm. Am widerwärtigsten war dabei der Verkehr mit den fremden Verbündeten. Zwar die Verständigung gelang leidlich, da der Vater geläufig polnisch sprach, aber die Anmaßung und Raubsucht der niederen Offiziere war im Anfang gar nicht zu bändigen, bis die Erfahrung Hilfsmittel darbot. Die Flasche mit Wotka und der Tabakkasten standen immer auf dem Tisch des Vaters, ein schwerer Kavalleriesäbel lehnte an seinem Stuhl und ein großer Kantschu hing an seinem Arbeitstisch. Diese Waffe hatte ihm ein höherer russischer Offizier, ein Deutscher, geschenkt, damit er sie im Notfall gegen die Bundesgenossen gebrauche. Der Gast hatte in einer Ecke zugesehen, wie ein junger russischer Offizier tobend ohne Gruß in die Stube getreten war, um ungerechte Forderungen brutal geltend zu machen, da war er zornig aufgesprungen, hatte den Frechen mit seinem Kantschu gehauen und hinausgeschleudert und darauf dem Bürgermeister wohlwollend den Rat gegeben, dergleichen Käuze in dieser Weise zu bändigen. Der Vater wies in späteren Jahren das geflochtene Leder den Kindern und freute sich über den guten Erfolg, den er zuweilen damit gehabt hatte.
Doch die Anstrengungen, welche ihm selbst zugemutet wurden, waren für den Mann in der Vollkraft der Jahre unwesentlich gegenüber den Leiden seiner Stadt. Seit sechs Jahren war alles kleiner und dürftiger geworden: der Staat, der Wohlstand der Bürger und Landbewohner, das Selbstvertrauen und die Unternehmungslust. Jetzt waren die Gesunden und Kräftigen im Heer oder in der Landwehr ausgezogen, die Angehörigen der Mehrzahl darbten und jammerten. Und ohne Ende kamen neue Zumutungen an die Zurückgebliebenen, die das Letzte nahmen, was noch vorhanden war. Kein Ackerbürger der Vorstadt konnte mit Sicherheit am Morgen darauf rechnen, daß er mit seinem letzten Pferde die Tagesarbeit auf seinem Acker vollenden würde. Knecht, Pferd und Wagen wurden in der nächsten Stunde zum Vorspann genommen, und es war sehr zweifelhaft, ob er sie je wiedersah. Die Fleischer, Bäcker, Tuchmacher, Gerber und Schuster sollten dem Staat liefern und wieder liefern, und niemand wußten woher die Bezahlung kommen sollte. Täglich kamen die Leute zum Vater und klagten, auch Männer rangen die Hände und weinten im Jammer um ihr Geschick. Oft war es nur eiserner Strenge möglich, das Unvermeidliche durchzusetzen.
In den Sommermonaten von 1813, während der Kampf auf den Schlachtfeldern unentschieden hin und her wogte, schwand die Begeisterung, welche im Frühjahr die Herzen erhoben hatte; die furchtbare Empfindung, daß man das Letzte von Kraft und Habe darangesetzt habe und ohne Erfolg, nahm in den Seelen überhand. Die Menschen wurden nicht aufsässig, aber sie gingen wortkarg, in schlechten Kleidern, mit bleichen Gesichtern einher und sahen scheu aus der Ferne nach den Boten des Rats. Da flog die Kunde von der Schlacht bei Leipzig durch das Land, die Freude und der Stolz, den dieser Sieg in die Seelen brachte, war für die armen Grenzkreise eine Rettung aus Verzweiflung, in Wahrheit der Beginn eines neuen Lebens. Seitdem ging in Kreuzburg alles leichter, die Menschen hofften wieder. Noch mußte ihnen länger als ein Jahr viel Hartes zugemutet werden, aber es wurde verhältnismäßig gern ertragen, und wenn der Vater über die Straße ging, liefen die Leute, die ihn sonst schweigend, mit stillem Vorwurf im Blicke gegrüßt hatten, freudig zu ihm heran, frugen nach Neuigkeiten und äußerten ihr gutes Vertrauen. Die gemeinsam erlebte Not und Erhebung wurde von da ab ein festes Band zwischen dem Bürgermeister und der Bürgerschaft, beide Teile hatten einander kennengelernt.
Der Friedensstörer Napoleon war gebändigt. Die Kreuzburger wagten wieder für ihr eigenes friedliches Gedeihen zu arbeiten, auch ihr Bürgermeister richtete sich seinen Hausstand neu ein, er heiratete. In dem Hause des Pastor Neugebaur lernte er die Schwester der Frau Pastorin kennen, meine Mutter Henriette Albertine Zebe, deren Vater Prediger in Wüstebriese bei Ohlau war.
Ihr war die erste Jugend in der Tätigkeit für andere vergangen, zuerst auf einsamem Pfarrhofe im großen, kinderreichen Haushalt ihres Vaters, der in zweiter Ehe verheiratet war, dann im Hause der Verwandten zu Kreuzburg. Kurz nach der Schlacht bei Waterloo war die Trauung der Eltern, im Jahre darauf, nachdem man das Friedensfest feierlich begangen hatte, wurde ich als ältester Sohn am 13. Juli 1816 geboren.
Der junge Haushalt blieb nicht immer in Kreuzburg. Die sechs Jahre des Bürgermeisteramtes waren um, der niedrige Gehalt war dem Vater bis dahin gleichgültig gewesen, jetzt mahnte eine neue Pflicht an die Zukunft zu denken. Er nahm deshalb die Wiederwahl nicht an, ließ sich die Physikalsgeschäfte des Kreises übertragen und zog als Arzt in die Nachbarstadt Pitschen, wo er liebe Freunde und die Mutter nahe Verwandte hatte. Und ihr kleiner Sohn wankte auf seinen Beinchen zuerst in Pitschen über das unebene Pflaster. Aber schon nach zwei Jahren wurde der Vater zurückgerufen. Die Kreuzburger boten ihm aufs neue den Posten ihres Bürgermeisters an, diesmal auf Lebenszeit und mit einem Gehalt, der für damalige Verhältnisse hoch war. Von da beginnen die Erinnerungen des Sohnes.
Seit alter Zeit waren in der Familie wegen des Minorates die Geburtsjahre des Vaters und des Hofsohnes durch einen Zeitraum von 40, ja von 50 Jahren getrennt; auch später setzte sich dies Verhältnis fort, mein Vater war, obgleich ältester Sohn 37, ich bin 42 Jahr jünger als der Vater, und seit der Geburt meines Vaters sind jetzt, wo ich dies schreibe, 112 Jahre vergangen.
Aber zu dem alten Scholzenhofe in Schönwald bestand auch bei Lebzeiten meines Vaters ein gutes Verhältnis. Der Vater, welcher von den Geschlechtsgenossen als ältester der Familie betrachtet wurde, besuchte zuweilen den Hof, und ich erinnere mich aus früher Kinderzeit noch deutlich, wie er in dem alten Balkenhause am weißen Holztische saß, ihm gegenüber die breitschulterige Gestalt des Hofbesitzers. Im Hofe wurde gerade damals gegenüber dem hölzernen Wohnhaus ein neuer Ziegelbau aufgeführt, denn der Alte wollte seinem Sohn das Gut übergeben und sich auf den Auszug setzen. Sein Sohn, von stärkerer Lebenskraft und klugem Bauernverstand, wurde im Kreise ein einflußreicher Mann, er war auch ein unternehmender Landwirt, der als einer der ersten in der Gegend die Wasserröste des Flachses einführte.
In lebendiger Erinnerung ist mir der letzte Besuch auf dem Hofe, den wir abstatteten, als ich von der Universität zurückgekehrt war und mich zum akademischen Lehramt vorbereitete. Mein Vater ließ den Wagen vor dem Hoftor halten und wir traten durch die Nebenpforte ein. Am Brunnen stand die Tochter des Hauses, eine zierliche Gestalt in der Dorftracht, sie hatte den Arm über den Eimer auf dem Brunnentroge gelegt und lauschte vorgebeugt den Worten eines hübschen jungen Mannes in städtischer Kleidung. Es war der Schullehrer des Dorfes. Beide waren in so warmer Unterhaltung, daß sie unser Kommen erst bemerkten, als wir dicht neben ihnen standen. Der glänzende Blick, die geröteten Wangen und der Schatten von Betrübnis, welcher das unschuldige Antlitz des Mädchens überflog, als sie uns endlich erblickte, bewiesen, daß wir störend gekommen waren. Der junge Mann verschwand, der Hausherr wurde vom Felde geholt und der Besuch verlief in gebührender Weise mit Kaffee und Besichtigung des Hofes. Zuletzt führte der Wirt die Gäste mit Selbstgefühl zu dem massiven Getreidespeicher, den er sich mitten im Hofe erbaut hatte. Wir stiegen die Treppe zum Schüttboden hinan und er zeigte den großen Weizenvorrat, einige hundert Scheffel, die ganze Ausbeute des vergangenen Jahres, von der er sich noch nicht getrennt hatte, obgleich die neue Ernte nahe bevorstand. Er ließ die gelben Körner nachlässig von der Schaufel rinnen, wie der Geldmann eine Handvoll Goldstücke aus seinem Kasten hebt und fallen läßt, und frug bedächtig nach unserer Meinung, ob wohl der Preis des Weizens nach der Ernte steigen werde. Da er mir die Ehre erwies, sich dabei an mich zu wenden, so kramte ich vergnügt junge Weisheit aus, die ich im Hause des Amtsrats Koppe zu Wollup eingesammelt hatte, indem ich die Bedenken dagegen vorführte, daß der Landwirt überhaupt in solcher Weise spekuliere. Er hörte mich geduldig an, indem er stolz auf seinen Haufen sah. Als ich am Abend mit dem Vater wieder im Wagen saß, sagte dieser: deinem Rate wird er nicht folgen, denn die Hoffnung eines möglichen Gewinnes ist durch das ganze Jahr seine heimliche Freude. Darauf begann ich von der Base und dem Schullehrer, und bat den Vater, bei Gelegenheit ein gutes Wort für die jungen Leute einzulegen; aber ich erhielt zur Antwort, das wäre ganz vergebens, es wäre gegen alles Herkommen und der Stolz des Hofes würde das nie gestatten. Ihr ist bestimmt, einen Hofwirt zu heiraten, auch wenn es ein alter Witwer sein sollte. Und ich zürnte dem harten Bauernhochmut.