Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag

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Die Universität

Als ich zur Universität abging, schrieben die wackeren Lehrer Rühmliches über meinen griechischen und lateinischen Erwerb in das Schulzeugnis; sie waren, wie ich selbst, der Meinung, daß ich auf den gebahnten Wegen der klassischen Philologie fortgehen würde. Doch es kam anders.

An Ostern 1835 bezog ich die Universität Breslau. Der Uebergang aus dem wohlgeordneten Unterricht des Gymnasiums zu einer Tätigkeit nach freier Wahl wurde mir nicht leicht. Gerade für die Hauptkollegien eines jungen Philologen, für die der Textkritik, vermochte ich unter Professor Schneider keine Wärme zu gewinnen, seine Vorlesung über Platos Republik erschien mir öde und langweilig, und ich habe die Kälte gegen Plato, diesen schönen Mann der griechischen Philosophie, niemals besiegen lernen. Bald wandelte ich auf Seitenwegen. Ambrosch begann gerade als junger Professor seine Vorlesungen über Privataltertümer und antike Kunst, ihn hörte ich gern und ihm verdanke ich nicht wenig. Zarte Gesundheit und vielleicht Unvollkommenheit der Schulung haben ihn verhindert, vor seinem frühen Tode eine bedeutende Tätigkeit als Gelehrter zu erweisen, aber er war ein lebhafter feinfühlender Mann, der es verstand, die Zuhörer zu fesseln, und da ich von der Bibliothek des Oheims her allerlei Wissen und einige Anschauungen aus Kupferwerken mitbrachte, wurde mir bequem, an Bekanntes anzuknüpfen. Der Lehrer Ambrosch wurde mir in späteren Jahren ein werter Freund.

Wichtiger noch wurde dem jungen Studenten eine andere Vorlesung, welche Hoffmann von Fallersleben als Privatissimum las, die Handschriftenkunde. Ich war der einzige Zuhörer und erhielt die Stunde in seiner Wohnung. Durch ihn wurde ich in das weite Gebiet der germanischen Altertümer eingeführt. Er hatte im Lesen alter Handschriften ehrenwerte Fertigkeit gewonnen, hatte an großen Bibliotheken zu Wien und in Belgien selbst fleißig abgeschrieben, und war bekannt als findig und als behender Herausgeber. War seine Kenntnis altdeutscher Grammatik und die Schärfe seiner Kritik auch nicht von erstem Range, er erwies sich doch auf dem ganzen Gebiete seiner Wissenschaft, die damals in ihrer Jugendblüte stand, wohlbewandert. Da ich den Vorteil hatte, daß er sich ausschließlich mit mir beschäftigte, so erwarb ich leidliche Gewandtheit im Lesen alter Urkunden, nachdem ich in der ersten Stunde hilflos vor den langgezogenen Buchstaben der Eingangsworte gesessen hatte; ich las zu Hause deutsche Handschriften des Mittelalters, die er mir lieh, und kopierte für ihn einige Stücke, unter denen mir die Reisen von St. Brandan in einer Berliner Handschrift noch erinnerlich sind. Da ich ihm durch die Besuche in seiner Wohnung vertraulich wurde, gönnte er mir zuweilen auch Bekanntschaft mit den Gedichten, die er gerade selbst gemacht hatte. Der Einblick in die Werkstatt eines echten Lyrikers war sehr lehrreich. Er las oder sang in herzlicher Freude, seine Augen glänzten und am Schluß suchte er mit einem fragenden »Nun?« nach dem Eindruck. Ich erkannte bald die Manier, nach welcher er eine warme Empfindung und kleine Vergleiche, die flatternden Seelchen seiner Lieder, in Worten und Versen zusammenband. Oft freute mich's, zuweilen schien mir der Gedanke der Mühe nicht wert. Jedenfalls veranlaßten mich solche Mitteilungen nicht zur Nachahmung seiner Töne und Weisen, ich hatte die Empfindung, daß seine Art zu schaffen nicht meiner Anlage entsprach.

Ich bin Fuchs, ich habe ein weibliches Ideal, für das ich schwärme. Es ist eine Professorentochter, die mir gegenüber wohnt, einziges Kind, eine Mutter ist nicht vorhanden. Sie erscheint mir engelschön, brünett, eine edle Gestalt; näheres vermag ich nicht zu erkennen, wegen des kurzen Gesichts. Ich sehe sie am Fenster sitzen, ein wenig vorgebeugt, sie liest oder arbeitet, zuweilen sehe ich sie auf dem Balkon stehen, ganz in Schwarz, offenbar in Seide, und ich stelle mir vor, wie erhaben und liebenswert sie sein muß, wenn sie im Hause dem Vater gegenüber Tee bereitet oder in den Räumen ihrer stattlichen Wohnung Besuche empfängt. Auch ich sitze am Fenster und versuche heuchlerisch zu lesen, und ich sitze abends im Dunkeln und starre lange hinüber, zuweilen erblicke ich einen Schatten am erleuchteten Fenster, ich ahne, sie ist es, freilich konnte es auch der Vater sein. Ich weihe ihr begeistert unsichtbare Huldigungen, kaufe einen Veilchenstrauß und setze ihn im Glase auf den Tisch, ich gehe nachdenklich auf und ab und bilde mir ein, daß ich ihr vorgestellt werde, daß ich ihr sage, wie innig ich sie verehre, daß sie mir sagt, wie sie mir vor allen anderen Menschen vertrauen und mir ihr ganzes Schicksal mitteilen wolle, und über der Erzählung werden wir beide bewegt, sie legt ihr Haupt auf meine Schulter und ich wage, ihr das schwarze Haar zu küssen. Diese geheime Zärtlichkeit vermochte aber nicht über die Straße bis an ihr Herz zu dringen; das Flämmchen erlosch, weil ich meine Behausung wechseln mußte. Denn die Zahl meiner neuen Hemden wurde auffallend klein, und die Federdecke, welche mir die Mutter nur zu dick mit seinem Gänseflaum gefüllt hatte, wurde auffallend dünn; meine Wirtin schob das auf ein untreues Dienstmädchen, ich fühlte mich aber dadurch veranlaßt in eine andere Wohnung zu ziehen.

Ich bin immer noch Fuchs, und zwar bei den Borussen, und singe von dem Ruhm der Farben, welche nachträglich die des Deutschen Reiches geworden sind; ich lerne an den Kneipabenden mit leidlichem Erfolg Dünnbier in »Gelehrten« und »Doktoren« trinken und gewinne keinen Ruhm, wenn ich beim Hospiz mein Lied singe; ich besuche auch den Fechtboden, bleibe aber ein mittelmäßiger Schläger. In der Verbindung waren einige wüste Kumpane, mit denen wir anderen wenig verkehrten, und bald wurde uns das frische Burschenleben durch widerwärtigen Streit mit den übrigen Verbindungen und durch den Verruf, in den wir einander gegenseitig setzten, gestört; für mich war der Verlust nicht groß, ich hielt mit einzelnen fest zusammen, vorab mit früheren Pommern, welche aus Greifswald zugezogen waren. Diese waren sämtlich Mediziner, zuerst unser Senior Fischer, bei dem ich einige Nächte Krankenwache hielt, als ihm seine stattliche Nase abgeschlagen wurde, die wir durch kalte Umschläge veranlaßten wieder anzuwachsen, dann Danneil, Sohn des Gymnasialdirektors aus Salzwedel, ein lieber Gesell, der auch Verse machte, und etwas später Fritz Weber, der Dichter von »Dreizehn Linden«. Er hatte, als er zu uns kam, das lustige Studentenleben hinter sich und kam um zu lernen, er war reifer und männlicher als ich, und der Ruf seiner dichterischen Begabung war bei seinen Greifswalder Freunden bereits groß. Mir erschien er als Ideal eines Dichters, weit mehr als mein Professor, und ich sah mit großer Hochachtung auf ihn.

So lebte ich über ein Jahr dahin, trug verstohlen mein Korpsband und war auch nicht unfleißig; ich besuchte alle Vorlesungen von Ambrosch und Hoffmann, aber ohne festes Ziel, durch das Treiben in der Verbindung mehr aufgehalten als gefördert.

Da beschloß die akademische Jugend, nach längerer Zeit wieder einmal den großen Zobtenkommers zu begehen: feierlicher Auszug und Fahrt von vier Meilen nach der kleinen Stadt Zobten am Fuße des Berges, großer Kommers auf offenem Markte der Stadt, zuletzt Besteigen des Berges. Für diesen großen Zweck wurden die ärgerlichen Händel zwischen den Verbindungen während der Festzeit für nicht vorhanden erklärt. Die Präsiden des Kommerses wurden von den Verbindungen gestellt, auch ich war einer davon und trug das Festkostüm, einen unförmlich hohen Zweistutz mit Silberagraffe, welcher Stürmer hieß, beschnürtes Kollett, ungeheuere Kanonenstiefeln, an der Seite den Glockenschläger. Ich schlug auf dem Markte von Zobten mit der Klinge gebietend auf die Tafel und sammelte, als der Landesvater gesungen wurde, die Studentenkappen auf dem Schläger, stieg auch nach dem Kommers unter Fackelschein in meinen großen Stiefeln den Zobtenberg hinauf – keine bequeme Arbeit –, trank oben mit anderen fröstelnden Helden in einer Mooshütte den Kaffee und sah verschlafen die Sonne über Schlesien aufgehen. Das wäre nun ganz in der Ordnung gewesen; aber als wir nach der Oderstadt zurückkehrten, wurde eine Untersuchung gegen die Leiter des Festes eröffnet, zuerst wegen gewisser Versäumnisse bei der Anmeldung, wobei auch ich mit dreitägigem Aufenthalt im Karzer bedacht wurde, dann aber wegen der Verbindungen selbst, welche, gesetzlich verboten in Wirklichkeit geduldet wurden, bis sie sich wieder einmal zu übermütig rührten. Diesmal wurde gründlich aufgeräumt und fast sämtlichen Korpsburschen der Rat erteilt, die Universität zu verlassen. Danneil und ich blieben glücklicherweise von dieser Mahnung verschont, wahrscheinlich weil der Senat von unserer Unschädlichkeit überzeugt war. Dennoch hielten wir für ratsam, uns der allgemeinen Verstörung, welche über die Universität gekommen war, zu entheben. In der letzten Zeit war mir ein Berliner, Hollmann, ein hünenhafter, gescheiter Knabe, lieb geworden, er rühmte oft und innig sein großes Berlin, ich erbat und erhielt vom Vater die Erlaubnis, dorthin zu gehen.

Im Herbst 1836 kam ich nach Berlin. Mein großer Freund freute sich über mein Staunen und forderte Bewunderung für alles Neue und Prächtige, das er mir vorstellte. Er war gekränkt, weil ich den Breslauer Ring für schöner erklärte als den Gendarmenmarkt und nicht zugeben konnte, daß die Feldherrnstatuen um die Hauptwache viel großartiger wären als unser Blücher auf dem Salzring. Er räumte mir sehr ungern ein, daß Breslau in Kirchen mehr leiste als sein Berlin mit der großen Domschachtel. Aber als er die breiten Straßen seiner Stadt vorzeigte, wurde er unwillig, wenn ich ihm verstockt entgegenhielt, daß sie aussehen wie ein weites schlotteriges Kleid an einem mageren Leibe, denn auf der Leipziger Straße konnte man 1836 bequem die Menschen zählen so weit das Auge reichte, das war bei den dichtgefüllten Gassen Breslaus doch unmöglich. Freilich gegen das Königsschloß, das Brandenburger Tor und das Museum konnte wieder ich nicht aufkommen, und als ich die Räume des Museums betrat, war er mit der Wirkung zufrieden und wunderte sich nur, daß ich an den Antiken, für die ich etwas mehr Kenntnisse und Verständnis mitbrachte, größeren Anteil nahm als an den Bildern.

Auch das Tagesleben der Stadt war mir fremdartig und unheimisch. Wir Schlesier sprachen behaglich und breit mit dem Vordermunde, die Berliner benutzten beim Sprechen energisch alles, was im Munde vorhanden ist, und außerdem, wenn sie hochmütig wurden, noch die Nase; wir daheim waren lässig und behäbig im Umgange und ertrugen mit gutherziger Höflichkeit Eigenheiten in Sprache und Benehmen der anderen, die Berliner faßten lauersam und spottlustig alles, was ihnen ungeschickt und lächerlich erschien, gaben scharfe Antwort und freuten sich des Angriffs. Wenn am Spätabend das Volk der Straßen aus den Schenken kam, hatten auch meine Schlesier gelärmt, und sooft zwei Haufen zusammenstießen, hatten sie einander reichlich Schimpfworte gegönnt und waren dann friedlich nach Hause gegangen. In Berlin gab es bei solchem Zusammenstoß nicht lange Beschwerden, sondern sogleich Hiebe und jeden Abend hörten wir aus unseren Stuben – wir wohnten auf dem Hackeschen Markt – den scharfen Lärm der Prügelei.

Mein Stubengenosse fand in Berlin einen Kreis alter Freunde noch vom Gymnasium her, er hatte mir oft von ihnen erzählt, wahrscheinlich auch mich lobend gegen sie erwähnt, und als ich nun bei ihnen eingeführt wurde, kam mir ihre Weise der Unterhaltung, das unablässige Angreifen und Schrauben, und die schonungslose Kritik, mit welcher jede Aeußerung des einen von den andern begutachtet wurde, höchst ungemütlich vor, und ich zweifelte, ob ich je mit ihnen auf einen guten Fuß kommen würde; ich saß verschüchtert und wortkarg, und ich meine, daß auch ich entschieden mißfiel und daß Hollmann für sein Lob hinter meinem Rücken verspottet wurde, denn der liebe Gesell war nachher gedrückt und bekümmert. Doch seine und meine Sorge erwies sich als unnütz. Es ergab sich bei kühlem Trunke zuerst einige Uebereinstimmung in Hauptpunkten, worauf nachsichtige Anerkennung folgte, die sich bis zu achtungsvoller Freundlichkeit erwärmte, woraus endlich eine rechtschaffene deutsche Jugendfreundschaft erwuchs, die jene Jahre überdauerte. Nur sehr wenige meiner Berliner können noch den Dank lesen, den ihr alter Gesell ihnen abstattet für hingebende Freundschaft und für den bleibenden Gewinn, den der Umgang mit ihnen seinem späteren Leben gebracht hat. Der älteste in unserem Kreise war Adalbert Kuhn, zugleich der, welcher am sichersten in seinen Schuhen stand und im Wissen am weitesten vorgedrungen war. Neben seinem Sanskrit las er auch Schriftwerke des deutschen Mittelalters, er sammelte schon damals eifrig die kleinen Ueberlieferungen unseres Volkes: Sagen, Märchen und Gebräuche und wußte diese in kühner Entschlossenheit mit den mythischen Vorstellungen seiner Inder in Verbindung zu setzen. Ihm war das Lehren eine herzliche Freude, er veranlaßte mich, vergleichende Grammatik bei Bopp anzunehmen, und bestand darauf, mir im Sanskrit selbst Unterricht zu geben. Aber wie scharf sich in seiner ganzen Erscheinung auch der Lehrer und Philolog darstellte, er war zugleich der heiterste Genosse in unserem Kreise, eine innerlich frohe Natur, zuverlässig, von einer redlichen Offenheit, die immer wohltat. Und sooft wir in späteren Jahren zusammenkamen, hatte unser Verkehr den doppelten Reiz alter Kameradschaft und der Bundesgenossenschaft auf einem Teil des Gebietes, in welchem seine geistige Arbeit sich bewegte. Nur in einem Punkte konnte er mich so wenig als die andern zu seiner Ansicht bekehren. Er hatte schon als Student für sich die neue Rechtschreibung angenommen, und als im Jahr 1875 die Schulmeister und Babys den großen Sieg über die Schriftsteller und deutschen Leser davontrugen, da war mein alter Freund einer der eifrigsten Vorkämpfer der siegreichen Partei.

Ein weit anderer Kumpan war Julius Gerloff, schmuck, mit hübschen männlichen Zügen, noch ganz Student, ein prächtiger Kamerad, empfänglich für jeden Scherz und von unübertrefflicher Dauer an geselligen Abenden. Er besaß ein ungewöhnliches Geschick, auch größere Gesellschaften durch Spiele und Aufführungen zu unterhalten, und für solchen Hausgebrauch eine gefällige poetische Begabung, er war ein echtes Berliner Kind, vertraut mit allem, was damals die Stadt beschäftigte, er kannte jedermann, der irgend Ruf und Namen hatte, war bei dem Kampf der Damen Löwe und Faßmann, der Crelinger und Hagen mit ganzem Herzen beteiligt und wußte in sorgloser Laune über sich selbst und andere zu lachen. Was er aber vor vielen jungen Männern voraus hatte, die sich wie er an dem Berliner Treiben lebhaft beteiligten, das war seine ernste Freude an allem, was wirklich gut und groß war. In unserem Kreise, an dessen Mitgliedern er warmherzig hing, war er mit seiner Rührigkeit und Unternehmungslust die treibende Kraft. Ihm wurde später bei seiner Anlage und der Vielseitigkeit seiner Interessen der Uebergang in das Amt nicht leicht, er verlor, nachdem ich Berlin bereits verlassen hatte, in einem Säbelduell ein Auge und litt lange an den Folgen des schweren Hiebes. Endlich übernahm er eine Stelle in der Verwaltung und endete schon im blühenden Mannesalter. Aber solange er lebte, blieb er mir ein eifriger und ehrlicher Freund. Und oft, wenn ich seither etwas Großes erlebt, oder auch, wenn ich mich eigener Erfolge gefreut habe, dachte ich seiner und sah seinen Schatten an meiner Seite.

Zu dem Kreise gehörten ferner junge Männer der Familien Cochius und Koppe, ihre Väter waren Landwirte auf großen Staatsgütern in verschiedenen Gegenden der Mark, jeder hatte einen Sohn auf der Universität und ältere und jüngere Söhne auf anderen Bildungsanstalten Berlins. Unter ihnen war der Jurist Bernhard Cochius der Politiker unserer Gesellschaft, welcher durch die Bestimmtheit seines Urteils und die Wucht seines Wesens über uns andere eine gewisse Herrschaft ausübte. Seine tüchtige Kraft ging zu früh verloren, er starb als junger Beamter. Unter den Brüdern Koppe stand der Jurist Moritz, der später auf den Wunsch seines Vaters zur Landwirtschaft überging, mir an Jahren und Zuneigung am nächsten, er war nach dem Ausspruch Gerloffs der beste von uns, immer wahr, pflichtgetreu, zuverlässig.

Was mir unter den neuen Bekannten zuerst gefiel, war das lebendige Interesse an Literatur und Poesie. Alle hatten gut gelesen und fanden nach deutscher Weise ein Vergnügen darin, das Schöne, was sie empfunden hatten, zu erörtern, ein neues Buch, die Aufführung eines großen Trauerspiels, Shakespeare, Schiller, Goethe wurden eifrig besprochen und die begeisterte Freude daran verschönte die einfachen Zimmer, die Gesichter, die Zinnkrüglein, aus denen wir gern tranken. Glücklicherweise, ohne daß wir einander durch eigene dichterische Versuche lästig fielen. Zwar waren einige von uns, Kuhn, Gerloff und ich, ganz bereit, Verse zu machen, aber wir übten unsere Fertigkeit in anspruchsloser Weise, am liebsten an Geburtstagen der Freunde durch Festspiele, welche dann wohl aufgeführt wurden und deren Inhalt den Gefeierten nicht immer behaglich war. Als ich es doch unternahm, ein Trauerspiel anzufangen, das auf der Universität Prag unter Hus verlaufen sollte, verbarg ich das Werk sorgfältig vor den Augen meiner spottlustigen Freunde, und ich tat recht daran, denn es war eine unreife Schülerarbeit, die über eine Anzahl Szenen nicht hinauskam.

Aber auch in meiner Wissenschaft gewann ich eine ganz neue Erhebung; ich wurde Hörer von Karl Lachmann. Gleich als ich mich bei ihm meldete und einen Gruß von Hoffmann ausrichtete, gefiel er mir sehr, das feine Lächeln, mit dem er meine Reden anhörte, seine ruhige nachdrückliche Weise zu sprechen, der klare Blick seines Auges. Vollends in den Vorlesungen. Er war damals kein gesuchter Lehrer und hatte nur ein kleines Auditorium, er bot auch nicht, was die Zuhörer im Anfange fesselt, glänzende Einleitungen und große Ueberblicke; er begann mit Einzelheiten und setzte willige Hingabe voraus. Aber was er gab: erklärende Tatsachen, kritische Bemerkungen zu einzelnen Stellen, das waren lautere Goldkörner, die er unablässig ausstreute. Es war alles so sicher, klar, eigenartig und neu, daß der Hörer die Empfindung erhielt, den Gewinn großer Arbeit des Lehrers zu erhalten, und sich nur beeilen mußte, das viele Wertvolle einzuheimsen und nach Hause zu tragen. Seine Vorlesungen über Catull, die Nibelungen und über Literaturgeschichte des Mittelalters wurden für mich Grundlagen meines bescheidenen Wissens. Die Vorlesungen, welche ich bei anderen Lehrern annahm, besuchte ich unregelmäßig, zuweilen aus Trägheit, dann aber auch deshalb, weil meine Fähigkeit, Neues aufzunehmen, überhaupt nur mäßig war. Noch jetzt bin ich der Meinung, daß zwei Stunden Lachmannscher Vorlesungen genügende Tagesarbeit für den Hörer waren. Ich aber hatte außerdem noch eine große Zauberwelt von Dichterarbeit, von Schauspielkunst und von kräftigen Bildern, die das Tagesleben mir zuführte, zu verarbeiten.

Da die weite Entfernung Ferienreisen nach der Heimat untunlich machte – es gab noch keine Eisenbahn –, gewann ich Zeit, mich in der Mark umzusehen, und wurde bald Gast auf der Domäne Dreetz, wo der Klan der Cochius seinen Stammsitz hatte, und regelmäßiger Gast auf Amt Wollup, wo Koppe zwei große Staatsgüter beherrschte.

Einige von uns wandern zu Fuß nach Wollup. Es ist der erste Besuch. Wir betreten den großen Hof, dessen Grundriß für einen Fremden nicht alsbald verständlich ist, und treffen vor dem niedrigen Wohnhause sogleich auf den Amtsrat: mittlere Größe, faltiges Gesicht, das von Luft und Sonne gerötet ist, buschige Brauen über den scharfen grauen Augen. Er mustert die Kameraden seiner Söhne mit prüfendem Blicke, sein Sohn Moritz nennt die Namen, er heißt uns willkommen und geht in seinen Geschäften weiter. Wir werden in die Fremdenzimmer geführt und suchen uns schnell in eine Verfassung zu setzen, welche dem Wanderer im Staube des Lebens vor den Aufgaben edler Geselligkeit geziemt. Mehrere von uns fällen ein sehr abfälliges Urteil über die Halsbinde des einen, eines Schlesiers; Moritz hilft aus. Wir treten in ein großes Eßzimmer: die Frau Amtsrätin, die Tante, vier Töchter. Wir werden gütig begrüßt, schnell an den Frühstückstisch gesetzt und sind bemüht, durch aufrichtige Würdigung alles dessen, was vor uns sitzt und steht, zu gefallen. Dann wandern wir mit den Töchtern des Hauses durch den Garten. Emma frägt und unterhält, Julie schwärmt, Marianne und Sophie, die jungen Gazellen, sprechen miteinander durch flüchtigen Blick ohne Worte, und uns umkreist geschäftig ein guter Geist, welcher wohlwollende Annäherung vermittelt, und dieser Geist ist Herr Pickwick. Wir erkennen, daß wir uns in einem Reiche bewegen, im welchem Boz als König herrscht, auch wir werden von den jungen Damen schelmisch darauf angesehen, ob wir mit den Begleitern des lieben Herrn Pickwick einige Aehnlichkeit haben. Aber wir haben keine andere als die, daß wir Sam Weller für die Krone aller Bedienten halten, wir fangen an, uns behaglich zu fühlen und erweisen uns im ganzen als leidlich und menschlich.

Bald aber sind wir heimisch wie alte Bekannte, wir machen Vorschläge zu Gesellschaftsspielen und gemeinsamen Unternehmungen, wir besprechen und erfinden die Aufführung von Sprichwörtern, erweisen Gewandtheit, alle Kostümschwierigkeiten zu überwinden und treten in Verbindung mit dem Handwerker des Hofes, dem Böttcher, einem seltenen Charakter, welcher das Geschick hat, jede denkbare Hilfsarbeit zu leisten.

Allmählich umfängt uns die stille, unwiderstehliche Macht, welche auf wohlgeordnetem Gute die regelmäßige Arbeit, das Zusammenwirken des gebietenden Menschengeistes und der willig dienenden Natur ausübt, wir werden bekannt mit der Wirtschaft und mit den gescheiten Beamten, nicht lange und auch wir blicken mit Selbstgefühl auf den prachtvollen Stand der Feldfrüchte, auf die Füllen der Ackerpferde und auf die Werke der Molkerei, in welcher die Tante als Gebieterin waltet. Und auch wir werden stolz auf unseren Hausherrn und seine Herrschaft über Hof und Flur, und wir erhalten eine herzliche Achtung vor seiner ungewöhnlichen Männerkraft, die sich in Erfindung und Befehl, im Verkehr mit den Beamten und Arbeitern kund gibt; es kommt uns vor, als ob auch wir Anteil hätten an dem kurzen Lob, das er gelungener Arbeit zuteilt, und wir fühlen etwas von der Scheu und Ehrfurcht, mit welcher der ganze Hof zu ihm aufsieht.

Koppe war wohl der bedeutendste von den Landwirten, welche in der Nähe und unter dem Einfluß Thaers heraufgekommen sind, und seine Größe beruht zum Teil darauf, daß seine vorwiegend praktische Natur auch Thaer gegenüber die Selbständigkeit bewahrte. Wenn man Vergängliches und Bleibendes in unserer Landwirtschaft abschätzen will, so kann man ihn als den deutschen Musterwirt der geldarmen Zeit bezeichnen, in welcher die Schwäche des Betriebskapitals allgemein, die Verbindung des einzelnen Gutes mit der Verkehrswelt noch umständlicher und weniger sicher war, und in der deshalb als Norm gelten mußte, das Landgut allmählich durch zweckmäßige Fruchtfolge und ein richtiges Verhältnis zwischen Viehstand und Fruchtbau in seiner Kraft zu steigern. Ihm war deshalb das Gut ein kunstvoller Organismus, welcher sich durch seine eigenen Erzeugnisse und richtiges Gleichgewicht der Teile zu erhalten und vorwärts zu bringen hatte. Welchen Wert jeder einzelne Betriebszweig für die Erträge des Gutes habe, suchte er durch sorgfältigste Buchführung festzustellen, deren Grundsätze er mit unablässiger Sorgfalt prüfte und besserte. Er war einer der ersten, welcher im Oderbruch eine Zuckerfabrik in großem Stil anlegte, und er würdigte die hohe Bedeutung des neuen Industriezweiges vollständig, aber diese wie alle anderen landwirtschaftlichen Fabrikanlagen sollten vor allem der Landwirtschaft des Gutes dienen, deshalb sollte die Menge der selbstgebauten Rüben nicht größer sein, als mit einer geordneten Fruchtfolge des Gutes verträglich war, und wenn er die kleinen Landwirte in seiner Nähe zum Rübenbau ermutigte, so stellte er auch ihnen als höchsten Grundsatz auf, daß nicht der zufällige Gewinn eines Jahres für sie die Hauptsache sein dürfe, sondern die Verbesserung des Bodens und die Steigerung des Ackerwertes für den gesamten Fruchtbau in fest geordneter Folge. Nur eine Blüte der Landwirtschaft sollten auf den dafür geeigneten Gütern diese Anlagen sein. Immer erschien ihm der Bau der Halmfrüchte als die eigentliche Grundlage der deutschen Landwirtschaft und jedes größeren Gutes.

Vieles Neue ist seitdem in die deutsche Wirtschaft gekommen. Neue befruchtende Stoffe werden jetzt von der Westküste Amerikas, aus unsern Bergwerken und chemischen Fabriken dem Landbau zugeführt; mit dem vergrößerten Wohlstand sind die Ansprüche, welche unsere Küche an das Fleisch der Nutztiere macht, gesteigert, und die Viehzucht hat eine andere Bedeutung und neue Richtungen gewonnen; vieles drängt zu Beschränkung der Produktion auf einzelne Zweige der Landwirtschaft, welche nach der Ortslage gerade vorteilhaft sind. Und doch hat, so scheint mir, seine Lehre in den Hauptsachen noch heute die höchste Berechtigung: die vorsichtige planvolle Steigerung der Bodenkraft, seine Hochschätzung der Brotfrüchte, seine Methode der Buchführung. Unser Getreidebau ist die letzte und sicherste Grundlage unserer politischen Kraft und Selbständigkeit. Und man darf an dieser Wahrheit nicht irre werden, wenn ihn auch noch durch einige Jahrzehnte die fremden Einfuhren gefährden.

Koppe war als Sohn eines kleinen Landmannes in seiner Jugend selbst hinter dem Pfluge hergegangen, hatte dann als Lehrer in Möglin eine einflußreiche Tätigkeit erwiesen, die größte aber, seit er die Pacht der beiden Staatsgüter Wollup und Kienitz übernommen hatte; dort wurde er das Musterbild eines Hofherrn und guten Lehrers, dem eine ganze Schar von tüchtigen Landwirten: Söhne, Schwiegersöhne, zahlreiche Eleven ihre Bildung verdanken.

Als ich nach Wollup kam, war ein älterer Stamm seiner Schüler, die Peyer, Kühne, v. Sänger, bereits in selbständiger Tätigkeit, doch erfuhr ich genug von ihnen, um sie bei späterer Bekanntschaft nicht als Fremde zu betrachten; von ihnen wurde Sänger mir auch ein werter Parteigenosse in der Politik. Besonders anmutig war das Verhältnis, in welches sich der gefürchtete Gebieter des Hofes zu den akademischen Genossen seiner Söhne stellte. Er ließ sich unser unruhiges Treiben mit guter Laune gefallen, hörte die kecken Behauptungen nachsichtig an, lachte herzlich über unsere Gelegenheitsverse, in deren Vorführung wir nicht säumig waren, er gönnte uns anders geformten Gesellen auch menschlichen Anteil, und wo er in unseren Fragen ein Interesse an seiner Tätigkeit erkannte, war er stets bereit zu belehren. Ich aber begann in aller Stille sein Werk »Ackerbau und Viehzucht« zu lesen, gab mir Mühe, das Leben, welches mich so wohltuend umgab, zu verstehen, und betrachtete es immer als einen Gewinn, wenn ich ihn bei einem Gang in die Felder oder bei einer Fahrt begleiten durfte, denn jedesmal brachte auch ich dabei eine kleine Ernte zurück, ich erkannte die Größe seiner Gesichtspunkte, die Klarheit und Sicherheit seines Urteils auch auf anderen Gebieten als in seiner Landwirtschaft, überall war er ein starker und fester Mann in der vollen Kraft eines planvollen Schaffens. Bald hing ich mit herzlicher Verehrung an ihm und er wußte das wohl auch.

Es kam die Zeit, wo meine Doktorschrift erwogen werden mußte. Mit der Unbefangenheit eines Neulings wählte ich eine schwierige und umfangreiche Aufgabe, die sich in Form einer Dissertation kaum behandeln ließ: über die Anfänge der dramatischen Poesie bei den Deutschen. In der Geschichte unserer Literatur war damals wenig darüber zu finden, die Forschung war hier auffällig zurückgeblieben, auch von den handschriftlichen Ueberlieferungen mittelalterlicher Dramen war noch sehr wenig veröffentlicht. Doch gelang es, nach dem, was mir zugänglich wurde, wenigstens in einigen Punkten das Richtige zu treffen und eine Art Bild zu geben von der Verbindung der alten geistlichen Schaustellungen in der Kirche mit uralten dramatischen Aufführungen des Volkes, welche zum Teil noch aus der Heidenzeit stammten. Lachmann, damals Dekan, war mit der lateinischen Arbeit leidlich zufrieden, die Schrift wurde nach dem Druck auch von anderen einige Zeit bei größeren Werken benutzt, bis sie allmählich durch die fortschreitende Einzelforschung überholt ward. Meine mündliche Doktorprüfung fiel nicht gerade glänzend aus, in der Philosophie war ich unter Trendelenburg in dem Gegensatz zwischen Denken und Sein steckengeblieben – mit der Philosophie Hegels habe ich mich erst als Privatdozent ernsthaft beschäftigt – und von Ranke hielt mich seine Geschichte der römischen Päpste fern, das gefeierte Werk jener Jahre, in welchem seine Methode, die Charaktere so darzustellen, wie sie etwa einem vornehmen Italiener aus der Zeit Malchiavells erschienen wären, meiner teutonischen Empfindung wehe tat, weil sie mir die Wahrheit der Schilderungen zu beeinträchtigen schien. Und ich gewann bei der Prüfung nur gerade das Lob, welches erforderlich war, um zu den Ehren eines Doktors befördert zu werden.

 


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