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Jahre vergingen; langsam für einen heißblütigen Alten, welcher mit Ungeduld auf die Erfüllung seiner liebsten Hoffnungen harrte, langsamer noch für den Sohn, dem die Hoffnung und Freude seines Lebens im kalten Strome versunken war, endlos und unerträglich für einen entlassenen Knecht, dem alles Hoffen und Harren beendet sein sollte, wenn er in die Heimat zurückkehrte.
Wenige Meilen von dem Turme, in welchem einst die jungen Gatten ihr Heimwesen geführt hatten, lag mitten unter hohen Fichten ein kleiner Landsee, tief eingesenkt in rundem Talkessel. Vor Zeiten war dort ein Heiligtum der heidnischen Preußen gewesen, und die Leute der Umgegend wußten von dem See viel Unheimliches zu erzählen. Darum hatten christliche Priester die Stelle den vierzehn Heiligen geweiht, welche sich als hohe Nothelfer den schwer geängstigten Gewissen zuneigten. Am Rande des Wassers standen rohe Holzbilder der seligen Fürsprecher, mit bunten Farben gemalt, jedes unter einem kleinen Schirmdach; ein umhegter Raum mit einer Kanzel vereinte zu frommem Dienst die Wallfahrer, welche im Sommer aus der Nähe und Ferne herzukamen. Für diese Zeit lebte ein frommer Bruder aus dem Orden der Predigermönche in kleiner Holzhütte als Wächter des Heiligtums und als Geistlicher der Wallenden. Solange die Landsknechte in der Nähe lagen, unterblieben die Wallfahrten, denn niemand wagte sich gern in die Nähe der Gewalttätigen; seitdem prangten die Heiligen in neu gemalten Gewändern, und das Kloster genoß wieder die frommen Spenden. Auch Dobise schlich um das schwarze Wasser, er diente dem Mönch und flocht Fichtenkränze für die Heiligen. Jahr und Tag war er umhergeirrt, er selbst wußte nicht wo, bald hatte er armen Stammesgenossen, mit denen er sich durch Sprache und geheime Zeichen verstand, in ihrer Wirtschaft geholfen, bald war er mit heimatlosem Volk und Wegelagerern gewandert; aber nirgends vermochte er zu haften, denn immer zog es ihn in die Nähe der Stadt, in welcher Hans Buck, wie er annahm, seiner harrte. Zuweilen war er heimlich bis zur Grenze des Stadtgebiets gelaufen, hatte an den Steinpfeilern und Warten gekauert und nach der Stelle hinübergestarrt, wo die Türme von Thorn in der Dämmerung lagen. Im vergangenen Herbst war er dem einsamen Mönch ein willkommener Diener gewesen, den Winter hauste er allein unter dem Holzdach der Klause in furchtbarer Verlassenheit zwischen Wölfen und Krähen, fing Waldtiere in Schlingen und richtete Vögel im Bauer ab. Jetzt trieben die Fichten neue Knospen, in dem runden See spiegelten sich wie in einem großen Auge die Wolken des Himmels, der Mönch war angekommen, und Dobise vernahm wieder die Stimme eines Bekannten. Er saß am Saum des Waldes und erwartete die Heimkehr des Bruders, welcher am Morgen aufgebrochen war, ohne ihm zu sagen wohin, und sich den ganzen Tag verweilt hatte. Als er den leisen Schritt des Mönches hörte, wandte er den Kopf. »Ist es wahr, Vater Pankratius, daß die große Glocke, welche sie bei St. Johannes aufgehängt haben, ihre Stimme nur hören läßt, wenn zwölf Mann am Strange ziehen?«
»So ist es«, antwortete der Mönch.
»Und die Böttcher ziehen«, fuhr Dobise kopfschüttelnd fort. »Ich möchte wohl ansehen, wenn sie die Glocke schwenken, und ich möchte den Gesang hören.«
»Mancher sehnt sich nach dem, was er verloren hat«, sagte der Mönch traurig, und erfüllt von den Ereignissen des Tages, setzte er vertraulich hinzu: »Es leben noch andere in der Gegend, welche sich um die Thorner in der Stille grämen, und sie gehen dich nahe genug an. Sieh dorthin, wo jetzt die Sonne schwindet; hinter dem Holze liegt eine Stadt, und in der Stadt steht ein Turm, dort hat einst dein Junker Georg mit Frau Anna, seinem Weibe, gewohnt.«
Dobises Augen zwinkerten: »Ihr kommt von dort, Vater?«
»Ich hatte mit dem neuen Stadtschreiber zu tun«, antwortete Pankratius abbrechend und schritt seiner Klause zu.
Am nächsten Morgen fand der Mönch das Lager des Knechtes leer, und niemand antwortete auf seinen lauten Ruf. Zu derselben Zeit lief Dobise wie ein Hündlein, welches eine Spur verfolgt, durch Wald und Heide der Landstadt zu. Sobald das Tor geöffnet wurde, wand er sich durch die Gassen, das Auge unverwandt nach dem Turme gerichtet. Als er Leute in den Schloßhof gehen sah, wagte auch er sich hinein und duckte sich hinter einem Haufen Bauholz in die Ecke. Nicht lange, und die Tür des Turmes öffnete sich, ein kleiner Mann mit faltigem Gesicht trat heraus, drückte ein Bündel Papiere unter den Arm und schritt über den Schloßhof der Stadt zu. Dobises Augen funkelten in der dunklen Ecke wie zwei Leuchtkäfer. Wie die Sonne höher stieg und ihr warmes Licht die düstere Masse des Turmes beschien, öffnete sich die Tür wieder, auf der Schwelle stand ein junges Weib in Witwentracht, sie hielt einen Knaben im Arme, der mit der Hand lustig eine Gerte schwenkte. Bald setzte sie ihn auf die Schwelle und ging an den Brunnen. Dobise lachte über das ganze Gesicht, er kroch hinter dem Holze näher heran, und da er die Frau in einiger Entfernung merkte, lief er schnell auf den Kleinen zu, hob die Gerte auf, welche diesem entfallen war, gab sie ihm in die Hand und schlüpfte in seinen Versteck zurück. Am Abend saß er vor der Hütte des Mönches, schnitzelte über Holzstäben und sprach mit sich selbst: »Ich habe unserm Junker den ersten Wagen gebaut, als er zu spielen anfing, jetzt mache ich einen neuen für den jüngsten Herrn. Wenn Lips Eske wüßte, was ich weiß.« Als der Mönch die kleine Glocke zum Abend geläutet hatte, fiel Dobise vor ihm nieder und bat: »Segnet mich, Vater.«
»Was liegt dir im Sinn, mein Sohn?« fragte Pankratius verwundert.
»Ich muß fort, ehrwürdiger Vater.«
»Wohin, du Tor?« fragte der Mönch.
»Wer weiß, wohin, Vater.« Am nächsten Morgen war der Flüchtling wieder verschwunden, und diesmal kehrte er nicht zurück. Aber auf der Schwelle des Turms stand ein kleiner, säuberlich geschnitzter Wagen als Spielzeug für das Kind.
Wenige Wochen später stand Georg zu Frankfurt am Main in der Herberge des Hochmeisters, breitete auf dem Arbeitstisch des Herrn neugefertigte Urkunden aus und stellte daneben einen Beutel mit Geld. Der feurige Jüngling war zu einem ernsten, stillen Manne geworden, lange hatte er an seiner Wunde gelitten und nach der Genesung viele Mühe darangesetzt, bevor seine Linke die Arbeit der verlorenen Hand verrichten lernte. Jetzt versah er bei dem Hochmeister, wenn dieser mit seinem unsteten Haushalt zu Frankfurt weilte, die vertraulichen Geschäfte der Kanzlei und arbeitete, sooft er Muße hatte, als freiwilliger Helfer bei einem angesehenen Kaufmann, welcher seinem Vater von Venedig her befreundet war. Heut sah er auf die Schrift der Urkunden, welche er nach Preußen senden sollte, und sagte trübe zu sich selbst: »Die alte Handschrift ist wiedergewonnen, aber das Lautenspiel finde ich niemals wieder.« Er betrachtete den Beutel. »Im sparsamen Hause zu Thorn wurde das Geld gesammelt, und in der Fremde verwendet's leichtherzig ein anderer.«
Der Hochmeister trat ein und wog vergnügt den schweren Beutel. »Dies sind die Rößlein, welche mich eine Strecke Wegs vorwärtsbringen sollen, ich fürchte, sie werden nur allzuschnell auseinanderspringen. Nimm auch dir einen Anteil davon, Jörge, ich denke, daß ich in deiner Schuld bin; und hör', geh' noch heut zum Goldschmied. Die goldene Kette, welche er mir wies, habe ich lange begehrt, jetzt will ich sie haben.«
Erschrocken vernahm Georg diesen fürstlichen Wunsch; er wußte, wie lange Fleischer und Bäcker, die für den Hofhalt geliefert hatten, nicht bezahlt waren. »Ich fürchte, gnädigster Herr,« wandte er bescheiden ein, »die Frankfurter, welche bis jetzt die Küche versorgt haben, werden neidisch nach der Goldkette schielen, sie drohen mit Klage.«
»Vertröste sie, versprich ihnen, was du kannst,« sagte der Hochmeister gleichgültig, »sie sitzen gemächlicher als ich und können warten.«
»Sie haben aber üblen Willen, und Herr Dietrich klagt, daß es unmöglich sei, den Herren und Knechten noch Kost zu schaffen.«
»Ich merke, auch du wandelst auf den Wegen des Marschalls und machst dich durch Widerspruch unleidlich, ich dachte besser von dir, Jörge.«
»Gestattet wenigstens, daß ich für mich nichts aus dem Beutel nehme, ich vermag mir durchzuhelfen, aber Euer Hofhalt vermag es nicht mehr.«
»Wie du willst,« versetzte Herr Albrecht gekränkt, »vergiß aber in Zukunft nicht, daß ich dir deinen Teil angeboten habe.«
Georg beugte das Knie. »Ich dachte an das fürstliche Ansehen meines Herrn.«
»Mein fürstliches Ansehen«, brach der Hochmeister bitter heraus und ging, die Hände zusammenpressend, im Zimmer auf und ab. »Ich weiß, daß ich ein Bettler bin, und du brauchst mir es nicht vorzuhalten, ich weiß, daß mein ganzes Leben ein jämmerlicher Schein ist ohne Macht, daß die Fürsten über mich die Achsel zucken, die gemeinen Leute über mich spotten. Du hast nicht nötig, meinen Stolz zu demütigen, er wird täglich mit Füßen gestoßen. Du verstehst nicht, was es heißt, jahrein jahraus sich schwach und hilflos zu fühlen, alle Wochen neue Pläne zu machen und sich mit Hoffnungen zu trösten, die am nächsten Tage im Sande verrinnen. Dennoch bin ich ein deutscher Fürst, nicht schlechter als die andern, und ich habe, da ich den weißen Mantel nahm, ein Recht gewonnen auf Landherrlichkeit und Fürstenmacht. Bei aller Schmach hält mich nur der Gedanke aufrecht, daß ich für mich gewinnen will, was eines Edlen würdig ist. Wie vermag ich das, der Machtlose unter Hochfahrenden und Eigennützigen, wenn ich nicht wenigstens den Schein behaupte? Die Ordensbrüder haben mir bitter vorgerechnet, daß ich armer Mann unter den Fürsten Goldgulden verspielte. Es mag übler Brauch sein, daß edle Herren jetzt im Brett um Goldgulden spielen, und es mag ein frommer Schwärmer dagegen predigen, daß die vornehmen Leute goldene Borten und Ketten tragen, sie tun's aber alle, und wenn ich nicht mehr tun kann wie sie, werde ich ihnen vollends verleidet und sitze als ein Schuhu unter den Falken. Darum liegt mir mehr an der Kette und dir mehr an den Mienen des Fleischers und Bäckers.« Und heftig setzte er hinzu: »Du meinst es gut in deiner Weise, und du hast mir ohne Sorge um den eigenen Nutzen gedient; ich werde nicht zürnen, wenn dir das ewige Borgen, Feilschen und Vertrösten verleidet wird und du mich verläßt, wie mancher andere getan. Vielleicht wärst du mir lieber, wenn du nicht so ungeschickt ehrlich wärest, dann wüßte ich eher, wodurch ich dich festhalten kann.«
Gekränkt durch die Rede des Herrn, nahm Georg sein Bündel Papiere zusammen und verneigte sich, um das Zimmer zu verlassen, da rief Herr Albrecht: »Bleib, ich habe unrecht, dich mit übler Laune zu plagen, du hast ohnedies Mühe mit mir.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Als du mir unzufrieden widerstandest, sah ich in dir den Sohn deines Vaters, der mich zuweilen auch durch seine Mahnungen quält. Ihm gegenüber aber fühle ich mein Gewissen bedrückt, und ich büße meine Unfreundlichkeit, indem ich dir das bekenne. Wisse, Georg, ich habe vor Jahren deinem Vater ein Versprechen getan, daß ich, der Hochmeister des Ordens, den Polen niemals huldigen werde. Das Gelübde war voreilig, unablässig habe ich bei aller Welt um die Freiheit meiner Herrschaft gehandelt, gedrängt und gefleht, es war alles vergebens. Der Kaiser und der Papst stehen auf seiten meiner Feinde, das Reich hat mich verlassen, der Orden in Deutschland ist mir feindlich und würde mich am liebsten aus der Welt schaffen. Der Orden in Preußen vergeht an seiner eigenen Schwäche, die starke Stimme von Wittenberg hat dringend geraten, mit dem Zwitterwesen ein Ende zu machen, und seit das Büchlein an die Herren des deutschen Ordens im Druck ausgegangen ist, verändern die Brüder in Preußen eigenmächtig ihren Stand, und schon mehr als einer hat sich ein Eheweib genommen. Darum bin ich jetzt dabei, mich in das Unvermeidliche zu fügen und mich mit meinem Oheim von Polen zu vertragen. Mein Gelöbnis halte ich nach den Worten, aber wie ich fürchte, nicht nach dem Sinn deines Vaters. Das lag mir heut schwer auf der Seele, und deshalb war ich gegen dich widerwärtig. Denke nicht mehr daran«, bat er und hielt ihm die Hand hin.
Herr Dietrich kam, eine Tasche mit Briefen in der Hand. »Gute Zeitungen!« rief er, »hier ist das Schreiben des Königs von Polen an Eure fürstliche Gnaden; die Entscheidung ist gefallen, wir reisen nach Krakau.« Und zu Georg sagte er leise: »Auch für Euch ist ein Schreiben darunter.« Georg trat in das Vorzimmer und öffnete den Brief. Es war die Handschrift seines getreuen Gesellen Lips Eske, und es waren nur wenige Zeilen, darin stand etwas von seinem Weibe, von seinem Sohn und von einem Turmgemach. Alles wurde undeutlich im wilden Sturme, der ihm die Gedanken umhertrieb, den Mund zum Lachen verzog und die Augen mit Tränen füllte; nur den Turm sah er vor sich, schwarz war die Mauer, und auf halber Höhe wuchs aus dem Stein eine Eberesche, welche die Vögel gesäet hatten. Dorthin ging jetzt sein Weg. Ihm war, als ob Herr Albrecht ihm zum Abschied sagte: »Du glücklicher Jörge«, und daß ihm selbst wegen dieser Worte die Stimme beim letzten Gruß versagte. Er merkte, daß er im Kontor des befreundeten Kaufmanns stand und auf die kunstvolle Scheide eines Messers sah, das ihm der Frankfurter zu seiner Reise verehrte; dann fand er sich im Stall, sein Pferd sattelnd, und darauf vor der Herberge, einen Fuß im Steigbügel, und ihm war, als ob Herr Dietrich ihn lustig auf die Achsel schlüge. Bald ritt er auf der Landstraße. In den Gärten blühten die Apfelbäume, es war hier wärmer als da, wo die Esche aus dem Stein wuchs. Denn er war erst im Anfang des Weges, der hundert Meilen über Berg und Tal dem Aufgang der Sonne zuführte. Und er meinte zu sehen, wie ihre ersten Strahlen das Dach des Turmes röteten und immer mehr von dem Gemäuer vergoldeten, bis die Schwelle im hellen Lichte lag; und auf der Schwelle saß sein Sohn. So schrieb Lips Eske. Wie konnte der Sohn auf dem kalten Stein sitzen? Oft hatte er ihn geschaut in schwerer, banger Zeit als ein kleines nacktes Kind, mit wenig Härlein auf dem Kopfe, wie es ihm von den Frauen entgegengehalten wurde. Nackt war das Kind und winzig klein, welches er wachend und träumend in sich herumtrug und das er jetzt wieder vor sich sah; ganz deutlich schwebte es ihm zugewandt in der Luft und zeigte ihm den Weg nach dem Turme. Wie konnte das Kleine auf der Schwelle sitzen und spielen? Da merkte er, daß er jahrelang einsam und elend gewesen war, und die Tränen stürzten ihm aus den Augen in Wehmut über sein langes Leid. – Er ritt weiter gen Norden und Osten; in den Dörfern klang Sturmgeläut, und Haufen bewaffneter Bauern umringten ihn, er vernahm drohenden Anruf, sah eiserne Flegel und Morgensterne gegen sich gehoben und bat herzlich: »Laßt mich ziehen, ich bin ein armer Vater, der sein Weib und Kind jahrelang als tot betrauert hat, und jetzt höre ich, daß sie leben, darum will ich zu ihnen.« Die Landleute senkten ihre Waffen und ließen ihn durch. Er kam in das Land des Kurfürsten von Sachsen und ritt längs der thüringischen Berge bei der Burg vorüber, in welcher ein anderer lange Zeit verborgen gelebt hatte, während das Volk seinen Untergang betrauerte. Er gedachte der Stunde, wo sein liebes Weib für den Verlorenen die Hände faltete, als sie im Turm zwischen ihm und ihrem Vater saß. Und in ihm klangen die Worte wider: »Jener wurde damals bewahrt vor dem Verderben, auch wir dürfen wieder Gutes hoffen.«
So drang er bis an die Elbe. Als er von seinem müden Pferde gestiegen war und am Ufer auf den Fährmann wartete, sangen die Kinder auf einem umgestürzten Kahn in der Nähe. Ihm fiel das Lied von der Jungfrau bei, welche im Strome versenkt werden soll und durch den Geliebten gelöst wird. Zum erstenmal seit Jahren vermochte er die Worte zu ertragen, und während er leise vor sich hinsang, überkam ihn wieder das Entsetzen jener Stunde, wo Henner von dem umgeschlagenen Kahn berichtet hatte; und er fuhr mitten im Liede wild empor, als er neben sich die Stimme seines alten Gesellen Wuz hörte, denn er meinte das Fürchterliche noch einmal zu erleben. Aber Wuz stand wirklich vor ihm und außer diesem noch einige Genossen aus dem Schloßhofe; rings um sich vernahm er frohen Zuruf, und auch er umarmte den Wuz und den Benz wie seine besten Freunde und sagte ihnen glücklich: »Verweilt mich nicht, liebe Gesellen, die Fähnrichin lebt, und mein Sohn lebt, und ich ziehe zu ihnen, denn sie wohnen im Turme.« Da freuten sich die alten Knechte über ihn; sie streichelten sein Pferd, einer lief und holte Hafer und Heu, und Wuz griff sogar in seinen Säckel, welcher leicht war, und wollte ihm daraus mitteilen. Er hörte, daß sie nach Torgau reisten, um sich dem Kurfürsten als Trabanten anzubieten; und wie er mit seinem Pferde auf der Fähre stand, erscholl ihr lauter Zuruf: »Grüßt die Frau Fähnrichin von der Bruderschaft, und sie soll unser im Guten gedenken.«
Durch Sand und Kieferngehölz führte die Straße, die Gräben waren mit Winterschnee gesäumt, die Krähen flogen über das öde Land, und der Weg wurde mühsam, denn die Landschaft war auf mehrere Tagereisen berüchtigt als Aufenthalt grausamer Buschklepper; in den schlechten Herbergen verschwand mancher Wanderer für immer aus dem Tageslicht, und jeder Reisende mußte Not leiden. Aber die Sorge vermochte noch nicht aufzukommen, sein Rößlein wieherte, ein frischer Reisewind streifte seine Wange, und vor ihm schwebte wie leibhaftig eine Gestalt: das kleine nackte Kind glitt ihm zugewandt über Feld und Heide, über Wasser und Wald dem Turme zu. Deutlich schaute er das Kind, welches den Weg wies, und deutlich schaute er das dunkle Gemäuer, dem er zuzog; doch das Bild des Weibes sah er nicht außer sich, sie war bei ihm in seinen Gedanken, sprach ihm in das Ohr, lehnte an seiner Schulter und schlummerte an seiner Seite auf dem Lager.
Endlich stand er an dem Strome der Heimat und blickte über das wilde Wasser, dort lag die Schenke, und dort ragten die Deiche, wie an jenem Morgen, wo er mit Anna ein Gefangener der Landsknechte wurde. Jetzt legte sich die Angst um seine Brust, in welcher Gesinnung ihm sein Weib entgegentreten werde und ob er dem Magister die Feindschaft seines Vaters entgelten müsse. Denn durch seinen Gesellen Eske war ihm nicht verhehlt worden, wie grausam der Kaufherr mit dem Gelehrten gehandelt hatte, und zwischen ihm und seinem Vater war seit jener Zeit in Briefen kein vertraulicher Gruß gewechselt worden, nur mit kalter Vorsicht das Nötigste. Wild rief er nach dem Fährmann, sein Herz pochte, daß er den Atem verlor, und endlos dünkte ihm die Breite des tückischen Stromes. Dann trieb er sein Pferd auf dem Wege, den er einst neben dem toten Hauptmann durchmessen, und hob sich im Steigbügel, um über Heide und Holz das Schloß auf der Höhe zu erkennen. Vor ihm stieg es empor als ein dunkler Schatten, und er jagte darauf zu wie an jenem Winterabende, wo er nach dem Lichtschein im Fenster gespäht hatte. Alles Schauen und alles Denken ging verloren in dem heißen Fieber, welches ihn schüttelte. Er sprengte durch das Stadttor, undeutlich kam ihm vor, als ob andere Menschen wie sonst in den Gassen liefen und daß die Handwerker wieder in ihren Stuben bei der Arbeit saßen. Er spornte sein Pferd den Schloßberg hinauf, sprang ab und schlang den Zügel in den Ring des Pfostens. Wie gelähmt schritt er in den Hof, die Turmpforte stand geöffnet, und die Zweige der Esche bewegten sich im Winde, mattes Sonnenlicht lag auf dem Wege, und vor der Turmschwelle lief ein Knabe umher; er hatte kleine blonde Locken und rosige Wangen und stapfte mit den Beinchen kräftig auf die Erde. Georg stand erschrocken. »Dort ist es; von ihr kam es, und mir gehört es; es gleicht einem Engel. Aber es sieht weit anders aus als mein armes kleines Kind. – Romulus« rief er, kaum brachte er das Wort aus der heiseren Kehle. Der Knabe sah zu dem fremden Mann auf und lachte ihn an. Da schrie der Vater laut, riß den Knaben zu sich und sprang mit ihm in den Turm. Niemand war darin, aber alles wie sonst: der Herd, die Treppe, das Lager; er warf sich auf den Sessel am Herde nieder und küßte den Kleinen auf Stirn, Wangen und Mund. Das Kind aber wurde bei den Liebkosungen des Mannes ängstlich und rief nach der Mutter. Und er setzte seinen Sohn, der ihn nicht kannte, betäubt zu Boden.
Unterdes bellte laut und lauter das Hündlein, sprang an ihm herauf und legte sich vor ihm auf den Rücken, bis eine Frau eilig die Treppe herabkam in dunklem Gewande, das Haar in einer Witwenhaube verborgen. Zwei leise Rufe des Schreckens und Entzückens, sein Weib flog ihm entgegen, warf sich an seinen Hals, und er hielt sie an seinem Herzen. Unsäglich war das Elend der letzten Jahre gewesen, und unsäglich war die Seligkeit dieses Augenblicks. Als sie endlich unter Tränen und Küssen die Worte fanden, sprach Anna leise: »Ich wußte, daß du mich hier finden würdest«, und den Knaben zu ihm aufhebend, rief sie: »Hier ist dein Sohn, und du, Knabe, sprich: lieber Vater. Er ist die Rede gewöhnt, denn ich habe sie ihn alle Tage gelehrt.« Da sah das Kind von einem zum andern und verstand alles, es wußte, daß der Vater gekommen war und sagte leise die ehrwürdigen Worte nach. Als aber Georg den Sohn vom Arme der Mutter hob, erkannte sie erst, daß der Gemahl die rechte Hand unbehilflich regte, sie faßte den Arm und sank an seiner Seite auf die Knie.
Der Dämmerschein des heimlichen Raumes schwand in dem kalten Tageslicht, das durch die offene Tür hereinfiel. Der Magister stand vor den Gatten: »Was drängt Ihr Euch aufs neue zu meiner unglücklichen Tochter, Junker Georg König? Das Weib, welches einst allzuwillig Eurer Liebe vertraut hat, ist von Euch geschieden und tot. Die hier lebt, gehört nur mir. Hinweg von meiner Tochter!«
Anna erhob sich und trat dem Alten gegenüber. »Es ist mein Hausherr, Vater, der zu mir und meinem Kinde heimkehrt.«
»Sendet Euch der ungerechte Mann, welcher Euer Vater und Herr ist, so will ich mich mühen, die tödliche Kränkung unserer Ehre zu vergessen. Kommt Ihr mit eigenmächtiger Werbung wie vor Zeiten, so gebiete ich Euch: weicht von hinnen!«
»Ich komme weit her aus dem Reiche, um mein Weib und Kind zu fordern, und nicht Ihr und nicht mein eigener Vater dürfen sie mir weigern.«
»Wißt Ihr, wozu Euer Vater mein Kind gemacht hat? Geht nach Thorn und hört es aus seinem eigenen Munde.«
Da warf sich Anna um den Hals des Gatten und rief dem Alten zu: »Ihr habt zwei Hände, um mich von seinem Herzen zu reißen, er vermag nur eine zu regen, um mich festzuhalten. Gedenkt, daß er die Hand verlor, weil er um meinetwillen seine Freiheit hingab.«
Der Magister starrte auf den Handschuh der Holzhand und murrte: »Scävola«, griff suchend in die Tasche und ging mit großen Schritten auf und ab. »Hier verweilen dürft Ihr nicht, Georg,« begann er endlich, »was aus uns allen werden soll, weiß ich nicht zu sagen. Kein Richter im Lande soll, weil ich lebe, über Ehre oder Unehre meines Kindes absprechen, und Gott im Himmel allein vermag zwischen uns und Eurem Geschlecht zu entscheiden.«
Georg schwieg, aber er drückte seinen Sohn fest an sich. Wieder ging der Magister auf und ab.
»Vater,« flehte Anna, »einer lebt auf Erden, den der liebe Gott zum Ratgeber für angstvolle Gewissen bestellt hat.«
»Willst du einen Fremden zum Richter machen über deine und meine Treue?« fragte Georg traurig.
Da hob Anna die gefalteten Hände. »Er ist kein Fremder für dich und mich, denn er hat durch seine Lehre geholfen, daß ich die Trennung von dir ertrug.«
Wieder hielt der Magister vor dem Gaste an. »Ist meine Tochter vor Gott und den Menschen Euer eheliches Weib, so gehört sie mit ihrem Kinde Euch, ist sie es nicht, so bleibt sie mein. Darum lade ich Euch im zweiten Monat von heut, an demselben Tage, zu dieser Stunde, an die Klosterpforte der Augustiner zu Wittenberg. Dort soll ein Richter über Euer Anrecht entscheiden. Hier aber gestatte ich Euch unter meinen Augen nur so lange Zeit, als ein Wanderer braucht, um auszuruhen, nicht länger.«
»Ich füge mich Eurem Willen, Herr Vater«, sprach Georg. »Hat der Richter gesprochen, so sage ich ihm und Euch, was mir mein Gewissen gebietet.«
Er rastete und hielt das Weib in seinem Arm, den Sohn auf dem Schoße; der Magister aber ging schweigend vor ihm auf und ab.
Marcus wog einen Brief des Dietrich von Schönberg in seiner Hand, und ein herbes Lächeln fuhr über sein Antlitz. »In den Tagen junger Freundschaft schrieb der Herr selbst, jetzt versieht der behende Diener die lästige Arbeit. Je schwerer das Gewicht des Geldes wird, welches ich ihnen zutrage, um so flüchtiger wird ihre Antwort auf die Fragen, welche ich in banger Sorge tue.« Er las. »Die Zusammenkunft meines gnädigen Herrn mit dem Könige von Polen ist endlich durchgesetzt, der Hochmeister rüstet sich zur Reise nach Krakau, und die Entscheidung steht bevor. Auch Ihr, mein günstiger Herr und guter Freund, mögt den Ausgang mit gutem Vertrauen erwarten und Euch durch allerlei Gerüchte nicht beirren lassen, denn wir haben Sicherheit, daß der König in höchster Notwendigkeit ist, den alten Streit zu beenden. Die edlen Herren haben darüber bereits vertraulich eigenhändige Briefe gewechselt.« Marcus sah auf: »Ist die Freundschaft der Edlen plötzlich so warm geworden? Sie bedroht das Preußenland mit kaltem Wetter.« Er las weiter: »Ich darf dem Papier nicht übergeben, was noch als Geheimnis bewahrt werden muß, damit nicht unsere Feinde in der letzten Stunde die Vollendung hindern. Aber Seine fürstliche Gnaden befehlen mir, Euch mitzuteilen, wenn in dem Vertrage auch nicht alles erreicht werde, was wir in dem letzten Jahre betrieben haben, so steht doch ein fester Friede in Aussicht und für das Land unseres gnädigen Herrn eine heilsame Zukunft.« Marcus schleuderte den Brief auf den Tisch. »Ich verstehe die Meinung. Thorn und das Weichselland sind den Polen preisgegeben, und wir zahlen mit unserer Zukunft und unserem Gelde dafür, daß der Hochmeister für sich und sein Land des schmachvollen Lehnseides enthoben wird. – Du hast lange gelebt, Alter, und solltest gewöhnt sein, daß deine Hoffnungen eitel und nichtig dahinflattern, und doch fühlst du so heißen Schmerz über diese letzte Enttäuschung. Füge dich, stolzer Sinn, begnüge dich mit dem kleinen Trost, daß Mühe und Opfer doch nicht ganz vergeblich waren. Wenn Onkel und Neffe einander noch so warmherzig die Hände reichen, sie werden nicht hindern, daß die Feindschaft zwischen dem freien Ordenslande und Polen aufs neue entbrennt. Was wir nicht vollendeten, das muß den Söhnen gelingen. Ich aber frage, wo ist mein Sohn, daß ich ihm die Erbschaft übergebe? Sein Erbteil an Geld ist klein geworden, dafür lege ich ihm eine große Forderung auf die Seele, daß er hasse und treibe wie sein Vater und, gefällt's dem Himmel, mit besserem Glück.« Er nahm den Brief auf und sah nach dem Datum: »Das Schreiben war lange unterwegs, und manches mag unterdes geschehen sein.«
Auf dem Markt liefen die Leute zusammen, sie sammelten sich in Haufen vor dem Rathause. Bernd kam eilig herein, der Schrecken lag über seinem behaglichen Gesicht. »Ein polnischer Bote trägt dem Rate seltsame Kunde zu. Habt Ihr sie vernommen? Es gibt keinen Hochmeister mehr.«
Marcus fuhr in die Höhe: »Ist Herr Albrecht tot?«
»Nein, der Herr lebt, aber der deutsche Orden in Preußen hat, wie sie sagen, ein Ende. Herr Albrecht hat den Ordensmantel abgelegt, ist in weltlichen Stand übergetreten und durch den König von Polen unter polnischer Hoheit als Herzog eingesetzt worden, er selbst und sein ganzes Geschlecht.«
Da lächelte der Kaufherr und zuckte die Achseln. »Du bist alt genug, um zu wissen, was von Gerüchten zu halten ist, zumal von der Meldung polnischer Boten.«
»Der Bote ritt den weiten Weg von Krakau hierher, um dem Rate die Nachricht zu bringen.«
Marcus lächelte wieder: »Er wurde getäuscht oder er will die Bürger täuschen, denn dies ist unmöglich. Ich habe einen Brief erhalten, der weit anderes meldet, und, was schwerer wiegt, ich habe ein Gelöbnis des Hochmeisters selbst; ist er auch kein Mann von hartem Stahl, er hält sein Wort.«
»Soweit er vermag«, versetzte Bernd kopfschüttelnd. »Wer darf in den großen Welthändeln auf Jahre hinaus beeiden, was er dereinst tun wird?«
»Niemand kann das, aber ein Mann darf sagen, was er nicht tun wird.«
Wieder schüttelte Bernd den Kopf.
An der Haustür tönte ein scharfer Schlag, der Gehilfe rief seinen Herrn auf die Schwelle. Vor dem Hause stand der Ratsbote mit Hans Buck und zwischen ihnen der Knecht Dobise. »Der Rat sendet Euch Euren Knecht,« begann Hans Buck, »er kehrte freiwillig zurück und trat in mein Gehege. Sein Kopf gehört mir, und ich fordere ihn von Euch.«
»Guten Tag, Meister,« grüßte Dobise demütig, »da Ihr mir Tag und Stunde freigelassen habt, so komme ich erst jetzt, nehmt's nicht für ungut.«
»Und warum kommst du jetzt?« fragte Marcus.
»Herr, es wollte mir in der Fremde nicht mehr gefallen, und nach dem, was ich in den letzten Wochen erfahren habe, bin ich ganz zufrieden, daß es mit uns beiden zu Ende geht. Nach uns kommen andere. Vor Hans Buck fürchte ich mich nicht, ich habe ihm oft zugesehen, und einen besseren finde ich nirgends.« Hans Buck lächelte wohlwollend über das Lob.
»Nehmt den Mann, Ratsbote, und verwahrt seinen Hals, bis ich ihn abfordere.«
»Er treibt sich seit lange in der Gegend umher«, erklärte Lischke; »und wurde zuerst vor mehreren Wochen im Hause des gebietenden Herrn Eske erkannt, dann saß er zuweilen auf dem Kirchhofe von St. Johann, erst heut gab er sich unter die Hand von Hans Buck.«
»Was kann ich noch für dich tun, du Armer?« fragte Marcus.
Dobise drehte die Mütze in den Fäusten: »Wenn es Euch nichts verschlüge, so möchte ich noch einmal zusehen, wie sie die neue Glocke ziehen.«
»Dazu kann Rat werden«, sagte der Ratsbote, froh über die Neuigkeiten, welche er wußte. »Denn es ist Befehl erteilt, morgen mit allen Glocken zu läuten, um den Frieden mit dem neuen Herzog Albrecht einzuweihen. Ich selbst gehe jetzt mit dem Ausrufer, zu verkünden, daß der Herzog unserm Könige gehuldigt hat und zum Dank in dem früheren Ordenslande wieder eingesetzt ist. Morgen kommt Herr Albrecht selbst in die Stadt, der Läufer hat ihn angekündigt, und die gebietenden Herren wollen ihn festlich empfangen.«
Da winkte Marcus mit der Hand, daß sie sich entfernten, und Bernd schloß die Tür.
Der Abend kam heran, auf den Straßen trieb die frohe Menge umher, aus den Fenstern blinkten Lichter und lustige Herdfeuer, alle Türen waren geöffnet, und die Freunde der Hausbewohner gingen aus und ein. Nur das Eckhaus am Markte stand finster und verschlossen, kein Lichtschein verriet, daß es bewohnt sei, und kein Besucher hob den Klopfer der Haustür.
Erst am andern Morgen, als alle Glocken der Stadt miteinander das feierliche Friedensgeläut anstimmten, wurde die große Torfahrt geöffnet, Marcus König ritt aus seinem Hofe, wie ein Kriegsmann gerüstet. Im Tor stand die alte Dienstmagd und barg ihr Schluchzen hinter der Schürze, und Bernd ging barhäuptig zur Seite des Reiters, vergebens bemüht, seine Fassung zu behaupten. Auf dem Markt wandte der Kaufherr das finstere Antlitz noch einmal nach dem Hause seiner Väter und gebot von der Höhe seinem Gehilfen: »Sollte der neue Herzog von Preußen nach dem Hauswirt fragen, so sage ihm, Marcus König sei für seine herzoglichen Gnaden nicht bei Wege. Er reitet über Land und läßt seinen Knecht henken, weil dieser ihm einen Eidschwur gehalten hat.«
Langsam und allein zog er unter dem Geläut der Glocken zum Tore hinaus.
Auf dem Dorfgrunde unweit des Stadtweges war der Galgenhügel, dort hielt der Karren mit Hans Buck und Dobise. Marcus stieg vom Pferde, schritt, von Bewaffneten seines festen Hauses umgeben, nach der Anhöhe und gab dem Scharfrichter das Zeichen. Dobise kletterte willig die Leiter hinauf und sah über das Gebälk auf den Himmel und die grünende Flur. »Alles blau und grün«, sagte er kopfschüttelnd.
»Sieh dir die Sache genau an,« ermunterte Hans Buck, der zur Seite über dem Querholz saß, »wir haben keine Eile.«
»Dort sehe ich die Türme unserer Stadt, der Ratsturm hat ein neues Dach, das hält wieder eine Weile.«
»Bis es herunterfällt wie das alte«, versetzte bedächtig sein Nachbar.
»Mein Alter sieht aus wie ein Kriegsmann,« fuhr Dobise fort, »er trägt selten die Brustplatte und das lange Schwert.«
»Heut hat er es als Gerichtsherr dir zu Ehren angelegt«, sagte Hans Buck.
»Niemals ist einer so hinausgefahren wie ich, während die zwölf Böttcher zogen,« berühmte sich Dobise, »und mich freut's, daß der Alte mir die letzte Ehre erweist. Er denkt daran, daß ich zu ihm gehöre.«
»Du bist von deinen Vätern her sein Knecht?«
Dobise nickte. »Die Bürger wollen die Leute meines Geschlechts nicht mehr in der Stadt leiden. Doch er und ich, wir gehören von Vater und Mutter zusammen, ich bin im Thorner Lande der letzte von den alten Preußen, und er ist der letzte von den alten Deutschen. Und jetzt geht es auch mit uns beiden zu Ende.« Hans Buck sah ihn fragend an und hob die Schlinge, Dobise half sie um den Hals legen. »Aber der Alte weiß doch nicht, was ich weiß; denn, Hans Buck, ich habe gesehen, wie sein Enkel die Gerte schwenkte.«
»Was spricht der arme Sünder?« fragte von unten eine starke Stimme.
»Lebt wohl, Hans Buck«, rief Dobise und sprang von der Leiter.
»Schneide ab«, schrie Marcus.
Der Henker zerschnitt mit Hilfe des Knechtes eilig den Strick. »Der gute Wille war vergeblich, Herr; er sprang zu jach in die Luft, das Genick ist gebrochen.«
In einer Ecke des kleinen Friedhofs wurde die Ruhestätte geschaufelt; die Schollen rollten auf den Leib, der Wind wehte und die Wolken flogen, während Marcus am Grabe seines Knechtes auf den Knien lag.
Den Tag darauf standen die neuen Ratsmänner Kunz Lohgerber und Barthel Schneider am Ufer der Weichsel und sahen über den leeren Ladeplatz, zu dem nur einige Holzflöße trieben. »Der Friede ist verkündet,« begann Kunz, »ich gedenke der Zeit, wo die schweren Kähne hier so dicht lagen, daß man Mühe hatte, einen Kübel Wasser zu schöpfen. Ob sich's wieder füllen wird?«
»Dort stößt der große Danziger gegen den Strom heran,« antwortete sein Nachbar, »wunderlich ist es, daß er zurückkommt; er hat für Marcus König geladen und lag die letzte Nacht unterwärts am Ufer. Seht, er hat sich wie ein Kriegsschiff gerüstet, eine Schanze um den Mastkorb gebaut, und, meiner Treu, ich erkenne bewaffnete Männer im Korbe; meint Ihr nicht, daß wir Lärm machen?«
»Hier kommt jemand, der Euch die Sorge abnehmen wird, der Burggraf mit seinen Trabanten. Das Schiff bleibt im Strome und der Ratskahn legt an, der Burggraf selber will den alten König zum Land fahren.«
»Ob zu einem Festmahle oder in den Turm? Nun, es haben schon bessere Leute darin gesessen, als der alte Papist.«
Der Kahn des Rates führte den Burggrafen an das Schiff; Hutfeld bestieg die Planken, Marcus begrüßte ihn an der Treppe. »Ich danke Euch, hochgebietender Herr, daß Ihr gegen den Brauch des Rates nicht verschmäht, die Fahrt im Stadtgebiet auf einem fremden Schiff zu machen.«
Der Burggraf warf einen besorgten Blick nach dem Korbe, in welchem Bewaffnete ihre Rohre steif am Fuß hielten, und nach dem Steuer, wo neben einem fremden Maat Hendrick der Schiffer seine Mütze lüftete: »Sind die Schiffskinder auch zum Teil Fremde,« antwortete er lächelnd, »der Schiffsmeister ist ein Bürger von Thorn.«
»Er war es bis jetzt«, versetzte Marcus.
Hutfeld sah nach dem Kahne zurück, dann maß er prüfend das düstere Antlitz seines Gegners. »Ich war bis jetzt Bürger dieser Stadt,« fuhr Marcus fort, »und um mich von den Mauern zu scheiden, in denen die Sorge uns beiden das Haar gebleicht hatte, habe ich dich, mein Schwager, hierher geladen. Ich denke, es sind die letzten Augenblicke, in denen wir einander gegenüberstehen. Den Burggrafen der Stadt hätte ich nicht bemüht, den Bruder meines lieben Weibes wollte ich noch einmal grüßen, bevor ich von hier gehe; denn mein Fuß betritt die Straßen von Thorn nicht wieder.«
Hutfeld faßte seine Hand. »Die Stimme alter Freundschaft höre ich nach Jahren zum erstenmal aus deinem Munde; zürne nicht, wenn ich widerstrebe, daß diese Stunde die letzte sein soll, in der ich dich sehe.«
»Auch du, dessen Klugheit und Vorsicht ich heut mit schwerem Herzen loben muß, wirst meinen Entschluß nicht beugen. – Den Burgwald von Nessau und das Landgut, welche ich als altes Erbe meines Geschlechts überkam, begehrt der Rat. Der Preis, welcher mir geboten wurde, ist so gering, daß ich ihn zu anderer Zeit abgelehnt hätte, jetzt ist er mir willkommen, denn, Konrad, ich bin kein reicher Mann mehr.«
»Das habe ich gefürchtet«, sagte der Burggraf. »Es war ein Unglückstag, wo der Herzog von Preußen in deinem Hause Einlager hielt.«
»Weißt du dies, du scharfblickender Mann, so weißt du auch mehr. Du warst der Gegner, der meine stillen Wege aufspürte, und du gewannst das Spiel, weil du mehr von mir wußtest als andere.«
»Nicht ich, Marcus. Du rangst gegen eine Flut, welche uns alle übermächtig forttreibt.«
»Vielleicht«, sagte der Kaufmann das Haupt neigend. »Diese Planken sind Danziger Grund, und auf fremdem Boden darf ich dir sagen, daß ich getan habe, wahrlich aus Liebe zur Stadt, was mich ausschließt von der Tafel Eures Hofes und von dem Glockengeläut Eurer Türme. Den Rat wollte ich werfen und die Stadt in die Gewalt des deutschen Hochmeisters zurückbringen als ein wertvolles Unterpfand für seinen Frieden mit Polen. Jahre hindurch habe ich unter Euch gelebt als Euer Todfeind.«
»Wozu von Vergangenem reden? Dir frommt nicht, es zu sagen, mir nicht, es zu hören.«
»Du darfst es doch hören, Konrad, denn deiner Mäßigung verdanke ich, daß ich heut vor dir stehe.«
»Ob du mit Grund sprichst oder nicht, ich weigere dir die Antwort,« antwortete Hutfeld, »wäre es aber, wie du sagst, so weißt du auch, daß in dem Frieden Verzeihung für alle Parteinahme ausbedungen ist. Hättest du Unrecht geübt gegen die Stadt und die Krone Polen, es wäre jetzt gesühnt.«
»Du sagst es,« versetzte Marcus, »aber du weißt auch, daß es für den Kampf um die Herrschaft kein Vergessen gibt. Bald würden der König und der Rat einen Vorwand finden, mir an Habe und Hals zu gehen. Und zürne mir nicht, wenn ich es sage, ich bin zu stolz, um länger als dein Schützling zu leben, der auch dir unablässig die Sicherheit gefährdet.«
»Der Kampf ist ausgetragen und wir werden alt,« sprach bittend der Burggraf, »und ich denke, ebenso wie das Weichselland und die Stadt begehren wir beide fortan den Frieden.«
»Nicht ich«, rief Marcus zornig. »Könnt Ihr verzeihen, ich vermag es nicht.« Er wandte sich rückwärts, wo die Mauern und Türme von Thorn ragten. »Einst priesen dich die Nachbarn als Königin der Weichsel, jetzt ist die Krone für immer von deinem Haupt gerissen; zu einer polnischen Metze bist du geworden, der die Könige einmal ein Almosen hinwerfen, um sie darauf wieder mit Ruten zu streichen nach ihrem Gefallen.«
»Lästere nicht, Marcus, in der letzten Stunde die Stadt, welche dich geboren und lange ertragen hat,« mahnte Hutfeld, »blutiger Zwist und Krieg waren fast hundert Jahre im Lande, Dörfer sind geschwunden, durch menschenleere Einöden schweifen die Raubtiere, aber die alte Stadt steht als ein sicherer Schutz für ihre Getreuen und als gastfreie Zuflucht für Flüchtlinge aus aller Herren Ländern. Der Spruch unseres Fähnleins, der in harter Zeit darauf gesetzt wurde, hat sich als wahr erwiesen, sie hat's überdauert.«
»Ja, zwischen feindlichen Flammen, wie der Wurm, den niemand kennt. Hoffe nicht, daß in dem polnischen Feuer deine Bürger gedeihen werden. Verhaßt ist die deutsche Art dem fremden Volke, verhaßt euer Reichtum dem polnischen Edelmann und euer Stolz dem Palatin, der über euch herrschen will. Scheuen sie sich, die Tore zu brechen, so werden sie zu den Pforten hineinschlüpfen, und fürchten sie eure helle Klage, so werden sie langsam durch Schmeichelei und hohles Getön der Worte euch zu Knechten machen.«
»Nicht wir haben die Feindschaft geschaffen, Marcus, die dich jetzt von uns scheidet, wir haben sie als ein Erbe von den Vätern überkommen. Was die Zukunft uns bringt, dafür mögen die Künftigen sorgen, wir tun heut und morgen, was wir müssen.«
»Bis der Tag kommt, wo das schwarze Gerüst, das für meinen Vater errichtet wurde, wieder auf dem Markte von Thorn erhöht wird, damit die Polen die Häupter eurer Nachkommen werfen. Das ist der letzte Gruß, mit dem ich von euch scheide, als ein Flüchtling, der eine Stätte sucht, wo er unter freien Landsleuten sein Haupt bergen kann. Dir aber, Konrad, übergebe ich die Sorge für die Gräber meines Geschlechtes, du warst der erste Freund meiner Jugend, du bliebst dem Alten hochgesinnt auch als Feind.«
Der Burggraf umfaßte den Scheidenden, er fühlte den krampfhaften Händedruck und sah das Zucken in dem Antlitz des andern. Gleich darauf trieb sein Kahn auf dem gelben Wasser der Stadt zu. Als er noch einmal zurückschaute, stand Marcus, den Blick nach dem dunklen Norden gerichtet, dem die Strömung zueilte, rastlos und unaufhaltsam.
Der Einsame hob die Augen zu dem Wolkenhimmel und suchte nach einer Stelle, wo die Himmelsbläue sichtbar wäre, es war alles in Grau gehüllt. Nichtig war seine Erdenarbeit gewesen, all seine Hingabe eitel und nutzlos. Keiner der Fürbitter, wie ängstlich er sein Lebelang um ihre Gunst geworben, hatte vermocht, ihm den großen Wunsch zu gewähren. Auch sie erschienen ihm kalt und fremd, alt und machtlos, und er gedachte ihrer wie ein gottloser Mann; fruchtlos war alle Gabe und Verehrung, welche Bittende ihnen zollten, und verächtlich das Drängen der Pfaffen, welche für jeden beteten, der die Macht hatte und der sie bezahlte. Jetzt feierten sie das Hochamt um einen unseligen Frieden und flehten für das Wohl des Polenkönigs. Er setzte sich nieder und barg das Gesicht in den Händen. Gnade für dieses Leben hatte er nicht gefunden und er glaubte nicht mehr, daß seine Rechnung mit dem Himmel ihm für das Jenseits heilsam sein werde.
Das Schiff legte bei, Marcus fuhr auf, neben ihm stand der Schiffer Hendrick und wies auf die Steinsäule am Ufer. »Ihr wißt, es ist Brauch, an dem Bilde der Jungfrau zu halten und um günstige Fahrt zu bitten. Hier war es auch, wo Euer Sohn auf seiner Flucht das Boot des Elbingers betrat.« Marcus wandte sich ab und barg wieder seine Augen in der Hand. »Auch er ist mir durch fremde Schuld verdorben, und wenn ich ihn wiedersehe, wird er mein Gegner«, sprach er finster vor sich hin.
Da klang über das Deck der flehende Ruf: »Mein Vater!« Und der Sohn warf sich vor seine Füße und umschlang ihn mit den Armen.