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Georg öffnete zögernd die Pforte der Dominikanerkirche, um seine Buße an den Altären abzutun; er meldete sich wie Brauch war, bei dem ab- und zugehenden Bruder Sakristan, dieser nickte gleichgültig mit dem Kopf, sah noch zu, wie der Büßer in einer dunklen Ecke an den Stufen des Altars niederkniete und verschwand dann in einem Nebenraum. Als Georg die dicke Weihrauchluft atmete, wurde ihm fühlbar, daß er im Hause und unter Herrschaft der Heiligen war, er faßte seinen Rosenkranz, neigte das Haupt und begann mit gutem Willen die Gebete. Aber die ehrfürchtige Stimmung hielt nicht vor, die Kugeln glitten langsam durch die Finger, er begann die Augen um sich zu werfen, starrte auf die künstlichen Blumen, welche die Landleute gestiftet hatten, auf den dunklen Trauerbehang, der über den Altar gebreitet war, und ihm fiel der Handel ein und die Fäßlein mit Sekt, durch welche er sich die mäßige Buße verschafft hatte. Da kam ihm das Lachen an und zugleich ein Zorn gegen die Mönche. »Den Wein trinken Gregorius und Pankraz miteinander aus, möge er ihnen den Schlund verbrennen. Das ist nicht recht und wird nimmer recht. Wahrlich, die Heiligen gehen mit bösem Beispiel voran, wenn sie durch ihre Büttel, die Mönche und Pfaffen, Bestechung nehmen, wie manche unserer Herren vom Rat tun. Das meiste nimmt, wie man hört, der heilige Vater selbst, wenn er um Ablaßgeld die Türen des Himmels öffnet.« Er sah mißfällig auf eine arme Frau, die heranschlich, sich am nächsten Altar auf die Stufen warf und die Hände rang. »Das Weib kenne ich, ihr Sohn sitzt im Turme, weil er zur Fastnacht das Eisen schwenkte, um sich gegen die Schweinsblasen meiner Teufel zu verteidigen. Man sagt, der Hieb mit dem Flegel wird ihm die Hand kosten, gewiß schreit sie deshalb zu den Heiligen. Warum hob der Tor seine Waffe gegen Stadtkinder. Wäre er wie der Pole Pietrowski, so würde er frei ausgehen. Wohl dem, der reich ist, die armen Leute mögen sehen, wie sie in diesem und jenem Leben zurechtkommen. – Vielleicht kann ich dem Vater Gregorius einen Possen spielen. Ich weiß, daß er gern ein frommes Weiblein besucht, es wäre gut, ihm aufzulauern, wenn er einmal in der Dämmerung von ihr weicht.« Dieser Gedanke machte ihn eine Weile lustig, bis ihm einfiel, daß die Rachsucht an diesem Orte eine neue Sünde sei; und er fing wieder an, die Kugeln des Kranzes zu bewegen. Da vernahm er in seiner Nähe leisen Tritt, er sah auf, ob Vater Gregorius komme, sich an seiner Demütigung zu weiden, aber er drückte sich tiefer in die dunkle Ecke, denn an die Stufen des Altars trat eine verhüllte Magd, es war Jungfer Anna. Seine Andacht hatte ein Ende. Er blickte scharf nach dem holden Angesicht, das sich einst im Zorn über ihn gerötet hatte. Sie war ihm noch nie so schön vorgekommen; mit gefalteten Händen stand sie vor dem Altar, nicht gebeugt, wie sonst die Frauen pflegten, denn sie sah über das Kruzifix weg nach der Höhe, sie bewegte auch nicht betend die Lippen, sondern sprach ihre Bitte ganz still. Georg sah aus seiner dunklen Tiefe zu ihr auf, und ihm kam etwas wie Ehrerbietung vor solcher Andacht. »Sie hält sich auch vor den Heiligen fremdländisch«, dachte er; »ich höre, daß es Ketzer gibt, welche den Bildern die gebührliche Demütigung weigern«, und er erschrak bei dem Gedanken, daß sie zu diesen Verdammten gehören könne. Nicht zum erstenmal kam ihm die Sorge, denn er hatte bereits bemerkt, daß auch der Magister sich auffällig gegen die Werke der Pfaffen verhielt. Einst, als während der Lektion auf der Straße das Glöckchen tönte und Georg mit den andern Schülern sich schweigend über die Bücher neigte, tat der Lehrer, als vernehme er nichts von dem Wandeln des Allerheiligsten, sondern erklärte die Worte Augur und Haruspex und erzählte aus dem alten Rom: wenn zwei solche Männer einander begegneten, vermochten sie sich des Lachens nicht zu enthalten. Und Georg dachte wieder, daß Gregorius und sein Geselle einander auch angeblinzt und gelächelt hätten, als der Wein in das Kloster gerollt wurde. Die aber jetzt vor ihm stand, war sicher fromm.

Als sich Anna vom Altar abwandte, erhob sich auch Georg, sah auf die liegende Frau und ging mit leisen Schritten zum Ausgang, wo er sich an dem Weihbecken aufstellte; ihm schlug das Herz, und seine Verlegenheit war größer als seit lange, da er auf Anna zutrat. Das Mädchen fuhr zurück, und sein furchtsamer Blick las in ihren Augen leider Schrecken und Abneigung. Mit stockender Stimme begann er: »Da ich wegen der neulichen Teufelei hier bin, um die Heiligen zu versöhnen, so möchte ich auch Euch, liebe Jungfer, bitten, daß Ihr mir verzeiht, wenn ich Euch in der Fastnacht kränkte, ich versichere Euch von Herzen, es reut mich sehr, daß ich Euch unhöflich an den Mantel gerührt habe.«

Anna wollte ihm streng entgegnen, aber weil er mit niedergeschlagenen Augen demütig vor ihr stand, antwortete sie nur: »Tut es Euch leid, so darf auch ich als Christin Euch verzeihen.«

»Reicht mir die Hand,« flehte Georg, »zum Zeichen, daß Ihr mir nicht mehr böse seid.«

Diese Gunst konnte ihm Anna nicht gewähren, obgleich er verschüchtert aussah; sie zog die Hand zurück und sprach hastig: »Laßt mich gehen, Junker, redet nicht zu mir im Heiligtum und nicht auf der Straße, dann werdet Ihr mir besser gefallen; denn Ihr wißt selbst, Eure Nähe kann mir nicht frommen.«

Der arme Georg dachte, daß er gern in ihrer Nähe weilen und ihr sehr gern gefallen wollte, und ihm kam ein verzweifelter Einfall. »Dennoch bitte ich Euch, mir einen Augenblick Gehör zu geben. Der Sohn jener Frau, welche dort vor dem Altare fleht, sitzt im Turme und ist in Gefahr, wegen desselben Fastnachtsfrevels seine Hand zu verlieren, weil er gegen mich und meine Gesellen die Waffe gehoben hat. Als ich Euch bei dem Altare sah, fiel mir ein, daß Ihr vielleicht der Frau helfen könntet. Denn wenn sie den Mönchen eine ansehnliche Spende opfert, so werden diese ein Fürwort beim Rate einlegen, weil der Sohn sich nur als guter Christ gegen solche gewehrt hat, die er für Teufel hielt. Ich darf der Frau die Anweisung nicht geben, denn die Mönche wollen mir nicht wohl und könnten sie ausfragen; darum flehe ich, sprecht Ihr zu der Armen.«

»Wenn die Mönche nur gegen Spende ihr Fürwort geben, wie kann ich der Frau helfen, da ich so wenig das Geld habe wie sie?«

»Gerade deshalb ersuche ich Euch, daß Ihr dieses hier in ihre Hand legt, damit sie es zum Opfer trage«, und er bot ihr ein großes Goldstück, ein Patengeschenk des Bürgermeisters, welches er als Opfer für sich selbst mitgenommen hatte.

Diese List Georgs erwies sich als Ungeschick, denn Anna trat zurück und lehnte mit einer Handbewegung das Geld ab. »Wenn die Mönche um Geld ihre Fürbitte gewähren, so ist dies ein Unrecht vor unserem lieben Gott, und mein Gewissen sagt mir, daß ich nicht dazu helfen darf. Wisset aber, Junker, daß es Eure Pflicht ist, nicht durch andere der Frau etwas in das Ohr sagen zu lassen, sondern selbst Mühe anzuwenden bis zum äußersten, damit ihr Sohn entledigt werde. Unrecht ist es, wenn Ihr ertragt, daß der Arme Euretwegen in Not kommt, denn jedermann wird sagen, daß Ihr schuld seid an dem Unglück des Bäuerleins.« Sie nahm ihr Gewand zusammen und verließ das Heiligtum.

Georg sah ihr betroffen nach und murmelte: »Mich soll's nicht wundern, wenn ihr im Rücken zwei Flügel herauswachsen.« Er trat hinter den Pfeiler und überlegte, endlich schlich er mit unhörbarem Tritt in die Nähe des Altars, an dem die Frau noch immer jammervoll über ihrem Rosenkranz kauerte. Plötzlich vernahm diese eine flüsternde Stimme von der Seite über sich: »Weib, willst du Gnade finden, so wandle von hier zu dem frommen Bruder Gregorius, flehe ihn an, daß er beim Rate für deinen Sohn spricht. Denn der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe, und dein Sohn ist nur in Not gekommen, weil er als frommer Christ gegen einen Teufel das Messer gezückt hat. Damit die frommen Väter erkennen, daß die Heiligen dir gnädig sind, so empfange hier, was du der Kirche opfern sollst.« Ein großes Goldstück fiel klirrend auf die Stufen des Altars. Das Weib, welches bei dem ersten Laut sich niedergestreckt hatte, fuhr auf, als das Metall klang, und faßte das Gold, hob es entzückt gegen den Altar, sprang auf und lief dem Kloster zu. Georg aber stahl sich schnell nach Hause: »Ich hoffe, Bruder Gregorius merkt nicht, daß ihm von der einen Seite abgeht, was ihm von der andern zukommt. Wenn ich meine Büchse ausfege, finde ich immer noch, was mich zur Not von den Habgierigen löst.«

Die Frau stammelte vor den Mönchen einen verwirrten Bericht von der himmlischen Stimme, die sie gehört, und von dem Engelsantlitz, das sie einen Augenblick über sich am Altare gesehen, sie wiederholte, so gut sie vermochte, die Worte und bot das Geld. Die Mönche schüttelten den Kopf, erforschten das Weib kreuz und quer und prüften das Goldstück. Da sie sahen, daß die arme Frau nicht täuschen wollte, so überlegten sie, wer der Geber sein könne, und es ist wohl möglich, daß sie auf Georg rieten. Aber sie erkannten auch, daß der Vorfall wunderlich und ihrem Kloster nützlich sei, darum beschlossen sie nach langer Erwägung, die Sache mit Vorsicht auf sich zu nehmen, und geleiteten die Frau nach dem Rathause. Dem Rat gefiel im Grunde gar nicht, daß die Predigermönche durch ein Wunder die Stadtjustiz hindern wollten, auch erschien ihm seltsam, daß die Heiligen mit dem Goldstück sich gewissermaßen selbst ein Geschenk machten. Dennoch wurde die Fürbitte des Pater Gregorius mit Achtung angehört; denn dieser sprach bescheidener als wohl sonst und stellte die Angelegenheit gänzlich der Weisheit des Rates anheim. Zuletzt wurde, nachdem die Mönche abgetreten waren, die Sentenz gefällt, daß das Bäuerlein seine Hand auf den Klotz legen, und daß Hans Buck, der Scharfrichter, die Schneide des Beils darüberhalten und dann wegziehen solle, damit der Bauer gnädiges Recht erhalte und die Unehre fühle, doch ohne Leibesschaden.

Konrad Hutfeld sah genau auf das Goldstück, bevor es in die Kutte der Mönche fiel, doch schwieg er und billigte den Beschluß. Nur der Stadtschreiber Seifried wollte seine Verachtung nicht bergen, als er am Ende halblaut fragte, ob er den Vorfall unter der Rubrica Gaunerei oder Gewalttat gegen den Rat in das Stadtbuch eintragen solle, und erst ein strafender Blick des Burggrafen wandelte ihm die spöttische Miene. Die Thorner liefen in hellen Haufen zu, um Hans Buck mit seinem Beil zu sehen; die Predigermönche aber hatten den größten Vorteil, denn um den Altar, auf welchem das Engelsgold aufgestellt wurde, war seitdem ein Gedränge von Betenden, und alle, die in Not waren, lauschten nach dem Klange eines Geldstücks. Doch der Engel hatte keines mehr, das er zu werfen vermochte.

Georg ging am nächsten Tage zufrieden in seine Schule, er sah nach dem Zeiger der Uhr auf St. Johannes, um ein wenig vor der Zeit einzutreffen. Denn er hatte bereits gemerkt, daß Anna zuweilen vorher im Museum des Vaters beschäftigt war; entwich sie auch schnell, wenn ein Schüler nahte, so hatte er doch bei solcher Gelegenheit die Freude, sie zu grüßen und in ihre Augen zu sehen. Auch heut glückte es ihm, denn Anna trat aus dem Raume, als sie seinen Tritt auf der Treppe hörte; aber als er ihr mit höflichem Gruß zu sagen wagte: »Dem Bauer ist es wohl gelungen, er hat seine Faust gerettet«, da versetzte sie traurig: »Wenn Ihr meinen Vater fragt, wird dieser Euch sagen, daß es vielleicht noch größere Sünde war, den Engel zu spielen als den Teufel.«

»Der Junge ist doch mit seiner Mutter ganz voll von Met und Bier aus der Stadt gefahren, mit Semmeln und Würsten beladen, die ihm als Ehrengeschenk wegen des Wunders von den Leuten zugetragen wurden.«

»Ein anderer aber hat das Heiligtum gemißbraucht zu losem Streich und die Mönche und Stadtleute in falschem Glauben bestärkt, und er trägt die Verantwortung, wenn die Seelen in ihrem Irrtum verhärtet werden.« Damit ließ die Eifrige den Verdutzten stehen. Er schlug auf den Pfosten der Treppe, auch seinerseits unwillig, und dachte: »Ihr ist nichts recht; nie habe ich eine Jungfer gekannt, welche eine so scharfe Bürste führt. Ich weiß nicht, warum ich mich um sie kümmere, es gibt wohl noch andere, welche freundlicher gegen mich sind.«

Er bestand den Tag schlecht in der Lektion, und die ärgerliche Gemütsstimmung hielt bis zum Abende an. Denn als Anna spät in ihre Kammer kam, hörte sie wieder die Laute aus dem wüsten Gestein eine bekannte Weise spielen, und sie vernahm zum erstenmal, daß der Lautenspieler auch zu singen vermochte, – nicht schlecht – die Worte klangen undeutlich, aber ihr war wohlbekannt, daß sie lauteten: »Ich armes Käuzlein kleine, wo soll ich fliegen hin, ich muß mich von dir scheiden, ganz traurig ist mein Sinn, es geschah mir nie so Leides. Ade, ich fahr dahin.«

Da setzte sie sich auf das Bett, schlug die Arme übereinander und sang den letzten Vers leise vor sich, so daß niemand als sie selbst etwas davon vernehmen konnte: »Ade, er fährt dahin! – Ich merke, er wird nicht wiederkommen«, sagte sie, indem sie ihr Haar löste und in Gedanken die langen braunen Flechten durch die Finger gleiten ließ.

Es blieb auch wirklich mehrere Abende still, und Anna dachte jedesmal, wenn sie zur Nacht ihr Haar aufband: Es ist gut, daß der Gesang zu Ende ist! Aber die Zufriedenheit dauerte nicht lange, denn am nächsten Sonnabend, als sie in ihre Kammer getreten war und gerade vor sich hinsummte: »Ich armes Käuzlein kleine«, wurden die Geister wieder unruhig, und diesmal erklang nicht nur die Laute, sondern auch die Pfeife und ein Bassettel. Sie sprang vom Bett und eilte an das Fenster, aber sie fuhr sogleich zurück und dachte ärgerlich, daß sie die Dreistigkeit ruhig ertragen müsse. Da rührte sich's auch im Museum und der Magister rief in den Flur hinaus: »Hörst du die Geister lärmen, mein Kind? Einer spielt gar das Bassettel.«

»Ich höre, Vater,« antwortete Anna bekümmert, »was werden die Leute sagen?«

»Sie werden wohl wieder ein Wunder daraus machen,« versetzte der Magister in guter Laune, »kannst du dir denken, was die Musica soll?«

»Ich weiß es nicht, Herr Vater, wir sind ja fremd hier.«

»Das ist richtig«, sagte der Magister. »Sollten unter meinen Schülern einige sein, welche mir und dem Museum zu Ehren dies Nachtstück aufführen? Das war sonst nicht die Art meiner Schützen; aber jede Stadt hat ihre Bräuche, und ich habe unter ihnen bereits zwei Musensöhne zur Strafe notiert, welche ihre Lust so wenig bezwingen konnten, daß sie während der Lektion auf einem Kamme bliesen.«

»Vater, ich glaube nicht, daß diese es sind.«

»Jedenfalls muß der mit dem Bassettel ein starker Gesell sein; ich möchte wissen, wie sie das Instrument über Wasser und Steine hineingebracht haben.«

Unten bellte ein Hund, die Hoftür öffnete sich und der Ratsdiener drang in den Hof in nächtlicher Tracht mit einer großen Schlafmütze und einem Feuerrohr, hinter ihm seine Frau, welche die Laterne hielt, aber den mutigen Gatten am Bund seiner Beinkleider zurückzog. »Wer erkühnt sich, wer unterfängt und wer unterwindet sich, den Frieden der Nacht zu stören?« fragte Lischke gegen das Gemäuer, doch hörte man seiner Stimme die Aufregung an. Er rief umsonst, die geisterhaften Musiker fuhren fort, ganz versunken in ihre Kunst, die liederliche Weise zu spielen: Wer hier mit mir will fröhlich sein, das Glas will ich ihm bringen, trink, mein liebes Brüderlein, so wird dir's wohl gelingen. Der Ratsbote, welcher sich bis dahin hinter dem Zaun des Gartens gedeckt hatte, drang kühn noch einen Schritt vor und rief wieder gegen die wüste Stätte: »Seid still oder ich feuere«, und er hob sein Rohr. Da schwieg die Musik einen Augenblick und eine hohle Stimme tönte gewaltig zurück: »Der Rat hat alles Schießen in der Stadt verboten«, und sogleich ging der Lärm weiter. Lischke setzte verdutzt das Rohr ab und sagte, sich zu seiner Frau umwendend: »Sie wissen Bescheid und sie haben recht.«

Oben lehnte sich der Magister zum Fenster hinaus und lachte laut: »Laßt sie gewähren, Herr Hauswirt, ich freue mich der Ehre«, und er rief ihnen den Vers eines lateinischen Dichters hinüber, in welchem die stygischen Schatten aufgefordert werden, sich in den Orkus zurückzuziehen.

Das Erscheinen des Magisters und die lateinische Beschwörung bewirkten, was dem Ratsdiener nicht gelungen war, die Musik verstummte plötzlich. Die Lauschenden vernahmen nur noch den Abendwind, der über den Strom wehte, und sahen nichts als ragende Trümmer und oben die kleinen Sterne, welche durch die Wolken blinzten. Der Hund bellte noch einmal gegen die Ruinen und Lischke ging laut scheltend in das Haus zurück. Der Magister schloß zufrieden das Fenster. »Den Virgil vermochten sie nicht auszuhalten, er hat sie verscheucht; er soll noch manchem von ihnen schrecklich werden.«

Anna aber sprach in der Kammer zu sich selbst: »Das kann und darf nicht so fortgehen und es muß dem Dreisten verboten werden. Doch gegen den Vater traue ich mich nicht davon zu reden, da ich doch nichts Sicheres weiß, und ich fürchte seine Heftigkeit.« Da kam ihr wieder der Rat zu Hilfe. Denn die trotzigen Neustädter, welche weniger Mitleid mit nächtlichen Musikanten hatten als die in der Altstadt, und außerdem jetzt durch die Erscheinung von Teufeln und Engeln aufgeregt waren, trugen eine Klage über Unruhe in dem verwünschten Schloß aufs Rathaus; und weil der Rat sich um alles kümmerte, was das Gemüt der regierten Bürgerschaft aufregen konnte, so wurde Lischke als Hüter der Stätte ernsthaft ermahnt, dies Getöse junger Gesellen zu stillen. Als der Diener nach Hause kam, war er wegen der Ermahnung widerwärtig gegen seine Frau und sprach strafend: »Ihr Weiber fürchtet die Geister, wo gar keine zu finden sind, auch der Rat meint gerade wie ich, daß es nur Unruhstifter sind und sie sollen den Ernst erkennen.« Das klagte wieder Frau Lischke gegen Anna: »Meiner ist ganz wild, und der Rat hat ihm erlaubt, wenn sie nicht gutwillig weichen, das Rohr zu gebrauchen; wandeln sie in Fleisch und Bein, so mögen sie den Schaden tragen. Selbst wenn Georg König zu ihnen gehört.«

Anna fragte erschrocken: »Warum denkt Ihr auf diesen?«

»Weil er bei jedem Schabernack geschäftig ist,« versetzte die Wirtin, »und schlimmer als andere im Gassieren und Anlachen der Mädchen und Frauen.«

Die Miene Annas wurde sehr streng, und die Wirtin, welche selbst eine zierliche Frau war, fuhr verschämt fort: »Auch Euch hat er gekränkt und Ihr seid nicht die einzige, denn voriges Jahr beim Vogelschießen wagte er sogar im Vorübergehen seinen Arm um mich zu schlingen und, ich glaube, er hätte mich geküßt, wenn ich mich nicht ihm entwunden hätte. Doch durfte man ihm das nicht so übel deuten, denn er war gerade frohen Mutes, weil er einen glücklichen Schuß getan hatte. Und die Bürger halten ihm auch mehr zugute als anderen.«

Da erkannte Anna aufs neue, daß der Schüler ihres Vaters ein gefährlicher Hausgast war, den ein Mädchen sich fernhalten mußte; sie hatte die Absicht gehabt, der Wirtin eine vertrauliche Warnung für Georg anzuempfehlen, aber die Art, in welcher Frau Lischke von der Dreistigkeit des Gesellen gesprochen hatte, mißfiel ihr heimlich, und sie bedachte seufzend, daß sie selbst die Musik ihm wehren müsse. »Noch dies eine Mal rede ich mit ihm und nicht wieder.«

Deshalb geschah es, daß sie ihm begegnete, als er in die nächste Lektion kam, und da er sie mit leuchtenden Augen grüßte, begann sie leise: »Mein Vater und ich sind fremd hier, und es liegt uns daran, die gute Meinung der Thorner zu gewinnen; wir werden sie aber verlieren, wenn in den wüsten Steinen neben uns zur Nachtzeit Musik gemacht wird, wie seither öfter geschah. Da Ihr in der Stadt wohlbekannt seid, so werdet Ihr für die Ruhe und den guten Ruf meines lieben Vaters und aller Hausleute sorgen, wenn Ihr den Anstifter erkundet und ermahnt, daß er unsern Nachtfrieden nicht mehr stört.«

Georg sah zu Boden, endlich fragte er ergeben: »Sagt mir nur, ob Euch das Lautenspiel auch lästig wäre, wenn es von niemandem vernommen würde als von Euch allein.«

Anna erschrak über die dreiste Frage und antwortete tonlos: »Ja.« Da zuckte ein so tiefer Schmerz über sein Gesicht, daß sie fast die kurze Antwort bedauert hätte, er wich zurück und sprach mit mühsam gedämpfter Bewegung: »Die Musik soll Euch nicht mehr stören.« Gern hätte sie ihm für die Bereitwilligkeit gedankt, aber sie fand nicht Worte und schied mit stummem Gruß.

Seitdem hielten die Geister Ruhe, und Lischke triumphierte über ihre Furcht. Georg aber stampfte mit dem Fuße heftig auf den Boden, als er die Schule verließ: »Es gedeiht nimmer zwischen ihr und mir und ich will gar nicht mehr an sie denken.«

Bevor er seinen Beschluß ausführte, beschwerte er sich noch einmal bei seinem Vertrauten Philipps: »Sie spricht anders und sie hält sich anders wie unsere Mädchen.«

»Sie ist aus Kursachsen«, erklärte Lips.

»Sie hat auch andere Gedanken. Keine unserer Jungfern hat so stolzen Sinn und so vornehme Art.«

»Soll ich dir meine Meinung sagen,« entschied Lips, »sie ist eines Magisters Kind, Topf wie Kessel, sie ist eine Schulmeistersche.«

»Dir stände besser an,« rief Georg, »wenn du sie mit einer Herzogin verglichst.«

»Eine Herzogin, die ich gesehen habe,« antwortete Lips, »trug einen Schleppenpelz und blies über beide Achseln. Das ist nicht nach meinem Gefallen. Wie ich gewachsen bin, so tanze ich. Mir ist die Jungfer am liebsten, die mich haben will, so wie ich bin.«

»Sie gleicht einem Heiligenbilde,« klagte Georg wieder, »kannst du dir ihre Augen denken, daß sie holdselig anlachen, kannst du ihren Mund denken, wie er küßt? Und kannst du dir denken, daß sie abends die Tür öffnet?«

»Warum nicht«, versetzte Lips.

Da aber fuhr Georg zornig auf ihn los. »Willst du an so etwas denken?«

»Das ist ja deine Sorge«, entschuldigte sich Lips. »Aber darf ich dir einen Rat geben, denke auch du nicht mehr an die Fremde, denn sie macht dich ärgerlich. Und wenn meine Geige bei der nächtlichen Reise über Graben und Mauer zerbricht, dann werden alle Ständchen in Thorn ein jämmerliches Ende finden. Darum sage ich, schlage sie dir gänzlich aus dem Sinn.«

Das versprach Georg aufs neue. Und es wäre ihm vielleicht gelungen. Aber die Jahreszeit war dazu nicht geeignet. Es kam ein Mai, so lind und froh, wie er im Nordlande seit Menschengedenken nicht gewesen war. Die Vögel sangen wunderschön, die Sonne lachte und die Bäume blühten, alle Locken flogen in dem warmen Hauch, durch alle Sinne drang die Wonne des Frühlings in die Seelen, und die jungen Gesellen und die Mädchen schwangen sich in Wohlgefühl und Überkraft dahin wie zum Tanze. Das war keine Zeit, einen roten Mund zu vergessen und zwei tiefblaue Augen, und am wenigsten wollte das ihm gelingen, der jeden Tag in die Gefahr kam, die Geliebte wiederzusehen. Oft wenn Georg unglücklich darüber grübelte, daß eine, welche schöner war als alle andern, ihn in der Stille mit Abneigung betrachtete, fielen ihm die Worte ein, mit denen sie ihn gescholten hatte, dann sprang er leicht wie ein Ball über die Gasse und rief: »Solch hohen Mut und solch redliches Herz gibt es nicht weiter auf Erden«, und war auf kurze Zeit so froh, als ob ihm die fremde Jungfrau einen Kranz von Rosen aufgesetzt hätte. In der Schule aber war er in dieser Zeit nicht gerade lustig und hielt sich stiller als sonst. Aus diesem Benehmen erriet Anna endlich, daß es nicht mehr nötig war, ihn durch Strenge abzuschrecken, und sie vernahm auch ohne Widerwillen, wenn der Magister einmal Georgs Vortrag lobte. Denn der Magister ließ seine Patrizier gern Reden aus dem Livius memorieren und vortragen. Dann ergriff er seinen Stock und setzte sich mit übergeschlagenen Armen vor sie hin. »Hier sitzt euer Konsul Fabricius. Da ihr dereinst als Oratores vor dem polnischen Senat eure Worte stellen sollt, so sorgt jetzt, daß ihr vor dem römischen Rate wohl besteht.« Wenn nun Anna in Küche und Flur beschäftigt war und die Stimme Georgs hörte, so unterbrach sie die Arbeit, um zu vernehmen, ob er auch gewichtig und ohne Stocken die schweren Worte herausbrächte, ja, es geschah, daß sie die Küchentür öffnete und harrte, bis er an die Reihe kam. Dann stand sie an den Pfosten gelehnt und lauschte mit vorgebeugtem Haupt, und wenn der Magister zuletzt urteilte: satis bene, flog ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie nickte zufrieden.


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