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Neunzehntes Kapitel

Es waren freilich einige Leute in Hilligenlei, die, leise und spöttisch lächelnd, alte Bilder auffrischten: Ist das nicht Tjark Dusenschön, der uneheliche Enkel von der alten verdrehten Stiena, die im langen Haus für andere Leute Strümpfe stopft? Ist das nicht Tjark Dusenschön, der im Hemd und englischledernen Büxen den Krautfischern entgegenlief, sich ein Abendbrot zu betteln? Ist das nicht Tjark Dusenschön, das lange Rekel, das für eine Mark Tagelohn bei Daniel Peters Schreiberdienste tat und so komisch steif den Fuß schleppte? Aber solch Reden dauerte nur so lange, als man Tjark Dusenschön nicht gesehen hatte. Sah man ihn, so waren einem solche Gedanken aus dem Kopf geschüttelt. Plötzlich. Man sah sich vergebens nach ihnen um. Man hatte sie nicht mehr; und bekam sie auch nicht wieder. Einen so machtvoll würdigen Eindruck machte Herr Dusenschön.

Man soll diesen ruhigen, ernsten Mann wohl seiner Wege gehen lassen! Diesen Mann mit dem immer gleichen dunkelgrauen soliden Rockanzug, ehrbare, breite Taschenklappen seitwärts auf den Schößen, diesen Mann mit dem bartlosen, nachdenklichen Gesicht und dem ruhigen Gang der etwas gebogenen Beine. Tjark Dusenschön hatte früher ganz gerade Beine gehabt. Jetzt waren sie etwas gebogen. Gebogene Beine geben dem Mann etwas Bodenständiges und Solides.

Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen? Daniel Peters? Zu Daniel Peters ging er gleich am ersten Tag, nachdem er den großen, leeren Schuppen von Dittmar gekauft hatte, und traf zugleich die beiden alten, fetten Ratmänner. Er sprach mit einer schönen, weichen Stimme, und mit Augen, in denen es zuweilen von kommenden Tränen blitzte, von seiner harten Jugend; glitt leicht und glatt über die drei Jahre hin, die er in diesem Hause unter Daniel Peters gearbeitet hatte, erzählte, wie er sich in Hamburg mühselig hinaufgearbeitet und zuletzt mit bescheidenen Mitteln in Grundstücken spekuliert hätte und, mit Gott und Glück, zu einigem Vermögen gekommen wäre. Nun, gewissermaßen auf der Höhe seines Lebens angekommen, habe er auf seine armen Anfänge zurückgeschaut und habe den Gedanken gefaßt, seiner Heimat, wenn es möglich wäre, Gutes zu tun. Er hege diesen Gedanken mit um so fröhlicherem Herzen, als an der Spitze von Hilligenlei Männer ständen, welche wüßten, was einer kleinen Stadt in diesen schwierigen Zeiten not täte. Danach fing Tjark Dusenschön an, die Idee seiner Wurstfabrik zu entwickeln.

Daniel Peters hatte alles würdevoll angehört bis zu der Stelle, wo er sein Lob vernahm. Von da an hörte er nicht weiter zu, sondern fing an, seinen schönen Schnurrbart zu streichen und sich die Rede auszuarbeiten, die er halten wollte, wenn die Stadt ihm und Dusenschön, als ihren Wohltätern, einen Fackelzug brächte. Die Fackeln lohten; und er stand auf der Treppe des Rathauses. »Meine Herren ... es war eine glückliche und große Stunde für diese alte gute Stadt, als Herr Dusenschön ihr Weichbild betrat; und es war wiederum eine glückliche und große Stunde, da derselbige Mann in meine Amtsstube trat und ich, das Glück und die Größe der Stunde mit schnellem Geiste erkennend ...« Dabei, immerfort an seiner Rede arbeitend, nickte er würdevoll zu dem, was Tjark Dusenschön über Brandkassenwert, und erste und zweite Hypothek, und Konservenlieferung an die Marine und dergleichen vorbrachte.

Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen? Die Handwerker? Er gab ihnen viel Arbeit. Und wenn er seine schlichte, schwarze Geldtasche hervorzog, um Notizen zu machen, wurde es ihnen blau vor den Augen. Sie waren begeistert von ihm. Wenn er zu Maurer Bimstein sagte: »Meister, bringen Sie morgen Ihre Rechnung mit,« oder zu Tischler Sagebock: »Na, Meister, werde ich Ihre Rechnung auch bezahlen können?« dann lachten die beiden von Herzen. »Hat keine Eile, Herr Dusenschön! Das Geld steht nirgends sicherer als bei Ihnen.« Der Leibriemen saß ihnen lose genug, und die Frau sagte: »Du solltest dir von Dusenschön die Rechnung bezahlen lassen; ich muß vom Kaufmann auf Borg holen.« Aber die Meister wollten sich nicht lumpen lassen.

Wer soll Tjark Dusenschön mißtrauen? Die Wohlhabenden? Er wurde nach einem viertel Jahr einstimmig in den Domklub aufgenommen. Es war das erstemal, daß es geschah. Andre Leute hatten immer einige Gegner; aber Tjark Dusenschön hatte keine Gegner. Er kam jeden Abend in den Klub, zu ganz bestimmter Zeit, sagte nicht viel und trank noch weniger. Als der neue Benzinmotor im Schuppen aufgestellt war, gab er ein kleines Sektfrühstück, wobei er sein mildes, ruhevolles Lächeln bewahrte und selbst am wenigsten trank. Er benahm sich so vorsichtig, so taktvoll, daß er nicht einmal den Amtsrichter Dunker beleidigte, der doch im Laufe des Jahres jedes Klubmitglied einmal hart anfuhr, weil er sich den ganzen Tag, von Morgen bis Abend, ja selbst in der Unterhose, gegenwärtig hielt, daß er Reserveoffizier war. Dazu war er ein Mann von milder, konservativer Gesinnung. Er stellte diese seine Gesinnung gern mit nachdenklichen Worten dar, nickte ernst mit dem Kopfe und sagte: »Wer, wie ich, so viele Jahre hindurch mühselig hat ringen müssen, bis er sich ein bescheidenes Vermögen und die Achtung der Menschen erworben hat: der ist nicht fürs Vorwärtsstürmen.«

Es gingen von Haus zu Haus wilde Gerüchte über Tjark Dusenschöns Vergangenheit. Einige sagten, er hätte eine halbe Million in der Lotterie gewonnen. Andere, er hätte seinem Rechtsanwalt in Hamburg gezeigt, wie er einen ungeheuer großen Prozeß gewinnen könnte; andere: es stecke die Königsfamilie dahinter, von der Tjark Dusenschön abstamme; andere: die Tochter eines Admirals sei in Tjark Dusenschön verliebt und habe ihren Vater beredet, daß die Marine die Hauptabnehmerin würde. Dies letzte Gerücht gewann in verschiedenen Fassungen immer mehr Gehör, und stärkte die Stellung Tjark Dusenschöns gewaltig. Es war überhaupt großartig! Für wie manchen in Hilligenlei ist es der größte Augenblick seines Lebens gewesen, wenn Tjark Dusenschön ihm den Benzinmotor zeigte, oder den Speckschneider, oder den Knochenzertrümmerer, oder wenn Tjark Dusenschön ihn in den großen vollen Wurstkessel hineinsehen ließ.

Viele Leute hatten gute Tage. Die Rentner in der Faulstraße lagen in diesem Sommer den ganzen Vormittag über ihren Gartenpforten, die halblangen Pfeifen im Mund, und erzählten sich von einer Pforte zur andern von Tjark Dusenschön. Wenn es ganz etwas besonderes gab: wenn er eine neue Maschine angeschafft, oder statt zehn zwanzig Schweine verarbeitet hatte, trennten sie sich schwer atmend und mühselig von ihren Pforten, und kamen zueinander, was sie sonst nie taten ... Die Wirtschaften waren von nachmittags fünf Uhr an voll besetzt, und hallten von lauten Reden über die große Gegenwart und die mögliche Zukunft von Hilligenlei. Schlosser Nagel und Tischler Sagebock, welche beide für gewöhnlich von ihren Frauen nicht aus dem Hause gelassen wurden, heuchelten mit ungeheurer Geistesanstrengung wichtige Arbeitswege, und gingen in Schurzfell, mit dem Handwerkszeug in der Hand, unterwegs, und standen, da sie über Wirtshausgeld nicht verfügten, an jeder Straßenecke und schwatzten. Bei Rieke Thomsen im langen Haus saß zur Teezeit, das heißt vormittags von acht Uhr an, und zur Kaffeezeit, das heißt nachmittags von ein Uhr an, ein dicker Haufe von älteren Weibern, und Stiena Dusenschön saß in der Mitte und tanzte im Sitzen einen wunderschönen Walzer, daß die Haubenbänder wogten, und Rieke Thomsen saß in ihrem großen Stuhl, sah bald in die Hafenstraße hinein, bald zur Seite über die Bucht und sagte: »Als er ein kleiner Bötel war – das ist ein jähriger Hammel – da habe ich schon oft gesagt, daß etwas besonderes aus ihm würde. Die andern Jungs, der Lau und der Jans und die Bojes, und was hier sonst herumkroch, das war nichts.«

Die lebendigsten Leute aber in ganz Hilligenlei waren Jan Friech Buhmann und Heine Wulk. Diese beiden hatten überhaupt, aber besonders in diesem Jahr, von allen Hilligenleiern die allertiefsten und auch die allerhöchsten Gedanken. Nicht allein, daß Jan Friech einen Plan der großen Chicagoer Schlachtereien auftrieb und auf Grund dieses Tjark Dusenschön oben auf dem Deich über Vergrößerung seines Betriebes bis halb um die Bucht herum einen Vortrag hielt, wobei er mit der großen rostroten Kneifzange nach allen Himmelsrichtungen deutete, sondern er brachte auch die Idee auf, daß Tjark Dusenschön mit seinen Arbeitsmitteln und seinem Gelde dem langsamen Abbröckeln des Dänensandes ein wenig nachhelfen müßte und würde. »Er muß da zehntausend Mark hineinschmeißen; er bekommt vierzig wieder.« Er legte auch diesen Plan Tjark Dusenschön vor, ein wenig verlegen, wie er immer war, wenn er mit seinem früheren Freunde sprach; Tjark Dusenschön hörte lächelnd zu. Heine Wulk aber schrieb heimlich an den Verleger des landläufigen Schulgeographiebuchs einen langen, schwungvollen Brief: er müßte in der nächsten Auflage bei Hilligenlei drucken: berühmt durch seine große Wurstfabrik; und brachte in einem tönenden Leitartikel die Rede auf jene alte Geschichte, daß ein Sohn Hilligenleis diese gute Stadt zu einem wirklichen Hilligenlei machen würde.

Es ist ja begreiflich, daß es schwer ist, einem Mann, der sich wie Tjark Dusenschön kleidet und benimmt, zu widerstehn. Aber einer ist da: der wird ihm widerstehn! Einer kennt ihn von seiner Kindheit an. Einer hat einst vergebens versucht, einen ehrlichen Menschen aus ihm zu machen. Dieser eine wird ihm widerstehn ... Als Tjark Dusenschön am zweiten Tag in der Tür des Kornhändlers Pe Ontjes Lau erschien, sah der ihn groß und fragend an, sah die großen, soliden Seitentaschen mit den Überklappen, sah dies ruhige, ernste, bartlose Gesicht, und stand langsam auf und sagte: »Setz' dich, Tjark Dusenschön! Mich freut, daß es dir gut geht.« Und verlegen scherzend sagte er: »Nun mußt du mir helfen, daß der Hafeneingang vertieft wird.«

Da flammte ein leises Leuchten in Tjark Dusenschöns Augen auf und er sagte: »Gerade darüber wollte ich mit dir reden.«

Seitdem kam er einmal in jeder Woche, in der Dämmerstunde, in Pe Ontjes Kontor und redete gemächlich über dies und das, und sagte vertraulich, daß der Betrieb noch nicht sehr günstig arbeitete, da die ganze Anlage zu provisorisch und zu klein wäre. »Ich kann aber einstweilen nicht mehr in die Sache hineinstecken,« sagte er, »weil der größere Teil meines Vermögens in einer Dachpappenfabrik bei Berlin steckt, wo es mir gute Zinsen bringt.«

Anna ließ sich nie sehen, wenn Tjark Dusenschön da war. Wenn sie zufällig im Kontor oder auf dem Kornboden war und Tjark Dusenschön kam, ging sie mit stummem Kopfnicken hinaus. Sie sagte in ihrer klaren und kühlen Weise: »Du und Kai Jans habt mir mehr als einmal erzählt, was er für ein Junge gewesen ist. Es kommt nicht vor, daß ein Mensch anders wird.«

Dann sah Pe Ontjes sie ein wenig spöttisch an und sagte: »Was sagt die Bojemutter von ihren eignen Kindern? Daß sie hochmütig sind. Tjark Dusenschön ist in seiner Kindheit barfuß gegangen; das kann Anna Boje ihm nicht vergessen.«

»So?« sagte sie und nahm den Kopf sehr hoch und sah ihn sehr klar an. »Wie stehen denn die Bojekinder zu Kai Jans?«

»O!« sagte er, »der hat studiert!«

»Ach,« sagte sie spöttisch. »Du!« und drehte sich um und ging nach der Wohnstube und spielte mit ihrem Kind.

Einige Wochen später kam Pe Ontjes in die Wohnstube, wo sie mit ihrem Kind saß, und sagte eifrig: »Du, es ist klar, daß die Hafenrinne bald vertieft wird. Tjark Dusenschön setzt es durch. Es ist klar – er spricht allerdings wenig davon –, daß die Regierung in irgendeiner Art hinter ihm steht. Sie will offenbar unserer Stadt, die doch eine ungünstige Lage hat, aufhelfen und hat ihn veranlaßt, die Wurstfabrik hier anzulegen, und wird ihm Konservenlieferungen für die Armee geben. Überhaupt: das muß ich sagen – ich beobachte ihn genau – es ist von früher her nichts mehr in ihm; die letzten fünfzehn Jahre haben einen ernsten Mann aus ihm gemacht.«

Sie machte ihr kühles Gesicht und sagte: »Ich habe noch niemals gesehen, daß ein Mensch sich bekehrt hat. Obgleich du es in der Kirche jeden Sonntag hören kannst: wer sich nicht bekehrt, kommt in die Hölle; ich habe noch niemals einen bekehrten Menschen gesehen. Es sind vielleicht einige, was man so sagt: fromm geworden und Kirchgänger; aber sie nahmen alle ihre Bosheiten mit hinein in ihre Frömmigkeit. Ich habe gesehen, daß einige Menschen ihre Röcke änderten; aber ich habe niemals gesehen, daß ein Mensch seine Natur änderte.«

»Was für eine Rede!« sagte Pe Ontjes. »Wie alt bist du? Siebenundzwanzig! Aber ihr Bojes wißt und könnt alles.«

Ihre schönen Augen wurden dunkel vor Zorn; die Bojes konnten es nicht vertragen, wenn man an ihrer Familie oder an ihrem Charakter mäkelte. »Du bist so groß,« sagte sie, »und so tüchtig; aber du bist gleich verwirrt, wenn ein Mensch mit rascherm Geist auf dich los geht. Von Anfang an habe ich das an dir gesehen und habe mich davor gefürchtet.« Und sie machte die Tür hinter sich zu und blieb den Tag über in der Schlafstube und Küche.

So stand und arbeitete nun Tjark Dusenschön mitten in Hilligenlei als ein Herzog. Und die Städte, so wie sie da in Reih und Glied am flachen, grünen Strand liegen, von Dänemark bis nach Hamburg hinunter, alle miteinander: Tondern und Husum, Tönning und Meldorf, Wilster, Krempe und Glückstadt, und wie sie alle heißen: als sie von dem Glück hörten, das Hilligenlei widerfahren, wollten sie erst wieder spotten. Denn sie spotteten immer gern über Hilligenlei, weil es da so träge herlag, und sagten, es müsse zum Abbruch verkauft werden. Jetzt sagten sie: »Nun ... wohlan ... Hilligenlei, das heilige Land, kommt in die Wurst.« Als sie aber Tjark Dusenschön kennen lernten, und als die Hilligenleier erzählten, wie die Regierung hinter Tjark Dusenschön stände, da gaben sie den Spott auf und wurden von gelbem Neid gepackt ... Und die Hilligenleier, wenn sie in diesem Jahr in eine jener Städte kamen, gingen noch mehr als bisher mit steifen Beinen und hohen Schultern, und sprachen noch mehr mit verengter Kehle, und lächelten noch viel klüger zu jedem Wort, das die andern sagten. Das fiel sogar den Hamburgern auf, die doch selbst protzig genug sind. Als die Hilligenleier Krämer in diesem Herbst dorthin kamen, um ihre Lager zu vervollständigen, hundert Pfund Rosinen und tausend Pfund Stabeisen und was sie sonst brauchten, einzuhandeln, war nicht mit ihnen umzugehen, und wenn sie nachher vorm Alsterpavillon saßen, um eine Tasse Kaffee zu trinken, streckten sie die Beine über den halben Bürgersteig.

Also gelangte Hilligenlei nun endlich nach jahrhundertelangem Schimmeln und Spaken zu einer neuen Blüte. Das alte, ehrwürdige Gerede von Hilligenlei, dem heiligen Land, schien in der Gestalt von Tjark Dusenschöns Wurstfabrik allmählich in Erscheinung zu treten.

*

Auf den Spielplätzen in Hilligenlei am Burggraben und am Hafen und oben auf den Hügeln spielten und lärmten in diesem Herbst die Kinder, genau wie ihre Natur sie lockte. Und unter den alten Linden neben der Domschule sprangen die kleinen Jungen an die großen heran und nannten die Namen der Mädchen, für welche die großen schwärmten, und ärgerten sie auf jede andere Weise. Da drehten die Großen sich um und hetzten die Kleinen, und wenn sie einen fingen, steckten sie ihn kopfüber in den großen Haufen dürrer Lindenblätter, die an der Planke lagen.

Da hub auch, so allmählich, in dem kleinen, verwitterten Hause unter den Kastanien ein Spiel an: das alte, heilige Spiel, das man zu Zweien spielt. Kommt ein Dritter, ist er ein Spielverderber.

Heinke Boje hatte ihr Jahr abgedient und war wieder nach Haus gekommen. Sie stand am Herd, sorgte für die beiden Schülerlein in der Giebelstube und saß mit Strick- oder Flickwerk am Fenster. Sie war nun groß und voll geworden, ein schönes, weiches, ganz klares und stilles Frauenbild. Und es fehlte ihr die Weite und Breite des Pfarrhauses und die kluge Unterhaltung mit dem guten, wunderlichen Pastor; und sie sah in Sinnen auf die Straße und auf das dunkle Wasser des Burggrabens, und empfing die freundlichen, langen Briefe von Kai Jans und schrieb an ihn, und stand in Sinnen auf und kam zu ihrer Schwester und sagte: »Ich will ein wenig mit dem Kleinen spielen.« Dann ging sie mit dem Kind in die Wohnstube, kniete auf dem Fußboden und sah das Kind an, als sähe sie es zum erstenmal, und drückte es gegen ihre Brust und herzte es auf die lieblichste Art, und konnte sich nicht satt daran sehen und gab das Kind wieder an Anna und ging nach Haus. Unterwegs und nachher bei der Arbeit war sie wieder still und ruhig. Und wenn einer sie gefragt hätte, so hätte sie noch wie vor zwei Jahren gesagt: ›Ich fühle mich noch ganz wohl in meiner Haut.‹ Das machte, daß Kai Jans ihr Freund war und ihre unbewußte, süße Hoffnung.

Also saß sie jeden Nachmittag so um vier am Fenster und beugte den Kopf unter dem hellblonden Haar, ganz wie Anna getan hatte. Und die Primaner gingen vorüber und sahen rasch zur Seite ins Fenster hinein. Aber darauf achtete sie nicht.

Da kam ein nebliger Oktobertag und sie saß am Fenster, ganz in Gedanken, und hörte viele Knabenfüße und sah auf; denn sie sah gern die frischen Jungengesichter. Als sie aber nun aufsah, waren da allerdings die, welche sie erwartet hatte; aber mitten in ihrem Haufen ging, mit einem kleinen Bücherstapel unterm Arm, ein junger, fremder Mann vorüber. Als nun die Jungen nach ihrer Gewohnheit ins Fenster sahen und ihr zunickten, da sah auch der junge Lehrer auf, und sah das stolze Gesicht unter dem schweren, hellen Schein und wurde ganz ernst und grüßte.

Einige Tage später ging sie zu ihrer Schwester hinüber, so wie sie ging und stand, ohne Hut und in der Schürze; da kam der junge Lehrer ihr entgegen und sah in Gedanken zur Erde, wie es sich für einen Gelehrten ziemt. Sie sah ihn und freute sich unbewußt an seiner Erscheinung. Es war so etwas natürlich Gemütvolles in seinem Gang und seiner Haltung. Er war nicht größer als sie. Als er hörte, daß jemand ihm entgegenkam, hob er die Augen und erkannte sie wieder und erschrak vor ihrer süßen und schlichten Schönheit. Er faßte sich aber rasch wieder und grüßte sie ruhig, mit tiefem, ehrerbietigem Ernst. Sie sah in ihrer natürlichen Art ruhig und klar in sein Gesicht und dachte: ›Ei, was für schmucke, kluge Jungenaugen, und wie merkwürdig ernst.‹ Und sie freute sich.

Als sie mit Annas Kind gespielt hatte und wieder nach Hause ging, kam ein Quintanerlein des Wegs, mit dem sie eine ihrer etwas streitsüchtigen Freundschaften unterhielt. Sie faßte ihn beim Henkel seiner Jacke, der herausstak, und fragte ihn, wie es ihm ginge, und dann, ob er auch bei dem neuen Lehrer Unterricht hätte.

»Wen meinst du?« sagte er. »Da sind zwei neue, ein dünner und ein dicker, ein schwarzer und ein heller.«

»Das ist mir einerlei, Mensch,« sagte sie. »Ich frage deinetwegen, nicht wegen der Lehrer.«

»Sie sind beide gut,« sagte er. »Die jungen Lehrer sind fast alle gut. Der Helle ...«

»Hell ist er ja gar nicht, Jung.«

»Dunkel doch auch nicht.«

»Blond ist er.«

»Das ist Doktor Volquardsen. Wir sagen Peter zu ihm, weil er ganz gemütlich ist, ich glaube, er heißt auch wirklich Peter. Er gibt bloß Deutsch, Geschichte und Englisch. Er hat neulich drei Sekundaner auf seine Stube genommen und hat ihnen Bilder gezeigt. Er ist so 'n Bildernarr. Der andere, der Schwarze ...«

»Ach, Jung!« sagte sie. »Was gehn mich deine Lehrer an! Mach, daß du wegkommst!«

Darauf vergingen einige Wochen, daß er im Vorübergehen nichts weiter von ihr sah als die hellen, glänzenden Flechten, die so sauber, schlicht und voll auf dem jungen Haupte lagen. Sie aber sah nichts anderes als zuweilen die dünne, silberne Uhrkette und die Hand, die über den kleinen Bücherstapel griff, und seinen ruhigen, ein wenig losen Gang und dachte: ›Er ist noch ein rechter Junge ... Heiraten könnte man so einen nicht, das ist unmöglich! Kai Jans dagegen! Der ist ein fester, starker Mann!«

So verging der Winter, und es kam leise und früh, auf vorsichtigen Sohlen, ein erster Frühlingstag. Da hatte sie schon den ganzen Vormittag eine Unruhe in den Gliedern, sang und hatte wunderliche Gedanken: als wenn sie zu Tanz möchte, oder in den grünen, lichten Wald springen, oder als wenn sie, Annas Kind auf dem Arm, gegen den frischen, sonnigen Wind angehen möchte, und das Kind hüpfte in ihrem Arm.

Am Nachmittag, nachdem sie aufgeräumt hatte, zog sie ihr blaues Wollkleid an und die lose, schwarze Sommerjacke und ging nach den Hügeln hinauf, und bewahrte sich in dem schönen Sonnenschein, der vom Himmel herunterbrach, und in der großen, weiten Landschaft ihre Stimmung voll wunderbarer Freudigkeit. Als sie die Höhe erreicht hatte, zog ein Leichenzug von Volkmersdorf den hohen Weg entlang nach Hilligenlei zu. Voran, auf einem schweren Kornwagen, der Sarg, dahinter die sieben oder acht leichten Wagen, die Volkmersdorf aufbringen konnte. Hinter der Wagenreihe in der Ferne lagen die stillen, dunklen Wälder von Holstein. Sie stand und sah hinüber und dachte es sich schön, so in einem stillen Dorf aufzuwachsen, niemals anderswo zu wohnen, ein reines und fleißiges Dasein zu führen und dann zu sterben, und an solch erstem Frühlingstag im Schatten des alten Doms begraben zu werden. Und sie wurde über diesen Gedanken noch fröhlicher. Zuletzt, auf dem Heimweg, kurz vor der Stadt, half sie noch einem kleinen Mädchen, das sein Schwesterlein im Wagen gefahren hatte. Der Wagen war umgefallen und Wagen, Kind und Bettzeug lagen nebeneinander. Lachend half sie den Wirrwarr ordnen.

In der Stadt begegnete ihr kein Mensch und sie blieb so in heiligem, schönem Sinnen und war ganz allein auf der Welt; nur die ewige Macht sah ihr zu. Und ihre Augen leuchteten von dem innern Glanz.

Als sie in den Burggarten einbog, begegnete ihr die kleine zehnjährige Dete Greve und lachte sie an und sagte: »Du gehst wie Ruth, als sie morgens zum Ährenlesen ging.«

»Kind,« sagte sie, »wie kommst du darauf?«

»Wir haben ein Bild von ihr in der Schule,« sagte sie.

Da bückte sich Heinke und legte beide Hände an ihre Schultern und sagte: »Ich weiß nicht mehr, was es mit der Ruth war. Einerlei: da hast du einen Kuß.« Sie hatte das Kind gern, weil es immer freundlich war und ganz ohne Ziererei.

Als sie unter die Kastanien kam und nicht mehr fern von ihrer Haustür war, kam der junge Lehrer ihr entgegen. Er ging wieder so in Gedanken und sah sie nicht. Als er, nicht mehr weit von ihr, an ihrem Hause vorüberging, drehte er vorsichtig den Kopf, ob er wohl hinterm Fenster die hellen Flechten sähe, sah sie aber nicht, und machte ein komisch ärgerliches Gesicht, und wie ein Jäger, der auf unglücklichem Anstand steht – laut sprechen darf er nicht –: »Schiet!« sagte er leise und sah auf. Da kam sie, dicht vor ihm, auf ihn zu und sah ihm lachend gerade ins Gesicht; und die Schönheit der Gefühle, die sie in dieser Stunde in der Seele trug, funkelte um ihre Augen und um ihre ganze Erscheinung.

»O!« sagte er verblüfft, »da sind Sie!« und biß sich auf die Lippen und lachte leise verlegen auf und ging vorüber.

Nun sah sie im Lauf ihres täglichen Tageswerkes oft im Geist sein drolliges Gesicht, und wie es gleich darauf so ernst und rot wurde. Sie kannte nun nicht allein seine Erscheinung, sondern auch ein gut Stück seiner Seele, daß nämlich neben dem sinnigen Ernst ein freundlich drolliger Schelm in ihm war. Er aber sah im Geist immer ihre lachende, gütige Schönheit.

Da begab es sich nach acht Tagen: Da nahm im Gang der Domschule der Mathematiklehrer, der ein sehr genauer aber nicht unfreundlicher Mann war, den jungen Kollegen zur Seite. »Sie sollen mir versprechen,« sagte er, »daß Sie über das, was ich nun sagen will, lachen wollen.«

Das versprach er, wenn auch mit bangem Herzen.

Da sagte der: »Ich weiß, daß Sie aus einem guten und sehr ordentlichen Hause sind; Ihre Mutter hat die Kleidung ihres Sohnes immer selber nachgesehen und alles wohl ausgebessert; aber jetzt haben Sie es fremden Leuten übertragen müssen. Man sieht nun seit siebzehn Tagen, hier unten an der rechten Seite der Joppe, den schwarzen Futterstoff herausragen.«

Da machte er erst ein steifes Gesicht und sagte: er werde seinen Sekundanten schicken, weiter hätte er ihm nichts zu sagen. Dann wurde er zornig und schalt auf seine Wirtin. Dann lachte er. Dann fragte er, ob er, der Mathematiklehrer, ein gutes Quartier für ihn wüßte. Der schickte ihn zum Direktor. Der nannte diesen und jenen Namen. Unter ihnen die Lehrerwitwe Boje in dem kleinen, verwitterten Hause am Burggraben. »Da ist im Herbst die Giebelstube frei geworden. Es ist eine stille, saubere Frau.«

Da ging er am selben Abend eine Stunde lang im Dunkeln spazieren; zuletzt ging er noch dreimal in schweren Gedanken den ganzen Kastanienweg auf und nieder. Denn er fühlte, daß er einen Schritt tun würde, der wahrscheinlich über sein ganzes Leben entschied. Dann gab er sich einen Ruck und ging hinein. Und erschrak vor der Klingel, und sah mit ernstem Gesicht in die Diele.

Die Stubentür ging auf und Heinke stand da in dem Licht, das mit heraus kam, und dachte: ›So! Nun macht er einen dummen Jungenstreich!‹ Und sagte ein wenig verwirrt, aber doch ruhig, er möchte hinein kommen. »Mutter ist nicht da,« sagte sie.

Er kam herein und setzte sich auf den bequemen Stuhl der Mutter. Und erzählte, nun schon wieder guter Dinge, mit fröhlichen Augen, was er mit seiner Joppe für ein Unglück gehabt hätte.

Sie hörte mit großen Augen und zuckendem Mund zu und dachte: ›Was ist das für ein wunderlicher Mensch! Er sitzt da und redet mit mir, als wenn er von Kindsbeinen mit mir aus einem Napf gegessen hätte. Aber man kann ihm unmöglich böse sein: es ist alles so schlicht und natürlich.‹ Und sie lachte ihn an.

Und nun wollte er Frau Boje bitten, ob sie ihm die Giebelstube überlassen und ihn rund umher besehen wollte. Weiter würde er ihr nichts zu schaffen machen. Er esse im Wirtshaus, und die Wäsche schicke die Mutter.

Sie dachte: ›Natürlich soll er die Giebelstube haben! Der liebe, wunderliche Mensch. Und der will ein Doktor sein und Lehrer!‹

»Wir haben bisher nur kleine Schüler gehabt,« sagte sie, »noch niemals einen Lehrer. Wir sind so einfache Leute.«

»Das paßt mir ja gerade,« sagte er und drehte den Kopf nach allen Seiten und stand auf und nahm Piets Bild, das auf der Kommode stand, und sah sie lange ruhig an und sagte: »Die Ähnlichkeit ist groß. Dies ist Ihr Bruder Piet. Ich habe mich nach der ganzen Familie erkundigt.« Und sah sich wieder um und sagte: »So ungefähr sieht es auch bei meinen Eltern aus, bloß daß die Stube dreimal so groß ist. Wir haben einen Hof bei Lübeck. Ich mag dies Haus so gern: Der Giebel hat eine schmucke Form; und vormittags spielen die Schatten der großen Kastanienblätter auf seiner Wand.«

»Aber die Menschen!« sagte Heinke.

»O!« sagte er. »Mit Ihrer Mutter werde ich leicht fertig werden; ich habe sie einmal am Fenster gesehen. Das wird eine Kleinigkeit. Sie glauben nicht, wie leicht ich mit meiner Mutter fertig werde. Und Sie? Mit Ihnen kann ich überhaupt keinen Streit bekommen.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Nun, als ich neulich hier vorm Fenster die Grimasse machte, da wäre ein anderes Mädchen entsetzt gewesen, ein anderes beleidigt, ein anderes verwirrt; Sie aber taten, aus ihrer gesunden Natur heraus, das einzig Richtige: Sie lachten über mich. Sie sind immer bei der Natur und haben große Freude daran.«

»Ja,« sagte sie, »besonders an dem Kleinsten und Dummsten drin.«

»Sehen Sie!« sagte er, und lachte sie an, und freute sich über ihren Spott.

Sie waren noch im besten Zug, da kam Mutter Boje, und Heinke ging hinaus, das Abendbrot zu besorgen. Bald darauf hörte sie, daß er mit fröhlichem Abschiedsgruß fortging.

Am andern Tag kam er mit seiner Bücherkiste und mit der unseligen Jacke und bezog die Giebelstube, und behing die Wände mit seinen geliebten Bildern, und legte auch einige graue Mappen, die voll davon waren, auf den Tisch.

Aber am dritten Tag gestand er ehrlich und ernst: wenn sie, Heinke Boje, nachmittags mit dem Kaffeegeschirr in der Hand in der Tür stände, dann wäre sie viel, viel schöner als alle Bilder, die er hätte.

Da merkte sie, daß er nicht einer von jenen Kunstliebhabern wäre, die über einer alten Türeinfassung das Kindlein vergessen, das auf der Schwelle sitzt und mit Armen und Beinen wippt; und er stieg in ihrer Achtung.

Die Mutter sagte: »Er käme gewiß ebenso gerne zu uns herunter und tränke den Kaffee bei uns.«

»Nein,« sagte sie lebhaft und bestimmt. »Er ist ein ganz wunderlicher und verdrehter Mensch; er sagt, er kann nur zwischen seinen Bildern Kaffee trinken.«

»Ach,« sagte die Mutter, »das ist ja Unsinn.«

»Ja,« sagte sie, »das ist es leider. Er redet immer Unsinn, aber man kann ihm nicht böse werden.«

Er trank den Kaffee rasch aus im Stehen; indes stand sie vor irgendeinem der kleinen, schlichten Bilder, billigen guten Wiedergaben von alten und neuen Werken. Dann kam er zu ihr, und zeigte ihr mit klugen, ernsten Worten die Schönheit und Bedeutung des Bildes und erzählte, welche davon er in den Galerien gesehen hätte, und prahlte mit einer Reise, die er vor zwei Jahren als Student bis nach Palermo hinunter gemacht hätte.

Sie empfand und verstand alles, was er von den Bildern sagte, und hatte eine köstliche, ganz neue Freude daran; und widersprach ihm zuweilen. Den Bismarckkopf von Lenbach und den Ritter mit Tod und Teufel von Dürer und das Selbstbildnis von Böcklin: wie er gerade anfangen will zu malen, da steht der Tod hinter ihm und fiedelt sein Lied vom Sterben: die gefielen ihr. Aber eine italienische Prinzessin, die er so sehr bewunderte, liebte sie nicht. »Sie hat sich mit Stirnband und Kinnkette gezäumt,« sagte sie, »und tut ganz fromm; aber bald fängt sie an zu beißen.«

»Nun,« sagte er, »und Sie? Wenn man Sie ansieht, wird einem auch bange. Man denkt: nun muß es kommen.«

»Was muß kommen?« sagte sie.

»Es ist etwas in Ihnen, was ich noch nicht kenne ... Ich weiß nicht,« sagte er sinnend.

Er sah sie so ernst und forschend an, wie er seine Bilder ansah. Sie sah ihn mit denselben Augen an, ernst und unverwirrt. Sie wunderten sich sehr übereinander.

Nach einiger Zeit hatte er schon, wenn sie kam, eine Mappe auf den Tisch gelegt und sie beugten sich beide über den Tisch und besahen sie. Er kümmerte sich gar nicht darum, ob die Figuren nackend oder durch Gewand verhüllt waren; so war auch sie ganz harmlos. Mit köstlichem, sinnigem Ernst deutete er ihr, was seine schönheitsfrohen, geübten Augen sahen. Ihre Seele weitete sich und ihre Wangen wurden leicht rot, und sie atmete hoch auf und sagte: »Das Leben ist noch einmal so schön und so groß, wenn man an diesen Dingen Freude hat.«

»Ja,« sagte er, »und nun erst die Natur! Was für Freuden hat sie für den, der ihre lieben Schönheiten sieht. Wir wollen einmal zusammen einen langen, einsamen Spaziergang machen, dann will ich dir zeigen, was ich sehe.«

Sie nickte sinnend mit dem Kopf: »Das wäre schön!«

»Das werden großartige Stunden,« sagte er, »so ganz allein mit dir.«

»Nun sind Sie glücklich beim ›du‹ angekommen,« sagte sie.

»Ach,« sagte er, »laß uns doch ›du‹ sagen, wenn wir hier oben allein sind; die ganze Siesagerei ist ja ein Unsinn. Es ist ein Spaß,« und seine Augen freuten sich, »daß ich mit dem Schönsten in aller Natur auf du und du stehe.«

»Was ist das Schönste?« sagte sie lachend.

»Heinke Boje.«

»Das dachte ich mir.«

Dann beugten sie sich wieder über die Mappe; und er fuhr mit dem Finger über das Bild und zeigte ihr alles.

Und er nannte sie ›du‹ und ›Heinke‹, und sie nannte ihn Peter oder Peterlein; aber sie mußte jedesmal lachen, wenn sie es sagte. Zuweilen, wenn sie so nebeneinander saßen, schob er den einen Arm in den ihren und faßte sie am Handgelenk. Sie dachte wohl zuweilen: ›Es ist doch ein starkes Stück; er tut alles, was er will.‹ Aber sie beruhigte sich gleich wieder und sagte sich, daß ein natürliches und reines Herz ihn so handeln ließe. Er vergab sich nie etwas. Immer blieb er wie ein guter, schelmischer Bruder, der mit seiner schönen Schwester Scherz und Ernst redet.

Also ging sie harmlos und natürlich mit ihm um und tat ihre Seele auf, in dem Gefühl: die ist auch etwas wert, und setzte ihn immerfort in allerlei Verwunderung und widerstand ihm oft, und es half ihm nichts, daß er große Augen machte und zornig wurde und sie am Handgelenk schüttelte.

Sie blieb genau eine halbe Stunde; dann stand sie auf und ging.

So verlebte sie die zehn Wochen, bis es gegen Pfingsten kam, und dachte: ›Mein Leben ist nun fast reich und bunt geworden. Es ist zu lieb, mit ihm umzugehen. Wenn man bei ihm ist, ist immer Sonntag.‹ Und leise dachte sie: ›Wie merkwürdig, daß er mich nicht küssen will! Aber darin ist er eben ein Junge. Er ist noch ein Junge. Solche Gedanken muß ich auch nicht haben. Wenn es Kai Jans wäre! O ha! Der würde anders mit Heinke Boje umgehn!‹


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