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Die Klara, der Hamburger Gaffelschoner, trieb vor flauer Brise in haushoher Dünung auf dem südchinesischen Meer. Sie hatte den achttägigen Sturm schlecht genug überstanden, die halbe Reeling und das ganze Vorderhaus waren über Bord gegangen und das Großsegel dazu.
Sie waren schlimm hineingefallen.
Als sie vor vierzehn Tagen am Kai von Hongkong entlang lümmelten, lag die Klara auf dem Strom, lang und schlank, und die Masten wunderbar nach vorn gestagt. Piet Boje, der jede Linie an jedem Schiff mit den Augen fraß, starrte nach dem Schoner hinüber und wartete auf das Boot, das an Land steuerte, und fragte den schmächtigen, linkischen Mann, der im Boot saß und sie forschend ansah, nach Namen und Fahrt.
»Mit Tee und Matten nach Havre,« sagte er. »Wir können noch zwei Mann brauchen. Ich bin der Steuermann.«
Sie fragten noch dies und das, während Piet mit langen, hungrigen Blicken nach dem grauen Schoner hinüber sah. Dann traten sie zurück und beredeten sich. Sie wären lieber nach Amerika hinübergefahren, nach Frisco oder Vancouver, auf einem der gewaltigen hölzernen Schoner, Viermaster, stark und neu und mit der besten Heuer auf der Welt. Aber am Ende war es gleichgültig, wohin; und dieser Schoner ... er war fein gebaut.
Da musterten sie auf dem alten, guten Schiff ordnungsmäßig ab, aber mit merkwürdig unruhigem Gewissen, und drückten sich davon, als wollten sie auf schlechten Wegen ungesehen sein.
Nun schwammen sie schon acht Tage und wußten, daß sie eine große Dummheit gemacht hatten.
Der Alte war den ganzen Tag betrunken. Der Steuermann war ein Lapp; er hätte Schneider werden sollen und nicht Seemann. Der Koch, ein älterer, versoffener Mensch, fuhr schon länger auf der Klara und hatte im Lauf der Zeit dem Alten den Kram aus der Hand gespielt. Die zwölf Mann Besatzung waren vor acht Tagen in Hongkong und Macao aus aller Herren Länder zusammengesucht: ein Hamburger, der ganz in Schnaps verkommen war, ein langer blasser Franzose, zwei Südöstreicher und ein Holländer, drei Italiener und zwei Belgier, ein kurzer, gemütlicher Däne, ein schmutziger Werftarbeiter von Gadeshead, der hinkte; alle ganz jung und unbefahren und alle mehr oder weniger vom Schnapsteufel besessen. Keiner war über zweiundzwanzig.
Und das Schiff? Was soll ich mit schönen Linien, wenn ich in jeder Wache eine Stunde an der jankigen und klapprigen Pumpe stehen muß, und Tuch und Tau und Eisenwerk vermodert und verrostet sind?
Nun hatte der Sturm ihnen das ganze Vorderhaus weggerissen, mit Logis und Kombüse, mit Kisten und Säcken und allem.
Sie standen breitbeinig auf dem schmierigen, glitschigen Deck des schwerrollenden Schiffes, die meisten angetrunken, alle durchnaß; hungernd und frierend; einige klarten das Tauwerk auf, das aus den Speigatten schwabbelte; andere besserten an elenden, alten Segeln; andere flickten an der Reeling. Sie fluchten dabei und beredeten das Unglück.
Piet Boje saß mit verfinstertem, ganz verschlossenem Gesicht halb in Segeltuch vergraben; Kai Jans stand überwacht und müde, mit einem elenden Zug im scharfgewordenen Gesicht, und spleißte an einem Topsegelfall. Wenn einer aufsah, sah er am andern vorbei. So schämten sie sich ihrer Dummheit.
Da fingen die andern an, Piet Boje zu höhnen: »Sag' mal, Hilligenleier? Was arbeitest du so? Und warum schleichst du so um den Alten und den Steuermann? Und warum liegst du in all der Kälte an Deck, wenn du Freiwache hast, und schläfst nicht?«
Er riß sich zusammen, lachte und sah sie freundlich an: »Ich bin bange um euer Leben,« sagte er. »Darum passe ich auf, bei Tag und Nacht.«
Aber sie sagten: »Wir trauen dir nicht. Ganz und gar nicht. Das sollst du wissen.«
»Falsch ist er,« sagten mehrere.
»Gestern,« sagte der Östreicher, »hatte ich mir einen angetrunken und spleißte und machte es ihm nicht rasch genug: Da riß er mir das Tau aus der Hand und sah mich an ... ich sage euch: es sprang ein wütender Kater aus seinen Augen.«
Da trat Kai Jans vor, der sonst nie etwas sagte, legte seine flache Hand auf die Brust und sagte: »Ich will Gift darauf nehmen, daß er ein ehrlicher Junge ist; ich kenne ihn von Kind an.«
Da wunderten sie sich und schwiegen.
Nach einer Weile konnte Kai Jans an Piet herankommen. »Du,« sagte er leise mit schwerer Stimme, »wenn du den Teufel machst, mach' ihn gut, und mach' ihn immer, Tag und Nacht, daß sie nichts merken.« Und plötzlich, da er das gesagt hatte, kam ihm der Gedanke, wozu er eigentlich von Hilligenlei weg in die weite Welt gegangen war, und es stieg ihm heiß und naß in die Augen: »Wir verkommen in diesem Schmutz,« sagte er und atmete schwer.
»Kopf hoch,« sagte Piet, »fürchte dich nicht! So wahr Gott im Himmel ist und ich bleibe gesund in diesem Dreck, so wollen wir Hilligenlei wieder sehen. Komm, wir wollen lügen und trügen, wachen und luchsen.«
Es kam eine elende Zeit. Sie hausten mit vierzehn Mann in den kleinen, dumpfen Löchern im Hinterdeck.
Der Kapitän saß in seiner Freiwache in seiner Koje, trank und schlief, und klempnerte an kleinen, zierlichen Segelschiffsmodellen, von denen er wohl fünfzig Stück, alle verschieden und genau nach der Wirklichkeit zusammengelötet hatte; jedes hatte seine Berechnung, Zahlen und Stärken, auf einem Stück Papier in seinem Bauch. Damit beschäftigte er sich immerzu und trank dabei. »Der Alte,« sagte der Hamburger, »das will ich euch sagen! Der hat in jungen Jahren eine schöne Segelschiffswerft am Reiherstieg gehabt, wißt ihr: in Hamburg. Aber dann hat er das Saufen angefangen, hat seinen ganzen Kram vernachlässigt, hat Bankrott gemacht und ist zur See gegangen ...« Während seiner Wache saß er gebeugt und unbeweglich auf der Skylightbank, irgendeins der Modelle auf den Knien, und starrte bald auf das zierliche Ding in seiner Hand, bald über Bord.
Der Steuermann saß gedrückt und unsicher zwischen den Leuten. Nun er mit ihnen zusammen hausen mußte, hatte er den Rest der Sicherheit verloren. Er wagte nicht, ihnen etwas zu sagen, und sie kümmerten sich nicht um ihn.
In dem großen, eisernen Grapen, der oben mit Zeisings festgebunden war, rührte der Koch das halbgare, schmutzige Essen. Die Bohnen waren hart, das Salzfleisch hatte einen fauligen Geruch und das Hartbrot fing an, lebendig zu werden. Sie ließen sich das alles gefallen; denn der Koch trug den Schlüssel zum Kümmel auf seinem bloßen Leibe. Trinker haben keine Empfindung für Unreinlichkeit.
Nach acht Tagen wurde der lange blasse Franzose krank; seine Beine schwollen an. Er humpelte in Lee an der Reeling entlang und sah über Wasser und hatte Heimweh. Er war guter Leute Kind; aber der Schnaps, den er schon als Junge gemocht hatte, hatte ihn um Gesundheit und Charakter gebracht. Bald darauf wurde auch der eine Belgier krank; er wurde gelb wie eine Quitte und seine Augen brannten. Er lag in der Kammer des Kapitäns in der dunklen Ecke auf ein wenig altem Segeltuch; hatte die Hände auf der Brust gefaltet und nahm nichts zu sich, als dann und wann ein Stück von dem verdorbenen Hartbrot, das der Franzose in Kümmel tauchte und zwischen die widerwilligen Zähne schob.
Die andern blieben gesund; waren aber abwechselnd betrunken oder schlapp.
Piet Boje arbeitete für zwei und wachte für vier; er wurde knochig wie ein junger Jagdhund, der bei magerem Futter steht, und blieb bei fester, stählerner Kraft. Kai Jans aber, der von Kind an von biegsamem, zartem Wuchs war, wurde schmal, und seine Brust sank ein wenig, und sein Rücken wurde ein wenig gebogen, als hätte er einen schweren Kornsack auf den jungen Schultern; sein Gang wurde müde und seine Augen bekamen einen trocknen, kranken Schein.
So fuhren sie, ein Jammerschiff, dem Süden zu, und kamen in die Hitze vor den Sundainseln, und der Geruch im Hinterdeck wurde unerträglich. Da holten sich Kai Jans und Piet und der Däne und der Steuermann, dazu der Franzose, die ganze Backbordwache, Matten aus der Ladung und machten sich auf der Back eine Art von Hütte und lagen nun da und sahen nachts nach dem ruhigen, feierlichen Tropenhimmel über sich. Die Masttoppen strichen hin und her durch die Sterne.
Da sie nun sahen, daß der Alte auf der Skylightbank oft einschlief, das Schiffsmodell auch im Schlaf sorgfältig in der Hand – ein wunderliches Bild im Sternenschein – und daß er zuweilen hinunterstieg, neuen Spiritus auf sein dürftig Lämplein zu gießen, und daß auf dem Großdeck die Flasche kreiste: da beschlossen sie, daß immer einer von ihnen wachen sollte. Aber Kai Jans fielen die Augen zu.
So kamen sie langsam in die Nähe des südchinesischen Inselgewirres; der Wind war stark böig und schralte zuweilen.
Und in der vierten Nacht waren sie alle eingeschlafen, übermüde von Elend und Arbeit.
Da erwachte Piet Boje von einem schweren Klappern und Schlagen; er sprang auf, riß seinen Geist mit wildem, auffahrendem Willen aus dem Schlaf und lief schreiend nach achtern und sprang ans Ruder. Eine starke Bö fiel hart in die Segel. Er stieß den Mann, der betrunken am Ruder lag, mit dem Fuß zur Seite, und warf das Rad hart Backbord. Die andern kamen auch auf und sprangen an die Brassen und riefen nach der Wache. Aber da war nichts als ein schlafender Haufe Betrunkener. Da holten sie das Gaffeltoppsegel allein herunter. Das Schiff fiel glücklich wieder ab.
Der Steuermann war aus Rand und Band; er schlug sich mit der Faust vor den Kopf: »Was tu' ich,« sagte er. »Was tu' ich!«
»Der Kümmel muß über Bord,« sagte Piet. »Jetzt, in diesem Augenblick. Da liegt der Koch ... der hat den Schlüssel.«
»Es geht nicht,« sagte der Steuermann und schüttelte jammernd den Kopf. »Ich habe das einmal getan; da wurde der Kapitän sinnlos und raste, und der Koch spuckte in den Grapen.« Er setzte sich auf die Treppe, faltete die Hände zwischen den Knien und sagte ganz in Gedanken, zu sich selbst: »Wenn ich diesmal nach Hause komme, will ich es aufgeben, und will mir eine Wirtschaft am Deich kaufen.«
Piet fuhr bitter auf: »Wenn wir einen Deich wiedersehn.«
»Ich kenne den Reeder,« sagte der kleine Steuermann leise und sah mit großen Augen vor sich hin. »Ein Mensch mit großen Füßen und einem Gesicht wie ein Bulle. Die Klara steht vorm Kondemm und soll versaufen. Das ist es. Darum hat sie einen solchen Kapitän und einen solchen Steuermann.«
Da stand der achtzehnjährige Piet Boje plötzlich dicht vor ihm und sagte mit sprühenden Augen: »Steuermann ... laßt uns wie zwei Männer miteinander reden, treu und brav,« und er schlug sich vor die Brust. »Sorgen Sie dafür, daß der Alte mir die Steuerbordwache gibt.«
»Er tut es nicht, Hilligenleier ... er tut es nicht! ... Und was wird der Koch sagen und der Belgier?«
»Ich bin zweiundzwanzig und war schon zwei Monate in Emden: da ging mir das Geld aus.«
»Hilligenleier: es schlägt nicht an.«
»Mein Vater hat eine kleine Werft in Hilligenlei; ich bin in den Spänen der Werft groß geworden und habe mir auf den Helgen die Hosen zerschlissen. Das sagen Sie dem Alten! ... Kai Jans, du weißt es.«
»Es ist so,« sagte Kai Jans laut. »Ich kann es beschwören, Steuermann.«
Der Steuermann stand auf und ging hinaus und Piet Bojes Gesicht verzerrte sich, daß es häßlich war: »Ich will ihn bekatzbuckeln, hinten und vorn; am Tag aber, wo ich von Deck geh', spuck' ich ihm in sein Grützgesicht.«
»Sei still!« sagte Kai Jans, und heißes Weh stand in seinem gelben fiebernden Gesicht.
Bald darauf kam der Kapitän wahrhaftig herauf, und fragte Piet Boje mit einigen Worten aus. Der stand mit treuherzigen, ehrerbietigen Augen vor ihm und sagte ihm alles, was er hören wollte. Darauf rief er seine Wache zusammen und sagte: »Lüed ... von nun an geiht Piet Boje mien Wach.«
Es gab eine große Erregung. Piet Boje tobte. Er schwur, er täte es nicht. Kai Jans sagte verächtlich: »Steuermannsschule? Aufs Patent kommt es an!« Auch der kleine gemütliche Däne, der treu zu ihnen hielt, sagte: Der Piet wäre ihm wohl recht; aber dies wäre gegen die Ordnung, und Ordnung müsse sein. Sie logen und heuchelten; ihre niedersächsische Verschlagenheit glänzte und gleißte. Da beruhigten sich die andern und sagten: »Dann laßt ihn da auf der Poope stehn und das Steuer selbst halten und wachen; dann wollen wir supen.«
Da trat Piet Boje an diesem Abend die erste Wache an, beugte sich über den Kompaß und sah mit harten fliegenden Augen nach den Segeln.
Kai Jans, der mit ihm zur Backbordwache übergegangen war, stand mit schweren Beinen und dumpfem Kopf am Ruder. Seine Arme zuckten von der schweren, stoßigen Arbeit an der Pumpe. Der Rest der Wache betrank sich an diesem Abend mehr als je. Gegen Mitternacht kam der eine Italiener, ein ganz junger Mensch, gutmütig, und nur von der schlechten Nahrung und von Prahlsucht zum Trunk verführt, mit der vollen Flasche nach achtern, bot sie wankend Piet an und sagte etwas in seiner Sprache. In plötzlicher Bewegung faßte Piet ihn und preßte ihn gegen seine Brust, sah ihn wild an und sagte: » I want to see my mother, you blackguard« und ließ ihn los. Der ging schimpfend nach vorne.
»Kai Jans, my boy ... es genügt nicht, daß du deine Hände brauchst und deine Beine. Du mußt auch noch deinen Kopf brauchen, wie ich es tu'. Weißt du was? Mir hat einmal ein Junge in Hilligenlei gesagt, du könntest Geschichten erzählen. Mach deinen Mund auf, Kai Jans, und erzähle, daß sie das Saufen vergessen.«
»Ich kann nicht, Piet; ich bin zu scheu.«
»Es kommt unruhiger Wind auf und sie wollen nicht wachen ... Wir haben vier Fuß Wasser im Raum, und sie wollen nicht pumpen.«
»Ich kann nicht, Piet. Ich kann es mir wohl in mir selbst ausdenken; aber ich kann es ihnen nicht ins Gesicht erzählen.«
»Tu es, Kai ... Wir wollen doch nach Hilligenlei? Bis Kapstadt, Kai! Da laufen wir von Bord ... Kai ... in Kapstadt laufen wir von Bord!«
Da ging Kai Jans mit schweren, schleppenden Füßen die Treppe hinunter, sagte gemütlich: »Kinder ... wir müssen ein wenig pumpen.«
»Ach, pumpen! ... Du sollst mit uns trinken, du Ducker ...«
»Gebt her! ... Nun aber kommt ...«
Da fingen sie an zu pumpen und waren bald überdrüssig.
»Nun ist's genug.«
»Ist das eine Arbeit!«
»Ja ... Mein Großvater,« sagte Kai Jans, »hatte es besser als ich.«
»Was geht uns dein Großvater an?«
»Na nu? Mein Großvater? ... Der hat was erlebt, das sage ich euch!«
»Erzähl,« sagte der kleine Däne. »Erzähl ein Stück von deinem Oldefader.«
»Ja ... wir wollen erst ein wenig pumpen ...«
»Ja ... was mein Großvater gewesen ist ... Der hat lange Jahre zusammen mit einem andern gedroschen, der hat Ohle Griesack geheißen ... Ja ... der hat jeden Abend seine beiden großen Stiefel voll von Korn gefüllt und so jeden Abend ungefähr vier Pfund Korn nach Haus geschleppt. So'n Kerl war das.«
»Wir wollen mal wieder pumpen ...«
»Aber das tollste war, daß er kein schlechtes Gewissen hatte. Wenn er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, dann hätte der Pastor wohl nichts dazu gesagt. Aber wenn Ohle Griesack nach Hause kam und die Stiefel ausschüttete, lachte er. Das konnte der Pastor natürlich nicht so ansehen und ging hin. Er setzte sich breit und wichtig auf den Lehnstuhl und ließ erst so zwanzig bis dreißig Bibelsprüche auf ihn niederhageln. Aber Ohle Griesack blieb ganz ruhig. Das ginge ihn alles gar nichts an, sagte er; er dürfe tun, was er in seinem Gewissen verantworten könne; er fühle ein Recht, das Korn zu nehmen, und sei nie friedlicher und glücklicher, als wenn er sich abends auf seinen Lehnstuhl setze, die Stiefel ausziehe und das Korn ausschütte; was der Pastor sage, wäre chaldäisch für ihn. Er wurde gemütlich und schenkte dem Pastor einen Schnaps ein und wünschte ihm, daß er immer ein so gutes Gewissen hätte, wie er. Na ... Da ging der Pastor, und sagte es am selben Abend dem lieben Gott.«
»Wir wollen mal wieder pumpen ...«
»Na ... Der liebe Gott denkt dann wahrhaftig erst daran, selbst hinzugehen; schickt aber dann einen von seinen Steuerleuten. Als Ohle Griesack so in der Dämmerung mit seinen schweren Stiefeln, langsam und so recht gemütlich den Schafweg entlang nach seinem Hause geht ... wer sitzt da auf dem Heck von Mumm Ahrens? Der Engel Gabriel. Seine weißen, schweren Flügel hängen bis an die Erde und als er absteigt, bleibt der eine Flügel am Nagel hängen und er löst ihn mit seinen weißen Händen, und geht mit Ohle Griesack und redet ihm zu. Aber der blieb dabei, er könne mit dem besten Willen nicht. Und wenn er sein Inwendiges mit der Laterne durch und durch leuchte, wie jene Witfrau im Evangelium ihr Haus, er könne eine unreinliche oder dunkle Stelle, wo ein Teufel hocke, nicht finden. Dann lud er den Engel ein, bei ihm einzutreten, zog gemütlich seine Stiefel aus, schüttete das Korn aus, und ging auf Strumpfsocken und holte die Kümmelflasche, entschuldigte sich, daß er nur ein Glas im Haus hätte, und trank sich einen mit dem Engel und freute sich, daß es dem Engel so gut schmeckte. Der ging zum lieben Gott und erzählte ihm: So und so ... und da wäre nichts zu wollen! Ja ...«
»Wollen mal 'n paar Schläge tun.«
»So! ... Da sagte der liebe Gott: ›Denn hilft das nichts; denn muß ich ja selbst in die Stiefel und mit Ohle Griesack sprechen.‹ Und machte sich auf und wollte kein Tagwerk an die Sache wenden, sondern meinte, er könne es vorm Kaffee abmachen und ging in aller Herrgottsfrüh – in the morning of our Lord – zu dem Bauern und saß schon auf einem Weizensack, als Ohle Griesack und mein Großvater auf die Dreschdiele kamen. Ohle Griesack bekommt doch einen kleinen Schrecken, als er den alten Herrgott da auf dem Weizensack sitzen sieht, so ganz ohne seinen Staat, aber mit Augen, die nicht von gestern sind. Er redet denn ja nun freundlich auf Ohle Griesack ein; aber er erreicht nichts. Gar nichts. Ohle Griesack, der ein kleiner, stämmiger Kerl mit runden, hohen Schultern war, zog die Schultern noch höher, so daß es wahrhaftig aussah, als wenn er drei Köpfe hätte, und sagte: ›Wenn der liebe Gott ihm ein böses Gewissen schenkweise geben wolle, so würde er sich schönstens bedanken; er selbst könne es sich nicht verschaffen; Mühe genug habe er sich gegeben. Im übrigen: nichts für ungut.‹ Da geht der liebe Gott ja denn so wieder weg; mag sich aber natürlich da oben nicht sehen lassen und treibt sich den ganzen Tag in London und Hamburg am Hafen umher, aber am Abend muß er ja wieder nach Haus. Na ... sie machen ja heimlich ihre Gesichter und freuen sich, daß der Chef mal hineingefallen ist und setzen sich zum Abendbrot und lassen es sich gut schmecken. Da hebt der liebe Gott, der oben an der Tafel sitzt, den grauen Kopf und sagt zum Tod, der immer an seiner Tür steht: er solle hingehen und Ohle Griesack heute nacht noch zu Weges Ende bringen; dann könne er gleich zu dem alten Kreisarzt Rühmann in Hilligenlei gehen, daß er morgen früh bereit wäre, Ohle Griesack die Mütze abzunehmen. Wissen wolle er, was an dem Menschen sei. Ja, das wolle er.«
»Wir woll'n mal wieder pumpen.«
»So! ... Das geht ja nun los. Mein Großvater hat bei dem Schwerkranken gewacht, bis er tot war ... Am Morgen in aller Frühe – mein Großvater hat sich gerade Ohle Griesacks kurze Pfeife angesteckt, die er sich für die Wache zugedacht hat – da kommt der alte Rühmann und bald darauf der liebe Gott mit zwei von seinen Himmelsleuten. Der alte Rühmann schneidet; auch die Engel beugen sich über Ohle Griesack; der liebe Gott sitzt einstweilen, ruhig zurückgelehnt, in Ohle Griesacks Lehnstuhl und sieht sich so gemächlich in der Stube um, und freut sich, daß sie so sauber ist.
»Da schüttelt der alte Rühmann den Kopf und sagt, er könne nichts finden. ›Wir auch nicht,‹ sagen die beiden Engel. ›Es ist ganz wie bei den anderen Menschen.‹
»Da seufzt der liebe Gott und holt hoch Atem und sagt: ›Was so ein holsteinischer Tagelöhner einem doch für Mühe macht!‹ und steht auf und nimmt das Hirn in die hohle Hand und besieht es mit seinen glänzenden, klaren Augen. Und bald – er hat nicht lange hingesehen – sagte er: ›Seht ... hier ist es ... hier die kleine Windung ... seht ihr? ... sie geht ein ganz klein wenig einen anderen Weg. Damals ... wißt ihr noch? ... als wir das Hirn des guten Dichters besahen? Da war es dieselbe Windung, die aber wiederum anders lief. Hier gab's einen Dieb, da einen Dichter. Es ist ein Gequark und Gequäse mit den Menschen! Sie quarken, und quäsen, und richten, und richten. Sie sind unglaubliche Besserwisser und Nörgelpeter! Und dabei habe ich ihnen erst vor zwei Tagen durch den Heiland ganz klar und deutlich meine Meinung sagen lassen: ›Richtet nicht, sondern sorgt dafür, daß euer Land heilig wird ... Vergeßt nicht,‹ sagte er, ›daß Ohle Griesack heute bei uns zu Abend ißt; seine saubere Stube hat mir Freude gemacht.‹«
So erzählte Kai Jans, als sie an Borneo vorüber auf die Sundastraße zufuhren. Er saß auf den Spieren, hatte die Hände von den Knien genommen, die spitz und hart wie Kiesel waren, und spreizte die Finger, als hätte er eine handgroße goldene Kugel darin, die herunterrollen wollte. Seine breite, niedersächsische Nase war kantig und knochig, und seine Augen glühten unter der gedankenschweren Stirn, wie ein Feuer unter einem schweren schwarzen Herdbogen.
Die Schiffsleute aber staunten und sagten einer zum anderen: »Was ist das mit ihm? Er war der Stillste von uns allen, und nun erzählt er solche Geschichten?«
Da wurde er der unheimlichen Gabe froh und er erzählte mit der Stimme, die von Hunger und Mattigkeit hohl war, manche bunte Geschichte, meistens Seegeschichten. Da ließ er den Koch und den Steuermann böse Pläne spinnen, und die Leute wurden ihnen zum Bösen untertan. Da wurde der Kapitän schwer krank ... Aber da ... siehe ... kamen Wetterwolken auf ... die gingen wie große, dicke Schweine über die Himmelsweide und wurden größer und größer und dunkler und bedeckten Himmel und Meer ... und da ... plötzlich, in einem Nu ... kamen Engel vom Himmel hernieder und standen in dichten Haufen an den Grootwanten. Vom Heck her aber schallte Gottes helle Stimme. Da gab es schweren, harten Richterspruch ... Und es war nichts im Himmel und auf Erden, das sein kranker, überreizter Geist nicht in wilden, heißen Bildern sah. Da geschah es, daß der bleiche, kranke Franzose seine dürren Arme hob und sagte: »O, Hilligenleier ... tu es wahrhaftig un bon catholique; car les Saints ... die Heiligen ... run among the people.« Der Koch aber starrte auf die Kümmelflasche in seiner Hand.
Piet Boje stand auf der Poope und sah nach Kompaß und Segel; der Kapitän saß neben ihm und starrte dumpf übers Meer.
»Ich, Piet Boje von Hilligenlei, soll versaufen? Daß der reiche Lump mit den großen Füßen zu seinem Gelde kommt? Ich, Piet Boje? Und wenn mir vor Durst und Fieber und Müdigkeit die Augen im Kopfe in Brand kommen: ich will Hilligenlei wiedersehen. Hör ... Mutter hebt den Kopf! Nun hält sie die Maschine an ... Kinder, hört! ... Was ist das für ein rascher Schritt? ... Anna ... Heinke ... hört ihr? ... Unsre Tür! ... o ... o ... Piet ... mein lieber Junge!«
»Kaptän: einen Steuermann, der so viel fragen muß, haben Sie noch nie gehabt.«
»Fragen Sie nur ... Sie sind ein Mensch, der Interesse und Willen hat ... Darauf kommt es an.«
»Zeigen Sie wieder ein Modell, Kaptän?«
»Ich will ein paar heraufholen.«
»Die Segel, Kaptän?«
»Sind richtig so.«
»Danke, Kaptän.«
»Sehen Sie! ... dies Modell ...«
So kamen sie glücklich in den Indischen Ozean hinein und hielten in die Passattrift und kamen gut vorwärts.
Es war ein elendes Dasein.
Der Speck war verschimmelt, das Hartbrot und das Mehl lebendig, das Wasser faul, das einzige Hemd zerrissen. Die Zunge klebte und die Augen brannten. Sie sprangen und sangen, wachten und luchsten, logen und trogen.
»Lach, Kai Jans ... sieh nicht so sauer ... erzähl den Lumpen eine Geschichte ... Mensch, was ist mit dir? Hast du getrunken? Du? ... Pfui, Deuwel!«
»Ich kann das Wasser nicht trinken, Piet.« Er sah ihn mit jammervollen Augen an. »Ein Trinker werde ich nicht, du. Niemals ... Sieh mich nicht so an! ... Du, der Genter ist giftig auf dich, weil du ihm die Pütze aus der Hand gerissen hast; er hat sich besoffen und redet gegen dich. Gib ihm ein gutes Wort.«
»Ich will nach der Back kommen und ihn umhalsen. Geh hin und erzähle ...«
Kai Jans erzählte. Und seine Geschichten wurden hart und unnatürlich. Im Fieber, mit rasenden Schlägen trieb er die Erscheinungen seines Gehirns wie wilde Tiere vor sich her in ihre umnebelten Köpfe hinein. Er erzählte von dem Weiberschiff. »Zwanzig Weiber die Besatzung! Denkt euch! Alle jung und alle liebestoll. Und der Kapitän das schönste von allen. Wenn ihre Sehnsucht zu groß wird, so alle vier Wochen einmal, dann schleichen sie sich nachts an ein Schiff heran, auf offner See ... nun liegen sie Bord an Bord ... nun springen sie an Deck ... Kinder, malt euch das aus! Wenn uns das passierte! ...« Da beredeten sie es mit rohen Worten und brüllten und pumpten, und zum Takt der schreienden Pumpe rief er ihnen zu, daß die wilden Bilder wieder vor ihren Seelen standen. Für seine eigne Seele aber waren es nur windige, protzige, leere Worte; er war noch ganz rein.
Es war ein Glück, daß schwere Wetter ausblieben und daß die Nächte sternklar waren; der Steuermann wäre sonst zusammengebrochen.
»Kaptän ... ich habe hier einen gemütlichen Stuhl hingesetzt ... Mein Vater sagte immer, wir müßten die Klipper bauen, die man in Glasgow baut, die eisernen, mit dem schnittigen Bug und dem runden Heck. Er sagte, wir wären da noch weit zurück. Amerika und England! ... sagte er.«
»Davon habe ich drei gebaut,« sagte der Kapitän ... »Ich war der erste in Deutschland ... Ich will das Modell holen.«
Er stand mit steifen Gliedern auf und stieg mit unsicherm Gang die Treppe hinunter, und kam mit dem Modell wieder, das er sorgfältig im Arm hatte. Es geschah nie, daß er eins davon beschädigte, so fein sie gebaut waren und so sehr seine Hände zitterten.
»Mein Vater schickte mich nach Glasgow und über See nach Hoboken. Wir beide, sagte er zu mir, du und ich, wir wollen Deutschland lehren, Segelschiffe bauen. Ich habe als junger Gesell erst mit dem Niethammer gearbeitet, dann mit dem Zeichenstift; ich war schlau und fleißig und stolz ... Nachher habe ich selbst Schiffe gebaut ... Siebzehn habe ich gebaut ... Da hatte ich keine Lust mehr ... ich ging zur See ... Und nun bin ich auf der Klara ...« Er sah sich suchend um.
»Die Flasche steht unterm Stuhl, Kaptän.«
»Und mein Bruder, der jüngste, hatte eine Wiege von Nußbaum ... Als ich die Werft aufgab, ... hatte er auch keinen Mut mehr ... der ist nun Heizer auf einem englischen Dampfer ... viele Deutsche stehen vor englischen Feuern ... so heiß und so dunkel und so schmutzig ... arme verkommene Deutsche.«
»Trinken Sie, Kaptän, daß Sie die alten Gedanken los werden.«
»Verflucht ist die Flasche, Steuermann; aber ich kann sie nicht mehr entbehren. Wie weit wären wir Deutsche ohne das verfluchte Saufen.« Er tat einen schweren Schluck, und wurde wieder lebendig und erklärte das Modell. Wenn seine Stimme schläfrig wurde, schob Piet Boje die Flasche hin, daß er sie sah und trank.
So kamen sie eines Tags auf die Höhe von Kapstadt.
Da mußten die beiden Kranken von Bord. Piet Boje und der jüngere Italiener ruderten sie an Land; der Kapitän fuhr mit, neues Getränk einzukaufen. Piet blieb als Wache beim Boot.
Da trat er an zwei, drei Matrosen heran, die da am Kai gingen, und fragte, und hörte nicht das, was er wissen wollte, und ging mit spähenden Augen weiter. Da kam von ungefähr ein blutjunger Matrose daher, in weitläufigen Bramtuchhosen und Hamburger Hemd, klein, frisch und blond, mit raschem Gang und muntern Augen. Der und Piet Boje sahen sich an und merkten an den Gesichtern, daß sie Landsleute waren.
»Ich bin auf einem Hamburger Dreimastvollschiff ... sieh da! ... die Goodefroo ... mit Stückgut von Hamburg nach hier ... und morgen fahren wir in Ballast nach der Südsee ... und wir haben noch Schance für zwei Mann.«
»So!« sagte Piet und warf einen langen, sehnsüchtigen Blick nach dem Dreimaster, der stolz und ruhig auf der weiten Reede lag.
»Ich bin Hans Jessen von Brunsbüttel.«
»Was du sagst! Der Sohn vom Apotheker? ... Ich bin Piet Boje von Hilligenlei, und da ist noch ein Hilligenleier: Kai Jans ... Ist dein Schiff gut?«
»Großartig! Wir sind alle aus Blankenese und Glückstadt und daherum.«
Der Hilligenleier sah vor sich hin.
»Ich glaube,« sagte Hans Jessen, »wenn der Steuermann hört, daß ihr von Hilligenlei seid, tut er ein Ding und nimmt euch.«
»Sieh mal!« sagte Piet Boje und zeigte mit dem Arm nach der Klara. »Da sind wir. Und du kannst dem Steuermann sagen: Da liegen zwei Hilligenleier Jungs richtig in Schiet und Dreck. Wenn er will, kann er uns heut abend um zehn holen.«
Der Brunsbüttler versprach alles und ging.
Der Kapitän kam wankend, mit großen, gläsernen Augen; hinter ihm her eine Kiste mit Flaschen. So ruderten sie wieder an Bord. Piet nahm dem Italiener die Kiste ab und trug sie dem Kapitän nach in die Kammer.
»Ist was Gutes, Kaptän?«
Der Kapitän schlug mit einem verlegenen, heiseren Lachen und mit zitternder Hand die Flasche gegen die Pultkante, daß der Hals absprang, und füllte das Glas und bot es ihm.
»Harmlos!« sagte Piet Boje und gab das Glas wieder und sah ihn an mit Augen, welche sagten: »Trink, trink! ... Machen Sie sich einen gemütlichen Abend, Kaptän ... wir liegen hier ja sicher und ich steh' für alles.«
Die Backbordwache ging zur Koje; die Steuerbordwache saß auf der Back und trank. Er ging auf der Poope hin und her. Kai Jans, der noch bei ihm bleiben wollte, setzte sich auf die Treppe und schlief ein. Er hatte ihm kein Wort gesagt.
Nach einer Stunde – es war schon dunkel – ging er wieder in die Kammer des Kapitäns und fand ihn schlafend. Da verschaffte er sich die Schlüssel und nahm seine und Kai Jans' Papiere und nahm zwanzig von den besten Modellen, steckte sie in einen großen Sack und stellte den Sack in die Ecke. Dann nahm er fünf Flaschen von dem Genever und ging nach der Back und sagte, indem er schlau lächelte und mit der Hand am Ohr weberte: »Schscht ... Hier sind fünf für euch. Allerfeinste Sorte! Still ..., daß der Alte nichts merkt.«
Da ergaben sie sich alle dem stillen Trunk und schliefen bald ein. Auch Kai Jans schlief.
Bald darauf hörte er leisen Ruderschlag und vorsichtigen Anruf.
Er fierte den Sack hinunter, ging zu Kai Jans und rührte ihn an der Schulter. Der stand lautlos auf, als hätte er auf den Ruf gewartet, und ging mit halbgeschlossenen Augen hinter ihm her. So sehr folgte er in allen äußern Dingen dem hellen Lehrersohn.
Eine halbe Stunde später kletterten sie an Bord der Goodefroo.
»Sieh,« sagte Hans Jessen mit seiner muntern Stimme: »Da kommt der Steuermann.«
Die beiden Hilligenleier sahen auf und sahen einen großen Mann auf sich zukommen, der im Gehen einen Jungen, der dastand, zur Seite schob.
Und sie erkannten ihn im Sternenschein.
»O Gott,« sagte Kai Jans leise ... »Pe Ontjes Lau!«
Er sah sie fremd und ruhig an und dachte: ›Was sind sie verhungert und verlumpt!‹ Und fragte kalt und kurz nach ihren Papieren.
Sie griffen in die Taschen und gaben sie ihm.
»Ihr gehört zu meiner Wache.«
Als sie nach dem Logis zu gingen, sah Kai Jans erst den Sack, den Piet trug, und hörte es darin klirren. »Was hast du da?« sagte er mit zusammengeschnürter, kläglicher Stimme. Aber er wußte es schon. Er setzte sich auf die Treppe, stützte den Kopf in die Hand und sagte verzweifelt: »Wir haben den Dänen verlassen, der immer so treu zu uns hielt; nun sind wir auch noch Diebe ... und ... und ... O, wie hat er mich angesehn! ... Huh ... Wie schmutzig bin ich.« Und er warf die Hände vor die Augen.
»Du bleibst dein Leben lang ein Narr,« sagte Piet Boje, »und bist zu nichts zu gebrauchen,« und trat mit zusammengerissenem Gesicht ins Logis der Goodefroo.