Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war ein schöner, sonniger Septembertag und in Hilligenlei war Jahrmarkt. Auf den fünf Straßen, die nach Hilligenlei führen, klapperten die Pferdehufe und rollten die Wagen; und am Bollwerk landete Hafenmeister Lau zum drittenmal allerlei Volk, das von Freestedt her über die Bucht kam.
Piet Boje sprang von allen als erster an Land, hinter ihm her seine Schwester; beide nun schon große Kinder, dicht vor der Konfirmation. Sie sahen mit scheuen, fliegenden Augen das lange Haus entlang und sahen Kai Jans vor der Tür stehen. Seine zierliche, kleine Mutter, die nun nicht größer war als er, stand hinter ihm.
»Kommt einen Augenblick herein,« sagte sie freundlich. »Habt ihr Heinke und Hett nicht mitgebracht?«
Die beiden kamen hinein und füllten die kleine, ärmliche Stube mit der geraden Schlankheit ihrer Gestalten und dem hellen Glanz ihres Haares; sie bestellten einen Gruß von Vater und Mutter und sahen sich um wie Rehe auf der Waldwiese.
»Unsere Wohnung ist nur klein,« sagte Male Jans, »und der Fußboden ist von Lehm; aber reinlich ist es hier. Sieh ... da liegen noch die Itzehoer Nachrichten: da lese ich Sonntags darin; Werktags habe ich keine Zeit. Geh nach der Kammer, Kai, und zieh deine gute Jacke an; du kannst mit ihnen zu Markt gehen.«
Sie sah wieder auf die großen, geraden Kinder und strich dem Mädchen schüchtern über die Schulter. »Sieh,« sagte sie und zeigte auf den runden Tisch, über dem die kleine, dürftige Lampe hing: »Hier sitzt er jeden Abend. Er ist immer in den Büchern.«
»Er ist wohl sehr klug,« sagte Anna.
»Hast du das schon gemerkt?« sagte Male Jans und ihre Augen verbargen nicht den großen, heimlichen Stolz. »Lehrer Wiebers ging vor acht Tagen hier vorüber und sagte: es ist schade, daß Kai nicht Lehrer werden kann. Aber es geht ja nicht; wir haben ja nicht die Mittel dazu. Er wird Buchdrucker und kommt zu Heine Wulk in die Lehre; er arbeitet da jetzt schon jeden Nachmittag und ist sehr stolz darauf. Heine Wulk sagt auch: auf dem Wege kann er alles erreichen! Denk mal ... neulich hat er schon ein kleines Gedicht geschrieben; Heine Wulk sagt: es ist sehr gut, und hat es abgedruckt ... Was willst du denn werden, Piet?«
»Ich gehe Ostern nach Itzehoe auf die Realschule,« sagte er, »ich will Kaufmann werden.«
»Ich dachte, du würdest Lehrer,« sagte Male Jans.
»Als Lehrer verdient man nicht genug,« sagte er ernst; »aber ein tüchtiger Kaufmann verdient viel Geld.«
Kai kam herein. Sie zupfte ein wenig an ihm herum, fragte ihn, ob er ein Taschentuch hätte, strich ihm über den Ärmel, um zu zeigen, daß es eine gute Jacke sei, und gab ihm zwei Groschen, die schon auf der Fensterbank bereit lagen. Sie sollten doch sehen, daß er nicht ohne Marktgeld war. Als sie hinausgingen, winkte sie ihm noch mit den Augen und sagte: »Mußt gerade gehen, hörst du?« und deutete auf das Mädchen, das gerade und vornehm wie ein Königskind stand.
Als sie aus der Hafenstraße in die Kirchstraße einbogen, kamen sie gleich in den Strom der Marktgänger und in den Trubel des Tages. Unter dem Fenster von Uhrmacher Reimers saß Tim Söth, der kleine verkrüppelte Geiger, auf der Erde, und fiedelte und wackelte mit dem Kopf; seine Mütze lag auf seinen Knien, damit die Vorübergehenden eine kleine Münze hineinwürfen. Als er die Bojekinder vorübergehen sah, ließ er die Fiedel sinken und sagte: »Du, Prinz Boje, kannst du mir eine Mark wechseln? Ich habe soviel Kleingeld.«
Piet langte in seine Geldtasche und sagte: »Das kann ich,« und wartete, bis Tim Söth die Summe in halben Groschen gezählt hatte; er empfing das Kleingeld und gab das Markstück hin. Im Weitergehen zählte er und sah, daß er nur neun Groschen bekommen hatte.
»Stimmt es?« sagte Anna.
»Ganz genau!« sagte er und steckte das Geld ruhig ein. Aber plötzlich durchfuhr es ihn; er kehrte kurz um, griff in die Mütze von Tim Söth und sagte mit funkelnden Augen: »Du hast mich betrogen, du Lump. Wenn du nicht ein Krüppel wärst, schlüge ich dich kurz und klein.« Der Geiger sah unsicher zu ihm auf und hob die Geige, als hätte er nichts verstanden.
An der Ecke des Marktplatzes, gleich rechts, stand ein Orgeldreher neben einer großen bunten Leinwand, worauf eine wüste Mordgeschichte gemalt war. Mit roher Stimme, in fremder Mundart, besang ein Weib die gemalten Taten.
»Sie ist wohl selbst dabei gewesen,« sagte Kai Jans, der mit großen Augen hinsah. Piet war mißtrauisch und meinte, die ganze Geschichte wäre erlogen. »Kannst ja sehen,« sagte er, »das Beil trifft ja gar nicht, der Kerl haut ganz beizu.« Anna hielt sich zurück und sah mit fremden Augen auf das singende Weib.
»Komm,« sagte Kai, »wir wollen nach dem Blumenverspieler gehen. Da gewinnt jede Nummer ... Sieh, da steht es: ›Jede Nummer gewinnt‹.«
»Die Blumen sollst du haben,« sagte er und setzte seine ganzen zwei Groschen. Das Rad schwirrte; der Weiser stand, und zwar zwischen zwei Nummern. »Leider keine Nummer,« sagte der Mann und sah über die Kinder hinweg. »Immer heran, meine Herrschaften, jede Nummer gewinnt.«
»Mir scheint,« sagte Kai mit rotem Kopf, »das lassen wir,« und trat zurück.
»Nun hast du all dein Geld verspielt,« sagte Anna.
»Ich hole mir nachher neues,« sagte er.
Da gingen sie zusammen nach dem Kasperletheater und standen lange und sahen zu; und er freute sich jedesmal, wenn Anna leise und kurz auflachte; das klang so schön; er sah von der Seite ihr kleines, weißes Gesicht und fragte sie mehr als einmal, ob sie es sehen möchte. »Es ist zu dumm,« sagte sie, »aber ich mag es doch sehen.« Dann, als er merkte, daß die Frau des Puppenspielers mit dem Sammelteller kam, sagte er wichtig, er müsse nun auf einige Stunden zu Heine Wulk in die Druckerei gehen und arbeiten. Er machte mit ihnen ab, daß er sie nach zwei Stunden in der Durchfahrt vom Hamburger Hof treffen wolle. Dann wolle er sie ans Boot bringen.
Während er in der öden, schmutzigen Werkstatt von Heine Wulk saß und noch einige Jahrmarktsanzeigen druckte, kam von Südwesten her ein leises Gewitter und warf einen ganz leichten Regenschauer aufs Land und ging vorüber. Bald darauf aber kam ein stoßender Wind auf, schwere Donner rollten über See und Land, und harte Blitze flogen wie ungeheure, wilde Peitschenschläge glühend durch die Luft. Der Staub, der nach langer Trockenheit auf allen Wegen und Straßen im ganzen Lande lag, dazu Sand von fernen und nahen Dünen, wurde aufgerissen und erfüllte und verfinsterte weithin die Luft. So fegte das Unwetter durch Hilligenlei und über die Bucht, und verging rasch. Doch fuhren noch lange aus breiter, dunkelblauer Wolke, die jenseits des Wassers über Freestedt lag, schräge, silberne Blitze.
Als Kai Jans so um fünf Uhr von Heine Wulk losgelassen wurde, hörte er bald, daß das Unwetter in der Stadt und ihrer Umgebung schweren Schaden angerichtet hatte. Ein junges Paar, das auf der Krautsielerstraße nach der Stadt unterwegs war, um zum erstenmal im jungen Ehestand zu tanzen, war vom Blitz erschlagen; einige Kinder, von dem dichten Staub verwirrt, waren in die Au geraten und mit Mühe gerettet worden; ein Fuhrwerk war an einer Hauswand zerschellt. Als er über den Marktplatz rannte, hörte er von ungefähr, daß auch auf dem Freestedter Bollwerk ein Unglück geschehen sei. Er hörte den Namen: Lehrer Boje. Er trat an einen Freestedter Bauern heran und erfuhr, daß man nichts Bestimmtes wisse und daß Piet Boje schon unterwegs sei.
Da suchte er Anna Boje. Er suchte und fragte und fand sie nicht. Auch ihre Nachbarn konnten ihm keine Auskunft geben. Niemand hatte sie gesehen. Er trat an seine Bekannten heran und fragte, ob sie ein großes Mädchen gesehen hätten, so ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, gerade und mit einem kleinen, weißen Gesicht und ganz hellem, losem, schlichtem Haar. Er kam so in Eifer, daß seine Wangen glühten, und kam sich sehr wichtig vor, als suchte er ein anvertrautes Königskind, das in einer fremden Stadt unerkannt umherirrte. Zuletzt als er sich ganz heiß gelaufen hatte, ging er noch einmal in die Durchfahrt und ging hindurch in den kleinen Garten, wo im Sonnenschein einige Tische und Bänke standen.
Da fand er sie. Sie saß in ihrem halblangen, blauen Kleid auf der Bank, den kleinen Strohhut ziemlich weit in die Stirn, das Gesicht ein wenig heiß und das lange Haar ein wenig unordentlich und sah mit großer, etwas verwunderter Aufmerksamkeit zu Tjark Dusenschön auf. Der stand in engen Hosen und hängendem, blauem Schlips vor ihr und fuhr mit lässiger, säuselnder Bewegung durch sein schön gewelltes Haar und sagte gerade: »Es würde mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, Sie in unsern kleinen Tanzklub einzuführen. Meine Stimme wiegt da viel.«
Als sie Kai Jans sah, blickte sie ihn mit ihren ruhigen Augen an und sagte: »Dusenschön ist Mitglied eines Tanzklubs. Tanzt du auch?«
»Du,« sagte er und sah sie ernst an, »Piet hat ein Gerücht gehabt, als wenn dein Vater krank sei, und ist mit einem Nachbarn nach Haus gefahren.«
Sie erschrak sehr, daß ihr kleines, feines Gesicht plötzlich ganz verändert war, stand auf und trat zu ihm.
»Das Boot fährt jetzt nicht; soll ich dich um die Bucht herum nach Hause bringen?«
Sie nickte ihm mit ihren klaren Augen zu: »Dann wollen wir gleich losgehen.«
Sie gingen die Kirchstraße hinunter. Tjark Dusenschön ging mit ihnen. Sein Schlips wehte; seine Lippen waren ernsthaft zusammengepreßt; er drückte bei jedem Schritt das rechte Knie so energisch durch, daß eine Art von gelindem Hinken entstand. Er hatte diesen Gang und diesen Gesichtsausdruck vor zwei Jahren am Bürgermeister studiert, als der einen Podagraanfall in dieser Haltung und Gebärde würdig und schön ertrug. Seitdem ging er so. Unten an der Hafenstraße nahm er höflich Abschied; er sagte: der Bürgermeister hätte ihm die Marktpolizei übertragen, er müsse die Budenbesitzer noch besichtigen, und ging. Kai Jans sprang zu seiner Mutter hinauf und erzählte ihr, was geschehen war. Dann ging er, als die Dämmerung kam, neben Anna Boje aus der Stadt.
Sie kamen auf die Landstraße, die auf die Höhen führt, und bogen dann rechts ab in einsame, schmale Wege, die zu beiden Seiten Wälle hatten, auf denen Hasel und Dornen und niedrige Eichen dicht zusammen wuchsen. Und es wurde dunkel.
Er fühlte sich sehr stolz in seiner Aufgabe und war erregt und wollte sie erfreuen und den Weg kürzen, und erzählte in einem fort. Er gehörte sonst zu den Menschen, die schweigsam sind, weil ihre Seele nur von den schwersten und heimlichsten Dingen erregt wird, über die man nur vertraulich redet. Aber an diesem Abend, vor dieser lieben Hörerin, redete er. Was er niemals und niemandem erzählt hat, das erzählte er. Daß sein Vater acht Wochen an Lungenentzündung krank gelegen und danach den halben Winter nicht hätte arbeiten können und daß die Mutter oft weine, weil kein Groschen im Hause wäre. Da wäre sie zu dem schrecklichen Menschen, dem dicken Bütt, gegangen, um auf Borg Waren zu holen, und jeden Sonntagnachmittag müsse sein Vater dahingehen und einen Kümmel trinken und eine Zigarre rauchen, und er möge weder das eine noch das andere. Und vielleicht käme zum Herbst die alte Großmutter, die Stiefmutter der Mutter zu ihnen, eine alte, schwächliche Frau; Vater wolle nicht, daß sie der Gemeinde zur Last fiele. »Sieh,« sagte er, »wenn ich nun abends von der Druckerei komme, bin ich manchmal schrecklich müde. Aber ich kann nicht einschlafen, weil Mutter weint.«
»Verdienen denn deine Schwestern nichts?«
»Vater will und will nicht, daß sie von ihrem Lohn etwas abgeben, damit sie nicht nachher, wenn sie mal heiraten, so schrecklich armselig anfangen müssen.«
»Ja,« sagte sie ... »Was meinst du? Wir sind auch arm. Denk mal, Vater hat noch Schulden vom Seminar her. Das macht aber nichts.«
»Was sie redet!« dachte er. »Die und arm!« Ein Lehrer war in seinen Augen ohne weiteres reich.
Dann kamen sie auf den Konfirmandenunterricht und er sagte: »Denk' mal, die Hälfte von den Jungs glaubt nicht, was der Pastor sagt ... Glaubt Piet es?«
Sie schüttelte den Kopf und er sah im Dämmern, wie sie die feinen Augenbrauen bedenklich hochzog. »Der Pastor sollte bloß hören, was er manchmal unterwegs zu den Jungen und Mädchen sagt; dann würde er sicher nicht konfirmiert ... Er glaubt gar nichts! Neulich suchten wir auf unserer Steinbrücke Regenwürmer, weißt du, die großen ... wir wollten sie zum Fischen brauchen. Da sah er sich um und sah die Sterne am Himmel.«
»War es denn Nacht?«
Sie sah ihn verwundert an. »Ja, Mensch! Bist du so dumm, daß du nicht weißt, daß die Regenwürmer bloß nachts unterwegs sind? Wir waren aus dem Fenster geklettert und suchten.«
»Im Hemd denn?«
»Ja, im Hemd ... Er sah nach den Sternen und sagte: ›Sieh mal ... Da sind mehr als fünfzig Millionen Sterne. Meinst du, daß da keine Wesen wohnen? Hat es nun fünfzig Millionen Gottessöhne gegeben? Ich glaube nicht, was der Pastor sagt. Ich glaube es nicht, und ich brauche es nicht. Ich bin auch ohne das ein ordentlicher Mensch und weiß, was ich will.‹ Sieh, so schrecklich redet er.«
»Aber du,« sagte Kai Jans, »du glaubst es!«
»Ich glaube es alles,« sagte sie, »weil der Pastor es sagt.« Sie sah vor sich hin und schwieg eine Weile. »Weißt du, was mich manchmal traurig macht? Gott ist doch dreieinig, nicht? Nun bin ich manchmal so bange, weil ich abends so müde bin und keine Reihe darin halte. Ich glaube, daß ich am wenigsten zum heiligen Geist bete und gewiß ist der böse auf mich.«
»Du kannst es ja so machen,« sagte er, »daß du sagst: Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist! und dann beten. Dann hast du alle drei und auch in der richtigen Reihenfolge.«
Das leuchtete ihr ein. »O ja,« sagte sie. »Das geht! Was du klug bist! – Sie sagen, daß du ein wunderlicher Junge bist und der klügste in der Schule. Weißt du das?«
Ihm schlug das Herz bis zum Hals, so freute er sich, daß sie so zu ihm sprach; und er ging stillselig neben ihr.
In den Hecken saßen die Vögel zwischen den hängenden Regentropfen und sahen mit unbeweglichen, aufmerksamen schwarzen Augen auf die beiden Vorübergehenden; der Mond schien hinter Wolken schräg hervor quer durch die linde Nacht. Am Horizont hob sich eine tiefgraue Wolkenbank, in der schwerer Donner grollte.
»Komm,« sagte er, »wir wollen rascher gehen; es will noch ein zweites Gewitter kommen.«
Sie stiegen von den Höhen herunter und kamen durch ein stilles Dorf. Hier und da, in und unter schwarzem Baumwerk lagen in schwarzen Haufen die strohgedeckten Häuser. Aus einem Garten schien noch ein Lichtlein, ein gedämpftes Wort klang und eine Tür klappte leise. Ein Nachbar hatte Abendbesuch gemacht und ging nach seinem Hause hinüber. Ein Blitz warf sein Licht in die Dorfstraße: da ging der Nachbar mitten auf dem Wege, ein großer, breiter, etwas gebeugter Mann. Gleich darauf, an der Kreuzung, mitten im Dorfe, kam ihnen ein kleiner Wagen entgegen mit einem Pony bespannt, auf dem zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, dicht beieinander saßen, ein kleiner bunter Hund lief neben den Rädern her. Deutlich sahen sie die stummen, forschenden Augen der Kinder. »Was alles unterwegs ist, diese Nacht,« sagte Kai Jans.
Der Blitz und die Erscheinung des Wagens hatten sie wohl einen Augenblick verwirrt, so daß sie an der Kreuzung in einen verkehrten Weg einbogen und in die Heide hineinkamen. Sie merkten es erst nicht, da sie wieder über das Gewitter sprachen, das dunkel und schwer überm Wasser stand und höher stieg. Sie gingen wohl eine Viertelstunde oder mehr: da erkannten sie an einer Steigung des Weges, daß sie falsch gingen. Nun wollten sie erst quer über die Heide den rechten Weg erreichen. Aber da grollte es mächtig vom Wasser her, als wenn viele schwere Schiffe durch die vereiste stählerne See Bahn brächen und dumpf gegen den Strand stießen. Wie von schweren, nassen Segeln rauschte und klatschte es von Wind und Regen.
Da faßten sie sich an der Hand und ohne ein Wort zu sagen, erschreckt und bange, bogen sie wieder nach dem Dorfe zurück und gingen auf ein Licht zu, das kurz vorm Dorfe am Wege brannte. Auf den Zehenspitzen gingen sie die paar Schritte durch den kleinen Garten und stellten sich an die Wand dicht beim Licht, und standen ganz still. Sie waren ja nun in Menschennähe.
Als sie aber eben standen, wurde das Fenster dicht neben ihnen geöffnet; ein großer, bärtiger Mann von mittleren Jahren steckte seinen Kopf heraus, sah nach dem Himmel und sagte ängstlich: »O, Mutter, Mutter! Sieh doch bloß mal hinaus! Die ganze eine Seite vom Himmel ist eingefallen.«
Eine alte, gemütliche Stimme antwortete: »Macht nichts, mein Junge: dann fallen alle Spatzen tot. Aber sieh mal nach ... mir war, als wenn ich etwas gehen hörte.«
Der Mann sah zur Seite. »Da steht ein Kind,« sagte er. »Und noch eins.«
Die beiden standen wie Pfähle.
Die alte Frau öffnete die niedrige, dunkle Tür und sagte: »Kommt herein, Kinder! Seid nicht bange, kommt herein!« Und sie ging voran in die niedrige Stube und sagte: »Setzt euch, Kinder;« und zu ihrem Sohn: »Geh rasch in die Küche, mein Junge, ob da noch eine Tasse Kaffee ist ... Er ist ein wenig wunderlich,« sagte sie, »besonders wenn Gewitter ist. Er ist als Soldat mit dem Pferde gestürzt und in einer Winternacht halb erfroren. Er tut aber niemandem was. Setzt euch hin, Kinder, und fürchtet euch nicht. Wenn ich ihm was erzähle, vergißt er das Gewitter und wird still.« Dann fragte sie nach dem Woher und Wohin, und sagte: »Wenn das Gewitter vorüber ist, soll er euch auf einem Fußsteig über die Heide bringen; dann seid ihr in einer halben Stunde in Freestedt.«
In dem Augenblick blitzte es so stark, daß die Stube weiß vom Licht war, und es donnerte so stark, als stürzten große Felsen durch die Decke des Himmels ... und die Kronleuchter des Himmels klirrten und fielen auf die Heide nieder, daß sie bebte.
Die alte Frau stand auf und sah nach der Tür, und setzte sich wieder. Da kam ihr Sohn schon aus der Küche, kreideweiß im Gesicht, und fiel wie kraftlos vor ihr in die Knie: »Mutter,« sagte er, »es ist mir auf den Schädel gefallen ... er ist ganz eingedrückt.«
»Kind,« sagte sie und streichelte sein früh ergrautes Haar, »dann müssen wir eine Geschichte hineinstopfen, daß er wieder weit und hoch wird. Paßt auf, Kinder ... Das ist schon lange her ... wohl siebenhundert Jahr ... sei ruhig, mein Junge, sei ganz ruhig ... da kam eines Tages der Bischof von Hamburg hier unterm Fenster vorüber ... hörst du? ... hier unter unserm Fenster ... um Hilligenlei zu besehen ... Auf der Höhe vor unserm Haus, da hielt er sein kurzes, dickes Pferd an und sah auf das weite, weite Land hinunter, über das hier und da noch die grauen Meereswogen liefen. Und sah die niedrige Düne von Hilligenlei mit einigen breiten Strohhütten darauf, und sah die Mauern der neuen Kirche, die er bauen ließ, mannshoch ragen. Aber er wurde darüber, was er sah, nicht froh. Er war in jungen Jahren in Engelland ein tapferer Streiter für seinen Glauben gewesen; aber nun da er ältlich wurde, konnte er Rohes und Unfertiges nicht mehr ansehen.
In dem schweren, steinernen Hause, das die Priester sich im Schutz der unfertigen Kirche gebaut hatten, fand er den Tisch gedeckt. Und der Mehlbeutel, der aus dem Leinentuch in die Schüssel sprang, war größer als sein großes, graues Haupt; und der Schnitt in den großen, großen Schweinskopf war tief und schwer. Da setzte er sich hin und aß mächtig; der Seewind, den er den ganzen Tag geschluckt hatte, hatte ihn hungrig gemacht. Er löste den ledernen Leibgurt und aß weiter und hörte den Priestern zu, die ihm von dem trägen, widerwilligen Volk erzählten; und aß immerzu.
Am andern Morgen stand er auf und klagte, daß er schlecht geschlafen hätte und daß er von wilden und wüsten Träumen, als von bösen Geistern, heimgesucht worden wäre. Er hätte Wesen gesehen, sagte er, die hätten erschrecklich große, runde und weiße Köpfe gehabt, ohne allen Ausdruck. Er war ganz ärgerlich; und ärgerlich ging er in die Kirche.
Da standen sie denn ja alle, so drei- oder vierhundert, Männer und Frauen, in der unfertigen Kirche, mit den Füßen im weißgelben Dünensand und über ihnen die freie Luft, und sahen andächtig nach dem grauen Steintisch und hörten zu, was der heilige Mann in der fremden Sprache sang und sagte. Es war sehr würdig und heimlich, und gefiel ihnen wohl. Es kam dazu, daß der heilige Mann ein Gesicht hatte, das von starker, fast wilder Männlichkeit sprach, von tapferen Taten und von schwergrabenden Gedanken. Solche Leute hat man in diesem Lande immer gern gehabt, besonders auch am Altar.
Danach aber trat der Bischof vom Steintisch weg zu ihnen heran und fing an, diesen und jenen nach dem Vaterunser zu fragen und nach dem Glauben. Die Antworten waren spärlich, und der Bischof wurde wieder ärgerlich.
Als er so fragend weiter in die Kirche hinein ging, da sah er zur Linken an den zwei unfertigen Pfeilern einen langen, jungen Mann stehen, mit langem, schlichtem, hellem Haar und ruhigem, starkem Gesicht; er trug über dem wollenen Hemd eine Seehundstasche, aus einem einzigen Stück gemacht.
Als der kleine Priester, der hinter dem Bischof einherging, diesen Mann sah, sagte er leise und eifrig in lateinischer Sprache: › Hoc est asinus ferocissimus.‹
Der Bischof drehte sich um und sagte ärgerlich: › Hic! mußt du seggen, Broder,‹ und trat an den Mann heran und sagte:
›Wie heet uns'n Heliand sien Moder, mien Söhn?‹
›See schall Maria heeten hem,‹ sagte er gemütlich.
Der Bischof ärgerte sich und fragte weiter: ›Unn sien Vader, mien Söhn?‹
Er wußte, daß da ein Haken versteckt lag, und wagte nicht recht tiefer hineinzugreifen. ›Ist dat nu Joseph?‹ sagte er bedenklich, ›oder uns' Herr Gott sülm?‹
Der Bischof ärgerte sich noch mehr. ›Uns' Lord Gott wär et!‹ sagte er ... ›Unn wat is see tiet ehr Lewens blewen?‹
›Siene Fru,‹ sagte er.
›Dumm Snack!‹ sagte der Bischof in hellem Ärger. ›Een Jungfer ist see blewen.‹
Da schlug der andre mit der Faust in ehrlicher Verwunderung auf seinen Schenkel: ›Ist nie möglich!‹ sagte er.
Da wurde der Bischof wild, hob seine schwere Hand in heißem Zorn, und gab ihm eine harte Ohrfeige.
Der Geschlagene richtete sich auf und wurde totenbleich und sah geradeaus. Dann griff er, immer so geradeaussehend, mit der rechten Hand an den Pfeiler und zerbröckelte einen Eckstein – es ist noch zu sehn – und ließ die Bröckel in den Sand fallen und ließ seine Hand wieder sinken, drehte sich um und ging aus der Kirche.
Er ging drei Stunden nach Westen zu, bis zu seiner Schilfhütte, die da auf einer geringen, grünen Anhöhe am ewig brausenden Meer stand, und sagte kein Wort zu seinem Weib und spielte auch nicht mit seinem kleinen Knaben. Gegen Abend, als die Dämmerung kam, nahm er seine Axt vom Herd und machte sich auf und lief im Trab den Weg von heute morgen, über weite weiße Sande und über weites grünes Feld und durch tiefe Wasserläufe und erreichte so gegen Mitternacht die Düne von Hilligenlei und das Priesterhaus ... und beharrte bei seinem Entschluß, den Heiligen tot zu schlagen.
Er fand die Hintertür des Hauses unverriegelt und schlich den Gang entlang zu einer andern Tür und hörte dahinter die Stimme des Heiligen, der in der Kammer mit sich selbst zu sprechen schien. Da machte er einen langen Hals und sah durch die Türspalte in die Kammer.
Da lag der Heilige im Schein des Mondes auf den Knien vorm Tisch und betete in fremder Sprache. Hinter jedem Satz machte er eine Pause und dachte nach. Als er aber den fünften Satz gesagt hatte, wurde sein Denken plötzlich hörbar. Er schlug auf den Tisch und sagte laut und erzürnt: ›Datt ick so dull war und em an dee groten Ohren slagete! ... Dat kam von dee growe Mehlklump und dee mächtige Swienskoppe von jester dag, und von dee verdammte Spitznäse, de achter mi stunde ... Lewer Lord ... und goode Heliand, samt Moder Marie ... vergewe mi miene Verschuldinge und make week sien trotzig Harte.‹
Der Mann mit der Axt drehte sich um, hob sich höher auf den Zehen und schlich aus dem Hause, und lief in einem Trab über Sand und Gras und Wasser nach Haus, mit zusammengebissenen Lippen und wildsprühenden Augen. Sie wartete auf ihn vor der Tür, griff gleich nach der Axt und fühlte mit den Fingern nach der Schneide und sah ihn unruhig an. Da breitete er beide Arme aus und rief unter lautem Luftholen und schrie mit großem Lachen: ›Hee is gar keen Hilliger ... he hett Lievweh hatt.‹
Obgleich die Leute in der Landschaft sich damals fast alle Christen nannten, wunderten und ärgerten sie sich doch gewaltig, daß er den Bischof nicht totschlug; ja selbst der eine Priester, der ein Landeskind war, grämte sich, obgleich ihm die Haare zu Berge stiegen, wenn er daran dachte, daß der Heilige also hier im Lande die Märtyrerkrone erlangt hätte. Sie verachteten den Strandmann manchen Tag, bis er bei einem Frieseneinfall zeigte, daß eine hohe und heiße Tapferkeit in ihm war. Von der Zeit an rühmte man auch das andere, das in ihm war: nämlich seine milde Gerechtigkeit, die er in jener Nacht gezeigt hatte.«
Die alte Frau ließ den Kopf ihres Sohnes los, der tief in Gedanken, wie träumend aufstand und sich an den Ofen stellte. Anna Boje war über die Geschichte eingeschlafen; ihr Kopf lag auf der dunkelbraunen Tischplatte auf ihren Armen; ihr schönes helles Haar lag ausgebreitet auf dem Tisch. Kai Jans hatte beide Arme auf die Tischplatte gelegt und sah noch immer unbeweglich mit seinen dunkelgrauen Augen auf die alte Frau.
»Siehst du?« sagte sie zu ihrem Sohn ... Seine Gedanken spielten wie Kinder in der Dämmerung auf einer großen Bauerndiele.
»Was ist denn nun?« sagte er aus tiefen Gedanken. »Gibt es denn nun gar keine Heiligen?«
»Nein ...« sagte die alte Frau, und schüttelte den Kopf: »es gibt keinen, keinen einzigen. Es ist beides durcheinander im Menschen: heilig und unheilig. Heilige gibt es nicht ... Sieh mal nach, Hans, ob der Himmel wieder heil ist.«
Der Sohn trat ans Fenster und sagte in ehrlicher Verwunderung: »Die Sterne stehen da wieder alle.«
»Das dachte ich mir,« sagte sie ... »Nun bring die Kinder rasch bis an den Goosweg. Wach auf, kleine Deern, es geht nun weiter.«
Da führte er sie über die Heide. Am Rand verließ er sie, ohne ein Wort zu sagen.
Die beiden stiegen schweigend den Hohlweg hinunter in die Marsch und waren bald auf dem schmalen grauen Fußsteig, der auf Freestedt zuführt. Zur Rechten zeigte sich schon der schwere, gerade Strich des Deiches. Als sie dicht vor dem Dorfe angekommen waren, da wo die Windmühle steht, sah Anna Boje verschlafen auf und erschrak: »Alle Häuser haben noch Licht?« sagte sie, »unser Haus auch? ... Was ist das? ... In der Schulstube ist auch noch Licht? ...« Da fing sie an zu weinen und zu laufen.
»Was ist geschehen?« fragte Kai Jans einen Mann, der des Wegs ging.
»Lehrer Boje wollte einen schweren Kornwagen aufhalten,« sagte der Mann, »der während des Gewitters auf dem Bollwerk ins Rollen kam. Es saß ein Betrunkener auf dem Wagen und ein Kind daneben. Er konnte aber die Last nicht halten und stürzte mit allem in den Strom hinein. Sie haben ihn eben gebracht.«
Anna drang durch die Männer, die, mit grauem Schlick bedeckt, auf der Diele und in der Schulstube standen, bis zu ihrer Mutter, die neben dem Pult zusammengebrochen war. Piet stand aufrecht neben der Leiche seines Vaters, auch er von oben bis unten mit nassem grauem Schlick bedeckt.
Hella Boje schrie vor Freude laut auf, als sie ihr Kind sah: »Du lebst doch,« sagte sie. »Du lebst doch! Du!« Und sie riß das große Mädchen in die Knie und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Ich habe doch alle meine Kinder ... Wo sind Heinke und Hett?«
»In der Schlafstube,« sagte Piet, mit fester, verbissener Stimme.
Hans Märtens, der Gemeindevorsteher, sagte mit seiner knarrigen Stimme: »Er ist für seine Familie zu früh gestorben. Gut fünfzehnhundert Mark hat er von seinen Seminarschulden abbezahlt, tausend stehen noch ... Ich bin damals als Mensch und Nachbar Bürge geworden.«
Helle Boje hatte nur halb gehört und wollte fragend aufsehn. Aber in dem Augenblick war Piet auf den Gemeindevorsteher losgesprungen, stand vor ihm und schlug sich immerfort auf die Brust und schrie: »Ich ... ich ... bringe es in Ordnung.«
»Ist gut, mein lütjer Nachbar,« sagte Hans Märtens. »So ist das nicht gemeint.«
»Es ist doch so gemeint,« schrie Piet. »Ich ...« sagte er, und fing wieder an zu schlagen ... »ich bring' alles in Ordnung.« Dann kehrte er sich zu seiner Mutter und sagte: »Sei man still, du hast mich und bist noch lange nicht verloren.«
Helle Boje legte den Arm um seine Beine und fragte wieder: »Wo sind Heinke und Hett?«
»In der Schlafstube ... komm, wir wollen dahin gehen. Vater können wir doch nicht mehr helfen.«
Kai Jans war mit ausgerecktem Hals und entsetzten Augen in der Tür stehen geblieben. Als nun die Männer Laternen hoben und Platz machten und er in dem veränderten Licht die unordentliche Schulstube sah und den Toten ausgestreckt, das schöne, noch junge Haupt machtlos zurückgebogen; und das ganz verzerrte Gesicht und unordentliche Gewand der schönen Mutter und die entstellten, sonst so ruhevollen Gesichter von Piet und Anna: drehte er sich um, wie herumgerissen, und lief den Weg zurück, im Trab, stehenbleibend, atemlos, wieder im Trab, entsetzt und verwirrt, verängstigt und mit Weinen, während sich das trostlose, wirre Bild immer tiefer in seine Seele grub und sein Geist schwere, wirre Gedanken mühselig und hoffnungslos wälzte.
Mit Schweiß bedeckt kam er gegen Morgen nach Haus. Er erzählte seiner Mutter zerhackt und stotternd, was geschehen war. Sie ging nach der Küche und setzte sich auf den Herd und er stand vor ihr. »Es ist schrecklich,« sagte er, »schrecklich.«
»Ja,« sagte sie, »es ist schrecklich ... was soll nun aus ihr und den Kindern werden. Die Rente ist klein und sie haben noch Schulden. Piet kann nun wohl nicht auf die Schule kommen.«
»Das ist ja nicht das Schlimmste,« sagte er; »das bringt Piet schon alles in Ordnung; aber das andere.«
»Was denn?« sagte seine Mutter.
»Mutter!« sagte er, »denk mal an ... Wenn der Mensch auf dem Wagen sich nicht betrunken hätte! ... Der ist gerettet! Und Lehrer Boje und das Kind sind ertrunken. Und nun denk noch an all die Not, welche die Bojes nun ihr Leben lang haben werden. Bloß weil der Mensch sich betrunken hatte! Das ist ja alles verrückt.«
Sie sah zu ihm auf. Sein Gesicht war ganz blaß und seine Augen brannten.
»Die Welt ist nun so,« sagte sie.
»Ja ... sie soll aber nicht so sein, das kannst du glauben ... Wenn die Frau von Heesedorf sagt: es gibt keine Heiligen ... es soll aber welche geben; die Menschen sollen alle heilig sein.«
»Du kommst nun in die Arbeit, mein Jung,« sagte sie hart, »dann hört das Grübeln auf.«
»O, Mutter,« sagte er und sah sie mit Angst an, »wenn das man nicht mal meine Not wird ... ich kann nicht nachlassen, darüber nachzudenken; ich glaube, ich grüble mir noch mal den Kopf entzwei.«