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Heine Wulk saß mit seinem blassen Kleistergesicht in seiner staub- und schimmelgrauen Werkstatt an dem langen, schmutzigen Tisch, der mit Ausschnitten, Scheren, allerlei Schreibzeug und Zeitungshaufen bedeckt war, und starrte in das Korrespondenzblatt, das eben aus Berlin gekommen war. Kai Jans kam an, lang aufgeschossen und blaß, ging nach seinem gewohnten Platz am Setzkasten und fing an, die eingegangenen Anzeigen zu setzen. Er hatte schon sechs Stunden Schulzeit hinter sich. Aber wenn er nun in acht Tagen die Schule verließ, wollte er seine ganze Kraft der Firma Heine Wulk widmen.
»Du,« sagte Heine und strich sein langes, glattes Haar bis auf den Rockkragen: »Der Kerl aus Berlin ... was hat er da wieder einen großartigen Leitartikel geschickt! Über den Frühlingsanfang ... Aber hier, an einer Stelle, redet er von Libellen, die sich auf Wasserlilien schaukeln? Was ist das? Ich habe in meinem Leben nichts von Libellen gehört.«
»Das ist, was wir Speckfreter nennen,« sagte Kai Jans.
»So! Ein Speckfreter ist das! Wir können aber unmöglich einen Speckfreter in einen Leitartikel bringen. Dann laß es also bei den Libellen beruhen; ein wunderschönes Wort ... Du mußt hier und da ein wenig ändern, Kai ... er redet hier zum Beispiel von Buben und Mädeln, dafür kannst du Knaben und Mädchen setzen. Verstehst du? Aber den Schwung nicht zerstören! Schwung ist und bleibt die Hauptsache. Du hast das schon ganz gut heraus, aber es kann noch besser werden; du weißt, was ich dir immer wieder sage: Der Bürgermeister! Der hat Stil! ... Hier weiter unten, wo der Berliner ... übrigens wieder großartig ... von den schüchternen Sonnenstrahlen redet, da kannst du einfügen, daß die Hühner wieder anfangen zu legen; das hat der Berliner in seiner Dummheit vergessen.«
Kai Jans besah die Stelle und sagte bedenklich: »Es paßt gerade nicht sehr gut.«
»Es muß gehen, also geht es!« sagte Heine Wulk. »Sieh ... wenn so'n Bauer das liest, riskiert er schon mal eher eine Anzeige und bezahlt sie mit Eiern. Ich habe manchmal um diese Zeit gute Geschäfte gemacht ... Was ist denn in der Stadt passiert? Hast du was gehört?«
»Schiffer Tams hat sich in Finkenwärder einen Ewer gekauft. Das ist nun der fünfte, der in Hilligenlei beheimatet ist. Hafenmeister Lau sagt, es ist ein schönes Schiff.«
»Ach, was ist das!« sagte Heine Wulk. »Einen Ewer kaufen kann jedermann.«
»Pe Ontjes Lau hat in Altona sein Steuermannsexamen mit ›gut‹ bestanden.«
»Ich mag den Lau nicht. Und was geht Hilligenlei das an?«
»In der Kirchstraße ist das Siel seit gestern abend verstopft; das schlechte Wasser steht in den Straßen und kann nicht weg.«
Heine Wulk schüttelte stark den Kopf. »Was haben wir davon?« fragte er. »Wenn wir das bringen, ärgert sich der Bürgermeister, und der Polizeidiener wird giftig und macht mir Scherereien. Ist nichts für uns. Was sonst?«
»Kaufmann Dicksen hat seinen Trauring wiedergefunden, den er vor zwanzig Jahren in seinem Garten verloren hat.«
»Sieh ... das ist interessant ... das kannst du bringen. Weißt du: so kleine Züge aus dem Menschenleben, das ist was für uns.«
»Und Gastwirt Birnbaum hat eine Weinflasche voll Erbsen ausgestellt. Der die Zahl am besten rät, bekommt ein Dutzend Bier.«
»Sieh ... das ist nett. Da sitzt darin, was man Humor nennt. Führ' das ein bißchen aus, so mit Schelmerei, weißt du, und natürlich mit Schwung. Du mußt zu verstehen geben, daß Birnbaum, indem er diese Aufgabe stellt, Geist und Witz zeigt, und daß eine solche Aufgabe, indem sie gemütliche Zusammenkünfte hervorruft, zur Belebung von Herz und Geist in dieser Stadt beiträgt. Wenn du in Stimmung bist, kannst du den Bericht vielleicht mit einigen Reimen, einem dichterischen Scherzwort schließen. Nun man los ... Es muß dir doch Spaß machen, Junge, daß du mit deinen fünfzehn Jahren schon mitten im Getriebe dieser Tage stehst. Nun sei fleißig; ich will mal in die Stadt gehen und sehen, ob da sonst noch was geschehen ist.«
Heine Wulk zog seinen alten Überzieher an, steckte beide Hände in die großen, weitoffenstehenden Taschen und ging mit seinem glinsenden Gang zu Gastwirt Birnbaum, trank ein Glas Grog und gab sein Gutachten über die Zahl der Erbsen ab, sorgte dafür, daß seine Zahl richtig notiert wurde, ging noch in einige andere Wirtschaften und sprach mit den Bürgern, die da faul und breit und in protziger Unterhaltung saßen, und ging dann wieder nach der Werkstatt.
Kai Jans hatte inzwischen die beiden Artikel gesetzt und ein Stück von einem Roman gelesen, den eine Berliner Firma in gelben Heften geliefert hatte und den er beurteilen sollte, ob er zum Abdruck tauglich wäre, und war nun dabei, das Programm eines Tingeltangels zu setzen. Heine Wulk schielte nach dem Setzpult, an dem er nun eigentlich stehen sollte, war aber so faul, daß er nicht einmal seinen großen Rock ausziehen mochte. Er sank sachte auf seinen bequemen Stuhl am Tisch und griff nach einer Hamburger Zeitung.
Da kam Anne Wiesche Martens aus Freestedt, die Nachbarin der Bojes. Sie trat in ihrer ganzen stattlichen Fülle in die Werkstatt, setzte ihren Korb auf den langen Tisch und sagte: »Wir haben eine fehre Kuh im Stalle, Heine; du kannst mal 'ne Anzeige loslassen, kurz und bündig,« und nahm ein schmales Schälchen Butter aus dem Korbe. »Ich habe dir'n Pfund Butter mitgebracht; Bargeld ist knapp.«
»Es ist eine Not,« sagte Heine Wulk, »daß keiner bar bezahlen will. Butter laß ich mir gefallen; auch habe ich nichts gegen einen halben Sack Kartoffeln. Im vorigen Herbste, als die Ferkel so billig waren, daß Hans Hansen fünf Stück auf dem Marktplatz laufen ließ, kam Jakob Sothmann mit der Todesanzeige seiner Frau und brachte ein Ferkel mit und dachte, daß ich hineinfiele. Aber sie stiegen im Preis und ich kam gut heraus. Aber nun sieh mal ... hier – was liegt hier alles in der Ecke!« Er legte ein Ziegenfell zur Seite. »Kannst du das brauchen? ... Kai, komm her, mein Junge, und sieh dir dies an. Wenn du nachher an eine große Zeitung kommst: was mag da erst zusammenkommen! ... Der Mensch muß sich vielseitig bilden. Sieh ... Kinderkleider.« Er griff in einen dunklen, weichen Haufen. »Die Kaufleute sind die schlimmsten.«
»Lauter Ladenhüter!« sagte Anne Wiesche und schüttelte den Kopf. »Ich muß weiter ... Sieh,« sagte sie und blieb stehen, »das wollte ich noch sagen: die Frau vom Lehrer Boje kommt mit dem Nachmittagsboot. Sie will hierher nach Hilligenlei ziehen und sucht eine kleine Wohnung: drei Stuben, daß sie einen Domschüler in Kost nehmen kann; billig muß sie sein.«
Heine Wulk war noch ganz in Gedanken über das Wesen des Tauschhandels und schüttelte den Kopf. Anne Wiesche ging.
Sie war eben weg, da trat der große, schwere Kassen Wedderkop herein. Er war ein geborener Hilligenleier, war aber weit in der Welt umhergekommen und im Auftrag eines alten Hamburger Hauses lange Jahre in Ostasien gewesen. Als ein Vierzigjähriger hatte er da drüben eine Rückenverletzung erlitten, die ihn zum Invaliden machte. Da hatte er seinen Beruf aufgeben müssen und hatte sich mit einem bescheidenen Vermögen nach seiner Vaterstadt zurückgezogen und hatte angefangen, Aufsätze über Handelsverkehr und Handelspolitik zu schreiben. Erst zagend und unsicher, merkte er bald, daß er zu einem Handelspolitiker mehr Gaben hatte, als zu einem Händler, und war schon zu dieser Zeit, zehn Jahre nach seiner Heimkehr, ein gerngesehener Mitarbeiter großer Zeitungen deutscher und englischer Sprache. Er verkehrte in Hilligenlei mit fast niemandem, und die Leute kannten ihn nicht. Er war ein wortkarger, ernster Mann, fast immer, auch unterwegs, in seine Gedanken vertieft. Wenn er seinen Mund auftat, sprach er mit einem lauten Baß.
Er stützte seine breite, nicht große Gestalt schwerfällig auf eine Handkrücke und bat in seiner kurzen, rein sachlichen Art um einen bestimmten früheren Jahrgang der Zeitung, in welchem einst sein Vater, wie er neulich erst erfahren hatte, von seinem schlichten Lebenslauf erzählt hatte. Heine Wulk, der ihn nicht leiden mochte, gab ihm den Jahrgang, und Wedderkop ging an das Fenster, an dem Kai Jans bei seiner Arbeit stand. Er sah den langen, blassen Jungen, den er wohl zuweilen auf der Straße gesehen hatte, aufmerksam an, setzte sich schwerfällig hin und fing an zu lesen und stöhnte dabei zuweilen, was er sich angewöhnt hatte.
Es kamen diese und jene Leute. Eine Frau, deren Kinder hungrig und unordentlich durch die Straßen gingen, bestellte Gratulationskarten für die Konfirmation; der Küster brachte den Kirchenzettel; dann kam der Bürgermeister.
»O ... der Herr Bürgermeister!« sagte Heine Wulk und machte eine große Verbeugung.
Daniel Peters grüßte kurz und fremd zu Wedderkop hinüber, zog seine hellen Beinkleider hoch und setzte sich würdig auf einen Stuhl. »Ich hatte nicht viel Zeit für den Artikel,« sagte er. »Die Sorge um die Stadt läßt einem Tag und Nacht keine Ruhe.«
»Es ist ein Jammer,« sagte Heine Wulk und strich sich lebhaft übers Haar. »Was wäre aus dem Herrn Bürgermeister geworden,« sagte er, »wenn er mit dem Pfunde, das Gott ihm gegeben hat, hätte wuchern können.«
»Ja,« sagte Daniel Peters und strich den langen, weichen Schnurrbart. »Nun wird man so als Verwaltungsbeamter verbraucht. Das Leben geht hin ... Weg damit! ... Ich will Ihnen vorlesen, was ich geschrieben habe.«
»Leg die Arbeit hin, Kai. Paß auf, mein Junge.«
Daniel Peters legte die Faust aufs Knie, hob die Schultern ein wenig und las mit verengter Kehle – alle Hilligenleier sprechen vor lauter Wichtigkeit mit gehobenen Schultern und verengter Kehle –: »Überschrift: Der Stadt Hilligenlei Zukunft ... Wunderbar ist unser Meer, die Mord- und Nordsee, ersteres wegen ihrer Schiffsunfälle, letzteres im Unterschied zu den Engländern, welche sie deutsches Meer nennen; aber am wunderbarsten ist es, wenn es gewissermaßen nicht da ist, wenn es uns armen, kleinen Menschen seine weiten Watten darbietet und gewissermaßen hinlegt, daß die Bürger von Hilligenlei, vom Stand der Honoratioren abwärts bis zum Stand der Tagelöhner, hinaus, hinaus, ins sonnige Watt gehen, hinaus nach dem Dänensand. Warum nach dem Dänensand? Warum nicht nach den andern Sanden im weiten Watt? Fragt man mich so mit Recht? Nein, nein, und dreimal nein. Denn dort, im Dänensand, über den die See gleitet, liegt die Hoffnung der guten, alten, oft schwer heimgesuchten Stadt Hilligenlei. Unsre Leser wissen, was wir meinen. Jeder, der voll und ganz Hilligenleier ist, – und es gibt Gott sei Dank noch solche – weiß es.
Es war im Jahre des Herrn 1813 ... Da wurde von der damaligen, jetzt schon allzulange hochseligen Majestät ein Schiff nach Glückstadt geschickt, das mit dreihunderttausend Reichstalern befrachtet war, die für die Armee seiner hochseligen Majestät bestimmt waren. War es die finstre Macht wilder Naturgewalt? Nein. Wir sagen als Christen, die immer und allewege zu ihrem alten, angestammten Glauben stehen: es war der Wille eines weisen, gnädigen Gottes. Das Schiff wurde in einem gewaltigen Sturm in unsre Bucht getrieben, ging mit Mann und Maus unter und verschlickte sofort in der Tiefe des Sandes. Es war weiterhin der Wille des großen, gnädigen Gottes, daß er das Herz seiner hochseligen Majestät dahin wandte, daß er das Geld, wenn das Schiff wieder zum Vorschein kommen sollte, der Stadt Hilligenlei zusprach. Und nun sehet! Der Gott, der mit den Naturgewalten spielt, daß sie seinen Menschenkindern dienen müssen, nachdem er in seinem Rat beschlossen hatte, seiner guten Stadt aufzuhelfen, hat es gefügt, daß der Dänensand seit zehn Jahren, gerade solange als der jetzige Bürgermeister, Herr Daniel Peters, an der Spitze unsers Gemeinwesens saß, abbröckelt; wie es in einem Dichterwort heißt: ›In der Zukunft Schoße lagen die glücklichen Lose.‹ Das Schiff wird wieder das Licht des Tages sehn und Hilligenlei wird werden ein heilig Land, wie sein Name sagt, nicht allein aufs beste verwaltet und stehend in der Väter Glauben, sondern auch ohne Steuern.
Aber trotz alle und alledem, obgleich die lautre Güte Gottes also über uns scheinet, gibt es Leute, die hiermit nicht zufrieden sind, sondern jahraus jahrein drängen und treiben, daß der Hafenstrom grade gelegt wird. Und weswegen? Wegen der fünfzehn Krabbenfänger, welche auf kleinen, elenden Booten ihrem Gewerbe nachgehen oder wegen der zwanzig Ewer, welche einlaufen? Und wenn diese und jene infolge der Gradlegung sich vermehrten, wollen wir mehr Verkehr, mehr Leben, mehr Bevölkerung, etwa eine zweite Zeitung, welche in den nörgelnden Ton dieser Tage verfällt? Leben wir hier nicht in Frieden? Sollen auch zu uns jene Menschen kommen, welche Thron und Altar untergraben? Gott sei es geklagt! Wir sind schon nicht ganz frei von ihnen. Sie schleichen im finstern. Sie verunreinigen dies heilige Land. Wir kennen ihre Namen und wir wissen ihre Zusammenkünfte.«
Daniel Peters hielt schweratmend inne und strich finster an seinem weichen, langen Schnurrbart. Heine Wulk, noch ganz ergriffen, sagte leise und feierlich: »Siehst du, Kai ... das ist das, was man Stil nennt. Hast du gut aufgepaßt? Sieh: dies ist dein Ideal und Vorbild. Nun setz' den Artikel ... sofort ... Ich gehe mit Ihnen, Herr Bürgermeister.« Die beiden gingen hinaus, ohne Wedderkop zu beachten. Kai Jans trat wieder an seinen Setzkasten.
Nach einer Weile sah Wedderkop wieder von seiner Zeitung auf, und wieder schien es ihm, als wenn in den tiefliegenden, ernsten Augen des Knaben eine verwunderte, sonderlich reife Seele hocke, die spähend und wirr auslugte, wie ein scheues, feines Mädchen mit unruhigem Herzen nach dem Geliebten auslugt, den es doch fürchtet, weil es ahnt, daß er ihrer nicht würdig ist. Dazu hatte er einen starken Mund und das Kinn war breit. Er dachte: ›Was ist das für ein starkes, schönes Gesicht.‹
»Es war ein gutes Stück Arbeit,« sagte er mit seiner lauten Stimme, »was der Bürgermeister da gemacht hatte.«
»Ja,« sagte Kai Jans erschrocken. »Der Bürgermeister schreibt fein.«
»Kluge Gedanken!« sagte Wedderkop donnernd.
»Er ist ein sehr kluger Mann,« sagte Kai Jans verständig. »Ich glaube, wenn er wollte, könnte er Minister werden; aber nun opfert er sich für Hilligenlei auf.«
Wedderkop machte die Augen ein wenig größer. »Du lernst hier wohl viel?« sagte er.
»Sehr viel!« sagte Kai Jans ernsthaft. »Es ist so freundlich von Herrn Wulk, daß ich schon soviel selbständig arbeiten darf.«
»Was denn?« fragte Wedderkop.
Kai Jans erzählte bescheidentlich, doch stolze Röte in den blassen Wangen, von seiner Mitarbeiterschaft an den Leitartikeln. »Und neulich habe ich den ersten selbständigen Artikel geschrieben und veröffentlicht; es ist die Geschichte vom Strandmann und vom Bischof ... Sie haben sie vielleicht gelesen.«
»So?« sagte Wedderkop. »Du bist es gewesen, der da in der Gewitternacht in Heesedorf bei der alten Frau eingekehrt ist. Ich kenne die Geschichte auch und weiß, wie die alte Frau sie erzählt.«
»Sie erzählte sie ganz kurz und hart,« sagte Kai Jans; »ich habe sie ausgeschmückt.«
Kassen Wedderkop nickte und sah ihn aufmerksam an. Der junge Künstler hatte den Strandmann zu einem faden Gesellen und den Bischof zu einem Wüterich gemacht; dazu hatte er viel weichlich Geranke herumgetan. »Ja,« sagte er, »du hast sie ausgeschmückt! ... Sag mal, wie weit hast du es in der Schule gebracht?«
»Ich bin in den letzten beiden Jahren der oberste gewesen.«
Kassen Wedderkop stand mit Stöhnen auf und setzte sich in Bewegung. »Wenn du magst,« sagte er, »dann kannst du morgen vormittag – morgen ist Sonntag – so um zehn zu mir kommen ... Du kannst die Zeitungsnummern vom letzten Vierteljahr mitbringen ... Hörst du? ... Ja, die kannst du mitbringen.«
Kai Jans sah den breiten Mann, über den Heine Wulk und der Bürgermeister so wegwerfend urteilten und der nun bei näherer Bekanntschaft so was Klares und Festes hatte, mit etwas schwankendem Selbstbewußtsein an und versprach schüchtern, daß er kommen wolle ...
*
Am andern Morgen saß Kassen Wedderkop in seinem Hause, das draußen vor der Stadt lag, und las in Zeitungen und Zeitschriften, wie Kai Jans sie noch nie so groß und fremd gesehen hatte, und notierte noch eine Weile auf einen Papierblock, den er auf der Stuhllehne festhielt, und stöhnte ordentlich dazu, nicht aus Schmerzen, sondern weil ihm ein dumpfer Druck, den er immer im Rücken hatte, lästig war.
»Setz dich, Kai Janslein!« sagte er. »Mußt nicht bang sein, weil ich so laut spreche. Die Menschen da oben in Korea, wo ich lange war, sind alle schwerhörig und das Land ist da so weitläufig. Da habe ich mir das so angewöhnt ... So ... das ist recht: da sind die Zeitungsnummern! ...«
Er nahm das erste Blatt und, ohne ein Wort vorauszuschicken, fing er an, Satz für Satz mit lauter, dröhnender und donnernder Stimme vorzulesen und kurze Bemerkungen darüber zu machen. Kai Jans saß auf der Kante eines Stuhles, die Mütze in der Hand und sah vor sich hin, und wurde rot und dann blaß und blasser.
»Sieh mal ... dieser Satz ... So! ... Du siehst, wie lächerlich er ist ... Weiter! ... So, das sind drei Sätze, zwei davon sind unnötig, und der dritte ist Quatsch ... Weiter! ... So ... Was ist das für ein Gerede? Sieh dir das Ding doch an! Wenn du es mit deinen ruhigen, verständigen Augen ansiehst, sieht es so ... und so aus ... Weiter! ... Sieh: das ist wahrhaftig eine Wahrheit ... aber nur eine halbe; sie geht mit einem Verrückten Arm in Arm; denn was daneben steht, ist unklug. In Wirklichkeit ist es so und so ... das weißt du selbst ganz genau ...« So ging es in einem fort, Satz für Satz ... zwei, drei Zeitungen hindurch. Alle Artikel, die Heine Wulk und der Bürgermeister geschrieben hatten: »Unsinn ...« »Eine Komik und ein Jammer! Nichts als Verlogenheit und Unsinn. Was für ein Elend richten diese Leute mit ihrer Zeitung an. Die Leser halten diesen Patriotismus, diese Windbeuteleien, diese Überschwenglichkeiten, diese Sprache für echt und recht; und fangen an, so zu glauben, zu denken, zu reden, Briefe zu schreiben; und so wird ihr ganzes Leben durch diese Zeitung in Verlogenheit und Falschheit eingewickelt ... Hast du keine Augen? Siehst du nicht all die Verlogenheit und Faulheit in Hilligenlei?«
Kai Jans saß da auf der Stuhlkante, die starren Augen auf die Mütze in seiner Hand und rührte sich nicht. Er war ganz bleich. Alle Götter, die er gehabt hatte, fielen von ihren Thronen und wurden im Fallen komische Strohpuppen.
Nun kam die Geschichte vom Strandmann. Kassen Wedderkop nahm sie fest in die Hände und riß ihr langsam all die Federn aus, die Kai Jans ihr angeleimt hatte, und zeigte, wie schlicht und schön sie im alten Kleide war. Um Kai Jans' Mund zuckte es und seine Hände zitterten.
»Es ist alles Unsinn, mein Junge! Dein ganzes Dasein ist ein einziger Unsinn! ... Inwendig! Ja, inwendig bist du ein ehrlicher, kluger Junge. Als ich dich da in der dreckigen Werkstatt sah, dachte ich: das ist der rechte Niedersachse, ein Mensch, der nicht hinter andern herbetet, sondern eigene, ernste Gedanken hat. Aber auswendig! Da bist du ein Windbeutel. Verstehst du? Ein Windbeutel bist du. In Grund und Boden hinein mußt du dich schämen.«
Da sprang Kai Jans auf und sah mit verstörten Augen auf den fürchterlichen Menschen: »Ich weiß, daß Sie recht haben,« sagte er. »Sie brauchen mir nun gar nichts mehr zu sagen, gar nichts.« Und lief zur Tür hinaus.
Er lief ins Feld und wußte nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Als wenn er aufgehoben wäre und sich in der Luft nicht mehr halten konnte und nicht wußte, auf welches Feld er hinunterstürzen würde. Er hatte vor seinen Eltern oft und gern mit seinen Heldentaten bei Heine Wulk geprahlt; er hatte so durchblicken lassen, daß er sich mit dem Bürgermeister gut stände und daß er in Hilligenlei schon etwas bedeutete und daß er vielleicht einmal Bürgermeister werden könnte und daß er dann dafür sorgen würde, daß die Stadt Hilligenlei ganz und gar heilig Land würde. Und sie, die Eltern, hatten ihm mit still glücklichen Augen zugehört, jeder in seiner Weise, der Vater ein wenig schelmisch und spöttisch lächelnd, aber doch glücklich über seine Phantasien, die Mutter ganz gläubig. Sein Kopf flammte von Röte der Scham und er knirschte mit seinen Zähnen gegen sich und stöhnte.
Hilligenlei ist nicht heilig Land! Nein ... nein ... er wußte es jetzt ... er sah es so deutlich ... Ein Narrenhaus ist es. Nichts von Heiligem! Ein Narrenhaus! Nichts als Lug und Trug. Er war blind gewesen. Er wußte gar nicht, was heilig war ... Es war klar, er kannte die Welt nicht. Er mußte seine Augen darauf richten, wie er die Welt erkennen konnte. So wie ein Schmied seinen Hammer kennen muß, so muß ein Mensch die Welt erkennen; sonst wird nichts aus ihm. Nun also: dann mußte er aus Hilligenlei heraus und nach Hamburg. Denn in Hamburg war die Welt; Hamburg war die Welt. Er wollte da in eine Druckerei eintreten, eine große. Aber vor allem wollte er dort seine Augen aufmachen und die Welt kennen lernen.
Er stand auf und ging langsam und schwer, als hätte er Blei an den Füßen, nach der Stadt zurück. Als er in die Hafenstraße kam, sah er Anna und Piet Boje vom Bollwerk heraufkommen. Er wollte rasch ausweichen; aber sie hatten ihn mit ihren Häheraugen schon gesehen und riefen ihn mit ihren hellen Stimmen.
Sie erzählten ihm, daß sie nach dem Burggarten wollten. Da hätte ihre Mutter in der Kastanienreihe ein Haus gemietet; das wollten sie sich mal ansehen. Da ging er mit ihnen.
Sie gingen zusammen hinauf und zählten die freundlichen, roten, spitzgiebligen Häuser, die da am Burggarten unter den stattlichen Kastanien in gerader Reihe stehen; und fanden das eine, das ohne Fenstervorhänge war und leer stand. Das war es. Schmal war es, einstöckig, das kleinste von allen, unten die Haustür und zwei Fenster, oben im Giebel eine Stube. Sie gingen in den schmalen Gang hinein, der in den Garten führte, und sahen in das Küchenfenster und in die Kammer. Der Garten war klein; doch hatte er einen Apfelbaum und an seinem Ende einen kleinen Rasen zum Bleichen. Dahinter führte ein Gartenpförtlein auf den freundlichen Heckenweg, der zwischen den Hausgärten aus der Stadt führte.
Die Kinder sahen sich das alles an und redeten altklug darüber und fanden es wunderschön und gemütlich. Besonders Anna war des Lobes voll. »Ich will die Küche übernehmen,« sagte sie und drückte ihre Stirn gegen das Küchenfenster; und sah in die Kammer und sagte: »Hier will ich schlafen ... Wir bekommen zwei Kostgänger von der Domschule; die sollen die Giebelstube haben; für die will ich sorgen.«
»Was will deine Mutter denn tun?« fragte Kai Jans.
Sie warfen sich einen raschen Blick zu; dann sagte Piet rasch und kurz: »Mutter hat sich eine Strickmaschine gekauft. Vater hatte noch Schulden ... zwölfhundert Mark ... die müssen bezahlt werden.«
»Wir können dir ja gern alles sagen,« sagte Anna. »Mutter wollte ja, daß Piet nach Itzehoe auf die Realschule ginge; aber dann müßte Mutter wer weiß wie lange an dieser Strickmaschine sitzen. Kurz und gut: Piet will gleich verdienen und geht in vier Wochen zur See! ... Nach Hongkong ... denke dir!«
Kai Jans sah Piet Boje an und sah etwas Neues in seinem hellen Gesicht: einen frühen Ernst, der weiß, was er will, und was das Vollbringen kostet, und sich doch nicht fürchtet ... Es stürmte mit einer ungestümen Wucht auf ihn ein ... Wenn er nun als Seemann in die weite Welt ginge? Pe Ontjes war Seemann, und nun Piet Boje. Warum er nicht? ... Er sah und hörte nicht mehr, was die beiden erzählten ... Da taucht eine Küste auf! ... Was mögen da für Menschen wohnen? Ob sie gut oder böse sind? Ob sie heilig sind oder unheilig? ... Es muß doch irgendwo in der weiten Welt ein heilig Land geben? Wenn es das nicht gibt, ist das Leben ein wunderlich, unsinnig Ding ... Man muß eben suchen und die Leute fragen: Was wohnen da, an der Küste, für Leute? Wie leben sie? ... So müßte man um die ganze Welt herum fragen und suchen. Dann lernte man die Welt kennen und fände sicher, sicher ein heiliges Land .. Und dann, wenn er es gefunden hätte, wollte er wieder hierherkommen und dann wollte er hier ...
Er sah und hörte nicht mehr, was die beiden erzählten; er sann und spann an seinen Gedanken und ging stumm neben ihnen her und gab ihnen unten in der Hafenstraße die Hand und verließ sie.
Als er in die niedrige, kleine Stube trat, sah er seine Eltern mit den drei Schwestern und dem kleinen Bruder am Tisch sitzen beim Mittagessen. Es lagen Kartoffeln rund umher ausgestreut und in der Mitte stand die niedrige Pfanne mit zerlassenen, kleinen Speckstücken. Das war das Mittagessen. Thoms Jans hatte wegen harten Frostes sieben Wochen lang keine Arbeit und keinen Verdienst gehabt.
»Vater!« sagte er an der Tür und wiegte den Kopf ... »Piet Boje will Seemann werden ... ich will es auch ... Frag' mich nicht, ob es richtig ist ... ich weiß, es ist richtig. Vater! ... Ich muß unterwegs!«
Sie wurden blaß und stumm und wußten sich keinen Rat und sahen vor sich nieder. Thoms Jans hätte einen Sohn, der ihm betrunken ins Haus gekommen wäre, und wäre der Sohn dreißig Jahre alt, mit raschem Entschluß in aufbrausendem Zorn schwer geprügelt; aber nun sein fünfzehnjähriger Sohn mit diesen ernsten Augen zu ihm sagte: »Vater ... ich muß unterwegs,« da überkam ihn ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit und der Furcht, er könnte den Weg verbieten und versperren, den heimliche, große und unerkannte Gewalten seines Sohnes Seele schicken wollten, daß sie stärker würde. Er sagte nur leise, mit ein wenig Schelmerei und Bitterkeit zugleich in seinen klugen, versteckten Augen: »Also Matrose ... und dann Feuerschiff ... und dann Wattarbeiter ... und die Sonntagsstube immer groß und immer leer ... immer ganz leer ...«
»Nein, Vater!« sagte er, »das kannst du mir glauben: Ich habe die Augen offen und finde etwas!«
Die kleine Male Jans sah stumm auf den Tisch, die Augen voll Tränen. Sie dachte nur daran, daß er von ihr fortginge ... und noch dazu auf die wilde See.
*
Vier Wochen später saßen die beiden am Vorsetzen in Hamburg auf ihren Seekisten. Sie sahen links und rechts den Kai entlang, auf dem in dieser Stunde nur ein spärlich Treiben war, und sahen dann nach dem Dreimaster, der schon an den Schlepptauen lag, und warteten auf das Boot, das sie holen sollte.
Piet Boje langte von ungefähr in die Seitentasche und fühlte ein Stück Papier, zog es heraus und sah eine krickelige Handschrift, die ihm bekannt vorkam, und las: »Dein Lebelang habe Gott vor Augen und im Herzen, und hüte dich, daß du in eine Sünde willigst, noch tust wider Gottes Gebot. Deine treue Mutter Helle Boje.« Er steckte das Papier rasch wieder ein und sah wieder den Kai entlang und tat, als wenn ihm nichts Besonderes widerfahren war, und dachte, ganz wie einst vor sechzehn Jahren sein Vater: wie es doch möglich wäre, daß die große, kluge Mutter eine so schlechte Handschrift hätte.
Kai Jans hatte es aber gesehen und fing an, als Piet Boje wegsah, heimlich in seinen Taschen zu suchen und fand richtig auch ein Stücklein Papier. Er zog es vorsichtig heraus und warf einen raschen, heimlichen Blick darauf. Da sah er gleich, daß es eins von den langen, schönen Gedichten war, die Heine Wulk so gern abdruckte. Es war überschrieben: »Der Abschiedsgruß einer frommen Mutter an ihren Sohn am Tag der Konfirmation.« Er wurde rot und pfropfte es rücksichtslos wieder in die Tasche.
Piet Boje reckte den Hals und sagte: »Du ... wer kommt da angestapft ... Ist das nicht dein Freund, der Dusenschön?«
»Ja,« sagte Kai Jans, »das kann sein ... der ist seit vier Wochen hier in Hamburg.«
Wahrhaftig! ... Tjark Dusenschön kam da an ... mit seinen langen, graden Beinen, aber ohne den steifen, schleppenden Bürgermeistergang, sondern ganz schön und schlank, mit einem wehenden, blauen Schlips.
»Ich wußte, daß ihr heute an Bord ginget. Es ist schade um dich, Kai Jans; du hättest in ein Kontor müssen wie ich. Ich habe schon eine feine Stellung ... bei einem Rechtsanwalt.«
Piet Boje kümmerte sich gar nicht um ihn; er sah immer nach dem Schiff hinüber und verfolgte die an Deck gehenden Menschen und sah einen Mann ins Boot gleiten.
»Wohin gehst du denn jetzt?« fragte Kai Jans.
»Ich gehe von hier zu einem Bekannten, der mich in seinen Klub aufnehmen will. Lauter Kontorbeamte mit ihren Damen. Weißt du: ich mach' mir nichts aus Weibern, gar nichts; aber grade für den, der sich nichts aus ihnen macht, sind sie nützlich. Immer freundlich, vornehm, kühl, verstehst du? Dazu mein Name ... ein großartiger Name: Tjark Dusenschön ... und das königliche Blut.«
»Sprichst du denn davon?« sagte Kai Jans.
»Ich nicht, Mensch. Das müssen andre besorgen ...« Er sah das Boot ankommen und trat etwas zurück.
»Na, Jungs ...« sagte der Matrose ... »da seid ihr ja! ... Ihr habt mehr Glück als Verstand: ihr kommt auf'n gutes Schiff! ... Will das lange Ende auch mit?«
»Nein!« sagte Tjark Dusenschön und trat noch weiter zurück. »Gute Fahrt!« sagte er und schwenkte mit schöner Bewegung den Hut und stakte davon.
Als die Kisten auf den Duchten standen, griff Piet Boje mit beiden Händen nach dem Riemen und stieß das Boot ab.
»Hallo!« sagte der Matrose. »Bist du so einer?«
Kai Jans sah ins Wasser, ganz in Gedanken.
»Schieb die Kiste weg!« sagte der Matrose ... »Wohl'n Philosoph?« sagte er zu Piet.
»Ja,« sagte Piet und lachte kurz und spöttisch auf: »der will ein Königreich suchen.«