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Es hatte keinen Sinn, daß er mit dem Kapitän oder dem ersten Offizier über den Zustand des Schiffes sprach. Er überlegte, ob er es dem zweiten Offizier sagen sollte; aber der ehrliche Junge konnte neben seinem täglichen Dienst und dem Bild seines Mädchens weitere Gedanken sicher nicht fassen. So konnte er nichts tun, als unauffällig die beiden Boote nachsehn. Und trug so allein den wilden bittern Gedanken, daß sie in einem Schiffe säßen, das beim ersten tüchtigen Stoß in die Tiefe ginge.
Aber er ertrug den Gedanken, ja er spielte mit ihm, kraft seines übermütigen, ja höhnischen Glaubens, daß Gott ›gerecht‹ sein müßte, und diese ›Gerechtigkeit‹ sich zeigen müßte. ›Ich sollte mit der Anna Hollmann in die Tiefe?‹ Ich? Der an Bord gegangen ist, zu rächen, zu bessern? Ich? Der reinste und gradeste aller Steuerleute? Und dieser Knabe, der die Sünde seiner Väter gut machen will? Das ist nicht möglich. O nein! Das kann nicht geschehn. Gottes Wege sind wohl wunderbar; aber wir bitten uns aus, daß sie keine Fuchsschliche sind!
Wenn er am Tage Freiwache hatte und eben seine Kammer betreten hatte, klopfte der Knabe leise und höflich an und kam mit behender Wendung über den hohen Süll und setzte sich neben das Bullauge auf den Holzstuhl, während Jan Guldt auf der Koje saß, wegen der oberen Koje vornübergebeugt, die Hände auf den Schenkeln. Der Raum war so eng, daß ihre Knie fast aneinander stießen und ihr Atem ineinanderging, gleich wie zum Zeichen ihrer Heimlichkeit und Einigkeit.
So beredeten sie alles, was Jan Guldt wußte: Was der alte Hollmann am Weg in Oevelgönne vom Wagen herab mit seinem Dienstmädchen besprochen hatte; und wie Kapitän Guldt auf der Anna Hollmann Weiße und Schwarze gepeinigt und manchen über die Reeling geschoben hatte; wie das junge Ding in seiner Angst über Bord sprang; und von denen, die auf dem Casemance starben, von jedem Schiffe, das untergegangen war, von dem verkommenen Zustand der Anna Hollmann, von dem Schmutz und widerlichen Essen, und von der ganzen Roheit des Hungersystems. Der Knabe sog das alles wie einen bittern Trank, mit krauser Stirn, aber in guter Haltung, tief und tapfer in sich, daß er nichts im Kelche ließe. Denn er hatte die Absicht, den Becher einst, vom Boden herauf, neu zu füllen, mit gutem Trank.
Wenn er dann alles mit vielen Fragen – die deutlich zeigten, daß er für praktische Dinge keine Begabung hatte – immer neu ergründet hatte, atmete er tief auf, wie nach einer zu schweren Rechenaufgabe, und fing an, mit weicher, ängstlicher Seele, mit einer wehen, schlimmen Freude am phantastischen Schweifen und Bilden, mit dieser unheimlichen Anna Hollmann zu spielen, mit ihren Planken, Stengen, Treppen und Räumen. Er fragte nach den Stücken des Schiffs, die noch von jener Zeit her an Bord wären, bat Jan Guldt mit ihm hinauszugehn, und sah scheu nach den ungefügen alten Reelingstützen, nach der Treppe, nach dem Aufbaudeck und den alten Eisenplatten am Heck; und erzählte mit Augen, die von körperlicher und seelischer Erregung brannten, daß er in der vorigen Nacht, ob schlafend oder wachend, die ganzen Räume wie im Dämmerlicht durchsehn hätte: vier Stockwerk übereinander und alle voll Menschen, die wie dicke dunkle Schichten dagelegen; sie hätten gestöhnt, vor Mangel an Nahrung und Luft, und indem ihr Stöhnen lauter geworden, hätte es zuletzt die Wände des Schiffs gedehnt, daß die Spanten geknarrt und die Nieten sich gelockert hätten, so daß er das blanke Wasser und darin die hellern Fische mit ihren großen glotzenden Augen gesehn hätte. Aber bange wäre er nicht. Gott würde nicht dulden, daß sie beide, die sie unschuldig wären, ja anderer Leute Schuld endlich beiseiteschaffen wollten, untergingen.
Jan Guldt nickte mit tiefem Ernst dazu, mit seinen funkelnden Augen und dachte: ›Der vergißt sein Lebtag nicht, was er auf der Anna Hollmann gehört hat, und wird Wunderdinge tun, wenn er groß sein wird,‹ und seine hochmütige Seele schwoll vor Wichtigkeit und Gerechtigkeit.
Da griff der Knabe nach seinem Arm und fragte leise und wichtig, ob er ihm etwas zeigen solle. Er führte ihn den Gang entlang in seine hübsche Kammer, die von der hängenden Lampe wohlig erleuchtet war, und zeigte über der Kommode an der Wand eine wohlgelungene Zeichnung vom Innern einer Kirche. Es war eine Dorfkirche von ehrwürdigem Alter, die Mauern gewaltig dick, die Fenster in ihnen in ziemlicher Höhe und nicht groß, die Türen niedrig. Um den Altar, der ein schlichtes Bildwerk vom Heiland und seinen Aposteln trug, standen schöne steinerne Gewölbebogen als feste Wachen um das Heilige.
»Sehen Sie,« sagte er leise: »Ich fahre mit meiner Mutter und Schwester im Juli immer nach Sylt, wo wir ein eigenes Haus haben. Da geh' ich zuweilen mit einem alten Weber, unserm Nachbar, über Land, wenn er seine Arbeit austrägt. So kamen wir einmal zusammen nach Keitum und gingen um die Kirche, fanden sie offen und traten ein. Der Weber setzte sich in eine der letzten Bankreihen, so daß er das ganze Innere der Kirche vor sich hatte; ich ging indes in der Kirche umher. Als ich dann wieder zu ihm kam, sah ich, daß er betete, indem er sozusagen mit geweiteten Augen alles übersah, was von seinem Platz aus zu sehen war: die Bankreihen, die Wände mit ihren Fenstern, die Wölbungen um den Altar und den Altar selber. Er sah so aus, als wenn Gott in all seiner Heiligkeit den ganzen Raum füllte, und der Saum seines Kleides auf den grauen Fliesen lag. Ich setzte mich zu ihm, und sah auch hin und wartete, ob es mir auch so ginge; denn es stand deutlich in seinen Augen, daß der Ort ihn beten machte. Und sehn Sie: als meine Gedanken zuerst hinauswollten und wie gefangene Schwalben gegen das Fenster flogen, bogen sie immer sachte im Bogen der Fenster um, und wie sie aus der Tür wollten oder am Altar vorbei, bogen sie überall wieder um, gefangen durch die starken Mauern und wieder nach innen geleitet durch die schönen, festen Bogen. Und bald gaben sie es ganz auf, zu fliehen. Sie spielten und wogten um die Wölbungen des Altars und durch den ganzen Raum, schöne, weite Gedanken, voll von schönem Glauben an Gottes Güte und Hilfe, die niemals wanken kann. So saß ich selig und friedlich eine lange Zeit.«
Jan Guldt war bedeutend mehr der Enkel des alten harten Kapitän Guldt, als der Knabe ein Enkel des harten Hollmanngeschlechts. Er verstand es nicht. Die Wunder der Natur hatten den früh über alle Meere Gefahrenen kaum je erregt; die Wunder der Kunst hatten ihn nie gerührt. Er fragte mit der Neugier eines Menschen, der seinen Erzähler, der abgeschweift ist, wieder auf den rechten Weg bringen will: »Was geschah nun weiter? Was tat nun der Mann?«
Der Knabe war im Anblick des Bildes versunken; er saß offenbar wieder in dieser Kirche von Keitum, und mußte sich erst wieder zurechtfinden. »O,« sagte er, »weiter nichts! ... Ja, doch noch etwas! Als wir beide lange so still gesessen hatten, sagte der Weber zu mir: ›Glaubst du wohl, was ich und viele hier heimlich glauben?‹ ›Was glaubt ihr?‹ sagte ich. ›Wenn die Dämmerung kommt,‹ sagte er, ›kommen hier in diese Kirche Tote, die hier auf den Kirchhöfen liegen, und die auf den Watten und im fernen Meere gestorben sind, und sitzen hier in ihrer alten Kirche, zuweilen wenige, zuweilen dicht gedrängt, so wie die Sehnsucht sie hertreibt, aus ihren Gräbern, oder aus dem Meere, oder aus der Luft, oder von den Sternen, oder woher sie kommen. Sie sitzen auf den Bänken und lehnen an den Stuhlwangen, sie sitzen auf der Galerie und auf den Brüstungen der Fenster, und sehen mit schönen stillen Gedanken nach dem Altar.‹ So sagte der Mann, von dem meine Mutter sagte, daß sie nicht glaube, daß er lügen könnte. Ich bin dann noch oft in der Kirche gewesen und bin dort immer still und glücklich gewesen. Und darum habe ich sie aus dem Gedächtnis hier gezeichnet, und ich glaube fest und sicher, daß alles gut gehn wird.«
Jan Guldt sah das Bildwerk an, indem er sich nach vorn beugte, als wenn es ihn interessierte, und legte sich die Sache, die er nicht verstand, zurecht, indem er dachte: ›Er betet hier vor dem Bild, daß die Anna Hollmann bis Hamburg dicht bleibt, und daß er den Mut hat, seinem Onkel allmählich zu sagen, was er über die Firma denkt.‹
So war also der junge Passagier. Ein so kluger, feiner und fast heiliger Mann. Und die Anna Hollmann, die fast vierzig Jahre gelaufen hatte, sollte gerade auf dieser Reise untergehen, zwei solche Leute an Bord?
Darum ging Jan Guldt auf seiner Wache mit langsamen würdigen Schritten auf der Brücke auf und ab, und sah mit ruhevollen Augen auf das weite, schönwogende Meer, und erwog die höchsten Dinge, und sah, wie so mancher Niedersachse in Moor und Heide und auf den weiten Meeren, der ewigen Macht durch Herz und Nieren. Wie wunderbar war dies gegangen! Wie glückhaft sein rascher Sprung auf die Anna Hollmann! Ja, ein ehrlicher, fester Mensch vermag viel! Er stürmt wohl den Himmel und rüttelt die Engel wach, da sie träumten! In den Freiwachen in den Nächten schlief er den schönen Schlaf, der den Gerechten versprochen ist.
So ging es acht Tage lang. Das Schiff lief langsam, träge, mit mühsam stoßender Maschine, tief im Wasser, nach Norden der Heimat zu. Da kam die Biscaja. Und der zweite und dritte Tag ging vorüber, und die Biscaja war fast überwunden. Sie sahen nach dem Feuer von Uschant aus. Da kam der Sturm.
Am Morgen wehte noch der leichte Südwest und das Wetter war hell. Um Mittag flaute der Wind ab und war so zwei Stunden still. Dann kam im Nordwesten eine dunkelgraue Wolke auf, andre schoben sich nach, zogen höher und schoben sich wie pralle Säcke aufeinander. Die Wolken stiegen rasch höher und fingen an, sich zu vermischen und lose zu treiben. Gleich danach jagte die erste Bö mit stiebendem Regen über das Meer, das sofort voll starker, stürzender Seen lief; um sechs Uhr abends hatten sie die kurze, stoßende Art, die man an der Biscaja kennt. Doch wurde der Sturm auch durch die ganze Nacht nicht stärker als ein rechter Biscajasturm.
Die Anna Hollmann hielt sich zuerst ganz gut; denn sie war von Haus aus ein glücklich gebautes Seeschiff. Als aber der Sturm sich auslegte und so recht in Kraft kam, war die verkommene Maschine nicht mehr im stande, sie gegen die anlaufende See zu halten. Eine Zeitlang gelang es ihr; aber bald wurde das Schiff wieder durch dwarslaufende Wellen zur Seite gestoßen und erduldete die schweren Schläge der Seen. Da es überladen war, fielen sie darüber her, wie Streiter über einen schweren Mann, der in den Knien liegt. In weniger als einer Stunde war Gefahr vorhanden, daß die Luken, die samt den Scherstöcken alt und an den Enden abgenutzt waren, diese Schläge nicht lange ertrügen.
Der Kapitän, der anfing nüchtern zu werden, ließ einige Bohlen, die auf dem Aufbaudeck verstaut lagen, herunterholen, und Jan Guldt stieg mit dem stärksten Matrosen, beide Wurfleinen um den Leib, auf das Vordeck hinab und laschten sie auf den Luken fest; aber es waren nur vier Bohlen vorhanden; für mehr war nicht gesorgt. Aber wenn auch diese Arbeit für die Dauer Erfolg gehabt hätte: die Anna Hollmann war verfault und am Ende ihres Daseins. Die Ketten, die Laschungen, die Luken, die Maschinen, und vor allem die Außenhaut und ihre Vernietung: es hielt den schweren Erschütterungen der Sturzseen nicht mehr stand.
Kurz bevor sich die Dämmerung über die grauen stürzenden Wogen legte, kam der Bootsmann auf die Brücke und meldete über drei Fuß Wasser im Raum. Er schrie die Botschaft mit verzerrtem Gesicht, die Augen auf Jan Guldt gerichtet, wie ein Mensch, der einen wilden bösen Triumph verkündet. Als sie ihn noch ansahen, kam eine schwere See über, zerbrach das morsche Luvboot, warf sich, die Trümmer im schäumenden Rachen, über das Maschinenskylight gegen das andre Boot, riß auch das mit fort und beide über Bord. Zwei Matrosen, die dabei waren, die Boote besser zu laschen, wurden mit weggewaschen. Im selben Augenblick brach der Leitblock der Ruderkette. Das Schiff legte sich völlig dwars und ließ die Seen hilflos über sich hin gehn.
Der Bootsmann, die beiden Hände um die Stange der Treppe, wandte sein verzweifeltes Gesicht zu Jan Guldt und schrie jammernd, mit wilder weher Klage, durch den Lärm von Wind und See: »Nu geiht in'n Dood, Jan Guldt ... Unn Hans Hollmann ist nicht hier.«
Jan Guldt sprang mit wildem Gesicht gegen ihn, faßte ihn schwer an die Schultern; und indem er ihn die Treppe herunter riß, schrie er: »Noch lange nicht! Noch lange nicht. Noch bin ich da!«
Sie nahmen mit vier Mann Werkzeug, warteten die Gelegenheit ab, und liefen nach achtern, und machten sich an die Arbeit, das Reserveruder einzuschalten. Jan Guldt arbeitete wie ein Tiger in der Falle; der Bootsmann mit stumpfer gewohnter Pflicht. Die beiden Matrosen, in heißer Arbeit, von Schweiß und Wasser überströmt, schimpften auf die verrosteten Ketten und Bolzen, und daß auf dem Schiff nichts in Ordnung wäre, und es fehlte nicht viel, so müßten sie hier versaufen. Der Bootsmann schrie mit wildem, wahnsinnigen Lachen dazwischen: »Merkt ihr denn nicht, daß wir schon dabei sind?« Aber sie schimpften und versuchten zu lachen, und sagten, soweit wäre es noch nicht.
So arbeiteten sie eine Stunde oder zwei: da war das Ruder in Betrieb. Jan Guldt stellte sich mit dem Matrosen und dem Jungen daran. Der Mond schien bald hell, bald von jagenden Wolken verdeckt. So kam Mitternacht. Und sie hielten das Schiff leidlich gegen die See.
Aber bald nach Mitternacht, als er so in Gischt am Ruder stand, rechts von ihm der kleine Junge, links der Matrose, kamen besonders heftige Seen über, erst zwei starke, dann mit gewaltigerm Stoß die dritte, daß die Anna Hollmann vom Bug bis zum Heck heftig beberte und schütterte. Gleich darauf hatte er ein undeutliches Empfinden, so als wenn das Schiff nun leblos wäre; es wich auch zurück und lag wieder völlig machtlos quer zur See.
Es war ihm nicht klar, was geschehen war, und er schrie die andern an.
Der kleine Junge hatte es zuerst erfaßt und schrie ihm zu: »Die Maschine steht!«
Er wollte es nicht glauben, wischte sich Wasser und Schweiß vom Gesicht und machte dem Jungen ein Zeichen, nach vorn zu gehn und nachzusehn, und deutete noch auf die nächste See. Aber der kleine, ernste, tapfere Junge war schon unterwegs. Die See faßte ihn und riß ihn weg.
Da stand Jan Guldt noch eine Weile mit dem Matrosen da am Ruder. Als aber die Maschine nicht wieder ansprang, laschten sie es fest und liefen nach mittschiffs.
Am Anfang des Ganges, an der Maschinentür, stand der erste Maschinist im Handgemenge mit zwei Heizern, die versuchten, ihn in die Maschine hinabzustoßen, aus der ein dünner Dampf heraufwallte. Sie schrien immerfort: »Du hast sie verkommen lassen; darum müssen wir hier versaufen.« Sie rissen ihm die Hände los, die sich am Geländer und am Türgriff klammerten, und stießen ihn mit wilden Flüchen in die tote Maschine hinab.
Jan Guldt sprang die Treppe hinauf, an den beiden andern Heizern vorbei, die sich verrottete Schwimmwesten um die Brust banden und dabei aus ihren Flaschen tranken. Er lief an ihnen vorbei und trat auf die Brücke. Der Kapitän, vom Sturm und wohl auch von neuer Trunkenheit schwankend, versuchte vergebens ein Fanal anzuzünden. Zwischen seinen Bemühungen schrie er: »Wo's der Bootsmann? Wo's der Bootsmann? Er sagt allen, daß wir untergehn, und verhext uns mit seinem verrückten Glauben.« Der erste Steuermann stand mit seiner dürftigen Gestalt dicht hinter ihm und suchte ihm zu helfen. Der zweite stand stumm und steif, eine schöne männliche Figur, etwas größer als Jan Guldt, an der Luvseite an der Reeling, und sah über das Wasser, und verstohlen auf das Bild seines Mädchens, das er in der nassen Hand hielt.
Da sah Jan Guldt, daß kein Kommando mehr da war, und ging wieder hinunter.
Er ging hinunter, den Knaben zu holen, und kam in den Gang, auf der Seite, wo die Küche war. Da standen da die letzten Matrosen, Ernst des Todes in den bleichen Gesichtern, bis an die Knie in dem jagenden Wasser. Sie griffen nach seinem Ölrock an der Brust und suchten im Brausen des Sturmes und Rauschen und Klatschen des Wassers, mit ihm zu reden, und fragten ihn, ob es seine Meinung wäre, daß der Kapitän und der Koch ebenso schuldig wären, wie die Hollmanns, daß sie hier so jung und so elend sterben müßten. Wenn es so wäre – dem Hollmann könnten sie ja leider nicht ans Leben – so wollten sie doch verhindern, daß jene beiden im ehrlichen Seemannstod die Hände höben, und wollten sie in die Maschine stoßen, wo der Maschinist schon läge. Sie wären ehrliche und ordentliche Leute, auch aus ordentlichen Häusern; und fühlten sich frei von irgendwelcher Schuld. Gerechtigkeit und Justiz müsse sein; darin unterschieden sich Menschen vom Tier.
Er verstand sie völlig und liebte sie wegen dessen, was sie sagten, da es so recht von seinem Blut war; aber er hatte ja einen ganz anderen Glauben als sie. Er schrie laut und sicher und mit flammenden Augen: »Glaubt doch nicht, daß wir sterben! Gott soll mich verdammen, wenn ich glaube, daß wir hier sterben?! So wahr ich hier stehe, es wird Hilfe kommen! Ich weiß es! Ich weiß mehr als andre Leute!«
Sie rissen ihn herum und zeigten nach der Luke, auf der, wenn die See sich einen Augenblick verlief, im Mondschein gesunkene Stellen durch die Persening erschienen: »Die hält keine zehn Minuten mehr.«
Aber er stieß mit den Füßen auf, und schrie wie sinnlos und verschwor sich: »Ich weiß, wir gehn nicht unter. Tut es nicht! Wartet noch! Geht hinauf und seht: es kommt Hilfe. Ich weiß es! Ich weiß es von Gott selbst!«
Er verließ sie und ging tiefer in den Gang hinein und riß mit Mühe die Tür zum Raume des Knaben auf, der von der Lampe erhellt war. Das erste, was er sah, war die Wärterin, die in dem kleinen Nebenraum tot vor ihrer Koje kniete, den vorgebogenen Hals im Strick. Der Knabe saß mit stummen trockenen Augen auf der Kommode, vor dem Bild der Kirche. Das Wasser schülperte durch die Kammer.
Als er Jan Guldt sah, jammerte er auf: »Der Bootsmann war hier und sagte uns, wir gingen nun gleich unter. Da sagte sie, sie wollte nicht lebendig in das schreckliche Wasser und wolle sich erhängen, und hat es getan.«
Er preßte den Knaben an sich und sagte, unbekümmert um all den Graus, mit seinem ganzen engen Starrsinn: »Sei ganz ruhig! Wir gehn nicht unter. Komm mit! So! Fest die Füße! Glaube sicher, wir gehn nicht unter! Es ist nicht möglich! Es kommt irgendwelche Hilfe! Sieh, dies Unglück sollte gerade geschehn; es sollte gerade bis zum Äußersten kommen, damit du all das Verruchte so recht deutlich erkennst und selbst erfährst. Halt dich tapfer! Komm, wir wollen den Bootsmann suchen.«
Er ging, den Knaben an der Schulter, der sich tapfer aufrecht hielt, den Gang zurück, und stieß die Tür auf. Der Bootsmann saß auf seiner Koje, eine unsagbare Qual in dem kleinen grauen Gesicht. Er hob den Kopf und jammerte: »Warum ist Hans Hollmann nicht hier? Warum nicht? Was ist das für ein Tod, so allein?!«
Jan Guldt riß ihn auf und sagte: »Auf! Komm mit! Wir gehn nicht unter! Wir drei haben ein Wort zu sagen in Hamburg! Und ein Ding zu tun! Wir sollen zu Hans Hollmann gehn und mit ihm reden! Wir drei! Die alles erlebt haben: der Knabe durch hundert Jahr; ich und du durch fünfzig Jahr. Die andern mögen untergehn – das weiß ich nicht; ich kenne ihr Leben nicht – aber wir werden die beiden Gefangenen auf Fernando Noronha, wenn sie noch leben, und Hans Hollmann mit diesen unsern Augen sehn. Auf! Ich weiß, was ich sage!«
Da gingen sie hinaus auf den Gang; der Knabe, dem das Wasser zuweilen bis an den Leib stieg, an Jan Guldts Hand, dann der Bootsmann, von dem Knaben am Arm gehalten. Als sie an der Tür des Kochs vorbeikamen, sahen sie unter der schwelenden Lampe seinen Tisch umgestoßen, Rechnungen und Geldscheine im Wasser zerstreut; er selbst war nicht mehr da. Mit großer Mühe, vom Wasser umgischt, von übergehenden Seen getroffen, kamen sie die Treppe hinauf, die in ihren Nieten wankte, und erreichten das Aufbaudeck.
Die Heizer standen noch wie vorhin, sahen mit vorgetretenen Augen übers Meer, und sangen irgendeinen langsamen englischen Kirchengesang und tranken dazu. Nicht weit von ihnen stand der zweite Steuermann, steif und gerade wie immer, eine schöne niedersächsische Bauerngestalt, ganz allein. Zuweilen sah er auf das Bild seiner Braut, das er in der nassen Hand hielt, und hob es an den Mund und küßte es; es war schon nichts mehr von dem Bilde da, er küßte die graue nasse Pappe; zuweilen hob er seine Augen und sah über das dunkle graue Meer nach Hilfe aus. Die drei Matrosen, die vorhin bei der Kammer des Kochs gestanden hatten, standen Schulter an Schulter neben dem Aufgang zur Brücke, die Arme um des andern Kreuz gelegt und sahen ins Weite; in der Hand des Mittleren, den sie auf diese Weise festhielten, glitzte ein Messer. Dann und wann beleuchtete das rote Feuer einer Rakete von der Brücke her die finstere Szene; jagende Böen schleppten und zerrten Regen und Nebel mit sich und erstickten den Schein. Sie stellten sich, an den Schultern sich haltend, neben die Matrosen.
Sie standen noch nicht lange, da wurde vorn die zweite Luke eingeschlagen, bald darauf auch die erste. In schweren Massen palschte und schlug die See in den Raum, die soviel Menschen und Gut gesehn hatte. Es war, als wenn er es gierig schluckte, wie satt aller Qual, Mühe und Arbeit. Die Anna Hollmann sank langsam tiefer.
Als das Oberdeck völlig unter Wasser verschwunden war, riß der Matrose, den sie in der Mitte hielten, sich los und sprang mit einem wahnsinnigen Schrei auf die Brücke. Er schrie mit erhobenem Messer den Kapitän an und zeigte den Weg übers Aufbaudeck nach der Treppe. Seine beiden Genossen sprangen an seine Seite. Da ging der Kapitän in guter Haltung, an den Stangen sich haltend, an den Leuten vorüber nach der Treppe, und stieg wie ein Mensch, der ins Bad steigt, ins Wasser, das ihn fortriß. Der Matrose ging wieder zurück und stand wieder, nun ruhig, zwischen seinen Freunden, und starrte übers Meer.
Jan Guldt stand, den wankenden Knaben am Arm, die andere Hand im rasenden Grimm geballt. Er sah, daß es im nächsten Augenblick in die Tiefe ging, und wütete und raste in seiner wilden hochmütigen Seele gegen Gott und knirschte und fletschte ihn an wie ein Tiger: »Wenn ich ins Wasser soll, so geh' ich meinen eigenen Weg. Ich lasse es mir nicht gefallen. O nein! Damit ist es nicht zu Ende! Ich ... ich will zu Kaptän Guldt, und zu Hans Hollmann. Ich will.« Er schüttelte den Knaben und riß den Bootsmann an sich und schrie mit wilder Gebärde: »Wir wollen mit Kaptän Guldt und Hans Hollmann ein Wort reden, und mit Dem da oben! Wir drei! Wir wollen ihnen vor's Gesicht treten, daß ihnen die Augen übergehn! Wir drei! Da ist die letzte Welle unterwegs. Da ...«
Die Anna Hollmann gluckste und schülperte einmal hin, einmal her, als wenn sie wirr im Kopf wäre; dann schoß sie schräg zurück und lag unter Wasser. Die klammernden Menschenhände wurden mit rasender Gewalt losgerissen. Die Hände hoben sich. Sie kamen hoch und trieben zur Seite.
Jan Guldt meinte, er hätte den Knaben noch im Arm und neben dem wäre der Bootsmann. Der Ölrock und ein Stück vom Kartenhaus trug ihn; er konnte es gerade mit ausgereckten Armen umfassen ... Eine Woge über ihn. Wieder herauf. Aber es war doch vergebens. Gegen tausend Meilen Wasser! Vergeblich! ... Eine Woge! Sie trifft nicht, sie hebt ihn. Aber ... die Sinne wollen doch vergehn. Aber nicht nachgeben! Nicht nachgeben. Unterwegs! Wir drei! Zu Kaptän Guldt! Mühsame Arbeit! Messer in der Faust! Festhalten! Hindurch durch den Tod ... Durch die enge, quälige Tür ...
Eine Viertelstunde später, im ersten Morgengraun, kam ein kleiner dunkler Dampfer des Wegs; mit starkem Bug und starker Maschine pflügte er wacker die schweren Wogen und zog sicher seine Furche. Gleich hinter ihm kam ein großer grauer, sauber und schön, ein Wörmann oder Union Castleline, Lichter wie goldene Schnüre; sicher und schön zog er seine Bahn. Danach kamen, in doppelter Kiellinie, auf ihrer Fahrt nach den Azoren, zehn deutsche Kriegsschiffe. Schwer lagen sie im Wasser, in ihrem Erz sich wiegend wie in grauem Ordensmantel. Voran fuhr, geradeaus ihren Weg, die Deutschland, als wenn sie sagte: Seht das neue starke Vaterland! Das neue große und gerechte Deutschland! Mutter und Hort aller ihrer Kinder! Zehn Meter ihr zur Seite trieb die tote Anna Hollmann eben unter Wasser, mit dem Bug nach unten hängend, eine furchtbare Gefahr. Der Mann am Ausguck sah geradeaus und hob dann und wann die Hand, um das Band der Mütze zur Seite zu werfen, das der Nordwest ihm ins Gesicht warf. Er sah nicht die jungen Menschen, die, ein wenig gekrümmt und die Hände im Schoß, in den Wellen trieben, als wenn sie die Hände von der letzten Arbeit, die schwer und hart gewesen, hatten sinken lassen, und ausruhten.
Er sah auch Jan Guldt nicht, der den wilden Kopf zurückgebogen, auf seinem Ölrock und an der zersplitterten Holzwand auf der ruhiger werdenden See trieb, dann und wann von einer Welle überspült, betäubt, von dem ungeheuren Erlebnis in allen Sinnen verwirrt, aber um den knirschenden Mund und die aufgeblähten schäumenden Nüstern den rasenden Willen, Recht zu fordern, seine Sache und sein Recht durchzusetzen, auszuführen, was er sich vorgenommen.
Jan Guldt, der Enkel von dem alten Hollmannkapitän, war unterwegs.