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Am anderen Vormittag stand er in der Halle des Seemannshauses unter den zwanzig Leuten, die für die Anna Hollmann anmusterten. Draußen war Regenwetter und die Halle war Halbdunkel. Die Leute standen schweigend, einander unbekannt, naß und verfroren; meist gute, tüchtige Menschen, von dem vielen jungen Volk, das noch gleichgültig und unberaten, ohne Ziel und Ehrgeiz dahinlebt, wohin der Zufall sie treibt. Sie hatten nicht gleich ein gutes Schiff finden können; oder sie hatten sich nicht ordentlich bemühen mögen; oder sie waren durch irgendeine Begebenheit rasch verbittert, wie Jan Guldt; oder einer oder der andere wollte einmal auf einem Hollmanndampfer gefahren haben, um miterzählen und mitschimpfen zu können, worauf der ganze Hafen schimpfte; sie dachten alle: ›Einmal und nicht wieder! Wir überstehen wohl Schmutz, Hunger und Fieber, und das schlechte Schiff dazu.‹ Der kleine vierzehnjährige Junge, der mit dastand, und mit großen fragenden Augen um sich sah, war vor einigen Tagen aus einem holsteinischen Dorf hereingekommen und von seinem Vater, der von guten und schlechten Schiffen nichts wußte, an das erste beste vergeben. Einige Heizer und einer der Matrosen waren heruntergekommene Leute. So bekamen sie alle, gut und böse, ihren Zettel, und empfingen ihren Tod.
Da er noch seinen Schiffssack von seinem Wirt holen mußte, kam er später und allein des Weges ihnen nach. Hinter ihm trug ein Matrose den Sack. Er hätte ihn selbst tragen können; aber nach seiner inwendig sauberen Art unterstrich er die neue Würde, die er nun als Steuermann hatte. Er ging steil und ein wenig steif dahin, so im Gefühl eines besonders rechten und tapferen Weges und ganz und gar sauberen Gewissens, so recht in der Glanzstunde eines echten Niedersachsen. Nachdem das Mädchen ihn so schmählich getäuscht und alle Hoffnungen dieser Art so zerbrochen hatte, ging er nun schon wieder ernst und still seinem Beruf nach! Und er ging auf die Anna Hollmann, um auf den Planken, auf denen Vater und Großvater gelebt und gelitten hatten, ein Wort mit einem Hollmann zu reden!
Am Baumwall gingen zwei Männer und sahen im Gehen so über den Hafen, der in Nebel und Rauch lag. Es schienen Kapitäne zu sein, vielleicht solche, die den Beruf aufgegeben und irgendeine Stellung an Land hatten. »Sieh,« sagte der eine, »da geht ein Hollmann hinaus.« Der andere sah nach dem Dampfer hinüber, von dem im nebeligen Regen nur die Umrisse zu sehen waren, sah wieder vor sich hin und sagte im Weitergehen gleichmütig: »Der hat wieder zweihundert Tons zu viel geladen; und es ist ein morscher alter Kasten. Es ist ein Wunder oder ein Zufall, daß es ein Jahr lang mit den Hollmanndampfern gut gegangen ist!« Und sah noch einmal hin und sagte: »Wenn unser Herrgott den in der Biscaja trifft!« ....
Jan Guldt stand still und sah nach dem Dampfer hinüber, der, tief im Wasser, langsam und schwer stromab ging. Das trübe Wasser und der fallende Regen ließen ihn wohl noch tiefer liegen; es war, als wenn er schon im langsamen Sinken war. Es kroch ihm einen Augenblick etwas Grausiges ans Herz und starrte ihn mit fragenden, entsetzten Augen an: daß es etwa anders laufen könnte, als er sich vorstellte: daß er es mit Gott zu tun bekommen könnte, statt mit den Hollmanns: daß da eine furchtbare Falle Gottes für ihn liegen könnte ... und das Haar kroch ihm auf dem Kopf. Aber gleich tat er es weit von sich. War seine Sache gut und rein? Ging er nicht auf schieren Wegen? Die sollten schlecht ablaufen?! Das wollte er doch sehn!
Am Baumwall bestieg er den Jollenführer und fuhr nach dem Segelschiffhafen, wo das Schiff an den Pfählen lag. Über mehrere Schuten hinweg kletterte er an der Sturmleiter an Deck.
Es war eine laute unordentliche Tätigkeit an Bord, wie immer kurz vor Abgang eines Schiffes. An beiden Luken kreischten und klirrten die Winden, rasselnd und klirrend sanken die Demijons voll Rum und Arrak in den Raum hinab. Er stolperte über Kohlen- und Aschenhaufen nach dem Gang und fragte den Koch, der mit schmutziger Schürze und plumpem Gesicht mit dem Schiffshändler handelte, nach seiner Kammer. Er bekam den kalten und gleichgültigen Bescheid, daß er auf dieser Reise mit dem Bootsmann zusammenwohnen sollte, und fand die Kammer, die mit ihren rohen Möbeln, alten Bettstücken und schmutzigen Wänden erbärmlich aussah und dazu noch muffig roch. Das kleine blinde Bullauge, durch das ein stumpfes Dämmerlicht hereinfiel, war nicht zu öffnen. Es hatte auch nicht viel Sinn, daran zu rütteln, es mußte auf See doch geschlossen bleiben, da das Schiff so tief lag, daß selbst eine ruhige See ihre Spritzer hereinwarf. Es wurde ihm wieder schwer ums Herz, und es wollte ihn wieder mit entsetzten Augen ansehn. Aber er wehrte ihm wieder mit seinem hochfahrenden Mut: ›Will ich Gutes oder Böses?‹ und verstaute seine Sachen, so gut es ging. Dann ging er wieder hinaus und übernahm die Aufsicht über die Arbeiten an der einen Luke. So verging Stunde auf Stunde.
Gegen Abend kam ein Beamter aufs Schiff, es vor der Abreise zu besehn. Da der erste Offizier nicht an Bord war und der zweite beschäftigt, mußte er, der dritte, die Begleitung machen. In einem Rettungsboot fehlten Beil und Wasser. Im Kartenhaus fehlten mehrere Notsignale. Aus der Kiste mit den Korkwesten stieg ein Geruch von verdorbenem Leinen auf. Der Beamte, der dies und das plauderte, damit er nicht noch mehr sähe, legte im Weitergehen die Hand auf seinen Arm und sagte freundlich: »Sie sorgen dafür, nicht wahr, daß diese Gegenstände vorschriftsmäßig an Ort und Stelle sind?«
Jan Guldt reckte sich und wurde rot vor Scham über die Zumutung und sagte: »Was denken Sie, was der Kaptän für ein Gesicht machen würde, wenn ich ihm das sagte?«
Der Beamte sah ihn von der Seite an und sagte gleichmütiger und sehr viel kühler: »Nun ... ich will es ihn wissen lassen.«
Dann gingen sie in den Maschinenraum, wo der zweite Maschinist, der auch zum erstenmal mitfuhr, schon in heißer Arbeit war. Seine eingefallene Brust arbeitete heftig, und der helle Schweiß lief ihm über das rußige Gesicht. Der Beamte fragte dies und das, und ging langsam, als wenn er sich umsähe, seines Weges. Als sie den Gang zwischen den Kesseln entlang gingen, waren die Platten eine Strecke lang frisch mit Sägespänen bedeckt. Der Beamte ging ein wenig zur Seite, daß er sie nicht beträte, und achtete es nicht, und ging weiter. Der Maschinist hinter ihm sah Jan Guldt an, rakte mit dem Fuß durch die Späne und zeigte auf das blanke Wasser darunter. »Leck,« sagte er leise, »an allen Ecken!« und sah Jan Guldt mit einem erbarmungswürdigen Blick an.
»Jetzt kann ich allein gehn,« sagte der Beamte. »Ich danke Ihnen,« grüßte, und ging wieder nach oben.
»Der Kessel leckt,« sagte der Maschinist wieder und setzte sich auf die Bank, und sah sich verloren um: »und alle Lager sind ausgelaufen, und überhaupt« ...
Jan Guldt wurde durch die verzweifelte Stimme des Mannes zornig und sagte hart: »Was soll das: überhaupt?«
Der Maschinist weberte mit dem Twist in der mageren braunen Hand hin und her und suchte nach Worten. Aber plötzlich übermannte es ihn. Er legte den Kopf in beide Hände und weinte, und sagte: »Ich habe Kinder zu Hause und muß für Brot sorgen, sonst hätten mich keine zehn Pferde auf einen Hollmann gebracht. Ich bin ein Mensch, der Anordnung und Schmutz nicht vertragen kann; ich weiß, ich werde mich in dieser Maschine zu Tode arbeiten. Wenn das Essen gut wäre, so könnte ich vielleicht noch bestehen, aber ich habe heute mittag wohl gemerkt, wie es damit steht. Der Kaptän und der Koch haben die Verpflegung in Händen und schinden uns, was sie können, und teilen den Raub. Ich weiß, ich sehe meine Kinder nicht wieder. Ich werde einer von den vielen sein, welche die Hollmanns in den Tod bringen.«
Jan Guldt stand eine Weile mit finsterem Gesicht neben dem Weinenden, wollte etwas sagen, konnte aber nicht ankommen, da der Mann immer so ebenweg weiter klagte. Er wandte sich ab und ging mit stillem Gesicht nach der Messe, um zu Abend zu essen.
Als er hereinkam, saß der Bootsmann schon am Tisch und aß. Er hob den hageren grauen Kopf und sagte mit einem wildem Glanz in den überscharfen Augen: »Da bist du ja!« Der Steward brachte die Speisen, und sie fingen an zu essen.
Nach einer Weile lachte der Bootsmann grell auf und sagte: »Sag' mal, warum gingst du auf die Anna Hollmann?« und sagte mit kaltem Hohn, als Jan Guldt ihn mit verschlossenem Gesicht ansah: »Merkwürdig, daß ein Mensch etwas tut und tun muß, und weiß nicht, warum!«
Jan Guldt sagte mit verwunderten funkelnden Augen: »Wer redet von ›muß‹? Ich tu', was ich will, und nicht, was ich muß! Ich bin ganz freiwillig hierhergekommen und fahre nur diese eine Fahrt. Weil ich will!«
Der Bootsmann sah ihn an, wie wenn er die Worte eines Narren gehört hätte, sagte aber nichts.
»Denk' du lieber an dich selbst,« sagte Jan Guldt höhnisch. »Wie ist es möglich, daß du vierzig Jahre auf diesem verschmutzten Kasten fährst, und bei diesem widerlichen Essen!?«
Der Bootsmann schwieg, und sie sahen sich eine Weile an, genau nach dem Munde, als wenn sie auf ein Geheimschloß sähen und warteten, daß es aufspränge. Dann tat der Bootsmann einen langen Atemzug und sagte ruhiger, und wie ein Mensch, der nach einer langen Mühsal ein Ende, wenn auch ein bitteres, dicht vor sich sieht: »Nun, wenn wir erst auf der Rückreise und in Madeira sind, dann wird alles gut! Dann sind die drei alten Genossen mal wieder auf der Anna Hollmann, die vor vierzig Jahren miteinander darauf waren: Hans Hollmann, und ich, und Jan Guldt! Freilich nicht der alte Jan Guldt, sondern sein Enkel. Aber das ist ja gleich. Dann kommt alles in Ordnung.«
Jan Guldt sah forschend und finster in die scharfen grauen Augen, die von bitterer, wilder Genugtuung brannten. »Was soll denn dann in Ordnung kommen? Wie? ... Sagen Sie es doch!« schrie er wütend. »Was sehen Sie mich an, als wenn ich ein Narr bin?!«
Der Bootsmann lachte heiser auf: »Du wirst es schon erfahren!« sagte er. »Warte nur bis Madeira! Warte nur! Wenn wir drei erst wieder auf der Anna Hollmann zusammen sind!«
»Mensch,« sagte Jan Guldt mit wilder Verachtung. »Was geht mich an, was du und der Hollmann miteinander getan habt. Mein Großvater war jedenfalls bei bösen Dingen nicht beteiligt. Er war ein rechtlicher Mann.«
Der Bootsmann wollte lachen und reden; aber er schlug sich mit der Faust vor den Mund und sagte heiser und würgend: »Ich kann schweigen! Ich kann schweigen! Alles zu seiner Zeit!« und ging hinaus.
Nach einer Weile ging auch er hinaus und wieder an seine Arbeit an der Luke. Es war dunkel geworden.
Die Winden kreischten wieder; die Stauer unten im Boot und im Raum redeten miteinander. Eine Laterne vom Bootsdeck herab beleuchtete die nächtliche Arbeit und den sprühenden Regen. So verging die Nacht.
Gegen Morgen ging die Anna Hollmann, schwer überladen, zu ihrer letzten Fahrt die Elbe hinunter, die in Nebel und Regen lag.