Karl Emil Franzos
Ein Kampf ums Recht
Karl Emil Franzos

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Achtes Kapitel

Die Tage vergingen, der Winter kam; still fügte sich Taras wieder ein in das enge, eintönige Dorfleben. Trotz der Fürsorge, die Simeon seiner Wirtschaft erwiesen hatte, mußte er doch rastlos schaffen, um alles wieder in die frühere musterhafte Ordnung zu bringen. Und das war gut für ihn. Wenn er im Hofe angestrengt mit den Knechten arbeitete, fleißiger und rastloser als jeder von ihnen, dann ließ doch zuweilen der Wurm, der ihm im Hirn bohrte, zu wühlen ab. Aber auch aus anderen Gründen war es gut, daß er sich wenig um die Außenwelt bekümmerte, er hätte von dem Verkehr mit den Nachbarn geringe Freude gehabt.

Seitdem die Leute wußten, daß auch seine Wiener Reise nichts gefruchtet hatte, war die Verstimmung gegen ihn aufs höchste gestiegen. Außer dem Popen zählte er nur noch zwei Freunde unter den Hausvätern des Dorfes, seine einstigen Genossen im Amte: Simeon und Alexa. Die anderen standen ihm feindselig gegenüber oder empfanden nur spöttisches Mitleid mit dem entthronten Dorfkönig. Von seiner Wiederwahl war nun keine Rede mehr. Als Simeon zu Allerheiligen die Würde niederlegte, freilich nur, um sein Versprechen einzuhalten und in der bestimmten Hoffnung, abermals gewählt zu werden, da geschah das Unerwartete, daß nur wenige Stimmen auf ihn fielen, die meisten auf Jewgeni Turenko. Dieser stille, beschränkte, wenig begüterte Mann wäre nie solcher Ehre teilhaft geworden, wenn nicht die launische Glücksgöttin seinen jüngeren Bruder Konstantin zu schwindelnder Höhe emporgetragen hätte. Seit Menschengedenken war jeder Sohn des Dorfes aus dem Heere nur eben als Gemeiner zurückgekehrt; bloß die ältesten Greise wußten sich auf einen zu besinnen, der es zum ›Gefreiten‹ gebracht hatte; das Schicksal selbst schien den Helden von Zulawce nur eine bescheidene militärische Laufbahn vorbestimmt zu haben. Und nun kehrte Konstantin Turenko als Korporal heim, als wirklicher Korporal mit zwei weißen Tuchsternen auf dem krapproten Kragen! Das ganze Dorf fühlte sich in ihm geehrt, beugte sich seinem Worte und hegte die ausschweifendsten Hoffnungen für seine Zukunft. »Er hat ja noch zwei Jahre zu dienen«, flüsterten sie und blickten ihm bewundernd nach, »am Ende wird er gar Feldwebel!« Der junge Held wußte diese Stimmung wohl auszunützen; er verschwieg es weislich, daß er den großartigen Erfolg eigentlich nur seinen zarten Beziehungen zur Wirtschafterin des Herrn Hauptmanns verdankte; in seinen Erzählungen figurierte er als einer der tapfersten Männer der Christenheit, und weil er zu diesem Zwecke denn doch nicht einen großen Krieg erfinden konnte, so dichtete er zum mindesten eine kleine Epopöe, die einen Aufstand in Italien zum historischen Hintergrund hatte. Wie konnten die Leute von Zulawce sich dem Einflusse eines Mannes entziehen, der dem Kaiser bei ungeheurer Hitze eine Provinz gerettet hatte. Und wie hätten die Mädchen und Frauen nicht einen Mann bewundern sollen, der jahrelang die Liebe aller italienischen Gräfinnen kalt verschmäht – »Teufelsweiber, das ist wahr, aber mit Feindinnen meines Kaisers lasse ich mich nicht ein!« Binnen wenigen Wochen gebot Konstantin im Dorfe, entschied jeden Streit und regelte alle öffentlichen Dinge. Weil er selbst als Urlauber noch nicht Richter werden konnte, so setzte er seinen Bruder Jewgeni durch und als ›Älteste‹ zwei seiner Freunde, die gleichfalls an Äckern und Verstand wenig bemittelt waren. So war denn die Aristokratie gestürzt, der Mittelstand zur Herrschaft gekommen.

Taras hatte sich nicht dagegen gestemmt; er war nur deshalb zur Wahl erschienen, um seine Stimme für Simeon abzugeben, im übrigen ließ er den Dingen ihren Lauf. »Die Hungerleider werden das Dorf zugrunde richten!« rief Anusia, in der sich das aristokratische Blut mächtig regte. »Es ist empörend, himmelschreiend, daß auf Männer, wie mein Onkel Stefan, wie du, wie Simeon, nun ein Jewgeni folgt!« Taras hingegen blieb ruhig. »Wie man sich bettet, so schläft man«, meinte er, oder: »Durch Schaden wird man klug!«

»So antworte doch nicht immer mit weisen Sprüchen«, sagte ihm einmal Anusia gereizt. »Stelle dich nicht, als ob dich die Sache nichts anginge. Wer liebt das Dorf mehr als du?« – »Vielleicht niemand«, räumte er ein. »Aber ändern kann ich's nicht und habe auch jetzt ganz andere Sorgen.« – »Welche?« rief sie, »die Wirtschaft steht ja prächtig!« Aber darauf blieb er die Antwort schuldig und ging wieder zur Arbeit.

Er schaffte in jenen Tagen mit einem Fleiße, einer Ausdauer, als wäre er nicht der reichste Bauer des Dorfes, sondern ein armer Knecht, der sich sein Brot für den nächsten Tag verdienen müsse. Während er sonst stets seiner eigenen Einsicht gefolgt war, teilte er seine Pläne nun immer der Anusia mit und holte ihren Rat ein. Sie war anfangs stolz darauf, bis sie merkte, daß er ihre Ansicht nur deshalb wünsche, um sie richtigzustellen. Da es sich dabei fast immer um Dinge handelte, die ihr trotz all ihrer Tüchtigkeit fremd geblieben waren, weil sie eben in den Pflichtkreis des Mannes gehörten, so wurde sie endlich ungeduldig. »Was verstehe ich von den Steuern!« rief sie. – »Du sollst es verstehen lernen«, bat er. – »Aber wozu? Du kennst dich ja aus!« – »Und wenn ich nicht mehr bin?« – Die Worte erschreckten sie nicht, weil sie ihr zu widersinnig klangen. Ein kräftiger Mann, noch nicht vierzig Jahre alt, wie hätte sie sich da ängstigen sollen? »Du Narr!« rief sie, »in fünfzig Jahren sprechen wir weiter darüber.« – »Es steht alles in Gottes Hand«, erwiderte er feierlich und fuhr dann bittend fort: »Tu mir den Gefallen!« – »Nun, wenn es dir eine Freude macht«, lachte sie und gab sich alle Mühe, genau zu verstehen, was er ihr von den Steuern und Abgaben erklärte.

Dem Popen gegenüber machte Taras nie solche Andeutungen und benahm sich überhaupt mit großer Zurückhaltung gegen den erprobten Freund. Vater Leo ließ sich dadurch nicht irre machen; er blieb stets gleich herzlich und wendete alle Mittel seiner Unterhaltungskunst auf, den verdüsterten Mann aus seinem Trübsinn emporzureißen. Endlich kam er sogar auf den Gedanken, ihm zur Zerstreuung das Lesen und Schreiben beizubringen. »Das ist sehr nützlich«, versicherte er, »und dann kann man lustige Bücher lesen.« Taras lehnte dankend ab. »Für jetzt nützt es mir nichts, für die Zukunft noch weniger. Und das, was mich erfreuen könnte, steht in keinem Buche. Auch habe ich keine Zeit; bis zu Weihnachten gibt es viel in der Wirtschaft zu tun, und nach dem Dreikönigstage gedenke ich viele Wochen zu jagen.« – »Ja, tue das«, stimmte der Pope eifrig zu, »es wird dich zerstreuen. Und die große Jagd der Gemeinde vor Weihnachten machst du doch auch mit?« – »Nein«, erwiderte Taras, »selbst wenn ich geladen werden sollte, was ich nicht glaube.« – »Dich nicht laden?« rief der Pope, »dich, den ersten Bauer im Dorfe, den besten Bärenjäger der Gegend?«

Einige Tage später erwies es sich, daß Taras recht vermutet hatte. Konstantin war gegen die Einladung, und so unterblieb sie. Denn der Herr Korporal hatte allmählich einen tiefen Haß gegen Taras gefaßt, aus verschiedenen Gründen. Erstlich war ja der entthronte Richter das Haupt der verhaßten Aristokratenpartei, zweitens war er ›ein Feind des Herrn Kaisers‹, drittens war die Gemeinde ›durch ihn, nur durch ihn‹ zu Schaden gekommen und viertens, aber hauptsächlich, schuldete Konstantin ›diesem Bastard, der eine reiche Erbtochter betört hat‹, noch immer den Gulden . . .

Anusia empfand die Kränkung bitter. Als der Jagdzug an dem Hofe vorbeikam, weinte das leidenschaftliche Weib vor Wut und Entrüstung. Taras hingegen verzog keine Miene und fuhr ruhig fort, das Korn in Säcke zu verladen. Nur eines tat er, nachdem die letzten seinen Augen entschwunden waren. Er ging in die Stube und stellte sein ältestes Söhnchen Wassilj vor sich hin. »Knabe«, sagte er, »du bist nun acht Jahre alt, und unser Väterchen Leo unterrichtet dich gründlich im Glauben. Weißt du schon, was ein Eidschwur ist?« – »Ja!« erwiderte das Kind. – »Und was ein Richter ist, weißt du auch?« – »Du warst es ja früher!« – »Gut! Nun hebe die Hand empor und schwöre mir zu, daß du dich nie um dieses Amt bewerben oder es annehmen wirst, wenn sie dich darum bitten. Willst du es tun und wirst du es nie vergessen?« – »Ich will es tun und werde es nie vergessen«, erwiderte der Knabe fest und hob das Händchen empor. Taras küßte ihn auf die Stirn und ging wieder an die Arbeit.

Als der Pope von dieser neuen Kränkung erfuhr, fand er sich sofort auf dem Hofe ein, den Freund zu trösten. Aber dieser wehrte es ab. »Ich bin ja ruhig«, sagte er.

»Du darfst es auch sein!« beteuerte Vater Leo aufrichtig. »Du hast ja stets deine Pflicht getan, und mehr als dies! Wenn gleichwohl soviel Kummer über dich gekommen ist, so mußt du dich starken Mutes in den Willen Gottes fügen. Er hat dir einst seine Gnade erwiesen, indem er dich in dieses Dorf brachte und gedeihen ließ, nun schlägt er dich mit Trübsal, aber auch dies ist vielleicht zum Guten! Die Wege der Vorsehung sind dunkel!«

Taras schüttelte finster das Haupt. »Das glaube ich nicht!« sagte er kurz und herb.

»Du glaubst an Gott nicht?« rief der Pope erbleichend.

»Ich glaube an ihn«, sagte Taras feierlich, »und glaube, daß er ein Allgerechter ist, aber daß er mich in dieses Dorf gebracht hat und daß all das bittere Leid durch seinen Willen über mein Haupt gekommen ist, dies glaube ich nicht! Denn wenn er Schritt und Schicksal jedes einzelnen Menschen lenken wollte und würde, dann geschähe sicherlich kein Unrecht auf Erden. Aber dies tut er auch nicht, wir sind ja keine Puppen in seiner Hand!«

»Puppen!« rief der Pope verlegen und darum doppelt heftig. »Wir sind seine Kinder!«

Taras nickte. »Seine Kinder, das ist das rechte Wort! Wenn es erlaubt ist, für unser Verhältnis zu ihm ein irdisches Gleichnis zu gebrauchen, dann kommen wir allerdings der Wahrheit am nächsten, wenn wir uns als seine Kinder fühlen. Unseren Eltern danken wir das Leben und die Erziehung, aber darüber hinaus können sie nicht auf uns wirken, und darum gibt es gute und schlechte, glückliche und unglückliche Menschen auf Erden, während es sonst, wenn es nach unserer Eltern Willen ginge, gewiß nur gute und glückliche gäbe. Ähnlich stehen wir zu ihm da oben! Er hat diese Erde geschaffen und die Menschen und hat ihnen seinen Willen geoffenbart: ›Seid gerecht!‹ Und neben diesem Gebot gibt er jedem von uns schon dadurch eine Erziehung, indem er uns da oder dort geboren werden läßt, unter diesen oder jenen Verhältnissen. Aber wohin wir nun den Schritt lenken, ist unsere Sache! Freilich können wir nicht beliebig nach rechts oder links gehen, sondern den Weg, auf den uns unsere Art weist, unser Herz und Sinn, wie sie nun einmal geworden sind!«

»Ich verstehe nicht«, sagte der Pope zögernd. »Aber mir scheint, daß auch du an ein blindes, vorbestimmtes Schicksal glaubst wie unsere alten Weiber im Dorfe!«

»Nein!« rief Taras heftig. »Höre, wie es sich mit mir gefügt hat! Solange das Glück auf mich niederschien wie die Julisonne um Mittag, voll und reich und nirgendwo ein dunkler Schatten, da wähnte ich, daß mich Gottes Ratschluß geleitet habe und pries ihn für seine Güte. Aber als ich ins tiefe Unglück kam, als mir ums arme Herz wurde wie dem einsamen Wanderer auf der nächtigen, schneeverwehten Heide, vom Himmel kein tröstlicher Sternenschein, das blasse Schimmern des Schnees trügerisch und blendend, so daß er kaum mehr auf dieser festen liebgewohnten Erde zu gehen glaubt, und vor ihm und hinter ihm das feindselige Geheul der Wölfe . . ., da rief ich: Nein, das kann nicht Gottes Wille sein, sondern es ist Schicksalsschluß! Alles war mir vorbestimmt, das einstige Glück und nun das Elend, und vorbestimmt ist mir auch das Ende; es nützt nichts, daß ich mich so kraftvoll mühe, den rechten Weg durch die Nacht zu finden und den Wölfen zu entgehen, entweder ist es vorbestimmt, daß ich siegreich bleibe, und dann ist mein Mühen nicht nötig, oder ich muß ihnen zur Beute werden trotz allen Sträubens. Aber auch dies war töricht! Ich bin beinahe wahnsinnig geworden, solange ich daran glauben mußte, aber nun sehe ich klar: Nichts ist uns von irgendeiner fremden Gewalt vorbestimmt, unsere Bestimmung tragen wir hier und hier« – er deutete auf Stirn und Herz –, »unsere Tugenden und Laster sind unsere Führer durchs Leben, und daneben lenkt uns, wenn wir verständig sind, nur noch eins, jener Befehl Gottes: ›Mensch, sei gerecht!‹ Das ist alles!«

»Dein Glaube ist nicht der meine!« sagte der Pope. »Doch freut es mich, daß du mindestens weder an ein blindes Schicksal noch an den Zufall glaubst. Ich meinerseits«, fügte er feierlich hinzu, »lasse mir den Glauben an eine göttliche Vorsehung nicht rauben, ohne deren Willen kein Haar von meinem Haupte fällt!«

»Dieser Glaube ist mir geraubt!« erwiderte Taras. »Daß Gott Trübsale auf mein Haupt gehäuft hat, dafür könnte es eine Ausgleichung im Jenseits geben. Aber ich sehe das Recht leiden, während das Unrecht sich brüstet, und dies kann nicht Gottes Fügung sein, sondern nur eben Folge des Leichtsinns und der Schlechtigkeit der Menschen. An Zufall glaube ich allerdings – wer könnte auch fast vierzig Jahre sehenden Blicks über die Erde gehen und sich dieser Wahrheit verschließen! Es gibt einen Zufall; erinnere dich, was ich dir über die Art erzählt habe, wie ich hierher gekommen bin, war es etwa Gottes Fügung, daß es an jenem Sonntagmorgen schön war? Ließ er deshalb die Sonne scheinen, damit der Knecht Taras Barabola in Ridowa als Großknecht bei Iwan Woronka in Zulawce eintrete und nicht bei jenem Pfarrer an der Grenze? Wäre es nicht Unsinn und Hochmut, dies zu glauben? Es gibt einen Zufall, aber er treibt nicht sein Spiel mit uns, im Gegenteil, wir treiben es mit ihm, wir machen aus dem Zufall, was wir wollen und können! Der Sonnenschein jenes Sonntagmorgens hat mich hierher geführt; aber war er's, der mich zum Gatten der Anusia gemacht hat, war er's, dem ich meine Wahl zum Richter danke und alles, was mir daraus zugekommen ist, das wenige Gute und das viele Böse? Ich war's, ich! Meine Tat war's und mein Verdienst! So ist der Zufall nichts, und das, was wir daraus machen, ist etwas, ist alles!« Er richtete sich stolz empor und streckte seine Rechte gegen den Popen. »Und daraus«, rief er, »erklärt sich auch, wie ich bisher gehandelt habe und künftig handeln werde! Könnte ich daran glauben, daß mein Geschick von der Vorsehung bestimmt ist, ich würde mich blindlings ihrer Führung anvertrauen. Könnte ich an den Zufall oder an ein Schicksal glauben, ich würde ruhig erwarten, was sie noch ferner aus mir machen wollen. Ich aber glaube, daß der Mensch tun muß, was ihm sein Herz gebietet und was ihm die Stimme Gottes als höchstes Gesetz zuruft: ›Sei gerecht! Tu kein Unrecht und dulde kein Unrecht!‹ Und diesen beiden Befehlen, die gleich heilig sind, werde ich gehorchen, solange ein Atem in mir ist!« Er wendete sich rasch ab und ging.

Das Weihnachtsfest war gekommen. Es ist in den Karpaten kein Fest der Kinder; sie werden nicht beschenkt, die schöne Sitte des Christbaums ist unbekannt; die Feier besteht bloß darin, daß am Weihnachtsabend ein besonderes Gericht aus Hirse, Mohn und Honig verspeist und Met getrunken wird. Auch im Hause des Taras war es bis dahin so gefeiert worden; nun aber schickte er einen Knecht nach Zablotow und ließ da viele Geschenke für seine und des Popen Kinder einkaufen. »So wird es in Wien gehalten«, sagte er seinem Weibe, »und ich finde es schön und erbaulich. Auch wünsche ich, daß die Kinder diesen Weihnachtsabend in Erinnerung behalten.« – »Warum gerade diesen?« fragte sie. – »Weil ich dieses Jahr solange ferngeblieben bin«, erwiderte er hastig und wendete sich ab.

Nachdem das Fest vorüber war, ließ er, wie alljährlich, das Getreide auf zwei große Schlitten laden und führte es mit seinem Knechte Jemilian zum Neujahrsmarkt in die Kreisstadt.

Am 2. Januar kehrte der Knecht allein zurück. »Der Herr hat noch Geschäfte beim Advokaten«, berichtete er, »er kommt erst in drei Tagen.« Anusia erschrak tödlich und lief zu ihrer Freundin, der Popadja. »Er kommt nicht wieder«, jammerte sie. »Jetzt erst verstehe ich seine Reden und warum er die Kinder am Weihnachtsabend beschenkt hat. Er hat Abschied von ihnen nehmen wollen.« Vater Leo verwies ihr diese Reden. »Wenn du deinen Gatten nicht besser kennst«, sagte er, »so kenne ich doch meinen Freund besser! Etwas anderes betrübt mich; was hat er wieder bei dem Advokaten zu schaffen? Aber daß er dir die Wahrheit hat sagen lassen, bezweifle ich nicht!«

Seine Zuversicht trog ihn nicht. Schon am zweiten Tage kam Taras wieder. »Ich hab' es ja geahnt«, sagte er, als ihm Anusia schluchzend in die Arme flog. »Du hast dich wohl wieder recht geängstigt, weil ich mit dem Advokaten zu tun hatte? Darum beschleunigte ich es auch nach Kräften und fuhr die Nacht durch.« – »Was war es denn?« fragte sie. Er zog aus seinem Gürtel ein Päckchen hervor und entfernte den Umschlag von Wachsleinwand. Ein großer Papierbogen lag darin, den hielt er ihr entfaltet vor. »Der Bescheid des Kaisers?« jubelte sie. »Es steht ja ein Adler darauf!« Er lachte bitter auf. »Nein, Liebste. Der Adler ist ein Stempel um fünf Gulden, und die Verweigerung meiner Bitte wird erst in Monaten eintreffen, vielleicht in einem Jahre. So ein dummer Bauer kann ja auf sein Schicksal warten, was liegt daran?« Dann aber änderte er den Ton und sagte feierlich: »Höre, Anusia! Auf diesem Papier steht geschrieben, daß ich alles, was ich besitze, meinen Kindern zum Eigentum abtrete, dir aber zur Nutznießung. Ich besitze nun gar nichts mehr als einiges Geld und einige Flinten.« – »Warum?« rief sie erblassend, »warum hast du es getan?« – »Weil . . . weil . . .« – der redliche Mann konnte schlecht lügen und geriet ins Stottern – »weil ich befürchte, noch zu einer großen Geldstrafe für den Prozeß verurteilt zu werden.« – »Du lügst!« schrie sie, »du willst dir das Leben nehmen!« – »Nein«, beteuerte er und schwor es ihr zu. Sie aber blieb in wilder Angst und schickte den kleinen Wassilj rasch um den Popen.

Der erschien dann auch sofort und las die Schrift mit Erstaunen. »Eine Abtretungsurkunde in aller Form«, sagte er, »und vom Gericht bestätigt. Aber wozu, Freund, wozu?« – »Das kann ich dir nicht sagen.« Der Pope blickte ihn an; auf dem finsteren Gesichte lag die Ruhe eines eisernen Entschlusses. Da schwieg er, weil er erkannte, daß alles Fragen nichts fruchten würde. Erst nach einer Weile begann er wieder: »Ich will nicht in dich dringen, Taras, aber sage mir das eine: Hast du dem Advokaten deine Gründe geoffenbart?« – »Nein«, erwiderte Taras. »Eben darum wollte mir auch der alte Doktor Starkowski die Schrift nicht aufsetzen. ›Ich will wissen, was du vorhast‹, sagte er. Zum Glück wohnt jetzt auch ein anderer, jüngerer Doktor in der Kreisstadt, und der hat sich um meine Gründe nicht gekümmert.« – »Zum Glück?« fragte der Pope mit scharfer Betonung. – »Zum Glück«, erwiderte Taras ebenso. »Der Schritt ist wohl erwogen!«

Wieder schwieg der Pope eine Weile. Dann begann er von gleichgültigen Dingen zu sprechen, um endlich möglichst harmlos zu fragen: »Was gedenkst du nun zu tun?« – »Das habe ich dir bereits vor Wochen gesagt«, erwiderte Taras. »Morgen ist Dreikönigstag, übermorgen ziehe ich für mehrere Wochen zur Jagd aus.« – »Doch nicht allein?« – »Gewiß nicht. Ich nehme den Wassilj Soklewicz mit, dann meine Knechte Jemilian und Sefko. Das heißt«, fügte er lächelnd hinzu, »wenn du es gestattest, Anusia. Ich bin ja nicht mehr ihr Dienstherr.« – »Scherze nicht so«, bat sie. »Ich bin sehr zufrieden, daß du die Knechte mitnimmst. In der Wirtschaft ist jetzt ohnehin wenig zu tun, und beide sind treue, tüchtige Leute. Willst du nicht auch wieder die Söhne des Simeon mitnehmen? Die guten Jungen freuen sich schon so darauf.« – »Nein«, erwiderte Taras kurz, »das geht nicht an.«

Bei dieser Entscheidung blieb er auch, als Hritzko und Giorgi am nächsten Morgen zu ihm kamen und ihn dringend darum baten. »Haben wir uns etwa ungebührlich benommen?« klagten sie. – »Nein, ganz vortrefflich«, sagte er sehr freundlich. »Ihr seid Prachtjungen. Aber es geht doch nicht. Euer Vater ist mein treuer Freund und ein alter Mann. Ich kann ihm seine beiden Söhne nicht – nicht in Gefahr bringen.« – »Aber es ist gar keine Gefahr dabei!« riefen sie. »Wie schön war's im vorigen Jahre!« – »Auf der Bärenjagd kann manches geschehen«, erwiderte er. »Ich kann eurem Vater gegenüber die Verantwortung nicht auf meine Seele nehmen. Um meine übrigen Begleiter steht es anders. Sie gehen allein durchs Leben, haben keine Eltern, keine Verwandten. Es ist wirklich unmöglich, Kinder, so leid es mir tut.«

Er nahm herzlichen Abschied von ihnen, ebenso von ihrem Vater, Alexa und dem Popen. Sie alle ließen ihn höchst ungern ziehen, obwohl sie sich über den Grund ihrer Besorgnis kaum selbst klar waren. Nur Anusia blieb tapfer. »Auf der Jagd ist dein Herz fröhlich«, sagte das treue Weib, »und darum wünsche ich, daß du recht lange ausbleibst. Wann darf ich dich erwarten?« – »Spätestens in sechs Wochen«, versprach er.

So schieden sie. Treulich nahm Anusia wieder alle Sorgen der Wirtschaft auf sich und führte ein strenges Regiment, wie sie denn überhaupt an Entschlossenheit keinem Manne nachstand. Das sollte auch Jewgeni Turenko, der neue Richter, erfahren. Herr Hajek ließ sich in diesem Winter sehr selten im Dorfe blicken, aber wenn er kam, dann hatte auch Jewgeni seine schwere Not. Denn der Mandatar blieb bei seiner Gewohnheit, möglichst viel zu fordern, und der beschränkte, furchtsame Mann, der ihm nun gegenüberstand, wußte die gerechte von der ungerechten Forderung nicht so scharf zu unterscheiden wie seine Vorgänger. So ließ er sich manches Zugeständnis ablocken oder abtrotzen, dessen Einhaltung ohne Pflichtverletzung unmöglich war. Und da er seine eigene Stellung im Dorfe nicht schädigen wollte, indem er seine Anhänger stärker belastete, so blieb ihm nichts übrig, als das Unrecht an seinen Gegnern zu verüben. Daß Anusia nun Strohwitwe war, schien ihm ein genügender Grund, um gerade bei ihr den Anfang zu machen. So erschien er denn eines Tages in ihrer Stube und befahl kurz, sie müsse fortab zwei Knechte zur Waldrobot stellen. »Das ist Unrecht«, erwiderte sie ebenso kurz, »also geh deiner Wege!« Und als er ihr darauf seinen Befehl nochmals mit geballter Faust vorzudemonstrieren suchte, da machte sie kurzen Prozeß: der Konsul von Zulawce verließ das Haus mit einiger Beschleunigung und trug auf seiner Nase fünf schöne deutliche Halbkreise eingedrückt.

Noch ehe die sechste Woche verstrichen war, erschien der alte Jemilian vor seiner Herrin. Er brachte ein prächtiges Bärenfell mit und berichtete, Taras lasse grüßen und bitten, ihm noch mehrere Wochen Urlaub zu gönnen, bis zum Palmsonntag. »Ist er gesund?« fragte Anusia. – »Ganz gesund!« – »Und ist sein Herz fröhlich?« – »Ja!« erwiderte der treue Diener; daß er dabei die Augen verlegen niederschlug, sah Anusia nicht. Sie vertraute dem erprobten Manne, der schon an die zwanzig Jahre auf dem Hofe diente. »Mehr will ich nicht«, sagte sie, »wenn er wirklich heiteren Mutes ist, so mag er im Walde bleiben, solange es ihn freut. Freilich sind es noch ganze fünf Wochen, aber ich will es tragen.«

Von ihr hinweg ging Jemilian zum Popen. »Mein Herr hat in der Kanzlei des Kaisers gebeten, daß der Bescheid an dich geschickt wird. Er läßt fragen, ob der Brief noch nicht eingetroffen ist?«

»Nein!« erwiderte Leo. »Wie geht es ihm?«

Jemilian gab auch hier denselben Bescheid. Aber der Pope ließ sich nicht täuschen, obwohl er gerade in diesen Tagen nicht in der Stimmung war, sich viel um fremde Angelegenheiten zu kümmern; sein jüngstes Kind lag an den Blattern darnieder. Da es sich jedoch hier um seinen besten Freund handelte, riß er sich gewaltsam aus seinem Kummer empor. »Höre«, sagte er streng. »Einen Priester belügt man nicht! Was treibt ihr denn dort?«

»Wir jagen eben«, erwiderte Jemilian verlegen. Doch als ihn der Pope wiederholt streng vermahnte, da seufzte er tief auf und beichtete die Wahrheit. »Ach, Hochwürdiger«, klagte er, »so eine Jagd, wie sie Taras betreibt, haben die Karpaten noch nicht gesehen, seit sie zum Himmel emporragen. Gott muß seinen Verstand verwirrt haben, eine andere Erklärung weiß ich nicht. Als wir ausziehen, meinen wir alle, es geht wieder zur ›roten Schlucht‹, etwa vier Meilen von hier, wo das beste Jagdrevier ist. Aber Taras führt uns weiter und weiter, immer tiefer in die Wälder hinein. Er beachtet nicht die Spur des Bären, die wir kreuzen, und machen wir ihn aufmerksam, so zuckt er die Achseln. So ziehen wir langsam dahin, er richtet seinen Blick nur auf Feld und Wald und späht fortwährend in die Runde. Kommen wir in dichteren Wald, so nimmt er das Handbeil und kerbt Zeichen in die Bäume. Treffen wir auf einen Hirten, so fragt er ihn nicht aus, wie der Waldstand ist, sondern ob etwa diese Gegend einen besonderen Namen hat und was ihre Merkzeichen sind. Und dasselbe tut er, wenn wir in einer Hütte Einkehr halten. Er befreundet sich mit den Leuten, beschenkt sie mit Pulver und Blei und begehrt zum Entgelt nichts von ihnen als höchstens einen Wegweiser. So ziehen wir weiter, in der Hauptrichtung immer gegen Sonnenuntergang, aber kreuz und quer, von Berg zu Berg, von Schlucht zu Schlucht. Immer dichter wird der Wald, immer schroffer das Gestein, wir müssen mühsam das glitzernde, eisumstarrte Strauchwerk brechen und mit Händen und Füßen emporklettern . . . Ach, Hochwürdiger, seit dreißig Jahren jage ich in den Bergen, aber was die Karpaten sind, weiß ich erst jetzt!«

»Hast du ihn gefragt, was das bedeuten soll?«

»Ei wohl! Aber was nützt es? Wie oft habe ich ihm zugesprochen: ›Wozu dieses Herumstreifen in der winterlichen Öde? Ich würde schweigen, wenn du wenigstens Freude daran hättest. So aber ziehst du, zu Tode betrübt, durch die Wildnis! Herr, wozu?‹ Er gibt immer dieselbe Antwort, die keine ist: ›Es ist eben notwendig, Leute! Und wenn ihr mich lieb habt, so werdet ihr mir folgen.‹ Nun, Hochwürdiger, lieb haben wir ihn wahrhaftig, wer kennt ihn und würde nicht sein Herzblut für ihn hingeben wollen? . . . Und so folgten wir ihm denn, gehorsam wie die Schafe, zuerst, wie gesagt, immer der Sonne nach, etwa zwanzig Tage lang, bis wir endlich zu einer Hütte kamen, deren Bewohner auch noch Huzulen waren, aber schon ganz anders redeten als wir. ›Wir gehören zur Marmaros‹, sagten sie. Dort übernachteten wir, und es begab sich auch da wie überall. Wenn Taras mit den Leuten zu reden beginnt, ihnen erzählt, wie es ihm ergangen ist, und sie um ihr Leben fragt, da ist es, als hätte er sie bezaubert: sie beugen sich vor ihm und sind froh, ihm dienlich zu sein. Ja, Hochwürdiger, er hat, wenn er will, eine große Macht über die Menschen, das haben wir auf unserer Streife so recht gesehen! Also, von jener Hütte weg führte er uns wieder nach Pokutien zurück. ›Der Ausflug nach Ungarn wird uns sehr nützlich sein‹, sagte er lächelnd, ›aber nun wollen wir uns wieder zur Heimat wenden.‹ Das war ja vernünftig, und so fragte ich in meiner Freude gar nicht, wie und warum es uns nützlich sein könnte, über vereistes Felsgestein bis in die Marmaros gekrochen zu sein. Aber auch diese Freude sollte mir vergällt werden, denn wohl führte er uns eine Weile wieder der Sonne entgegen, dann jedoch nordwärts, abermals über Berg und Schlucht, an die zehn Tage. Und er trieb es auch da ganz so wie früher: das beste Wild kam uns in die Quere, aber er tat keinen Schuß, sondern achtete nur auf die Gegend. Endlich hielt er an – wir waren schon weit über Delatyn hinaus –, gönnte uns einen Rasttag und führte uns in Eilmärschen wieder in die hiesige Gegend zurück, zur ›roten Schlucht‹. Vorgestern abend trafen wir ein, übernachteten in der Einschichte des alten Michalko, und gestern morgen begaben wir uns endlich auf die Jagd. Das Glück war uns günstig, schon zwei Stunden später kam uns ein Bär in Sicht, und Taras streckte ihn nieder, ohne viel zu zielen, aber die Kugel war dennoch mitten zwischen die Augen gegangen. Das war das erste Mal in den sechs Wochen, Hochwürdiger, daß ich ihn habe lächeln sehen; der gute Schuß freute ihn. Dann weideten ich und Lazarko den Bären aus, und er schickte mich mit dem Felle heim . . .«

»Welcher Lazarko?« fragte der Pope erstaunt.

Jemilian war in großer Verlegenheit. Er schlug die Augen nieder, und sein Gesicht rötete sich. »Eben ein Bursche . . .«, stammelte er.

»Da ist etwas nicht in Ordnung«, sagte der Pope. »Es gereicht dir zur Ehre, Mann, daß du so schlecht lügen kannst. Aber was man nicht kann, sollte man auch nicht versuchen.«

»Der Herr hat es ja verboten«, entschuldigte sich der Knecht, »im Dorfe den Lazarko zu erwähnen. Er meinte, es könne dem Jungen schaden . . .«

»Lazarko?« fragte der Pope und rieb sich die Stirne. Dann aber rief er erschreckt: »Es ist doch nicht der Lazarko Rodakowicz aus Solince?«

»Derselbe, Hochwürdiger«, bestätigte Jemilian.

Der Pope trat erbleichend zurück. »Und diesen Menschen duldet Taras in seiner Nähe? Oder weiß er nicht, daß Lazarko ein Mörder ist? Der Bursche hat den Mandatar seines Dorfes erschossen!«

»Ja! Aber er hat es nur deshalb getan, weil der Mandatar seine Braut entehrt hat.«

»Das ist richtig. Ich habe alle drei genau gekannt; Solince liegt ja nur eine halbe Stunde von Borkowka, meinem früheren Pfarrort. Der Mandatar war ein Wüstling, das Mädchen brav und auch Lazarko bis dahin ein Bursche, dem sich nichts Übles nachreden ließ. Aber Mord bleibt immer ein furchtbares Verbrechen, und Lazarko büßte seine Untat nicht, sondern fügte eine neue hinzu: er entfloh in die Berge, trat in die Bande des ›grünen Giorgi‹ und wurde ein Straßenräuber, ein ›Hajdamak‹. Das wenigstens, hoff' ich, hat Taras nicht gewußt.«

»Doch«, erwiderte Jemilian. »Von der Bande des Giorgi ist er ja zu uns gekommen. Aber da mir einfältigem Menschen nun einmal der Name entschlüpft ist, will ich dir auch die ganze Wahrheit sagen. Als wir tiefer in die Berge hineinzogen, da machten wir uns darauf gefaßt, auch einigen ›Hajdamaken‹ zu begegnen. Dort ist nun einmal ihr Reich, und alle ›Weißröcke‹ (Soldaten) werden sie nicht daraus vertreiben. Aber Furcht empfanden wir dabei nicht: vier mutige bewaffnete Männer, die haben ja höchstens den Teufel zu fürchten, aber keinen Menschen. Auch weißt du ja, Hochwürdiger, daß die Hajdamaken fast nie einen Bauer oder Juden angreifen; sie führen ihren Kampf mit den polnischen Schlachzizen und höchstens noch, wenn sie müssen, mit den ›Weißröcken‹. So schritten wir denn unbesorgt weiter, und der erste, der uns in den Weg lief, sah auch wahrlich nicht schreckhaft aus, obwohl er bis an die Zähne bewaffnet war: ein bartloses Milchgesicht, halb verhungert und erfroren. Unser Feuer lockte ihn an; zähneklappernd kam er geschlichen und bat demütig, sich wärmen zu dürfen. Aber Taras trat ihm entgegen. ›Wir wollen zuerst sehen, ob du es wert bist! herrschte er ihn streng an. ›Lebt deine Mutter noch?‹ – ›Sie ist tot!‹ – ›Nun, dann beantworte meine Frage so wahrhaftig, als du wünschest, daß deine Mutter Frieden habe in ihrem Grabe. Der Schwur wird wohl auch einem Burschen wie du heilig sein! Warum bist du in die Berge gegangen?‹ – ›Eben weil mein Mütterchen tot ist‹, klagte der Bursche. ›Es kam eine Stiefmutter ins Haus, die den Vater gegen mich aufstachelte. Ich, der Erbsohn, mußte die niedrigsten Dienste tun und wurde dabei behandelt wie ein Hund. Da lief ich davon!‹ – ›Und warum in die Berge? Warum nicht in ein anderes Dorf, dir dein Brot als Knecht zu verdienen?‹ Der Bursche blickte zu Boden. ›Ich hatte so viel von dem lustigen Leben da oben gehört‹, stammelte er. – ›Hinweg!‹ rief Taras. ›Also aus Trägheit, aus wüster Gier bist du Hajdamak geworden! Hinweg!‹ Da schlug sich der Bursche wieder in die Büsche. Aber drei Tage später, da hatten wir eine ernstere Begegnung mit seinesgleichen. Wir waren schon tief im Herzen des Bergwalds, nahe der Marmaros, und lagen des Abends in einer verlassenen ›Obora‹ (Viehhürde) um ein Feuer gelagert, als plötzlich viele Bewaffnete eintraten, an ihrer Spitze ein hübscher junger Mann mit keck aufgedrehtem Schnurrbärtchen, die weiße Bunda lose über den Schultern, daß darunter das prächtige grüne, mit Silberfäden bestickte Wams hervorguckte . . .«

»Der grüne Giorgi!« rief der Pope und bekreuzigte sich unwillkürlich.

»Ja, der war's! Du weißt, welche Gerüchte über ihn gehen: daß er an mehreren Orten zugleich sein kann und alle Menschen im Lande genau mit Namen und Schicksal kennt, ohne sie je vorher gesehen zu haben. Wie das zugeht, weiß ich nicht, aber uns kannte er wirklich. ›Sei gegrüßt, Taras!‹ sagte er freundlich. ›Ich gedenke, morgen eine Jagd abzuhalten, und da kann mir der beste Bärenjäger in den Karpaten nur ein willkommener Gast sein!‹ Aber Taras schlug in die dargebotene Hand nicht ein. ›Wenn du mich so genau kennst, Giorgi‹, sagte er, ›dann weißt du auch, daß ich niemals aus Klugheit heuchle. Wir sind unser vier Mann, ihr aber, soviel ich sehe, zehn; wir führen nur Flinten, ihr auch Pistolen. Wenn ihr uns angreifen wollt, sind wir verloren. Und dennoch sage ich dir: Weder jage ich mit dir, noch bleibe ich in deiner Gesellschaft einen Atemzug länger, als nötig ist. Ein Mensch wie du verpestet einem Menschen wie ich die Luft.‹ Giorgi wurde bleich. ›Warum?‹ knirschte er und griff nach dem Gurt, in dem seine silberbeschlagenen Pistolen steckten. ›Das bin ich dir zu sagen schuldig‹, erwiderte Taras. ›Hajdamak zu sein, ist ein trauriges Handwerk, aber es gibt Fälle, wo man es werden muß. Bei dir trifft das nicht zu. Du bist entwichen, weil dir die strenge Zucht unter den ›Weißröcken‹ nicht behagte! Und zudem treibst du das traurige Handwerk auch noch schmählich und grausam. Als dich im jüngsten Herbst die Bauern von Roskow gegen ihren harten Herrn zu Hilfe riefen, da hast du nicht bloß den Hof dieses Polen geplündert, sondern auch die Schenke; hast nicht bloß den Wüterich gemordet, sondern auch den Schenkwirt, obwohl dieser arme Jude nur das Verbrechen begangen hatte, einige Gulden erspart zu haben. Und solcher Geschichten könnte ich dir noch mehrere erzählen, doch denke ich, du hast genug.‹ In der Tat hatte der Räuber genug an dieser Rede; sinnlos vor Wut riß er die Pistole aus dem Gurt. Wir drei aber, Sefko, Wassilj und ich, hatten inzwischen unsere Flinten auf ihn angeschlagen, während seine Leute sich nicht rührten und nur düster vor sich niederblickten. Gleichwohl hätte er losgedrückt, wenn nicht einer von ihnen ihm in den Arm gefallen wäre und hastige Worte zugeflüstert hätte. Giorgi besann sich, musterte seine Gefährten finsteren Blickes und wendete sich zum Gehen. ›Tropf!‹ rief er dem Taras zu, ›du bist mir keinen Schuß Pulver wert!‹ Aber am nächsten Morgen erfuhren wir, was wir ohnehin schon ahnten, daß er nur deshalb vom Kampfe abgestanden war, weil er auf seine Leute nicht mehr bauen konnte. Denn als ehrliche Hajdamaken waren sie ihm gefolgt und nicht als Mordbrenner . . .«

»Ein Hajdamak ist niemals ehrlich!« fiel Vater Leo heftig ein.

»Nun, gleichviel, was man eben so nennt«, bemerkte Jemilian schüchtern. »Am nächsten Morgen kamen denn also zwei seiner Leute zu uns, Lazarko und Iwan, erzählten uns dies und baten Taras flehentlich, sie unter seinen Schutz zu nehmen, weil sie des schändlichen Lebens satt seien. Dem Lazarko gewährte er die Bitte, dem Iwan nicht, obwohl auch er bei seiner Mutter beschwören konnte, daß er gleichfalls aus einem ehrlichen Grunde . . .«

»›Ehrlich‹ und wieder ›ehrlich‹!« unterbrach ihn der Pope abermals und noch heftiger.

»Oder was man eben so nennt«, sagte Jemilian wieder kleinlaut. »Iwan war nämlich deswegen Hajdamak geworden, weil er einen Steuereintreiber erschlagen hatte, der seiner Mutter, einer armen Witwe, die beiden Ziegen, die sie besaß, widerrechtlich wegnahm . . .«

»Und das soll ein ehrlicher Grund sein?«

»Taras ließ ihn dafür gelten. Er stieß den Burschen nur deshalb von sich, weil er im Verein mit dem Giorgi eine tückische Untat verübt hatte. ›Vor einigen Wochen‹, berichtete er unter Tränen, ›als wir in der unteren Bukowina streiften, erfuhr der Hauptmann, daß ein jüdischer Weinhändler aus Czernowitz in seinem Wägelchen allein auf der Bergstraße nach Siebenbürgen reise, um drüben Rotwein einzukaufen. Da verkleidete er sich als armer Bauer, hieß mich dieselbe Kleidung anlegen, und wir harrten an der Straße auf den Händler. Als er herangefahren kam, bat ihn Giorgi, uns auf seinem Wägelchen mitzunehmen, und er gestattete es freundlich, obwohl der Raum eng war. So fuhren wir zwei Stunden in ruhigem Gespräche dahin; aber als wir in das enge, finstere Tal der Putna kamen, da betäubte ihn Giorgi durch einen furchtbaren Fausthieb auf den Schädel und hieß mich dann losdrücken. Ich gehorchte, jedoch meine Hand zitterte so, daß die Kugel bloß den Arm des Bewußtlosen streifte. Darauf zog Giorgi seine Pistole hervor und gab ihm den Rest!‹ So erzählte Iwan unter Seufzern und Stöhnen, und wir alle waren entsetzt, aber am tiefsten schien Taras davon ergriffen. ›War es nicht‹, fragte er bebend, ›ein stattlicher, rotbärtiger Mann mit freundlichen blauen Augen?‹ – ›Ja, ja‹, stöhnte Iwan, ›ich sehe diese Augen noch oft im Traume . . .‹ – ›Hund!‹ schrie Taras, ›ich habe den guten Mann gekannt; auch mir hat er einmal den gleichen Liebesdienst getan. Aber auch wenn ich ihn nicht gekannt hätte, hinweg, Raubmörder!‹ Iwan fiel auf die Knie. ›Wenn du mich nicht mitnimmst‹, rief er, ›dann gebe ich mir selbst den Tod!‹ – ›Das wird gut sein‹, rief Taras, ›du verdienst kein besseres Ende!‹ Wir ließen ihn zurück und zogen weiter, er aber hat Wort gehalten. Erst vorgestern erzählten uns die Söhne des alten Michalko, daß sie ihn im Walde tot gefunden hätten, die abgeschossene Pistole in der Hand. Wir bemitleideten ihn; nur Taras verzog keine Miene . . .«

Der Pope war während der Erzählung erregt in der Stube auf und ab geschritten. Nun blieb er vor dem Knechte stehen. »Das also sind eure Vergnügungen!« rief er und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Das nennt Taras eine Jagd, die das Herz fröhlich macht! Und was das Unheimlichste dabei ist, er bekommt das wüste Leben nicht satt! Jetzt will er erst am Palmsonntag heimkehren? Wer bürgt uns dafür?«

»Sein Eid«, erwiderte der Knecht. »Ich habe mich nicht weniger geängstigt als du und hätte mich nicht als sein Bote brauchen lassen, wenn er mir nicht vorher feierlich zugeschworen hätte, daß er zum Palmsonntag heimkehrt.«

Der Pope atmete erleichtert auf. Dann aber fragte er wieder: »Hat er dir nicht gesagt, wozu er diese Wochen verwenden will?«

»Nicht deutlich, aber so hier und da ein halbes Wort. Daraus entnehme ich, daß er uns nun durch die Bukowina führen will . . .«

Leo blieb stehen und starrte den Knecht erschreckt an. Und dieses Erschrecken schien sich allmählich zum Entsetzen zu steigern. Man sah es seinem ehrlichen, wohlgenährten Gesichte deutlich an, wie ein furchtbarer Gedanke immer größere Macht über ihn gewann. Er wurde rot, dann bleich, und der Schweiß trat ihm auf die Stirne. Er wischte ihn langsam mit der äußeren Handfläche ab. »Jemilian . . .« murmelte er. Der Knecht hatte kein Auge von ihm gewendet, und all die Empfindungen spiegelten sich auch auf seinem Antlitz. Nun aber streckte er die Hände wie abwehrend gegen den Priester aus. »Nein, Herr!« schrie er mit markerschütternder Stimme. »Beflecke einen reinen Menschen nicht mit solchem Verdacht!«

Der Pope seufzte tief und schwer, dann begann er wieder schweigend in der Stube auf und ab zu gehen. Das dauerte eine geraume Weile, während welcher der Knecht still brütend vor sich niedersah. Als er endlich eine Bewegung machte, fuhr Leo zusammen, wie aus einem Traume aufgeschreckt. »Geh mit Gott«, sagte er mit zitternder Stimme. »Erzähle ihm unser ganzes Gespräch, sage ihm, daß ich bestimmt hoffe, ihn zum Palmsonntag wiederzusehen. Hätte ich nicht das Unglück im Hause, ich würde die vier Meilen nicht scheuen, mit dir zu gehen, und versuchen, ob ich ihn nicht schon jetzt zur Rückkehr bewegen könnte . . .«

»Kennst du ihn so wenig?« sagte der treue Mann mit traurigem Lächeln. »Eher könntest du den Pruth bewegen, bergauf zu fließen. Aber seinen Eid wird er halten.« Er seufzte tief auf. »Gewiß!« setzte er halblaut hinzu. »Doch mußt du ihn trotzdem immer in dein Gebet einschließen, er kann es brauchen.«

Der Knecht ging. Leo kehrte wieder an das Lager seines Bübchens zurück. Es lag im Fieber, die Händchen, die man ihm festgebunden hatte, damit es nicht an die schmerzhaften Pusteln taste, zuckten krampfhaft.

Es dauerte lange, bange zwölf Tage, bis die Gefahr überwunden war, aber nun wurden auch die beiden ältesten Knaben von derselben Krankheit ergriffen, und all der angstvolle Kummer begann von neuem. Es wäre dem guten Leo kaum zu verargen gewesen, wenn er in dieser Schmerzenszeit des fernen Freundes vergessen hätte; gleichwohl dachte er viel und mitleidsvoll an den armen Mann und seinen seltsamen Jagdzug. Es bedurfte nicht erst des traurigen Mahnzeichens, das am Sonntag Judica eintraf, um ihn wieder an ihn zu erinnern.

An diesem Tage ward dem Popen endlich durch einen Boten des Kreisamts die Entscheidung über das Majestätsgesuch zugestellt. Er wußte im voraus, wie sie lautete, und zögerte doch lange, ehe er das Siegel brach. Ihm war zumute, als wäre dieses rote Wachssiegel mit dem Herzblut des besten, rechtlichsten Menschen gefärbt, dem er auf Erden begegnet war. Er empfand eine tiefe Scheu, es zu brechen, und als er es dennoch tat, seufzte er auf. Sein Vorgefühl war ein begründetes; die Schrift enthielt nicht bloß die Abweisung des Gesuches, sondern auch einen scharfen Verweis ob der mutwilligen Behelligung des Monarchen. Der Pope erschrak. ›Das darf Taras nie erfahren‹, dachte er, ›ich werde ihm das Schreiben nicht wörtlich übersetzen.‹ Aber schon in den nächsten Tagen verbreitete sich die Kunde im Dorfe, der Herr Kaiser habe dem Taras geschrieben: ›Du Lump, wenn du noch einmal des Prozesses wegen Lärm schlägst, so lasse ich dich in Ketten schlagen und ins Gefängnis führen!‹ In dieser Fassung erzählte der Herr Korporal die Entscheidung der Kabinettskanzlei; sein Gewährsmann war Harasim Woronka, der, nun gänzlich herabgekommen und verarmt, als Tagelöhner im Schlosse diente. Herr Hajek hatte die Mitteilung aus der Kreisstadt erhalten und dem Meier Boleslaw aufgetragen, sie zu verbreiten. Vater Leo ärgerte sich sehr, als ihm das Gerücht zu Ohren kam. Nun blieb ihm doch nichts übrig, als dem Taras den vollen Wortlaut mitzuteilen, in dem doch wenigstens von Ketten und Gefängnis keine Rede war. Aber gleichzeitig nahm er sich vor, den Seelenzustand des Mannes zu ergründen. Die bevorstehende österliche Beichte bot dazu die beste Handhabe.

So verstrichen die wenigen Tage vom Sonntag Judica bis zum Palmsonntag. Der Vorfrühling brach mit Macht herein, der Schnee schmolz, die Lüfte wehten lau, und alle Herzen wurden fröhlich. Der Pope hatte noch besonderen Grund, den frühen Lenz zu segnen; nun, da der duftige, belebende Hauch in die Krankenstube drang, genasen die beiden Knaben rascher. Gleichwohl lösten sich die sorglichen Eltern noch immer regelmäßig zur Wache an ihrem Lager ab.

So traf auch die Nacht vom Samstag auf den Palmsonntag den Popen wachend in der matterhellten Stube. Im Hintergrunde schlummerten die beiden Kinder, er ging zwischen ihrem Lager und dem Fenster leisen Schrittes auf und nieder. Immer wieder blieb er an einem der Bettchen stehen und sah gerührt auf die bleichen, aber von der Krankheit unentstellt gebliebenen Gesichtchen; dann trat er ans Fenster und schaute in die herrliche Vollmondnacht hinaus. Im taghellen Lichte lag die Dorfstraße, still und feierlich; schimmernd streckten sich die unbelaubten Äste, an denen eben die ersten Knospen hervorbrachen, in den azurnen Himmel und erzitterten zuweilen leise im Frühlingswinde. Von fernher klang ab und zu der unheimliche Ruf eines Uhus durch die Nacht; er gilt allgemein als Todesvogel, aber in dieser lichten Stunde horchte der Pope kaum auf das seltsame Getön, noch bedrückte es ihm das Gemüt. Bewegt hob der fromme Mann Aug' und Herz zu dem empor, dessen Gnade ihm sein Liebstes auf Erden aus Todesgefahr errettet hatte. Nie waren ihm frommere, tiefere Gedanken gekommen. ›Ach!‹ dachte er, ›wenn ich nur alles sagen könnte!‹ Dann schritt er wieder auf und ab und suchte nach Worten für sein Empfinden und flüsterte sie leise vor sich hin; er arbeitete an der Predigt, die er am Morgen halten wollte. Da vernahm er plötzlich vom Fenster her ein leises Klirren, ein Finger klopfte schüchtern an die Scheibe. Der Pope fuhr zusammen und wendete sich rasch dahin. Vor dem Fenster stand eine hohe, dunkle Gestalt. Als er dicht herantrat, erkannte er Taras.

Rasch öffnete er das Guckfensterchen. »Sei gegrüßt«, sagte er herzlich. »Es ist schön, daß du Wort gehalten hast.« – »Ich bin vor einer Stunde heimgekommen«, erzählte Taras. »Die Meinigen sind alle wohl. Aber du hast viel Trübsal erlitten?«

Der Pope berichtete freudig, wie nun auch in sein Haus wieder das Glück eingekehrt sei. »Willst du nicht eintreten?« fragte er dann.

»Es ist so spät«, erwiderte Taras. »Ich wollte nur nach dir sehen. Und dann, gestern begegnete ich am Czeremosz zufällig den Söhnen des Simeon, und die beiden Jungen erzählten mir betrübt von dem Bescheid, den du für mich bewahrst.«

»Aber er lautet ganz anders, als sie dir wohl berichtet haben«, rief der Pope eifrig. »Das Gesuch wird abgeschlagen, weil dein Begehren, wie das Gutachten des Obergerichts beweise, unberechtigt sei. Schließlich heißt es wörtlich: ›Auch wird der Untertan Taras Barabola angewiesen, sich fortab jeder weiteren Belästigung Sr. Apostolischen Majestät oder der Behörden zu enthalten und sich dem Rechte zu beugen.‹ Das ist alles, ich verschweige dir nichts! Es ist ja ohnehin schon schlimm genug.«

»Schlimm genug«, sagte Taras langsam und laut. »Wie sind nur die letzten Worte?«

Der Pope blickte ihn forschend an. Er konnte seine Züge in dem klaren Lichte genau unterscheiden, sie waren ruhig. So willfahrte er denn seinem Wunsche.

»Und sich dem Rechte zu beugen«, wiederholte Taras abermals laut und langsam. »Gute Nacht!«

Der Pope ließ ihn ungern fort, aber es hatte bereits früher ein Uhr geschlagen, die Stunde, wo er den Kindern wieder den Heiltrank einflößen mußte; darum begnügte er sich, den Abschiedsgruß herzlich zu erwidern, und trat dann zum Tische zwischen den beiden Bettchen, wo das Fläschchen neben der Nachtlampe stand.

Eben wollte er danach greifen, da – plötzlich, urplötzlich, zerriß ein entsetzlicher Schrei die Stille der Nacht; er klang gedämpft, wie aus der Ferne, aber so schauerlich, so röchelnd, so todesbang, daß der Hörer entsetzt zusammenfuhr und selbst einen leisen Schrei ausstieß. Die Kinder waren erwacht und begannen nun heftig zu weinen, er aber schüttelte endlich das lähmende Entsetzen von den Gliedern ab und stürzte ans Fenster. Es war draußen wieder stille geworden, nachdem der Schrei verhallt war, dennoch war er darauf gefaßt, das Furchtbarste zu schauen.

Aber er erspähte nichts, was ihn hätte erschrecken können; das Vorgärtchen, die Straße und jenseits die Gärten lagen im vollen klaren Mondlichte still und verödet. Nirgendwo die Spur eines lebenden Wesens und kein anderer Laut als das leise Knistern der Zweige, wenn sie ein Windhauch bewegte. War es Taras gewesen? Hatte sich jener furchtbare Schrei einer Menschenbrust entrissen? Der Pope wußte sich keine Antwort auf diese Frage. Da kam ihm der Raubvogel ins Gedächtnis, dessen Ruf er früher vernommen hatte. »Der Uhu wird inzwischen dicht ans Haus geflogen sein«, murmelte er vor sich hin und lauschte. Aber es blieb alles still, nur der Wind wühlte stärker in den Ästen.

Der Pope bekreuzte sich und schritt langsam dem Lager seiner Kinder zu. Er beruhigte die Kleinen, flößte ihnen von dem Heiltranke ein und schritt wieder in der Stube auf und ab. Er versuchte, den Faden seiner Gedanken aufzunehmen und die Predigt zu formen, aber es gelang ihm schlecht. Immer wieder mußte er innehalten und lauschen; aber nur die leisen Stimmen der Nacht klangen an sein Ohr, kein schriller Laut, auch der Uhu schwieg . . .

So verging ihm langsam und in trüben Gedanken die Nacht. Als der Morgen graute, trat die Popadja ein, ihren Gatten abzulösen. »Väterchen«, begann sie, »träumte es mir nur, oder hörte ich es wirklich? Ich lag im Halbschlummer, als plötzlich ein gräßlicher Laut an mein Ohr schlug, es klang wie der Hilferuf eines Menschen, dem man die Kehle zuschnürt . . .«

»Du wirst geträumt haben«, murmelte der Pope und eilte in seine Stube. Es ging auf sieben, in einer Stunde begann die Messe; er mußte sich beeilen, wenn er noch wenigstens die Hauptpunkte der Predigt feststellen wollte.

Aber er kam nicht dazu. Während des Umkleidens überfiel ihn plötzlich so heftig, so brennend die Sorge um den Freund, daß er dem inneren Zwange gehorchen mußte. Rasch griff er nach dem Mantel und eilte auf die Straße, dem Hofe des Taras zu. Vor dem Hofe spielten die beiden ältesten Knaben. Sie waren bereits im Sonntagsstaat, trugen neue Tuchmützen mit bunten Federn und bliesen lustig auf blechernen Trompeten die schrillsten Mißtöne. Als sie den Popen gewahrten, liefen sie auf ihn zu und küßten ihm die Hand. »Vater ist heute nacht heimgekommen«, erzählten sie jubelnd. »Und diese Mützchen hat er uns mitgebracht und diese Trompeten!« – »Ist er daheim?« fragte der Pope. – »Nein, beim Jewgeni!« – »Bei dem Richter?« – »Ja, bei diesem Menschen«, erwiderte der kleine Wassilj verächtlichen Tones. »Er hat aber nur Geschäfte mit ihm, aus Freundschaft besucht man einen solchen Kerl nicht!« – »Sagt dem Vater, er möge gleich nach der Predigt zu mir in die Sakristei kommen – versteht ihr? Gleich nach der Predigt!«

Unruhigen Herzens trat der Pope den Heimgang an. ›Was er nur wieder beim Richter will?‹ dachte er. Aber er sollte nicht lange darüber im unklaren bleiben. Als er sich dem Pfarrhofe näherte, sah er den Jewgeni eben in die Tür treten. »Gut, daß ich dich noch treffe, Hochwürdiger«, begann der Mann verlegen. »Ich habe dich nämlich um einen Rat zu fragen. Mein Bruder Konstantin meint nämlich so, und alle anderen Leute meinen anders. Wem soll ich nun folgen?« – »In welcher Sache?« – »Nun, wegen dieses Taras. Also, nämlich in der Morgenfrühe kommt er zu mir und sagt: ›Richter‹, sagt er, ›ich ersuche dich, gleich nach der Predigt die ›große Versammlung‹ anzuordnen, nämlich nicht bloß die Hausväter, sondern alle Bewohner des Dorfes. Denn‹, sagt er, ›Richter‹, sagt er, ›der letzte Bescheid aus Wien ist eingetroffen, und ich wünsche, der Gemeinde Rechenschaft abzulegen. Ob du nun mein Feind bist‹, sagt er, ›oder mein Freund‹, sagt er, ›dieses Recht wirst du mir nicht weigern.‹ Nun bin ich, Hochwürdiger, nämlich also wirklich kein Freund dieses Taras. Denn erstens ist er ein Feind des Kaisers und zweitens ein Bastard und drittens so ein Podolier, der sich im Dorfe eingenistet hat, und viertens hat mir sein Weib . . .« Er stockte verlegen und griff sich unwillkürlich an die Nase, auf welcher einst die fünf Halbmonde so deutlich geprangt hatten. Der Pope kannte die Bedeutung dieser Gebärde, aber ihm war nicht scherzhaft zumute. »Ich weiß«, sagte er hastig, »du bist leider ein Feind dieses trefflichen Mannes. Aber welchen Bescheid hast du ihm gegeben?« – »Gar keinen«, erwiderte der Richter mit kläglicher Stimme. »Ich mußte ja vorher meinen Bruder Konstantin befragen. Nun, der ist also dagegen. ›Willst du‹, sagt er, ›daß der Lump die Leute beschwatzt? Was geht uns‹, sagt er, ›der Prozeß an? Er soll nur‹, sagt er, ›an dem Brocken ersticken, den er sich selbst in die Suppe geschnitten hat.‹ Ja, so waren seine Worte!« – »Pfui!« rief der Pope. »Aber die anderen, die du fragtest, waren hoffentlich vernünftiger und gerechter?« – »Also nämlich«, wendete Jewgeni schüchtern ein, »mein Bruder ist ja eigentlich ein Herr Korporal! Aber allerdings die anderen, sowohl die beiden Ältesten als auch einige Hausväter, ›nun also‹, sagen sie, ›hören wir ihn‹, sagen sie, ›das ist sein gutes Recht.‹ Und was soll ich nun tun?« – »Die Versammlung berufen!« rief der Pope. »Soll der arme Mann, der so schwere Opfer an Zeit, Geld und Kraft für die Gemeinde gebracht hat, nicht einmal die Genugtuung haben, euch beweisen zu dürfen, daß er weit über seine Pflicht hinaus euer Recht vertreten hat? Das wäre himmelschreiend!« – »Nun, nun«, begütigte ihn der Richter und küßte ihm die Hand. »So will ich denn die Versammlung gleich nach der Predigt anordnen. Den anderen lasse ich es vor der Kirche sagen, dem Taras sogleich. Aber was mein Bruder, der Herr Korporal –« Er kraute sich verlegen hinter dem Ohr und ging.

Der Pfarrer zog die Uhr, es war nahe an acht. Er mußte wacker ausschreiten, wenn er noch zur Messe zurechtkommen wollte. Hastig eilte er in die Sakristei, ließ sich vom Küster die Gewänder umhängen und trat vor die harrende Gemeinde. Die Messe wird bei den Griechisch-Unierten nach katholischem Ritus gelesen, jedoch in ruthenischer Sprache, was zur heilsamen Folge hat, daß die Gläubigen auch diesem Teile des Gottesdienstes mit Verständnis folgen können. So hörte denn die Gemeinde andächtig zu, während Vater Leo mit den Chorknaben die Responsorien sang; er selbst jedoch hatte alle Mühe, seine Gedanken bei der heiligen Handlung festzuhalten. Denn als er die Augen über die gesenkten Häupter hingleiten ließ, befremdete es ihn zu gewahren, daß sowohl Taras als Anusia in der Kirche fehlten. Hingegen waren die Begleiter des Taras erschienen: Jemilian, Sefko und Wassilj Soklewicz. Die Männer sahen abgehetzt und verwildert aus.

Endlich war die Messe beendet; der Pope trat in die Sakristei, die schweren Gewänder abzulegen, um dann die Kanzel zur Predigt zu besteigen. Schon wollte er wieder in die Kirche zurückkehren, als die Tür der Sakristei hastig aufgerissen wurde und der kleine Wassilj laut schluchzend hereinstürzte. »Was gibt's?« rief der Pope erbleichend. »Väterchen Leo«, stammelte der Knabe, die Händchen faltend. »Die Mutter läßt dich anflehen, sogleich zu uns zu kommen. Es hängt Leben oder Tod davon ab!« – »Um Gott! Was ist geschehen?« – »Ach!« schluchzte das Kind, »was weiß ich! Die Mutter hat es mir so aufgetragen.« – »Ist der Vater daheim?« – »Ja! Wir wollten eben alle zur Kirche, als ein Knecht des Jewgeni in die Stube trat und sagte: ›Nach der Predigt wird die ›große Versammlung‹ sein.‹ Da sagte der Vater zur Mutter: ›Nun können wir nicht zur Kirche gehen. Ich bin es dir schuldig, dir alles früher zu sagen als den anderen.‹ Und zu uns Kindern: ›Gehet hinaus, spielet im Hofe.‹ Wir aber blieben im Hofe stehen, und . . . ich habe es aber nie früher getan!« schluchzte der Knabe auf. – »Ihr horchtet?« – »Ja! Zuerst hören wir die Stimme des Vaters, aber er spricht so leise, daß wir es nicht verstehen können. Da, plötzlich, hören wir einen Schrei der Mutter, der ist so angstvoll, daß ich die Tür aufreiße und hineinlaufe. Fedko und Tereska hinter mir her. Die Mutter liegt vor dem Vater auf den Knien und schluchzt: ›Tu's nicht!‹ Er aber sagt: ›Ich muß ja! Ich darf kein Erbarmen haben mit mir und dir und den Kindern.‹ Da beginnen auch wir laut zu weinen, und die Mutter ruft: ›Hierher Kinder! Auf die Knie! Vielleicht hört er euer Flehen, da er das meine nicht hören will.‹ Ach! Väterchen Leo – und dabei weinte sie gar so bitterlich!« – »Weiter! Was geschah nun?« – »Wir knieten hin, hoben die Hände empor und riefen wie die Mutter: ›Tu's nicht, Vater! Erbarme dich unser!‹ Er aber schüttelte nur immer den Kopf, und dabei rannen ihm die schweren Tränen über die Wangen. Da riß mich die Mutter empor und schickte mich hierher. Komm mit, Väterchen, komm mit!«

Der Pope stand schwer atmend da. »Ich kann ja nicht«, murmelte er, »die Predigt! Es wäre eine Sünde, die Gläubigen an einem so hohen Festtage ohne Predigt zu entlassen.« – »Du kannst es nicht tun, Hochwürdiger!« bestätigte der Küster. Aber das Kind fuhr fort, angstvoll an dem Talar des Priesters zu zerren und zu flehen: »Komm mit!«

»Es ist die geringere Sünde«, sprach Vater Leo entschlossen und richtete sich auf. »Eile nur voraus, Wassilj, sage der Mutter, ich käme gleich.« Er trat vor die Harrenden. »Verzeiht, Leute«, rief er, »ich kann heute nicht predigen! Gott wird es mir verzeihen, mich ruft eine noch heiligere Pflicht!« Und er verschwand wieder in der Sakristei.

Durch die Schar der Gläubigen ging ein Murmeln des Erstaunens. Dann aber brachen sie auf und drängten langsam dem Ausgang zu. Vor der Tür verkündeten Jewgeni und die Ältesten: »Ziehet allesamt zur Schenke! Jung und alt! Mann und Weib! Es ist ›große Versammlung‹ in Sachen des Taras.«

Der Herr Korporal stand ingrimmig lächelnd neben seinem Bruder, dann aber schlug er denselben Weg ein wie die anderen. »Hören wir uns auch den Spaß an!« rief er seinen Kameraden zu.

 


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