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(1879.)
Es war am Marktplatz zu Barnow, in der grauen, nebeligen Frühe eines Märztages, vor dem Gasthofe des Nathan Silberstein. Ich hatte da die Nacht verbracht, in jenen überaus unruhigen Träumen, welche über jeden Gast dieses Hauses kommen, seit es nicht mehr von Nathan selbst verwaltet wird, sondern von seinem schmutzigen Pächter. »Es ist nicht meine Schuld,« entschuldigte sich der Mann demüthig, »alle Woche werden die Zimmer gelüftet und alle vierzehn Tage die Betten frisch überzogen. Mehr kann man nicht thun!« Dann aber meldete er, der Kutscher erwarte mich bereits vor der Thüre.
Es war dies der treffliche Hirsch Guldenmann, der mir noch aus jenen Tagen bekannt war, da ich selbst in Barnow gewohnt. Darum hatte ich ihn auch den Abend zuvor vor vielen Konkurrenten auserlesen und zur Fahrt nach Tarnopol gemiethet. »Ich nehme meine leichte Britschka,« hatte er versprochen, »und meine kleinen braunen Huzulen, und in sechs Stunden machen wir sechs Meilen.«
Als ich nun vor die Thüre trat, war Hirsch zur Stelle, auch die kleinen, braunen Huzulenpferde, aber sie waren nicht vor das leichte zweisitzige Fuhrwerk gespannt, von dem Hirsch gesprochen, sondern vor einen schweren, uralten Landauer, der so mit Gepäck überladen war, daß es schien, als wollten einige Familien der Stadt mit mir ihren Auszug halten. Sogar zwei Hühnersteigen mit sehr lebendigem Inhalt waren zu oberst angebracht. Von Passagieren freilich ließ sich nichts blicken.
»Was soll das heißen?« rief ich entrüstet.
»Was?« fragte Hirsch so kindlich unschuldig, daß ihn jede Naive von Beruf um diesen Ton und Blick hätte beneiden können.
»Ihr habt die Britschka versprochen!«
»Versprochen? – ja!« rief Hirsch. »Werde ich ableugnen, was ich versprochen habe?! Gottlob, ich bin ein Ehrenmann! Aber antworten Sie mir zur Güte: wer regiert die Welt: ich oder Gott? Gott regiert die Welt! Also was wundern Sie sich, gnädiger Herr? Gott hat es so gewollt und die Britschka ist beim Einspannen zerbrochen. Was hätte ich da thun sollen? Den Landauer habe ich genommen. Der Herr hat mich gemiethet, hab' ich mir gedacht, vielleicht muß er heute noch in Tarnopol sein – ein ehrlicher Mann bin ich – hier ist der Landauer!«
»Was reden Sie vom Gepäck? Sie sind Gottlob ein nobler Herr – was geht Sie das Gepäck von arme Leut' an? Hinten hängt es, lassen wir es hängen!«
»Aber die Leute werden mitfahren wollen!«
»Gottlob!« rief Hirsch gerührt, »Sie sind nicht, wie andere Herren! Andere Herren sagen: »Es darf Niemand mitfahren!« Ich aber kenne Sie, wie Sie noch ein Kind waren, so groß –« er zeigte den Daumen – »und schon damals waren Sie gut und klug. Gottlob, heute sind Sie es auch noch! Sie wissen, arme Leute haben auch Geschäfte, und Sie fragen gleich selbst, ob sie vielleicht mitfahren wollen. Natürlich wollen sie mitfahren und stehen schon und warten. Kommt!« rief er laut, »der Herr hat es erlaubt!«
Und darauf traten aus dem nächsten Hausthor hervor: eine alte Jüdin mit einem Korb voll Enten, eine junge Jüdin mit einem Korb voll Hühnern, ein alter Jude mit einem Pack Waaren und ein junger, der nur ein bescheidenes Päckchen unter dem Arm trug.
Ich mußte lachen, trotz meines Aergers. »Und wie wollt Ihr uns sitzen lassen?« fragte ich.
»Wie? Nach dem Verstand! Oben Sie und neben Ihnen Reb Mendel, weil er ein alter Mann ist. Gegenüber die beiden Weiber. Und Reb Chaim, den nehme ich auf den Bock! Es wird prächtig gehen!«
»Gut!« sagte ich. »Aber ich fahre nicht mit!« Und ich befahl meinen Koffer wieder abzuschnallen. »Ich fahre nur in einer Britschka und nehme Niemand mit!«
»Herr!« rief Hirsch stehend, »denken Sie an Gott, nehmen Sie die Sünde nicht auf sich! Wissen Sie, was geschieht, wenn Sie nicht fahren? Dann fahre ich auch nicht! Und was geschieht, wenn ich nicht fahre? Dann bleibt Reb Mendel's Tochter sitzen, denn er fahrt nach Tarnopol, um einen Bräutigam für sein Kind! Dann können die Leut' in Tarnopol nicht Sabbath machen, denn wenn sie auf den Markt kommen und fragen: ›Wo sind die Enten und die Hühner?‹ – kein einziger Flügel ist da! Herr!« – er rang die Hände – »nehmen Sie keine solche Sünde auf die Seele! Stören Sie keine Hochzeit! Stören Sie keinen Sabbath! Aber der Wichtigste ist Reb Chaim da!« Er wies auf den jungen Menschen. »Er will ja blos bis Tluste mitfahren, und was geschieht, wenn er heute nicht in Tluste ist – es ist nicht auszudenken. Hundert junge Menschen warten dort auf ihn, wie man auf den Messias wartet, denn wissen Sie, was Chaim ist?«
»Nun?«
Der Fuhrmann beugte sich vor und flüsterte dumpf: »Ein Fehlermacher ist er! Jetzt werden Sie nichts dagegen haben!«
»Ein Fehlermacher?« fragte ich erstaunt. Von diesem Beruf hatte ich noch nie gehört. »Was heißt das?«
»Fehler macht er!« flüsterte Hirsch geheimnißvoll. »Ein geschickter Mensch – merkwürdig, sag' ich Ihnen! Es ist wirklich der Mühe werth, daß er es Ihnen erzählen thut! Also – die Britschka will ich schnell flicken und einspannen, aber Reb Chaim darf mitfahren bis Tluste, nicht wahr? Sie werden Mitleid haben mit die armen jungen Leut' von Tluste. Was wird das für ein Weinen und Zittern sein, wenn er heut' nicht kommt!«
»Meinetwegen!« gab ich endlich zu, weniger aus Mitleid, als aus Neugierde, »aber rasch müßt' Ihr machen!«
Eine halbe Stunde später fuhren wir aus dem Städtchen auf die kothige Heerstraße hinaus. Auf dem Kutschbock saß neben Hirsch der geschickte Mensch, auf den die jungen Leute in Tluste so sehnsüchtig warteten, damit er ihnen Fehler mache. Es war ihm aber gar nicht anzusehen, daß er ein so merkwürdiges Handwerk betrieb. Er hatte ein recht alltägliches Gesicht und glotzte aus großen, schläfrigen Augen einfältig vor sich hin.
»Hört, Reb Chaim!« begann ich. »Ihr seid also ein ›Fehlermacher?‹«
»Ich?« rief er. »Gott soll mich behüten! Meine Feinde sagen es, aber beweisen kann man mir nichts!«
»So, was seid Ihr denn in Wirklichkeit?«
»Cyrulik!« (Bader.)
»Und wozu fahrt Ihr nach Tluste?«
»Barbieren – zur Ader lassen – Hühneraugen schneiden – was man braucht! Auf Ehre!«
»Sonst nichts! So wahr mein Weib leben soll und gesund sein!«
»Aber Hirsch!« sagte ich, »dann seid Ihr ja ein erbärmlicher Lügner!«
Hirsch überhörte es, er hatte mit den Pferden zu thun.
»Ein niederträchtiger Lügner,« schrie ich ihm in's Ohr.
Diesmal hörte er, aber falsch. »Hat er gelogen, Herr?« fragte er unschuldig. »Warum habt Ihr gelogen, Reb Chaim!«
»Wer hat gelogen?« rief dieser. »Ihr habt gelogen!«
»Ich hab' gelogen? Ich hab' ja noch kein Wort gesprochen!« Und er beschäftigte sich wieder sehr eifrig mit den Pferden.
Bei mir waren die beiden Herren denn doch an den Unrechten gekommen. »Halt!« rief ich in einem Tone, daß der Kutscher sofort gehorchte. Wir hielten auf freiem Felde, die Straße war ein Kothmeer. »Ihr werdet augenblicklich absteigen,« befahl ich dem jungen Manne, »ich habe nur einen ›Fehlermacher‹ mitgenommen, keinen ›Cyrulik‹! Augenblicklich – macht fort!«
Bestürzt blickten die Beiden einander an, dann begann Hirsch zu jammern. »Recht hat der Herr,« schluchzte er. »Ich bin ein Ehrenmann und sage ihm die Wahrheit – aber Ihr wollt Euch verstellen – was nützt es Euch? Ihr seid doch ein ›Fehlermacher‹ auf zwanzig Meilen im Umkreis. Sogar ein geschickter, der von Stanislau und der von Tarnopol verstehen es nicht so gut! Und was fürchtet Ihr Euch? Wird Euch dieser Herr verrathen? Ein nobler Herr thut das nicht. Also seid kein Narr, Reb Chaim!«
»Nun ja!« sagte dieser weinerlich, »im Frühling und im Herbste mache ich Fehler, aber sonst bin ich ein Cyrulik!«
»Ihr habt bei Eurem Weibe geschworen!« hielt ich ihm vor.
»Ich bin ja Wittwer,« lächelte er schamhaft. Dann aber meinte er dienstfertig: »Also, was will der Herr wissen?«
»Was macht Ihr für Fehler?«
»Verschiedene – je nach dem Menschen. Dem Einen Krampfadern, dem Anderen Säbelbeine, dem Dritten eine Lungensucht –«
»Wa–as?«
»Eine Lungensucht,« wiederholte er ruhig. »Dem Vierten einen Staar, dem Fünften eine Lähmung, dem Sechsten wieder nur Plattfüße –«
»Und das lassen sich die Leute gefallen?« rief ich,
»Natürlich! – sie brauchen es ja!«
»Wozu?«
»Für die Rekrutirung.«
Mich faßte und schüttelte ein gründlicher Abscheu. Aber die Sache war interessant genug, um mehr darüber zu hören.
»Ich bin im Lande aufgewachsen,« sagte ich, »und habe nie von diesem Handwerk gehört. Wie kommt das?«
Er zuckte die Achseln. »Man spricht nicht gern davon, weil es so viele böse Menschen gibt, die gleich zum Bezirksgericht laufen und denunziren. Und dann – früher war das Fehlermachen nicht so nothwendig – früher hat man die ganze »Assent-Kommission« bestochen und die Sach' war in Ordnung. Jetzt geht das nicht mehr. Es sind Untersuchungen gewesen in den letzten Jahren und Prozesse und die strengen Befehle – die Herren nehmen kein Geld mehr. Da muß man sich Fehler machen lassen; denn ›Sellner‹ (Soldat) werden ist ja doch noch viel schlechter!«
Was ich dabei dachte und empfand, sagt sich wohl der Leser selbst. Dann aber fragte ich:
»Ihr macht verschiedene Fehler?«
»Wie es eben nothwendig ist!« erklärte er. »Ist Jemand ohnehin ein schwächlicher Mensch, so mache ich ihm nur Krampfadern. Das geht, wenn man gewisse Adern wochenlang unterbindet und dann mit hellblauer Farbe Striche darüber zieht. Meine Krampfadern werden Sie nicht von den natürlichen unterscheiden – so soll ich selbst leben und gesund sein! Ist der Fall gefährlicher, so mache ich Säbelbeine. Das ist aber sehr unangenehm, weil das betreffende Jüngel wochenlang täglich zehn Stunden auf einem Holzblock reiten muß und drei Tage vor der Assentirung kommt es gar nicht mehr vom Block herunter. Ist Jemand blaß, aber sonst ganz gesund, so mache ich ihm die Lungensucht. Da muß man aber schon sehr vorsichtig sein. Denn warum? – aus dem Spaß kann leicht Ernst werden . . .«
»Wie macht Ihr das?«
»Er trinkt Essig und ißt wenig, – das macht ihn blaß. Dann muß er ein Pulver einnehmen, das Husten macht. Sehen Sie, so ein Pulver –«
Er holte es aus der Tasche hervor. Eine gelbliche Mischung von peinlichem Geruch.
»Was ist das?« fragte ich.
»Pulver, Tabak, Pfeffer und der Samen von einer Stachelpflanze, die am Wege wächst (den Namen wußte er nicht). Nach zwei Tagen ist ein furchtbarer Husten gemacht. Noch gefährlicher ist der Staar, den mache ich nur bei ganz gesunden Burschen, für die es sonst keine Rettung gibt. Ich sage aber gleich: »Es kann gefährlich ausgehen«. Und wenn er doch einverstanden ist, streiche ich ihm von diesen Tropfen da in's Auge. Das Auge trübt sich und nach einer Woche sieht es aus, als wäre da ein unreifer grauer Staar. Dann muß es sich der Mensch von den Doktoren kuriren lassen, – bei Manchen gelingt es, bei Manchen nicht!«
»Und der Mann wird blind?!« rief ich.
»Nur auf einem Auge!« sagte er beschwichtigend.
»Und wie werden Lähmungen gemacht?«
»Man schneidet den Muskel durch,« sagte er kaltblütig. »Ich bin ein geschickter Cyrulik!«
»Ein Hund seid Ihr,« rief ich, »ein Schurke, den ich anzeigen werde!«
Der Mann wurde bleich. Dann aber sagte er: »Das werden Sie nicht thun! Was haben Sie davon? Ich komm' nicht in's Kriminal, denn beweisen kann man mir nichts. Und wenn ich schon eingesperrt werde, was haben Sie davon?! Meinen Sie, das Fehlermachen hört auf? Die Leut' wollen es, und so wird sich in zwei Wochen ein Anderer finden, der es thut!«
Ich lehnte mich schweigend zurück, was sollte ich auch erwidern?! Der Schurke hatte ja Recht!
Wir fuhren lange schweigend dahin, endlich wandte er sich wieder zu mir: »Ist es denn ein gar so großes Unrecht?! Ich helfe eben den armen Burschen!«
Mit dem Mann in moralische Erörterungen einzutreten, hatte ich geringe Lust. »Habt Ihr nur Juden in Eurer Kundschaft?« fragte ich.
»Nein, im Gegentheil!« rief er eifrig. »Mehr Christen, als Juden! Die Bauern und die Polen gehen auch nicht gern in die Fremde, um sich da todtschießen zu lassen! Freilich zahlen sie schlechter, als die Juden!«
»Warum bedient Ihr sie billiger?«
»Erstens, weil sie weniger Geld haben, zweitens, weil sie sich sonst selbst helfen, freilich nicht so geschickt, wie ich! Da haut sich der Eine den Finger ab, der Andere die Zehe! Der Jude aber zahlt gerne, nur um wenigstens von einem geschickten Menschen bedient zu werden. Und ich, Herr, ich bin wirklich ein geschickter Mensch . . .«
»Das Gewerbe ist einträglich?«
»Gottlob, ja, es kommt schon etwas zusammen. Wenn nur die Christen so gut zahlen möchten, wie die Juden! Aber so: immer die Hälfte! Jüdische Krampfadern zehn Gulden, christliche fünf; christliche Säbelbeine zehn Gulden, jüdische zwanzig; der christliche Staar hundert Gulden, der jüdische bis zu dreihundert Gulden . . . Man hilft sich durch, wie man kann,« fügte er mit behaglichem Lächeln hinzu.
»Und wie Viele bereitet Ihr jährlich vor?«
»Weiß ich? Zählen thu' ich's nicht und aufschreiben gewiß nicht. Hundert Stück werden es immerhin sein . . .«
»Bei jeder Assentirung?!« rief ich entsetzt.
»Natürlich!« nickte er vergnügt. »Warum wundern Sie sich darüber? Der Mensch hilft sich, wie er kann!«
Wir fuhren in Tluste ein. Vor der Schenke sprang der ›Fehlermacher‹ ab. Im Thorweg standen einige Bursche, Bauern und Juden, die offenbar bereits sehnsüchtig seiner harrten. Aber Reb Chaim war ein höflicher Mann, er trat an den Wagenschlag, um sich von mir zu verabschieden.
»Denken Sie nichts Böses von mir!« bat er. »Ich verführe ja Keinen, sie laufen mir freiwillig zu. Wäre ich so dumm, sie abzuweisen, so gingen sie zum heiligen Hawrilo, obwohl er nichts kann . . .«
»Wer ist das?«
»Der Kirchensänger von Brolówka, ein dummer, ungeschickter . . .«
»Also gibt es auch christliche Fehlermacher?«
»Natürlich! Aber sie arbeiten nur mit der Hand, und wir auch mit dem Verstand!« Und stolz schritt er auf seine Clientel zu.
Ich fuhr weiter, in das Kothmeer der Ebene hinein. Aber wozu noch diesen Sumpf schildern? Er ist selbst in den trübsten Tagen des Vorfrühlings weit minder tief und abscheulich, als jener, in den ich den Leser soeben habe blicken lassen. Ach! was liegt Alles in diesem schlimmeren Kothmeer begraben! Nicht etwa bloß der »Charakter« Reb Chaims und seiner Metiergenossen, sondern auch das Pflichtgefühl seiner Mitbürger und die moralische Kraft des Staates, der nach einer mehr als hundertjährigen Herrschaft die Beherrschten so wenig emporzuheben vermocht, daß ihnen sein Dienst schrecklicher erscheint, als die Kunst des ›Fehlermachers!‹ . . .