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Ein gewagter Sprung. – Auf der Alm. – Eine unerwartete Begegnung. – Gewissensqualen. – Aufklärungen. – Ein fürchterlicher Plan. – Auf richtigem Wege. – Der Feuersinger. – Das Wiedersehen. – Abgewiesen. – Der Überfall. – Das Ende eines Schurken.
Als Jörg erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel und tauchte das herrliche Rundbild in ein Meer von Glanz und Farben, so oft sie zwischen den weißschimmernden geballten Wolken durchbrach.
Und welch glücklicher Zufall: gerade an seiner Mulde, wo es gestern so unwegsam und senkrecht zur Tiefe abzufallen schien, leitete gut gestufter Fels und ein ganzes System von Rasenterrassen hinab zu den Geröllhalden, die an ihrer oberen Kante, an der fast stets schattigen Nordseite der Berge mit Schnee umgürtet, gerade hier höher herausspitzten als anderswo.
Dort lockte Trank, und das zog ihn bei den rasenden Qualen des Durstes, die ihm die Kehle zuschnürten und das Blut an die Schläfen wie mit einem Hammer schlagen ließen, hinab wie ein Magnet das Eisen. Schon war die Schneemulde fast erreicht, aber eine breite, durch der Felsen Wärme ausgeschmolzene Kluft trennte sie vom Berg. Als Randkluft bezeichnet man bei Firnfeldern und Lawinenresten die oftmals mehrere bis viele Meter tiefe spaltenförmige Höhlung, die sich zwischen dem Felsgestein und dem Schnee auftut, wo dieser dem Berg anliegt. Die Randkluft bereitet dem Touristen oft unüberwindliche Schwierigkeiten und entsteht einfach durch Abschmelzung infolge der Bodenwärme. Da verlor er die Besinnung. Und sprang. Sprang mit so übermenschlicher, von wilder Gier nach Wasser angestachelter Kraft, daß das unmöglich Scheinende gelang. Drüben war er, und nun aß er sich satt an Schnee, an dem kühlenden Naß, das die Kehle hinabglitt wie Nektar und ihm wonnig durch alle Glieder rieselte.
Eine kurze Rast, und mit neu gewonnenem Wagemut entschloß er sich zur Abfahrt über die Reiße, die sich weich und steil, wie ein gespanntes Zelttuch hinabzog und im Zunderngürtel endigte. Der Stock wurde nach hinten fest eingesetzt, und nun ließ er sich gleiten, sorgsam den größeren Blöcken ausweichend. Hui, das ging dahin im Braus, und ein ganzer Strom von Steinen folgte mit. Berge, Felsen tanzten vorbei im rasenden Wirbel; nun droht es mit Stürzen, aber da kommt auch schon der grobe Schotter, in ihm mäßigt sich die Fahrt. Unten ist er, und das erste Grün empfängt ihn mit einem lieblichen Gruß.
Zwei Stunden später taucht er aus den Wäldern auf, und hochaufatmend schreitet er auf die rotbraunen Hütten zu, die auf dem üppigen Wiesengrund der Eng so lieblich gelagert sind.
Doch wo sind die Herden, die in dem köstlich würzigen Gras ihr Labsal fänden? Kein Glockenklang belebt das einsame Tal. Unter den mächtigen Bergahornen, die sich zerstreut im Wiesengrund erheben, ruht kein Senner. Die Hütten sind versperrt oder auch offen, doch leer – die Alm ist nicht bezogen. Menschenverlassen ist alles auch hier.
Die Enttäuschung ist hart, doch es bleibt Hoffnung. Die Feuer von gestern abend entzünden auch sie. Man muß wohl den steilen Berg linker Hand ersteigen, dort weilen Menschen, und von ihnen kann man auf Milch und Käse hoffen, wenn nicht auf Brot. Denn der ohne Frühstück gebliebene Magen knurrt, wenn auch hier eine köstliche Quelle Labsal gewährt. Der Ort ist entzückend, und lang ins Gras gestreckt, bewundert der einsame Betrachter das einzigschöne Bild des Talschlusses. Dort zwischen den beiden kühnen Bergdomen, die sich so schwindelnd hoch aus dem Grün der Wälder emporheben, von dort sah er zum erstenmal auf die lachenden Wiesen hier hinab. Da oben sind auch die zwei Gletscher, auf die er hinabsah, und sogar in dieser Entfernung erkennt man das Blau ihrer Spalten. Von ihnen stürzt sich ein Bach. Aus der Höhe eines großen Berges springt er mit einem Satz in die Tiefe, in der er nur als Staub anlangt. Man sieht ihn verflattern und sich auflösen in Schaum und Dunst, und es bewegt gar eigen, daß nicht ein Laut von dem gewaltigen Sturz hier herüber dringt. Lautlos flattert das weiße Wasserband dort, und so wird es wehen in alle Ewigkeit.
Aus dem Träumen schrak er auf, denn das war eines Menschen Tritt, der der Quelle näherkam. Sie erschraken beide vor einander, die sich da begegneten: Jörg vor dem zerlumpten alten Mann in der Tracht eines Bergknappen und dieser vor dem hochgewachsenen Menschen, der abgerissen, zerschrammt und zerschunden von dem Weg übers Gebirge, verwildert und sonnenverbrannt vor ihm stand, und in dessen Angesicht nicht nur Angst, sondern auch eine Drohung zu lesen war, da er nicht wußte, was ein Schwazer Bergknappe hier zu bedeuten habe. War er ein Flüchtling wie er, oder war er ein Häscher?
Aber bald hatten sie sich verstanden. Auch der Fremde, der sich den alten Oswald nannte, war ein Flüchtling von Schwaz, einer der armen Teufel von den verfolgten Wiedertäufern, wie sie nun seit den letzten großen Angebereien zu Hunderten der Arbeit entliefen, um eine neue Heimat zu suchen in Mähren, im gelobten Land der Brüder. In einer der Hütten rasteten sie zu dritt auf der Flucht nach Rosenheim, von wo sie der Inn zur Donau hinabtragen sollte; nur waren sie nicht so abenteuerlich über unerstiegene Berge gekommen, sondern auf betretenem Pfad durchs Halltal und über das Schauchkar. Von da oben seien sie noch in der Nacht herabgezogen zu den Alphütten von Ladiz, und damit deutete er auf die Höhe, wo Jörg des Abends die Feuer gesehen hatte.
So erzählte ihm der neue Gefährte, als sie zur Hütte schritten, in der sich das Lager der Wiedertäufer befand. Sie traten ein, – da fuhr mit einem Schrei der eine der Männer auf, die darin auf dem Heu lagen.
»Hilf, Himmel, der Jost!« schrie der Mann mit allen Zeichen des Entsetzens, und Jörg fuhr selbst zusammen, als er in der verfallenen, abgehärmten, sich wie ein Wahnsinniger gebärdenden Gestalt niemand andern als den Batzentoni erkannte.
Es war kein frohes Wiedersehen, das sie feierten, denn bald war ihm klar, daß des armen Tirolers Verstand gelitten haben müsse unter der Verfolgung oder unter den Entbehrungen, denen diese Männer seit den etwa zwei Wochen, während deren sie in steter Angst im Gebirge herumzogen, ausgesetzt waren. Der dritte der Gesellschaft, ein überaus blasser Mensch, mischte sich gar nicht ein; aus einer Art Gebetbuch murmelte er ununterbrochen Gebete und hielt sich abseits von denen, die durch schwatzhaftes Wesen oder gar Fluchen und Lärmen vom Pfade der Sündlosen abwichen. Zu essen hatten sie alle drei nichts, konnten daher auch mit Jörg nichts teilen.
Der bekam auf seine vielen Fragen an den Tiroler überhaupt nur verkehrte und kuriose Antworten.
»I hab's net tan, i hab's net tan,« wiederholte der arme Mensch rastlos bei jeder Gelegenheit und hob die Finger zum Schwur als Zeugnis seiner Unschuld. Jörg wußte es sich nicht zu deuten, auf einmal aber strömte ihm reichlich Licht zu, als der Batzentoni unvermutet ihn wie geistesabwesend anstarrte und dann drohend meinte: »Jost, schwör' bei Gott, du warst net dabei! Wirst mich auch net anzeigen. Der Schwab hat g'sagt, der Schlaffer hat uns alle anzeigt, der muß hin werden noch in der Nacht! Der Schwab und der Barthele selbander ham's g'macht.«
Die hatten den Schlaffer getötet! Und dessentwegen hatte man ihn in den Turm gesetzt! Welche Zusammenhänge waren da? Woher kannten die den Schlaffer? Aber je aufgeregter und hastiger er fragte, desto mißtrauischer wurde der Toni, und schließlich stand er ihm gar nicht mehr Rede und Antwort.
Ihn aber ließ das nicht mehr ruhen. Jener Augsburger Bediente, dem er schon einmal alles Unglück zuzuschreiben hatte, wie kam der nach Schwaz, in welcher Verbindung stand er mit seinen einstigen Kameraden, wie und wo und warum starb er? Das mußte er erfahren, eher konnte er die Hütte nicht verlassen, wenn ihn auch sein Weg anderswohin als nach Mähren führte.
Er nahm den alten Oswald beiseite und drang auf ihn mit Fragen ein. Der aber wurde stutzig. Es hatte ihn schon der Frömmler gewarnt vor dem neuen, verdächtigen Gesellen, der offenbar gar nicht zur Geschwistrigkeit gehörte; nun machte sich der selbst mit seinen Fragen und seiner Aufregung verdächtig.
»Mann, hört,« sagte er zu ihm im ernstesten Ton, »wir Sündlose können keinen Schelm in unserer Mitte dulden – wären sonst nicht weggezogen von der Bande des Peppo. Ihr habt kein gut Gewissen! Geht Euren Weg, mög' Euch Gott verzeihen. Wir können für Euch beten, aber sonst nichts. – Laßt uns ungeschoren.«
Jörg war ratlos. Er hörte den Namen Peppo mit offenem Munde. Wer war denn wieder das? Trieb man mit ihm Scherz? Nein, dazu waren diese armen Kerle zu elend, um zu scherzen. Der Peppo hatte eine Bande? Wo, was für eine Bande? Was war das für ein Peppo? Er wollte über all das Auskunft, doch der Alte fing mit lauter Stimme an zu beten, und der Frömmler fiel ein.
Sie hielten nicht inne und gaben ihm so zu verstehen, er existiere nicht mehr für sie. Mit diesen Fanatikern ihres Glaubens war nichts anzufangen, und er zog sich zurück. Er ging zur Quelle zurück, unentschlossen, was zu tun sei.
Das konnte auch nur eine belanglose Namensgleichheit sein, – oder war der finstere Italiener auch nach Schwaz gegangen und wurde verfolgt? Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Endlich besann er sich darauf, doch noch einmal den Batzentoni zu befragen. Irgend etwas werde er schon erfahren, der Tiroler war ihm gut gesinnt. Und er schlich wieder zur Hütte. Da kam ihm schon der Gesuchte entgegen; er schien voll Aufregung und zog ihn hinter das Gebüsch unter einen Ahorn.
»Jost,« flüsterte er mit stieren Augen, »bist ein guter Kerl, hast dem Blaurock helfen wollen, hat dich auch g'segnet, wie er im Gebirg g'stürzt is, no vor sei'm Tod. Der Oswald sagt, du sollst zum Trupp aufigehn nach Ladiz, dort gehörst hin zum Peppo, dem Schandbubn. 's is net wahr, Jost, tu's net. G'hörst net hin, bist a braver Bursch!«
Und er nahm bittend seine Hände und sah ihn treuherzig an. Jörg mußte es versprechen und gewann dadurch das Vertrauen des armen Menschen. Nun stellte er es vorsichtiger an mit seinen Fragen, um nicht wieder Mißtrauen in dem bedauernswerten wirren Kopf vor ihm zu erwecken.
»Sag Toni,« fragte er, »wo sind denn die andern vom Triefestollen? Sind sie denn alle auf dem Weg zur G'schwistrigkeit?«
»Der Schwab und der Barthele sind a oben in Ladiz,« sagte dieser und deutete nach der Höhe.
»Sind auch beim Trupp, beim Peppo?« wagte nun Jörg vorsichtig zu fragen.
Da nahm plötzlich der Irre seine Hand und sagte mit einer überquellenden Stimme, gleichsam um sich zu erleichtern: »Jost, i muß dir's beichten, ein Christenmensch muß mir vergeb'n, ertrag's nimmer sonst … Sind Mordbuben alle zwei, die g'hör'n zum Peppo. Haben mich beschwätzt, hätt' sonst nie mittan, wia ma den Verräter eingrab'n ham unterm schwimmenden Gebirg. Gott is mei Zeuge, hab' keine Ruh' noch Rast seitdem! – sixt –« und er deutete mit den Händen – »so eng is er no g'wen – der Spalt – und da hat der Schlaffer brüllt drin« … Er zitterte am ganzen Leibe in der Erinnerung an das Schreckliche und schlug den Kopf in die Hände im bitteren Leid der Reue.
Jörg erzitterte selbst und schwieg vor Schrecken bei diesem Geständnis. So hatte man ihn also gerächt; ein solch fürchterliches Ende hatte jener Bösewicht genommen, sie hatten ihn lebendig begraben im Triefestollen, und der Schwabenhans war der Anführer gewesen. Jetzt ging ihm über vieles ein Licht auf.
Doch den Mann vor ihm drängte sein ihn folterndes Gewissen, alles zu gestehen, »'s war kein Gottesurteil,« begann er seine abgerissenen Reden wieder, »der Schwab ist ein schlechter Kerl. Wird auch mittun, wenn's den Alten überfallen. Die woll'n net die ewige Seligkeit. Hab's g'sehn, wie dem Barthele die Aug'n glost ham, sel' der Peppo erzählt hat von dem vielen Gold im heimlichen G'mach.« I glaub' ihm nit. 's war a Anzeiger. Der Oswald woaß's.
Jörg warf den Kopf hoch und wagte nicht zu atmen. Was hörte er da? Ein Überfall auf einen Alten mit Gold?
»Da tan mir net mit,« setzte der Irre sein halbes Selbstgespräch fort. »Gold is Sünd! Scho' daß s' a Büchsen und Messer ham, is a Sünd. Geh net nauf, Jost, die machen di' zu an schlechten Kerl.«
»Toni,« sagte nun Jörg und sah ihn so bittend wie möglich an, »bei deiner ewigen Seligkeit, wo ist das Haus, in dem der Alte wohnt?«
»Woaß net,« versetzte Toni, »'s is bei oaner Glashütt'n. – Aber i sag nix,« fuhr er auf einmal wieder mißtrauisch auf, »i woaß nix, i hab's a net tan, nur der Schwab, und der Barthele hat d'Wasserseig'n zogen.«
Doch der, auf den er einsprach, hörte fast nicht mehr. Blitzartig erhellte sich ihm alles. Kein Zweifel, jener Peppo war der Italiener, er stand als Anführer an der Spitze einer Rotte Verzweifelter und plante, das Waldhaus mit seinen Goldschätzen zu überfallen.
Wenn er ihnen zuvorkam, wenn er seinen väterlichen Beschützer warnen konnte – nein, hier gab es kein Wenn, er mußte ihnen zuvorkommen, und keine Sekunde war zu verlieren.
Er ließ vor Angst um die geliebten Menschen jede Politik fallen und drang mit hastigen Fragen auf den Tiroler ein. Aus dem aber war kein vernünftiges Wort mehr herauszubekommen, unermüdlich wiederholte er sein selbstanklägerisches »I hab's net tan«, und je herrischer Jörg wurde, desto ängstlicher überkam es seinen Gegner, bis er auf einmal in einem Anfall von Verfolgungsangst aufsprang und querfeldein lief.
Hier war keine Minute zu verlieren. Noch weilten die Störzer – denn anderes war diese Rotte doch nicht – auf Ladiz, wie die Alm da oben heißen mochte. Er hatte also einige Stunden Vorsprung – wenn sie auf dem gleichen Wege gingen. Aber vielleicht kannten sie die Pfade besser als er, der hier wildfremd war. Vielleicht gab es von oben nähere Wege! …
Eine wahnsinnige Angst befiel ihn, und er merkte jetzt, daß die Angst um andere, die wir lieben, weit mehr foltern kann als die um das eigene Leben. Vorläufig war sein Weg nicht zu verfehlen; er lief mehr, als er ging, über die Wiesen zum Talausgang. Wohin sollte er sich aber dann wenden in dem Quertal, in das die Eng mündete, rechts oder links?
Da fiel ihm ein, vom Sennen am Suntiger gehört zu haben, von der Enge führten Saumpfade über zwei Sättel hinaus zum Fall. Sättel können aber nur auf Bergen sein, und links strömte ein blauer Bach in einem tiefen Tal, wirklich wie in einem Riß zwischen den Gebirgsmauern. Rechts dagegen stieg Wald hoch und immer höher. War das der Berg, über den der Sattel ging? Ratlos stand er da. Dann begann ihm sein Pfadfinderinstinkt zu helfen. Ein Saumpfad sollte da sein, da mußte man also Wegspuren merken. Nach links führte ein wahres Sträßchen, rechts aber dehnte sich der üppige Wiesenboden ohne eine Spur, daß hier jemals irgend jemand gegangen sei. Das beirrte ihn aber nicht. Auf den Wiesen wachsen immer alle Pfade zu, sagte er bei sich. Wenn Leute mit Waren hier ziehen, werden sie stets die geringste Steigung wählen, also nicht auf den Berg, sondern um ihn, zu jener Mulde gehen. Finde ich dort Pfadspuren, so ist es der Saumweg. Und er verlor keine Zeit mit Suchen, sondern schlug den geradesten Weg zur Mulde ein.
Er schrie fast auf vor Freude, als er dort Eindrücke von Rädern fand, – hier waren Menschen gezogen, hier war der Saumweg. Rüstig, keine Müdigkeit kennend, schritt er ihm nach, stieg auf kahle Rücken hinauf, von wo man weit in die Bergeswelt sah, tauchte unter in dem grämlichen Düster der schweren Wälder, die hier allüberall die sanfteren Berge deckten, schritt über schwankende Hochmoore, querte Waldwiesen von nie gesehener Üppigkeit, stets den Wagenspuren folgend, zu denen sich später von der entgegengesetzten Seite kommend noch mehrere gesellten. Endlich brach er zusammen, weniger vor Ermüdung als vor Hunger. Quellen fand er jetzt genug in den Waldbergen, aber gegessen hatte er nichts seit gestern abend. Doch der Wald verläßt die nicht, die sich ihm anvertrauen, er schützt und tränkt und speist sie alle. Herrliche Buchecker bot er jetzt im Spätsommer in Fülle, dazu noch Heidelbeeren; auf den lichteren Höhen auch das graue »Brustmoos«, das zwar bitter schmeckte, doch mit Heidelbeeren zusammen sich essen ließ und nahrhaft war.
Mit den Tieren des Waldes zusammen ging er zur Ruhe, mit ihnen stand er auf, mit ihnen äste er, und manch freundlich blickendes Reh, das dem einsam hinschreitenden Wanderer den Weg querte, tat vertraut wie alle Naturkinder untereinander. In der größten Einsamkeit traf er einen Senner. »Der Feuersinger bin ich,« sagte dieser, und mit der Almerin der Eiskönigalm war er der einzige Beherrscher dieser königlichen Wälder. Ein wackerer, eisbärtiger Mann, der ihn labte und ein gut Stück Weges geleitete, daß er nicht irre gehen konnte.
Zweimal war die Sonne schon zur Rüste gegangen, da trat er aus dem Düster einer Klamm hervor auf eine lichte Au und hörte ein Rauschen. Es war der Isarfall. Von da ab kannte er den Weg. Da lag das Demeljoch, dort floß die Walchen, der blaue Bach aus dem Achensee; auf verborgenem Pfad wußte er die Kaiserwacht zu vermeiden, wo sicher an der österreichischen Grenze streifende Rotten lagen; sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er auf die alte, wohlbekannte Straße kam – jede Felswand sagte liebvertraut Willkomm. Nun bog er um das Eck, er mußte fast lachen und weinen zugleich: dort lag im Nachmittagfrieden still das alte Haus … Blumen an den Fenstern – die pflegte wohl sie –, blauer Rauch stieg aus dem Schornstein … da schlug der Hund an, mit hellem Laut begrüßte er den Freund, aus dem Garten flatterte was Weißes.
»Jost!« – »Bella!« und weinend lag das Mädchen in seinen Armen. Ohne zu bedenken, was er tat, hatte er sie geküßt, und ohne Scheu hatte sie den frischen roten Mund dargeboten.
Dann aber blickte sie ihn erschrocken an. Erst jetzt wurde sie blutrot und verlegen. »Jost, wie siehst du aus?« sagte sie kleinlaut, »wo warst du?«
Da aber tönte scharf und heischend des Vaters Stimme vom Fenster: »Sibylle!«, daß sie zusammenfahrend sich umwandte. Eilig hinkend kam der alte Mann heraus. Seine Nasenflügel keuchten vor Aufregung, er hatte die Begrüßung gesehen und den fremden Mann erkannt. Der streckte ihm bittend die Hände entgegen.
»Verzeiht, Vater,« sagte er demütig, »es war schlecht von mir, aber ich habe es bitter bereut.«
Doch nichts von Verzeihung war in dem Antlitz des Alten zu lesen. Er sah sehr schlecht aus und war in den kaum vier Monaten sichtlich gealtert. Hart und böse fuhr er den Bittenden an: »Mit Euch hab' ich nichts mehr gemein! … Erst sich fortstehlen wie ein Dieb, und wenn 's Luderleben nicht mehr geht, dann wieder betteln kommen, mir vielleicht noch mein Kind stehlen!«
»Vater!« schrie Sibylle in aufschäumender Kränkung auf.
Doch der Alte riß sie zurück in das Haus. »Packt Euch,« schrie er dem wie vernichtet Dastehenden zu, »sonst hetz' ich den Hund auf Euch!«
Die Drohung war zwar nicht auszuführen, denn der Hund leckte dem Bedrohten eifrigst die Hand und bemühte sich um seine Liebkosungen. In Jörg aber rief die Härte des Alten einen ganzen Sturm von Empfindungen wach. Er war undankbar gewesen, aber er hatte nichts Unehrliches getan, – diesen Empfang verdiente er nicht. Und der Trotz des beleidigten Mannes stieg mächtig in ihm auf.
»Wer sagt Euch, daß ich bei Euch bleiben will?« schrie er vor der rasch versperrten Tür. »Bin nur kommen, Euch zu warnen – Euer Peppo selbst will Euch überfallen um Eures Goldes willen, vielleicht schon heute nacht … Und Sibylle gehört zu mir, ob Ihr's wollt oder nicht!«
In höchstem Trotz hatte er die Worte hervorgestoßen und war auf die Straße hinausgeeilt. Empört schritt er rasch dahin, und schon war er auch im Walde verschwunden.
In dessen kühlem Schatten linderte sich seine Hitze, bald ging er langsamer, jetzt blieb er stehen, ins Sinnen versunken. Was wollte er tun? Sibylle, das Mädchen, von dem er erst jetzt empfand, wie teuer sie ihm war, und wie untrennbar sie zu ihm gehörte, sie konnte er doch nicht den Unholden ausliefern! Er mußte bleiben. Er warf sich ins Moos und dachte nach.
Den ganzen Weg hatte er befürchtet, daß ihm die Schar des Peppo zuvorgekommen sei, jedenfalls lange konnten sie nicht mehr säumen. Vielleicht lagen sie gar schon auf der Lauer! Heiß stieg es ihm auf bei dem Gedanken. Wieviel sie wohl waren? Fünf Feuer hatte er gezählt. Wenn bei jedem nur zwei saßen, waren es schon zehn Mann; freilich waren die drei echten Wiedertäufer in der Nacht entlaufen, aber auch sieben bewaffnete Männer gegen einen waren zu viel. Es wäre Tollheit gewesen, sich ihnen entgegenzustellen. Was konnte er überhaupt tun? Lange sann er nach; endlich mußte er einen Entschluß gefunden haben, denn er lächelte fast, als er sich nun unhörbar wie ein richtiger Waldläufer um das Haus herumschlich und sich dann oberhalb, dort wo die Straße vom Achensee kommt, dicht am Weg in das Dickicht legte.
Scharf sah er zum Waldhaus hinüber. Dort aber war alles still. Alle Fensterläden waren geschlossen, die Türen zu, kein Laut drang herüber. Das konnte der Lauscher freilich nicht sehen, daß hinter dem geschlossenen Fensterladen, vor Angst und Aufregung zitternd, der alte Gelehrte saß, seine einzige Hakenbüchse vor sich, während Sibylle, in Tränen aufgelöst, in der Küche im Schoß der treuen Urschel lag, die einmal über das andere die Hände jammernd zusammenschlug über all das Unfaßbare.
Der Abend verging, und nichts regte sich. Die Schatten lagen lang und dunkel über der Straße, da ertönte das Zeichen der Grille. »Kri–kri,« antwortete es aus dem Walde, und Jörg sah, wie ein kleiner, verwachsener Kerl vorsichtig aus dem Dickicht kam und dann harmlos die Straße entlang humpelte. Warum ging er so unsicher und tastend? Jetzt erkannte er ihn und mußte sich zusammennehmen, um einen Laut des Zornes zu unterdrücken. Das war ja der blinde Trottel-Barthele. So weit war der also gesunken! Der gab sich her, den Späher für Räuber zu machen! Wie ein Bettler zog er die Straße – jetzt bog er auf das Haus ein, deutlich hörte man den Türklopfer, aber es ward ihm nicht aufgetan. Still, wie unbewohnt, lag das Haus.
Sie hatten es sich fein ausgedacht, die Schurken; einen harmlos scheinenden Bettler sandten sie vor zur Kundschaftung. Der zog jetzt brummend ab und verschwand an der Waldecke.
Wieder war es lange still, und das Zwielicht kleidete bereits Wald und Haus in sein farbentrauriges Gewand. Hatten die Angreifer sich täuschen lassen, hielten sie das Haus für unbewohnt? Fast schien es so, denn nichts regte sich. Doch da traten zwei aus dem Düster vor. Jörg strengte die Augen an – er konnte sie nicht erkennen. Aber der Stimmen Klang verriet mehr als der Blick. Ja, das war der treulose Italiener. Und was er sagte, trieb dem Lauscher das Herzblut in die Adern, daß sie pochten zum Zerspringen.
»Daß mir keiner das Jüngferlein anrührt,« flüsterte er, »sie kennt mich und folgt mir aus freien Stücken.«
Der tiefe Baß des Schwabenhans ließ sich selbst durchs Flüstern nicht unterdrücken. »Wenn aber mehr drin sind als der Alte und das Weibsvolk?« klang es herüber. »Du, Rotwälscher, betrügst uns nicht?«
»I wo!« fistelte der Italiener. »Sind doch vier Männer gegen einen, 's ist todsicher. Eine ganze Kammer hat er voll mit rotem Gold.«
Nun flüsterten sie Unhörbares. Nur vier waren sie? Waren die andern alle davongelaufen? Doch jetzt war keine Zeit mehr zum Nachsinnen, jetzt mußte gehandelt werden.
Schon verklangen die Schritte der Landstörzer; jetzt erst konnte er sich erheben, und hurtig verschwand er im Walde.
Lampadius hatte durch den Bettler Lunte gerochen. In höchster Erregung spähte er hinaus in den Abend. Also hatte der Jost nicht geflunkert, wollte er sie wirklich schützen? Jedenfalls hätte er ihn nicht so Knall und Fall verjagen sollen, – immer spielte ihm sein Hitzkopf diese Streiche.
Da kamen sie wirklich die Räuber, – deutlich erkannte er vier Männer, die auf das Haus zuschreiten.
Zwei gehen voran. Doch was ist das für ein Laut? Aus dem Wald tönt eine dumpfe Stimme: »Geh nicht weiter, Hans! Lad' nicht Blut auf dich!«
Die Männer waren stehen geblieben. Und hörte er jetzt nicht die Stimme des Peppo? »Wer ruft da?« erscholl sie hell und gellend.
»Ich bin's, der Schlaffer Hans, den ihr gemordet im Triefestollen. Bin kommen, um mich an euch, Hans und Barthele, zu rächen.« –
Mit einem gräßlichen Schrei sprang da unten einer davon, jetzt waren es zwei, nein, drei Männer liefen. Er riß das Fenster auf und beugte sich vor, um besser zu sehen.
»Verfluchter Possenreißer! Feiglinge, steht doch!« kreischte unten der Italiener. Da blitzte es hell auf in seiner Hand, und mächtig rollte ein Schuß durch die stillen Wälder.
Der Alte am Fenster sank mit einem Wehschrei zusammen. Auf den Peppo aber sprang ein starker Mann wie ein Tiger. Vergebens holte der zu furchtbarem Schlag mit der Streitaxt aus, die an seinem veralteten Handrohr befestigt war; sein Gegner achtete des Hiebes, der seinen Kopf streifte, kaum, eine Sekunde rangen sie keuchend, dann blitzte es auf in der Hand des Obenliegenden, und das Stilet des Syndikus fuhr mit aller Kraft in die Brust des Wälschen …