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XXIV.
Haag.

Schöne Lage des Orts. Gemischte Einwohner. Zahlreiches Militär. Späte Essensstunde. Mäßigkeit. Tabackspfeife. Kleidungsanzeichnungen. Guter Ton im Haag. Hemsterhuys, Camper und Lyonnet. Camper's, Gallitzin's, Voet's und des Erbstatthalters Naturaliencabinete.

Was man von der anmuthigen Lage dieses Orts und den übrigen Vorzügen sagt, die ihn zum angenehmsten Aufenthalt in den vereinigten Provinzen machen, ist keineswegs übertrieben. Die Gegend um die Esplanade und unweit derselben zeichnet sich durch große, bequeme und zum Theil prächtige Wohnhäuser aus, wovon einige beinahe den Namen Paläste verdienen. Die Reinlichkeit und eine gewisse, bis auf die kleinsten Bequemlichkeiten sich erstreckende Vollständigkeit der äußern und innern Einrichtung, welche jederzeit den sichersten Beweis von Wohlhabenheit, verbunden mit einem feinen Sinn für Eleganz und Genuß des Lebens, gibt, verschönern selbst die einfachern Gebäude. Unter den hochbewipfelten Linden, die oft in mehrern Reihen nebeneinanderstehen und der Stadt einen ländlichen Schmuck verleihen, geht man fast zu allen Jahreszeiten trockenes Fußes spazieren, und die Aussicht von der Straße nach dem freien Felde, wo gewöhnlich die hiesige Garnison ihre kriegerischen Frühlingsübungen hält, erquickt besonders jetzt das Auge durch das frisch hervorkeimende Grün der fetten Wiesen, die von allen Seiten ein hochstämmiger, reizender Lustwald umfängt. Ringsumher ist die Natur so schön, wie ein vollkommen flaches Land sie darbieten kann, und selbst mit dem verwöhnten Geschmack, den ich aus unsern Rheinländern mitgebracht habe, muß ich bekennen, daß die hiesige Landschaft einen eigenthümlichen, großen, wenngleich keineswegs romantischen Charakter hat.

Die Volksmasse im Haag ist so gemischt, daß man es kaum wagen darf, den Schluß von ihrer Lebensweise, ihren Sitten und ihren Anlagen auf die holländische Nation zu machen. Zu meinem großen Vergnügen bemerkte ich jetzt fast gar keine Bettler auf den Straßen, die vor zwölf Jahren so stark damit besetzt waren, daß ein Fußgänger sich des Unwillens über ihre Zudringlichkeit kaum erwehren konnte. Desto auffallender ist gegenwärtig das zahlreiche Militär; den ganzen Morgen manövriren die verschiedenen Regimenter unter unsern Fenstern; den ganzen Tag über hat man sie beständig vor Augen, und man kommt in keine Gesellschaft, wo man nicht Offiziere sieht. Solchergestalt ist wenigstens die neuerdings befestigte Freiheit sehr gut bewacht! Auch trägt man hier allgemein ihr Siegeszeichen, die Orangecocarde, oder ein Band von dieser Farbe im Knopfloch, und der Pöbel duldet keinen Menschen ohne dieses Symbol der Conformität auf der Straße.

In den Sitten und der Lebensweise herrscht, ungeachtet der Residenz eines Hofes, noch manche Spur der alten republikanischen Einfalt und Tugend. Die späte Stunde der Mittagsmahlzeit scheint durch die Verbindungen und Beziehungen der vornehmern Einwohner mit dem Prinzen, den Versammlungen der Generalstaaten und der höhern Dikasterien allmählich Sitte geworden zu sein, In den meisten Häusern ißt man nicht vor drei Uhr, in den vornehmern erst um vier; die arbeitende Klasse der Bürger macht indeß hier wie überall eine Ausnahme, weil sie fester am alten Brauche hängt und im Grunde auch die Zwischenräume ihrer Mahlzeiten nach der Erschöpfung des Körpers abmessen muß. Die Tafel wird in den besten Häusern mit wenigen, gut zubereiteten Speisen besetzt, und, soviel ich höre, hat das Beispiel der auswärtigen Gesandten und einzelner Familien des begüterten Adels den prassenden Aufwand und die leckere Gefrässigkeit unsers Jahrhunderts noch nicht eingeführt. Das gewöhnliche Getränk bei Tische ist rother Wein von Bordeaux, dessen man sich doch mit großer Mäßigkeit bedient, theils weil man mehrere Stunden bei der Mahlzeit zubringt, theils auch, weil zwischen den Mahlzeiten bei der Pfeife Wein getrunken wird; denn diese behält durchgehends ihre Rechte und ist kaum noch aus einigen der ersten Häuser verbannt. Vielleicht wird sie bei der hiesigen feuchten, nebeligen Seeluft nöthiger und zuträglicher oder wenigstens unschädlicher als anderwärts, so sehr sie auch die Zähne verdirbt. Schwarze Zähne sieht man aber auch bei dem Frauenzimmer; sie werden vielleicht mit Unrecht auf Rechnung des täglich zweimaligen Theetrinkens gesetzt, da die hiesige alkalescirende Diät Alkalescenz nannte die Medicin des vorigen Jahrhunderts »die Neigung der Säfte und Stoffe des Körpers, in Alkalien überzugehen«; unter alkalescirender Diät verstand man eine Ernährungsweise, welche diesen Erfolg haben sollte, nämlich vorwiegende Pflanzenkost, Cerealien, Gemüse u. s. w. Anmerkung d. Hg. mir weit eher die Schuld zu tragen scheint.

Nun ich einmal des Frauenzimmers erwähnt habe, erwartest Du wol ein Wort zur nähern Bezeichnung desselben; allein ich beziehe mich auf meine vorige Bemerkung; die gemischte Rasse im Haag gestattet mir kein allgemeines Urtheil. Die vielen, durch die Verbindungen des Hofs hierhergebrachten fremden Familien, die französische reformirte Colonie und die Mischungen der Niederländer selbst aus allen Provinzen tragen auf eine fast nicht zu berechnende Art dazu bei, den hiesigen Einwohnern eine mehrentheils angenehme, wenn auch nicht charakteristisch nationale Gesichtsbildung zu geben. Die französische Mode herrscht übrigens, wie bei uns, mit unumschränkter Gewalt und bestimmt die Bestandtheile, die Form und den Stoff des Anzugs. Bei der Mittelklasse scheint der Luxus nach Verhältniß des Orts und der Umstände sich noch ziemlich in Schranken zu halten; hier sah ich die englischen großen Baumwollentücher oder Shawls in allgemeinem Gebrauch. Die Weiber aus der geringern Volksklasse und die Mägde erscheinen dagegen in einem den Fremden äußerst misfälligen Costüm. Ein kurzes, öfters weißes Mieder, dessen Schöße, wenn es deren hat, nicht zum Vorschein kommen, bezeichnet ungefähr die holländische, zum Umspannen nicht gemachte Taille; allein die Anzahl der Röcke und ihre Substanz geben diesem Anzug etwas Ungeheueres, sodaß die untere Hälfte des Körpers, von den Hüften bis an die Waden, in einer Art von kurzer, dicker Tonne zu stecken scheint. Auf dem Kopfe eine dicht anschließende Haube und bei den Landleuten darüber ein Strohhut, der um Rotterdam hinten gar keinen Rand, im Haag hingegen rundum einen gleichbreiten Rand hat, aber jederzeit mit dunkelfarbigem bunten Kattun gefüttert ist, vollenden diesen Anzug. Die Tracht der Mannspersonen ist weniger ausgezeichnet und fast allgemein von der größten Simplicität. Das Volk hat eine Vorliebe für die braune Farbe; fast alle Schifferjacken und Schifferhosen sind von braunem Tuch oder Boy. In der Klasse der Handwerker und Krämer sind große Perrüken noch sehr gebräuchlich, und man sieht oftmals einen ehrbaren Bürger, der mit einem spitzen dreieckigen Hut auf der großen, runden Perrüke und in einer bloßen Weste mit Aermeln gravitätisch über die Straße geht.

Es wird uns schwer werden, wieder von hier wegzukommen; die Stunden gehen uns schnell wie Minuten hin, theils indem wir alle Sehenswürdigkeiten der Natur und Kunst in Augenschein nehmen, theils indem wir aus einer Gesellschaft in die andere gerathen, wo zwanglose Gastfreundschaft herrscht und die Forderungen eines an Geistesgenuß gewöhnten Reisenden in vollem Maße befriedigt werden. Die Annehmlichkeit und Leichtigkeit der Haager im Umgang verräth den Einfluß des Anstandes und des Hofes; allein der gebildete, lehrreiche Ton des Gesprächs versetzt sie auf eine höhere Stufe, sowol der Anlagen als der Bildung, und gibt ihren Cirkeln gleichen Rang mit den gebildetsten in England und Frankreich. In gewisser Rücksicht haben sie vielleicht vor beiden einigen Vorzug; man wird weder durch Leichtsinn und sprudelnden Witz, noch durch düstere Zurückhaltung und Taciturnität in Verlegenheit gesetzt. Ein großer Reichthum von Ideen aller Art, hauptsächlich der statistischen und politischen, doch auch zugleich der im engern Verstande wissenschaftlichen, ist in beständigem Umlauf; vorzüglich sind hier und überhaupt in Holland, naturhistorische Kenntnisse nebst classischer und humanistischer Gelehrsamkeit allgemeiner als in manchen andern Ländern verbreitet.

Den Plato, nicht etwa nur der hiesigen akademischen Schattengänge, sondern unsers Jahrhunderts, den eleganten und gelehrten Hemsterhuys Franz Hemsterhuys, geb. 1720 zu Gröningen, gest. 1790 im Haag, niederländischer Staatssecretär und philosophischer Schriftsteller. Er ist in der deutschen Literatur bekannt durch seine Beziehung zu der frommen und geistreichen Gräfin Amalie Gallitzin in Münster und ihrem Kreise (vgl. unten). Anmerkung d. Hg., fanden wir sterbend und konnten ihn nicht mehr besuchen. Er ist kurz nach unserer Abreise gestorben. Wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß Feinheit der Empfindung, Reichthum und Wahl der Ideen, Politur des Geschmacks, verbunden mit der Fertigkeit und den subtilen Stacheln des echten Witzes, mit der lichtvollen Ordnung einer herzlichen Philosophie und dem Dichterschmuck einer alles verjüngenden Einbildungskraft, nicht an irgendeine Erdscholle gebunden sind, so würde wenigstens ein Mann wie dieser beweisen, daß Holland nicht aus der Zahl der Länder ausgeschlossen ist, wo die edelsten Kräfte und die zartesten Empfänglichkeiten der menschlichen Natur den höchsten Punkt ihrer Entwickelung erlangen und die reifsten Früchte bringen können. Der Geist, der in diesem schwachen Körper wohnt, ist so empfindlich für Harmonien aller Art und leidet so im eigentlichen Verstande bei jedem Misverhältniß in der sinnlichen wie in der sittlichen Natur, daß er sich sogar seiner vaterländischen Mundart nicht zum Vehikel seiner Gedanken bedienen konnte, sondern alle seine Werke französisch schrieb und auch diese Sprache zu seinen Zwecken gleichsam umbildete, indem er ihr seinen eigenen Stil aufdrang. Seine Schriften sind unter uns weniger bekannt, als sie es verdienen; allein man muß sie in der Ursprache lesen, wenn man von ihrer attischen Eleganz, die oft nur ein unnachahmlicher Lebenshauch ist, nichts verlieren will.

Petrus Camper Peter Camper, geb. zu Leyden 1722, gest. im Haag 1789, Professor der Anatomie und Medicin zu Amsterdam, dann zu Gröningen, Staatsrath; bedeutender Anatom, welchem namentlich die vergleichende Anatomie werthvolle Entdeckungen verdankt. Anmerkung d. Hg., einer der merkwürdigsten Männer, welche die Niederlande hervorgebracht haben, war durch einen unzeitigen Tod wenige Wochen vor unserer Ankunft seinem Freunde Hemsterhuys vorangegangen. Seine ausnehmenden Verdienste um die Naturgeschichte, die Anatomie und Wundarzneikunst sind allgemein bekannt; die Universalität seiner Kenntnisse und Fähigkeiten, und insbesondere sein richtiger Sinn für das Schöne der Kunst sind es schon weniger. Er bossirte, wußte den Bildhauermeißel zu führen, malte in Oelfarben und zeichnete außerordentlich fertig mit der Feder. Er schrieb in vier Sprachen und arbeitete nicht nur mit unermüdeter Thätigkeit, sondern auch mit einem Feuer, dessen nur wahres Genie fähig ist. An seinem Beispiel konnte man abnehmen, was sich für die Wissenschaften ausrichten läßt, sobald eifriger Wille und hinreichende Mittel zusammentreffen. Ihm verdankt man in Holland die Einführung der Blatternimpfung und der in jenem Lande nicht minder wichtigen Impfung der ansteckenden Krankheit, die das Hornvieh hinwegrafft; sein rastloser Eifer bestritt und seine Curen besiegten das thörichte Vorurtheil, welches die Vorsorge für die Gesundheit für einen Eingriff in die Rechte der Vorsehung hielt, wie man in der Türkei vor Zeiten das Löschen bei einem Brande anzusehen pflegte, bis die Erfahrung gelehrt hatte, daß die Vorsehung in allen diesen Fällen auf die Anwendung der gesunden Vernunft mitgerechnet habe und ebenso wol den Menschen wie die Elemente und die Krankheitsmiasmen zu ihren Werkzeugen gebrauche. Wenn Camper in irgendeiner wichtigen Untersuchung begriffen war, konnte nur die Unmöglichkeit ihn hindern, sie durchzuführen; weder kleine noch große Hindernisse, wenn sie nicht unübersteiglich waren, schreckten ihn zurück, und wenn es ihm darauf ankam, ein paar Gerippe von Thieren miteinander zu vergleichen, achtete er die Entfernung von London und Paris für nichts. Reisen überhaupt, diese große, unvergleichbare Quelle der sichersten Belehrung durch die eigenen Sinne, suchte er, soweit es anging, mit seinen Geschäften zu vereinbaren. Bei der brennenden Begierde, das Gute, oder was er dafür hielt, zu wirken, war ihm die wissenschaftliche und selbst die praktisch medicinische Laufbahn zu enge. Er besaß ein eigenes Vermögen von einer halben Million und konnte folglich in dieser Rücksicht den Hof entbehren; allein er opferte dem Ruhm und der Ehre, mit einem Geist, der freilich auch die Leidenschaft adeln kann; und sowol seine Bekanntschaft mit den innern Angelegenheiten seines Vaterlandes, als seine auswärtigen Verbindungen, empfahlen ihn zu wichtigen Aemtern im Staate. In seiner Provinz Friesland hatte er Sitz und Stimme im Admiralitätscollegium, und gleich nach der Rückkehr des Erbstatthalters, dessen Rechte er eifrig verfochten hatte, ward er zum Mitglied des hohen Staatsraths ( Raad van Staaten) ernannt. Diese Anhänglichkeit an die oranische Partei hätte indeß für die Wissenschaften eine sehr nachtheilige Folge haben können. Schon wollte man in Franeker sein Haus zu Klein-Lankum, wo er die unschätzbarste Präparaten- und Naturaliensammlung besaß, mit Kanonen in den Grund schießen. In der Eile wurden die kostbarsten Stücke in Kisten gepackt oder vielmehr geworfen und fortgeschafft, oder auch zum Theil vergraben. Als die Gefahr vorüber und die Ruhe wiederhergestellt war, strafte er seine Landsleute dadurch, daß er ihnen seine Gegenwart und sein berühmtes Cabinet entzog.

Diese lehrreiche Sammlung haben wir hier mehrere Tage nacheinander mit Bewilligung seines jüngsten Sohnes, des jetzigen würdigen Besitzers, sehr fleißig studirt, ob sie gleich für den Zergliederer, den Arzt, Wundarzt und Naturforscher Beschäftigung und Belehrung auf viele Wochen gewähren kann. Sie ist vorzüglich reich an solchen seltenen Stücken und Präparaten, welche die Functionen der Theile des menschlichen Körpers durch die Vergleichung mit ähnlichen, aber anders proportionirten Theilen verschiedener Thiere erläutern. So manche Einrichtung in der menschlichen Organisation mußte unerklärbar bleiben, bis ihr Nutzen an irgendeinem Thiere, welches sie etwa in einem eminentern Grade besaß, oder wo sich deutlicher die übrige Gestalt und Beschaffenheit des Körpers darauf zu beziehen schien, endlich offenbar ward und somit in der Behandlung gewisser Krankheiten ein neues Licht aufging. Zur Geschichte der Krankheiten, sofern ihre materielle Veranlassung an gewissen Theilen der Eingeweide sichtbar ist, hatte Camper viele der seltensten Präparate aufbewahrt und mit nicht geringerm Fleiß und Glück auch die Abarten der Menschengattung durch die abweichende Bildung ihrer Schädel zu erläutern gesucht, wiewol seine Sammlung in diesem Betracht weder so zahlreich ist, noch so viele Nationen in sich faßt, wie das Museum der göttingischen Universität. Die Aufmerksamkeit auf den Knochenbau der Thiere, den man bisher zu sehr vernachlässigt hatte, ist seit kurzem fruchtbar an Entdeckungen gewesen. Zum ersten mal bewunderte ich hier die große Verschiedenheit des kleinen Orang-Utang von dem großen, dessen Ankunft aus Borneo mir der selige Camper selbst vor mehrern Jahren mit Frohlocken gemeldet hatte. Dieses Thier, das über vier Fuß hoch wird, kommt in einigen Stücken dem Menschen noch näher als der kleine, gewöhnliche Orang-Utang; hingegen weicht es in andern wieder mehr ab und geht in die Paviansgestalt über. Alles an seinem ungeheuern Schädel zeugt von Riesenstärke: der aufstehende Rand auf der Scheitel und über den Augenhöhlen, woran die Schläfenmuskeln gesessen haben, das furchtbare Gebiß und die gewaltigen Kinnbacken, welche zur Vertheidigung gegen die größten Tiger völlig hinreichend zu sein scheinen. Das Schaltbein des Oberkiefers ( os intermaxillare), welches keinem Thiere fehlt, war hier so verwachsen, daß man es schlechterdings nicht erkennen konnte. Neben dieser asiatischen Seltenheit will ich nur noch einer afrikanischen erwähnen, nämlich eines Affen oder eigentlich einer Meerkatze mit einer langen Nase; zum Belage der Behauptung, daß auch dort, wo die Analogie und die Bildung des Schädels eine solche Conformation dieses Theils höchst unwahrscheinlich machen, die Natur dennoch eine Gestalt ausprägen kann, deren Möglichkeit wir erst zugleich mit ihrer Wirklichkeit aus der Erfahrung lernen müssen. Ich übergehe den Unterschied zwischen dem asiatischen einhörnigen und dem afrikanischen zweihörnigen Nashorn, der hier an den beiden Schädeln unter andern auch darin so auffallend ist, daß diesem die Schneidezähne gänzlich fehlen, die jenes besitzt. Ebenso wenig will ich Dich mit dem so offenbaren specifischen Unterschiede zwischen dem asiatischen und afrikanischen Elefanten, zwischen den Bären, die wir jetzt kennen, und jenen wenigstens viermal so großen, deren Gerippe man aus den Höhlen im Baireuthischen ausgegraben hat, zwischen dem furchtbaren, unbekannten Thier, das ehemals am Ohio in Nordamerika existirte und von dessen Knochen man in diesem Cabinet einige schöne Stücke antrifft, und dem kaum halb so großen Elefanten, länger aufhalten. Der jüngere Camper hat diesem Cabinet noch eine prächtige, zum Theil auf seinen eigenen Reisen zusammengebrachte Mineraliensammlung einverleibt; auch besitzt er noch den unschätzbaren Nachlaß von seines Vaters Handschriften, Zeichnungen, Kupferplatten und zum Druck fertigliegenden Schriften, die der wahrhaft große Mann aus keiner andern Absicht zurücklegte, als um seiner Arbeit immer noch größere Vollständigkeit zu geben. Der jetzige Besitzer des Cabinets geht in wenigen Wochen damit nach Friesland auf sein Landgut zurück, weil ihm der Aufenthalt im Haag zu kostbar scheint; ein Umstand, der zugleich den Maßstab der hiesigen Theuerung und des hiesigen Aufwandes gibt.

Lyonnet's Peter Lyonnet, geb. 1707 zu Mastricht, gest. 1789 im Haag, Rechtsgelehrter und Naturforscher. Sein berühmtes Werk »Ueber die Anatomie der Weidenraupe« (1740) ist die Frucht unglaublich fleißiger Studien und Beobachtungen. Anmerkung d. Hg. vortreffliches Conchyliencabinet hatte ich schon vor zwölf Jahren gesehen; jetzt hatte es seinen größten Werth für uns verloren, denn der Sammler selbst – der unnachahmliche Zergliederer der Weidenraupe, der ihre drittehalbtausend Muskeln zählte und das Werk vieler Jahre, die vollständige, bis an die äußersten Grenzen sowol der menschlichen Sehkraft als des geduldigen Fleißes getriebene Untersuchung dieses Insekts, mit eigener Hand in Kupfer ätzte –, der berühmte Lyonnet ist nicht mehr. Seine bewundernswürdigen Arbeiten waren nur die Frucht seiner Nebenstunden; den Generalstaaten diente er als geheimer Secretär und Déchiffreur. Allein man respectirt in republikanischen Verfassungen den individuellen Charakter der Menschen und ihr freies Beginnen, anstatt mit dem Despotismus von dem falschen Grundsatz auszugehen, daß die Menschen nur für den Staat geschaffen und als Räder in der Maschine anzusehen sind, die ein einziger bewegt. Daher ist dort dem Staate selbst die Muße der Beamten heilig, während man in Despotien so viele traurige Beispiele sieht, daß sie ohne Rast und mit Aufopferung ihrer Individualität, ihrer Nachtruhe und ihrer Gesundheit das schwere Joch der Staatsgeschäfte tragen und als blose Werkzeuge ihren Verstand, ihr Herz und ihren Willen verleugnen müssen.

Wenn die wissenschaftliche Aufklärung hier große Fortschritte gemacht hat und einige wissenschaftliche Begriffe mehr als anderwärts in Umlauf gekommen sind, so darf man nicht vergessen, wieviel das Beispiel einzelner Männer dazu beitragen kann, wenn entweder ihr Charakter Achtung einflößt oder ihr Standpunkt die Augen aller auf sie richtet. Außer dem Einfluß, welchen Hemsterhuys, Camper und Lyonnet auf ihre Landsleute behaupteten, hat der Eifer, womit der ehemalige russische Gesandte, Fürst Dimitri Gallitzin Dimitri Fürst Gallitzin (1738-1803), russischer Gesandter in Frankreich, seit 1773 im Haag, lebte zuletzt wissenschaftlichen Arbeiten zu Braunschweig. Er verfaßte unter anderm eine Beschreibung der Krim 1788, eine Mineralogie 1792. Seine Gemahlin Amalie lebte seit 1773 von ihm getrennt zu Münster. Anmerkung d. Hg., sich mehrere Jahre lang in allen Zweigen der Physik und neuerdings in der Mineralogie die gründlichsten Kenntnisse erwarb, unstreitig viel gewirkt, um sowol dessen Wissenschaften selbst, als denen, die sich ihnen widmeten, in den Augen des hiesigen Publikums einen günstigen Anstrich zu geben. Das Mineraliencabinet des Fürsten enthält die Sammlung eines Kenners, der hauptsächlich dasjenige aufbewahrt, was in seiner Art selten und seiner Beziehungen wegen lehrreich ist. Wir bewunderten darin ein anderthalb Fuß langes Stück von dem seit kurzem erst wieder bekannt gewordenen beugsamen Sandstein des Peiresk Nicolas-Claude Fabri de Peiresk (1580-1637), berühmter französischer Alterthums- und Naturforscher, lebte zu Aix. Anmerkung d. Hg., der aus Brasilien gebracht wird, und wurden durch die Experimente des Fürsten überzeugt, daß die decomponirten Granitarten des Siebengebirges bei Bonn noch stärker als Basalte vom Magnet gezogen werden. In der Mineraliensammlung der Herren Voet, Vater und Sohn, überraschte uns nicht nur die Schönheit und Auswahl der Stufen, sondern auch die hier ganz unerwartete Vollständigkeit.

Ich nenne zuletzt ein Museum, welches in jeder Rücksicht die oberste Stelle verdient und in der Welt kaum zwei oder drei Nebenbuhler hat, die man ihm mit einigem Recht an die Seite setzen kann: das wahrhaft fürstliche Naturaliencabinet des Prinzen von Oranien. Wenn man bedenkt, wie weit die Anlegung einer Sammlung von dieser Art die Kräfte des reichsten Privatmanns übersteigt, wie leicht hingegen ein Fürst auch nur mit mäßigen Einkünften sich statt eines andern Vergnügens dieses Verdienst um die Wissenschaften erwerben kann, und endlich, wie unentbehrlich diese Anhäufungen aller bekannten Erzeugnisse des Erdbodens zur allgemeinen Uebersicht, zur zweckmäßigen Anordnung, zur speciellen Geschichte der einzelnen Naturkörper und folglich zur Vervollkommnung der ersten, unentbehrlichsten unserer Kenntnisse sind: so erstaunt man, wie es möglich ist, daß so viele Privatpersonen den Versuch gewagt haben, sich ein Naturaliencabinet zu sammeln, und daß im ganzen genommen die Potentaten gegen diesen wichtigen Zweig ihrer Pflichten so gleichgültig haben bleiben können. Freilich mag die widersinnige oder, daß ich richtiger schreibe, die negative Erziehung, die man den meisten Fürsten gibt, wol schuld daran sein, daß ihre Begriffe von der Wichtigkeit, dem Nutzen und der Nothwendigkeit der Dinge sehr oft mit denen, die andere vernünftige Menschen darüber hegen, in offenbarem Gegensatz stehen; wie dem auch sei, so trifft der Vorwurf jener Sorglosigkeit keineswegs den hiesigen Hof. Die Pracht, die Seltenheit, die Auswahl, der Aufputz und die sorgfältige Unterhaltung der Naturalien des erbstatthalterischen Cabinets fallen nicht nur beim ersten Anblick auf, sondern die Bewunderung steigt, je länger und genauer man es untersucht. Die Geschenke, welche der Prinz zuweilen von den Gouverneuren der verschiedenen holländischen Besitzungen in Indien erhält, so ansehnlich sie auch sind, verschwinden in der Menge und Mannichfaltigkeit dessen, was für seine Rechnung aus allen Welttheilen hinzugekauft worden ist. Das mühsame Geschäft, ein so berühmt gewordenes Museum an einem von Reisenden so frequentirten Orte täglich vorzuzeigen, würde bald, da es ganz auf Einem Manne ruht, dem überdies die Sorge für die Erhaltung und Vermehrung des Ganzen übertragen ist, die Kräfte dieses Einen erschöpfen, wenn man nicht zwischen dem großen gaffenden Haufen und dem Naturforscher von Profession einen Unterschied machte. Die gewöhnlichen Neugierigen eilen hier, wie im Britischen Museum zu London, in Zeit von zwei Stunden durch die ganze Enfilade von Zimmern. Gelehrte hingegen haben freien Zutritt, so oft und so lange sie wollen; eine Erlaubniß, die man zuweilen mit Unbescheidenheit gemisbraucht hat, der wir aber auch schon die wichtigsten Aufschlüsse, zumal im Fache der Thiergeschichte, verdanken. Hier war es, wo Pallas Peter Simon Pallas, geb. 1741 zu Berlin, gest. daselbst 1811, berühmter Zoolog und Botaniker, bereiste sechs Jahre lang das asiatische Rußland. Anmerkung d. Hg. zuerst den Grund zu seinem nachmaligen Ruhm als Naturforscher legte. Herr Vosmaer führte uns freundschaftlich zu verschiedenen malen in diesem reichen Tempel der Naturwissenschaft umher und zeigte uns auch die neu hinzugekommenen Stücke, die noch nicht an ihrem bestimmten Orte aufgestellt waren, wie z. B. das Skelet eines der größten Krokodile aus dem Nil, und auf dem Boden das Gerippe des Camelopardalis der Alten oder der Giraffe der Neuern, dieses seltsamen Thiers, das mehr einem Traum der Einbildungkraft, als einem Glied in der Naturkette ähnlich sieht und von dessen Trab, wie man sagt, der Springer im Schachspiel seinen Gang entlehnt. Sein ungeheuer langer Hals, der vorzüglich dazu beiträgt, ihm eine Höhe von achtzehn Fuß zu geben, besteht doch nur, wie bei allen vierfüßigen, säugenden Thieren, aus sieben Wirbeln; so streng beobachtet die Natur selbst in ihren excentrischen Gestalten das Gesetz der Analogie. Von dem großen Orang-Utang, wovon Camper blos den Schädel besitzt, enthält das fürstliche Museum das vollständige Gerippe mit ungeheuer langen Armen, wie der bekanntere langarmige Affe (Gibbon, Golok oder Lar). Es wäre thöricht, im Ernst das Merkwürdigste aus einem Cabinet ausheben zu wollen, wo dem Naturforscher alles merkwürdig ist und wo man dem Nichtkenner mit leichter Mühe jedes einzelne Naturproduct von einer wichtigen und interessanten Seite darstellen kann; es wäre unmöglich und ermüdend zugleich, das lange Verzeichniß des ganzen Vorraths abzuschreiben. Genug, das Cabinet, wo man mit Vergnügen die Nashörner und Flußpferde neben dem kleinsten Spitzmäuschen und Colibrichen bemerkt, und wo, des großen schon vorhandenen Reichthums ungeachtet, noch immer für neue Vermehrungen gesorgt wird, verdient in jeder Rücksicht die Aufmerksamkeit des Dilettanten und des Kenners. Die Menagerie des Prinzen im Loo hat den Fehler einer ungesunden Lage und dient daher zu wenig mehr als zur Pflanzschule für das Naturaliencabinet.

Ich könnte Dir jetzt noch etwas von den Versammlungszimmern der Generalstaaten und der hohen Dikasterien im alten Schloß, im Oraniensaal und an andern Orten sagen, wenn ich nicht Vorkehrungen zu unserer Abreise treffen müßte, die noch diese Nacht vorsichgehen soll. Ein wahrer Deus ex machina ist herabgefahren, um die Bande zu lösen, die uns an den Haag gefesselt hielten. Morgen um zwölf Uhr stehen wir auf dem Admiralitätswerft in Amsterdam und sehen den neuen Triton vom Stapel laufen; kaum bleibt uns so viel Zeit, daß wir von jedermann Abschied nehmen und uns über den Schmerz der allzu frühen Trennung beklagen können.



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