Theodor Fontane
Der Stechlin
Theodor Fontane

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Fünfunddreißigstes Kapitel

Um dieselbe Stunde, wo sich die fünf Herren von der Barbyschen Hochzeitstafel entfernt hatten, waren auch Baron Berchtesgaden und Hofprediger Frommel aufgebrochen, so daß sich, außer dem Brautvater, nur noch der alte Stechlin im Hochzeitshause befand. Dieser hatte sich - Melusine war vom Bahnhofe noch nicht wieder da - vom Eßsaal her zunächst in das verwaiste Damenzimmer und von diesem aus auf die Loggia zurückgezogen, um da die Lichter im Strom sich spiegeln zu sehn und einen Zug frische Luft zu tun. An dieser Stelle fand ihn denn auch schließlich der alte Graf und sagte, nachdem er seinem Staunen über den gesundheitlich etwas gewagten Aufenthalt Ausdruck gegeben hatte: »Nun aber, mein lieber Stechlin, wollen wir endlich einen kleinen Schwatz haben und uns näher miteinander bekannt machen. Ihr Zug geht erst zehn ein halb; wir haben also noch beinah anderthalb Stunden.«

Und dabei nahm er Dubslavs Arm, um ihn in sein Wohnzimmer, das bis dahin als Estaminet gedient hatte, hinüberzuführen.

»Erlauben Sie mir«, fuhr er fort, »daß ich zunächst mein halb eingewickeltes und halb eingeschientes Elefantenbein auf einen Stuhl strecke; es hat mich all die Zeit über ganz gehörig gezwickt, und namentlich das Stehen vor dem Altar ist mir blutsauer geworden. Bitte, rücken Sie heran. Es ging während unseres kleinen Diners alles so rasch, und ich wette, Sie sind bei dem Kaffee ganz erheblich zu kurz gekommen. Der Moment, wo das Bier herumgereicht wird, ist in den Augen des modernen Menschen immer das Wichtigste; da wird dann der Kaffeezeit manches abgeknapst.«

Und dabei drückte er auf den Knopf der Klingel.

»Jeserich, noch eine Tasse für Herrn von Stechlin und natürlich einen Cognac oder Curaçao oder lieber die ganze ›Benediktinerabtei‹ - Witz von Cujacius, für den Sie mich also nicht verantwortlich machen dürfen... Leider werde ich Ihnen bei diesem ›zweiten Kaffee‹ nicht Gesellschaft leisten können; ich habe mich schon bei Tische mit einer lügnerisch und bloß anstandshalber in einen Champagnerkübel gestellten Apollinarisflasche begnügen müssen. Aber was hilft es, man will doch nicht auffallen mit all seinen Gebresten.« Dubslav war der Aufforderung des alten Grafen nachgekommen und saß, eine Lampe mit grünem Schirm zwischen sich und ihm, seinem Wirte gerade gegenüber. Jeserich kam mit der Tablette.

»Den Cognac«, fuhr der alte Barby fort, »kann ich Ihnen empfehlen; noch Beziehungen aus Zeiten her, wo man mit einem Franzosen ungeniert sprechen und nach einer guten Firma fragen konnte. Waren Sie siebzig noch mit dabei?«

»Ja, so halb. Eigentlich auch das kaum. Aus meinem Regiment war ich lange heraus. Nur als Johanniter.«

»Ganz wie ich selber.«

»Eine wundervolle Zeit, dieser Winter siebzig«, fuhr Dubslav fort, »auch rein persönlich angesehn. Ich hatte damals das, was mir zeitlebens, wenn auch nicht absolut, so doch mehr als wünschenswert gefehlt hatte: Fühlung mit der großen Welt. Es heißt immer, der Adel gehöre auf seine Scholle, und je mehr er mit der verwachse, desto besser sei es. Das ist auch richtig. Aber etwas ganz Richtiges gibt es nicht. Und so muß ich denn sagen, es war doch was Erquickliches, den alten Wilhelm so jeden Tag vor Augen zu haben. Hab' ihn früher immer nur flüchtig gesehn, aber auch das war schon eine Herzensfreude. Sie nennen ihn jetzt den ›Großen‹ und stellen ihn neben Fridericus Rex. Nun, so einer war er sicherlich nicht, an den reicht er nicht ran. Aber als Mensch war er ihm über, und das gibt, mein' ich, in gewissem Sinne den Ausschlag, wenn auch zur ›Größe‹ noch was anders gehört. Ja, der Alte Fritz! Man kann ihn nicht hoch genug stellen; nur in einem Punkte find' ich trotzdem, daß wir eine falsche Position ihm gegenüber einnehmen, gerade wir vom Adel. Er war nicht so sehr für uns, wie wir immer glauben oder wenigstens nach außen hin versichern. Er war für sich und für das Land oder, wie er zu sagen liebte, ›für den Staat‹. Aber daß wir als Stand und Kaste so recht was von ihm gehabt hätten, das ist eine Einbildung.«

»Überrascht mich, aus Ihrem Munde zu hören.«

»Ist aber doch wohl richtig. Wie lag es denn eigentlich? Wir hatten die Ehre, für König und Vaterland hungern und dursten und sterben zu dürfen, sind aber nie gefragt worden, ob uns das auch passe. Nur dann und wann erfuhren wir, daß wir ›Edelleute‹ seien und als solche mehr ›Ehre‹ hätten. Aber damit war es auch getan. In seiner innersten Seele rief er uns eigentlich genau dasselbe zu wie den Grenadieren bei Torgau. Wir waren Rohmaterial und wurden von ihm mit meist sehr kritischem Auge betrachtet. Alles in allem, lieber Graf, find' ich unser Jahr dreizehn eigentlich um ein Erhebliches größer, weil alles, was geschah, weniger den Befehlscharakter trug und mehr Freiheit und Selbstentschließung hatte. Ich bin nicht für die patentierte Freiheit der Parteiliberalen, aber ich bin doch für ein bestimmtes Maß an Freiheit überhaupt. Und wenn mich nicht alles täuscht, so wird auch in unsern Reihen allmählich der Glaube lebendig, daß wir uns dabei - besonders auch rein praktisch-egoistisch - am besten stehn.«

Der alte Barby freute sich sichtlich dieser Worte. Dubslav aber fuhr fort: »Übrigens, das muß ich sagen dürfen, lieber Graf, Sie wohnen hier brillant an Ihrem Kronprinzenufer; ein entzückender Blick, und Fremde würden vielleicht kaum glauben, daß an unsrer alten Spree so was Hübsches zu finden sei. Die Niederlassungs- und speziell die Wohnungsfrage spielt doch, wo sich's um Glück und Behagen handelt, immer stark mit, und gerade Sie, der Sie so lange draußen waren, werden, ehe Sie hier dies Visavis von unsrer Jungfernheide wählten, nicht ohne Bedenken gewesen sein. In bezug auf die Landschaft gewiß und in bezug auf die Menschen vielleicht.«

»Sagen wir, auch da gewiß. Ich hatte wirklich solche Bedenken. Aber sie sind niedergekämpft. Vieles gefiel mir durchaus nicht, als ich, nach langen, langen Jahren, aus der Fremde wieder nach hier zurückkam, und vieles gefällt mir auch noch nicht. Überall ein zu langsames Tempo. Wir haben in jedem Sinne zu viel Sand um uns und in uns, und wo viel Sand ist, da will nichts recht vorwärts, immer bloß hü und hott. Aber dieser Sandboden ist doch auch wieder tragfähig, nicht glänzend, aber sicher. Er muß nur, und vor allem der moralische, die richtige Witterung haben, also zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein. Und ich glaube, Kaiser Friedrich hätt' ihm diese Witterung gebracht.«

»Ich glaub' es nicht«, sagte Dubslav.

»Meinen Sie, daß es ihm schließlich doch nicht ein rechter Ernst mit der Sache war?«

»O nein, nein. Es war ihm Ernst, ganz und gar. Aber es würd' ihm zu schwer gemacht worden sein. Rund heraus, er wäre gescheitert.«

»Woran?«

»An seinen Freunden vielleicht, an seinen Feinden gewiß. Und das waren die Junker. Es heißt immer, das Junkertum sei keine Macht mehr, die Junker fräßen den Hohenzollern aus der Hand und die Dynastie züchte sie bloß, um sie für alle Fälle parat zu haben. Und das ist eine Zeitlang vielleicht auch richtig gewesen. Aber heut' ist es nicht mehr richtig, es ist heute grundfalsch. Das Junkertum (trotzdem es vorgibt, seine Strohdächer zu flicken, und sie gelegentlich vielleicht auch wirklich flickt), dies Junkertum - und ich bin inmitten aller Loyalität und Devotion doch stolz, dies sagen zu können - hat in dem Kampf dieser Jahre kolossal an Macht gewonnen, mehr als irgendeine andre Partei, die Sozialdemokratie kaum ausgeschlossen, und mitunter ist mir's, als stiegen die seligen Quitzows wieder aus dem Grabe herauf. Und wenn das geschieht, wenn unsre Leute sich auf das besinnen, worauf sie sich seit über vierhundert Jahren nicht mehr besonnen haben, so können wir was erleben. Es heißt immer: ›unmöglich‹. Ah hab, was ist unmöglich? Nichts ist unmöglich. Wer hätte vor dem 18. März den ›l8. März‹ für möglich gehalten, für möglich in diesem echten und rechten Philisternest Berlin! Es kommt eben alles mal an die Reihe; das darf nicht vergessen werden. Und die Armee! Nun ja. Wer wird etwas gegen die Armee sagen? Aber jeder glückliche General ist immer eine Gefahr! Und unter Umständen auch noch andre. Sehen Sie sich den alten Sachsenwalder an, unsren Zivil-Wallenstein. Aus dem hätte schließlich doch Gott weiß was werden können.«

»Und Sie glauben«, warf der Graf hier ein, »an dieser scharfen Quitzow-Ecke wäre Kaiser Friedrich gescheitert?«

»Ich glaub' es.«

»Hm, es läßt sich hören. Und wenn so, so wär' es schließlich ein Glück, daß es nach den neunundneunzig Tagen anders kam und wir nicht vor diese Frage gestellt wurden.«

»Ich habe mit meinem Woldemar, der einen stark liberalen Zug hat (ich kann es nicht loben und mag's nicht tadeln) oft über diese Sache gesprochen. Er war natürlich für Neuzeit, also für Experimente... Nun hat er inzwischen das bessere Teil erwählt, und während wir hier sprechen, ist er schon über Trebbin hinaus. Sonderbar, ich bin nicht allzu viel gereist, aber immer, wenn ich an diesem märkischen Neste vorbeikam, hatt' ich das Gefühl: ›Jetzt wird es besser, jetzt bist du frei.‹ Ich kann sagen, ich liebe die ganze Sandbüchse da herum, schon bloß aus diesem Grunde.«

Der alte Graf lachte behaglich. »Und Trebbin wird sich von dieser Ihrer Schwärmerei nichts träumen lassen. Übrigens haben Sie recht. Jeder lebt zu Hause mehr oder weniger wie in einem Gefängnis und will weg. Und doch bin ich eigentlich gegen das Reisen überhaupt und speziell gegen die Hochzeitsreiserei. Wenn ich so Personen in ein Coupé nach Italien einsteigen sehe, kommt mir immer ein Dankgefühl, dieses ›höchste Glück auf Erden‹ nicht mehr mitmachen zu müssen. Es ist doch eigentlich eine Qual, und die Welt wird auch wieder davon zurückkommen; über kurz oder lang wird man nur noch reisen, wie man in den Krieg zieht oder in einen Luftballon steigt, bloß von Berufs wegen. Aber nicht um des Vergnügens willen. Und wozu denn auch? Es hat keinen rechten Zweck mehr. In alten Zeiten ging der Prophet zum Berge, jetzt vollzieht sich das Wunder und der Berg kommt zu uns. Das Beste vom Parthenon sieht man in London und das Beste von Pergamum in Berlin, und wäre man nicht so nachsichtig mit den lieben, nie zahlenden Griechen verfahren, so könnte man sich (am Kupfergraben) im Laufe des Vormittags in Mykenä und nachmittags in Olympia ergehn.«

»Ganz Ihrer Meinung, teuerster Graf. Aber doch zugleich auch ein wenig betrübt, Sie so dezidiert gegen alle Reiserei zu finden. Ich stand nämlich auf dem Punkte, Sie nach Stechlin hin einzuladen, in meine alte Kate, die meine guten Globsower unentwegt ein ›Schloß‹ nennen.«

»Ja, lieber Stechlin, Ihre ›Kate‹, das ist was andres. Und um Ihnen ganz die Wahrheit zu sagen, wenn Sie mich nicht eingeladen hätten (eigentlich ist es ja noch nicht geschehn, aber ich greife bereits vor), so hätt' ich mich bei Ihnen angemeldet. Das war schon lange mein Plan.«

In diesem Augenblicke ging draußen die Klingel. Es war Melusine.

»Bringe den Vätern, respektive Schwiegervätern allerschönste Grüße. Die Kinder sind jetzt mutmaßlich schon über Wittenberg, die große Luther- beziehungsweise Apfelkuchenstation, hinaus, und in weniger als zwei Stunden fahren sie in den Dresdener Bahnhof ein. O diese Glücklichen! Und dabei verwett' ich mich, Armgard hat bereits Sehnsucht nach Berlin zurück. Vielleicht sogar nach mir.«

»Kein Zweifel«, sagte Dubslav. Die Gräfin selbst aber fuhr fort: »Ehe man nämlich ganz Abschied von dem alten Leben nimmt, sehnt man sich noch einmal gründlich danach zurück. Freilich, Schwester Armgard wird weniger davon empfinden als andere. Sie hat eben den liebenswürdigsten und besten Mann, und ich könnt' ihn ihr beinah beneiden, trotzdem ich noch im Abschiedsmoment einen wahren Schreck kriegte, als ich ihn sagen hörte, daß er morgen vormittag mit ihr vor die Sixtinische Madonna treten wolle. Worte, bei denen er noch dazu wie verklärt aussah. Und das find' ich einfach unerhört. Warum, werden Sie mich vielleicht fragen. Nun denn, weil es erstens eine Beleidigung ist, sich auf eine Madonna so extrem zu freuen, wenn man eine Braut oder gar eine junge Frau zur Seite hat, und zweitens, weil dieser geplante Galeriebesuch einen Mangel an Disposition und Ökonomie bedeutet, der mich für Woldemars ganze Zukunft besorgt machen kann. Diese Zukunft liegt doch am Ende nach der agrarischen Seite hin, und richtige ›Dispositionen‹ bedeuten in der Landwirtschaft so gut wie alles.«

Der alte Graf wollte widersprechen, aber Melusine ließ es nicht dazu kommen und fuhr ihrerseits fort: »Jedenfalls - das ist nicht wegzudisputieren - fährt unser Woldemar jetzt in das Land der Madonnen hinein und will da mutmaßlich mit leidlich frischen Kräften antreten; wenn er sich aber schon in Deutschland etappenweise vertut, so wird er, wenn er in Rom ist, wohl sein Programm ändern und im Café Cavour eine Berliner Zeitung lesen müssen, statt nebenan im Palazzo Borghese Kunst zu schwelgen. Ich sage mit Vorbedacht: eine Berliner Zeitung, denn wir werden jetzt Weltstadt und wachsen mit unserer Presse schon über Charlottenburg hinaus... Übrigens läßt, wie das junge Paar, so auch die Baronin bestens grüßen. Eine reizende Frau, Herr von Stechlin, die grad Ihnen ganz besonders gefallen würde. Glaubt eigentlich gar nichts und geriert sich dabei streng katholisch. Das klingt widersinnig und ist doch richtig und reizend zugleich. All die Süddeutschen sind überhaupt viel netter als wir, und die nettesten, weil die natürlichsten, sind die Bayern.«


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