Theodor Fontane
Der Stechlin
Theodor Fontane

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Verlobung - Weihnachtsreise nach Stechlin

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Drei Tage später war Woldemar zurück und meldete sich für den nächsten Abend am Kronprinzenufer an. Er traf nur die beiden Damen, die, Melusine voran, kein Hehl aus ihrer Freude machten. »Papa läßt Ihnen sein Bedauern aussprechen, Sie nicht gleich heute mitbegrüßen zu können. Er ist bei den Berchtesgadens zur Spielpartie, bei der er natürlich nicht fehlen durfte. Das ist ›Dienst‹, weit strenger als der Ihrige. Wir haben Sie nun ganz allein, und das ist auch etwas Gutes. An Besuch ist kaum zu denken; Rex war erst gestern auf eine kurze Visite hier, etwas steif und formell wie gewöhnlich, und mit Ihrem Freunde Czako haben wir letzten Sonnabend eine Stunde verplaudern können. Wrschowitz war an demselben Abend auch da; beide treffen sich jetzt öfter und vertragen sich besser, als ich bei Beginn der Bekanntschaft dachte. Wer also sollte noch kommen?... Und nun setzen Sie sich, um Ihr Reisefüllhorn über uns auszuschütten; - die Füllhörner, die jetzt Mode sind, sind meist Bonbontüten, und genau so was erwart' ich auch von Ihnen. Sie sollten mir in einem Briefe von den Engländerinnen schreiben. Aber wer darüber nicht schrieb, das waren Sie, wenn wir uns auch entschließen wollen, Ihr Telegramm für voll anzusehn.« Und dabei lachte Melusine. »Vielleicht haben Sie uns in unsrer Eitelkeit nicht kränken wollen. Aber offen Spiel ist immer das beste. Wovon Sie nicht geschrieben, davon müssen Sie jetzt sprechen. Wie war es drüben? Ich meine mit der Schönheit.«

»Ich habe nichts einzelnes gesehn, was mich frappiert oder gar hingerissen hätte.«

»Nichts einzelnes. Soll das heißen, daß Sie dafür das Ganze beinah bewundert haben, will also sagen, die weibliche Totalität?«

»Fast könnt' ich dem zustimmen. Ich erinnere mich, daß mir vor Jahr und Tag schon ein Freund einmal sagte, ›in der ganzen Welt fände man, Gott sei Dank, schöne Frauen, aber nur in England seien die Frauen überhaupt schön‹.«

»Und das haben Sie geglaubt?«

»Es liegt eigentlich schlimmer, gnädigste Gräfin. Ich hab' es nicht geglaubt; aber ich hab' es, meinem Nichtglauben zum Trotz, nachträglich bestätigt gefunden.«

»Und Sie schaudern nicht vor solcher Übertreibung?«

»Ich kann es nicht, so sehr ich gerade hier eine Verpflichtung dazu fühle...«

»Keine Bestechungen.«

»Ich soll schaudern vor einer Übertreibung«, fuhr Woldemar fort. »Aber Sie werden mir, Frau Gräfin, dies Schaudern vielleicht erlassen, wenn ich Erklärungen abgegeben haben werde. Der Englandschwärmer, den ich da vorhin zitierte, war ein Freund von zugespitzten Sätzen, und zugespitzte Sätze darf man nie wörtlich nehmen. Und am wenigsten auf diesem diffizilen Gebiete. Nirgends in der Welt blühen Schönheiten wie die gelben Butterblumen übers Feld hin; wirkliche Schönheiten sind schließlich immer Seltenheiten. Wären sie nicht selten, so wären sie nicht schön, oder wir fänden es nicht, weil wir einen andern Maßstab hätten. All das steht fest. Aber es gibt doch Durchschnittsvorzüge, die den Typus des Ganzen bestimmen, und diesem Maße nicht geradezu frappierender, aber doch immerhin noch sehr gefälliger Durchschnittsschönheit, dem bin ich drüben begegnet.«

»Ich lass' es mit dieser Einschränkung gelten, und Sie werden in Papa, mit dem wir oft darüber streiten, einen Anwalt für Ihre Meinung finden. Durchschnittsvorzüge. Zugegeben. Aber was sich darin ausspricht, das beinah Unpersönliche, das Typische...«

Melusine schrak in diesem Augenblick leise zusammen, weil sie draußen die Klingel gehört zu haben glaubte. Wirklich, Jeserich trat ein und meldete: Professor Cujacius. »Um Gottes willen«, entfuhr es der Gräfin, und die kleine Pause benutzend, die ihr noch blieb, flüsterte sie Woldemar zu: »Cujacius... Malerprofessor. Er wird über Kunst sprechen; bitte, widersprechen Sie ihm nicht, er gerät dabei so leicht in Feuer oder in mehr als das.« Und kaum, daß Melusine soweit gekommen war, erschien auch schon Cujacius und schritt unter rascher Verbeugung gegen Armgard auf die Gräfin zu, dieser die Hand zu küssen. Sie hatte sich inzwischen gesammelt und stellte vor: »Professor Cujacius... Rittmeister von Stechlin.« Beide verneigten sich gegeneinander, Woldemar ruhig, Cujacius mit dem ihm eignen superioren Apostelausdruck, der, wenn auch ungewollt, immer etwas Provozierendes hatte. »Bin«, so ließ er sich mit einer gewissen Kondeszenz vernehmen, »durch Gräfin Melusine ganz auf dem laufenden. Abordnung, England, Windsor. Ich habe Sie beneidet, Herr Rittmeister. Eine so schöne Reise.«

»Ja, das war sie, nur leider zu kurz, so daß ich intimeren Dingen, beispielsweise der englischen Kunst, nicht das richtige Maß von Aufmerksamkeit widmen konnte.«

»Worüber Sie sich getrösten dürfen. Was ich persönlich an solcher Reise jedem beneiden möchte, das sind ausschließlich die großen Gesamteindrücke, der Hof und die Lords, die die Geschichte des Landes bedeuten.«

»All das war auch mir die Hauptsache, mußt' es sein. Aber ich hätte mich dem ohnerachtet auch gern um Künstlerisches gekümmert, speziell um Malerisches. So zum Beispiel um die Schule der Präraffaeliten.«

»Ein überwundener Standpunkt. Einige waren da, deren Auftreten auch von uns (ich spreche von den Künstlern meiner Richtung) mit Aufmerksamkeit und selbst mit Achtung verfolgt wurde. So beispielsweise Millais...«

»Ah, der. Sehr wahr. Ich erinnere mich seines bedeutendsten Bildes, das leider nach Amerika hin verkauft wurde. Wenn ich nicht irre, zu einem enormen Preise.«

Cujacius nickte. »Mutmaßlich das vielgefeierte ›Angelusbild‹, was Ihnen vorschwebt, Herr Rittmeister, eine von Händlern heraufgepuffte Marktware, für die Sie glücklicherweise den englischen Millais, will also sagen, den › ais‹-Millais, nicht verantwortlich machen dürfen. Der Millet, der für eine, wie Sie schon bemerkten, lächerlich hohe Summe nach Amerika hin verkauft wurde, war ein › et‹-Millet, Vollblutpariser oder wenigstens Franzose.«

Woldemar geriet über diese Verwechslung in eine kleine Verlegenheit, die Damen mit ihm, alles sehr zur Erbauung des Professors, dessen rasch wachsendes Überlegenheitsgefühl unter dem Eindruck dieses Fauxpas immer neue Blüten übermütiger Laune trieb. »Im übrigen sei mir's verziehen«, fuhr er, immer leuchtender werdend, fort, »wenn ich mein Urteil über beide kurz dahin zusammenfasse: ›Sie sind einander wert‹, und die zwei großen westlichen Kulturvölker mögen sich darüber streiten, wer von ihnen am meisten genasführt wurde. Der französische Millet ist eine Null, ein Zwerg, neben dem der englische vergleichsweise zum Riesen anwächst, wohlverstanden vergleichsweise. Trotzdem, wie mir gestattet sein mag zu wiederholen, war er zu Beginn seiner Laufbahn ein Gegenstand unsrer hiesigen Aufmerksamkeit. Und mit Recht. Denn das Präraffaelitentum, als dessen Begründer und Vertreter ich ihn ansehe, trug damals einen Zukunftskeim in sich; eine große Revolution schien sich anbahnen zu wollen, jene große Revolution, die Rückkehr heißt. Oder wenn Sie wollen, ›Reaktion‹. Man hat vor solchen Wörtern nicht zu erschrecken. Wörter sind Kinderklappern.«

»Und dieser englische Millais - den mit dem französischen verwechselt zu haben ich aufrichtig bedaure -, dieser › ais‹-Millais, dieser große Reformer, ist, wenn ich Sie recht verstehe, sich selber untreu geworden.«

»Man wird dies sagen dürfen. Er und seine Schule verfielen in Exzentrizitäten. Die Zucht ging verloren, und das straft sich auf jedem Gebiet. Was da neuerdings in der Welt zusammengekleckst wird, zumal in der schottischen und amerikanischen Schule, die sich jetzt auch bei uns breitzumachen sucht, das ist der Überschwang einer an sich beachtenswerten Richtung. Der Zug, der unter Mitteldampf gut und erfreulich fuhr, unter Doppeldampf (und das reicht noch nicht einmal aus) ist er entgleist; er liegt jetzt neben den Schienen und pustet und keucht. Und ein Jammer nur, daß seine Heizer nicht mit auf dem Platze geblieben sind. Das ist der Fluch der bösen Tat... ich verzichte darauf, in Gegenwart der Damen das Zitat zu Ende zu führen.«

Eine kleine Pause trat ein, bis Woldemar, der einsah, daß irgendwas gesagt werden müsse, sich zu der Bemerkung aufraffte: »Von Neueren hab' ich eigentlich nur Seestücke kennengelernt; dazu die Phantastika des Malers William Turner, leider nur flüchtig. Er hat die ›drei Männer im feurigen Ofen‹ gemalt. Stupend. Etwas Großartiges schien mir aus seinen Schöpfungen zu sprechen, wenigstens in allem, was das Kolorit angeht.«

»Eine gewisse Großartigkeit«, nahm Cujacius mit lächelnd überlegener Miene wieder das Wort, »ist ihm nicht abzusprechen. Aber aller Wahnsinn wächst sich leicht ins Großartige hinein und düpiert dann regelmäßig die Menge. Mundus vult decipi. Allem vorauf in England. Es gibt nur ein Heil: Umkehr, Rückkehr zur keuschen Linie. Die Koloristen sind das Unglück in der Kunst. Einige wenige waren hervorragend, aber nicht parceque, sondern quoique. Noch heute wird es mir obliegen, in unserm Verein über eben dieses Thema zu sprechen. Gewiß unter Widerspruch, vielleicht auch unter Lärm und Gepolter; denn mit den richtigen Linien in der Kunst sind auch die richtigen Formen in der Gesellschaft verloren gegangen. Aber viel Feind, viel Ehr, und jede Stelle verlangt heutzutage ihren Mann von Worms, ihren Luther. ›Hier stehe ich.‹ Am elendesten aber sind die paktierenwollenden Halben. Zwischen schön und häßlich ist nicht zu paktieren.«

»Und schön und häßlich«, unterbrach hier Melusine (froh, überhaupt unterbrechen zu können), »war auch die große Frage, die wir, als wir Sie begrüßen durften, eben unter Diskussion stellten. Herr von Stechlin sollte beichten über die Schönheit der Engländerinnen. Und nun frag' ich Sie, Herr Professor, finden auch Sie sie so schön, wie einem hierlandes immer versichert wird?«

»Ich spreche nicht gern über Engländerinnen«, fuhr Cujacius fort. »Etwas von Idiosynkrasie beherrscht mich da. Diese Töchter Albions, sie singen so viel und musizieren so viel und malen so viel. Und haben eigentlich kein Talent.«

»Vielleicht. Aber davon dürfen Sie jetzt nicht sprechen. Bloß das eine: schön oder nicht schön?«

»Schön? Nun denn, ›nein‹. Alles wirkt wie tot. Und was wie tot wirkt, wenn es nicht der Tod selbst ist, ist nicht schön. Im übrigen, ich sehe, daß ich nur noch zehn Minuten habe. Wie gerne wär' ich an einer Stelle geblieben, wo man so vielem Verständnis und Entgegenkommen begegnet. Herr von Stechlin, ich erlaube mir, Ihnen morgen eine Radierung nach einem Bilde des richtigen englischen Millais zu schicken. Dragonerkaserne, Hallesches Tor - ich weiß. Übermorgen lass' ich die Mappe wieder abholen. Name des Bildes. ›Sir Isumbras‹. Merkwürdige Schöpfung. Schade, daß er, der Vater des Präraffaelitentums, dabei nicht aushielt. Aber nicht zu verwundern. Nichts hält jetzt aus, und mit nächstem werden wir die Berühmtheiten nach Tagen zählen. Tizian entzückte noch mit hundert Jahren; wer jetzt fünf Jahre gemalt hat, ist altes Eisen. Gnädigste Gräfin, Komtesse Armgard... Darf ich bitten, mich meinem Gönner, Ihrem Herrn Vater, dem Grafen, angelegentlichst empfehlen zu wollen.«

Woldemar, die Honneurs des Hauses machend, was er bei seiner intimen Stellung durfte, hatte den Professor bis auf den Korridor geleitet und ihm hier den Künstlermantel umgegeben, den er, in unverändertem Schnitt, seit seinen Romtagen trug. Es war ein Radmantel. Dazu ein Kalabreser von Seidenfilz.

»Er ist doch auf seine Weise nicht übel«, sagte Woldemar, als er bei den Damen wieder eintrat. »An einem starken Selbstbewußtsein, dran er wohl leidet, darf man heutzutage nicht Anstoß nehmen, vorausgesetzt, daß die Tatsachen es einigermaßen rechtfertigen.«

»Ein starkes Selbstbewußtsein ist nie gerechtfertigt«, sagte Armgard, »Bismarck vielleicht ausgenommen. Das heißt also in jedem Jahrhundert einer.«

»Wonach Cujacius günstigstenfalls der zweite wäre«, lachte Woldemar. »Wie steht es eigentlich mit ihm? Ich habe nie von ihm gehört, was aber nicht viel besagen will, namentlich nachdem ich Millais und Millet glücklich verwechselt habe. Nun geht alles so in einem hin. Ist er ein Mann, den ich eigentlich kennen müßte?«

»Das hängt ganz davon ab«, sagte Melusine, »wie Sie sich einschätzen. Haben Sie den Ehrgeiz, nicht bloß den eigentlichen alten Giotto von Florenz zu kennen, sondern auch all die Giottinos, die neuerdings in Ostelbien von Rittergut zu Rittergut ziehn, um für Kunst und Christentum ein übriges zu leisten, so müssen Sie Cujacius freilich kennen. Er hat da die große Lieferung; ist übrigens lange nicht der Schlimmste. Selbst seine Gegner, und er hat deren ein gerüttelt und geschüttelt Maß, gestehen ihm ein hübsches Talent zu; nur verdirbt er alles durch seinen Dünkel. Und so hat er denn keine Freunde, trotzdem er beständig von Richtungsgenossen spricht und auch heute wieder sprach. Gerade diese Richtungsgenossen aber hat er aufs entschiedenste gegen sich, was übrigens nicht bloß an ihm, sondern auch an den Genossen liegt. Gerade die, die dasselbe Ziel verfolgen, bekämpfen sich immer am heftigsten untereinander, vor allem auf christlichem Gebiet, auch wenn es sich nicht um christliche Dogmen, sondern bloß um christliche Kunst handelt. Zu des Professors Lieblingswendungen zählt die, daß er ›in der Tradition stehe‹, was ihm indessen nur Spott und Achselzucken einträgt. Einer seiner Richtungsgenossen - als ob er mich persönlich dafür hätte verantwortlich machen wollen - fragte mich erst neulich voll ironischer Teilnahme: ›Steht denn Ihr Cujacius immer noch in der Tradition?‹ Und als ich ihm antwortete: ›Sie spötteln darüber, hat er denn aber keine?‹, bemerkte dieser Spezialkollege: ›Gewiß hat er eine Tradition, und das ist seine eigne. Seit fünfundvierzig Jahren malt er immer denselben Christus und bereist als Kunst-, aber fast auch schon als Kirchenfanatiker die ihm unterstellten Provinzen, so daß man betreffs seiner beinah sagen kann: ›Es predigt sein Christus allerorten, ist aber drum nicht schöner geworden.‹‹«

»Melusine, du darfst so nicht weitersprechen«, unterbrach hier Armgard. »Sie wissen übrigens, Herr von Stechlin, wie's hier steht, und daß ich meine ältere Schwester, die mich erzogen hat (hoffentlich gut), jetzt nachträglich mitunter meinerseits erziehen muß.« Dabei reichte sie Melusine die Hand. »Eben erst ist er fort, der arme Professor, und jetzt schon so schlechte Nachrede. Welchen Trost soll sich unser Freund Stechlin daraus schöpfen? Er wird denken: heute dir, morgen mir.«

»Du sollst in allem recht haben, Armgard, nur nicht in diesem letzten. Schließlich weiß doch jeder, was er gilt, ob er geliebt wird oder nicht, vorausgesetzt, daß er ein Gentleman und nicht ein Gigerl ist. Aber Gentleman. Da hab' ich wieder die Einhakeöse für England. Das Schönheitskapitel ist erledigt, war ohnehin nur Caprice. Von all dem andern aber, das schließlich doch wichtiger ist, wissen wir noch immer so gut wie gar nichts. Wie war es im Tower? Und hab' ich recht behalten mit Traitors-Gate?«

»Nur in einem Punkt, Gräfin, in Ihrem Mißtrauen gegen meine Phantasie. Die versagte da total, wenn es nicht doch vielleicht an der Sache selbst, also an Traitors-Gate, gelegen hat. Denn an einer anderen Stelle konnt' ich mich meiner Phantasie beinah berühmen und am meisten da, wo (wie mir übrigens nur zu begreiflich) auch Sie persönlich mit so viel Vorliebe verweilt haben.«

»Und welche Stelle war das?«

»Waltham-Abbey.«

»Waltham-Abbey? Aber davon weiß ich ja gar nichts. Waltham-Abbey kenn' ich nicht, kaum dem Namen nach.«

»Und doch weiß ich bestimmt, daß mir Ihr Herr Papa gerade am Abend vor meiner Abreise sagte: ›Das muß Melusine wissen; die weiß ja dort überall Bescheid und kennt, glaub' ich, Waltham-Abbey besser als Treptow oder Stralau.‹«

»So bilden sich Renommees«, lachte Melusine. »Der Papa hat das auf gut Glück hin gesagt, hat bloß ein beliebiges Beispiel herausgegriffen. Und nun diese Tragweite! Lassen wir das aber und sagen Sie mir lieber: Was ist Waltham-Abbey? Und wo liegt es?«

»Es liegt ganz in der Nähe von London und ist eine Nachmittagsfahrt, etwa wie wenn man das Mausoleum in Charlottenburg besucht oder das in der Potsdamer Friedenskirche.«

»Hat es denn etwas von einem Mausoleum?«

»Ja und nein. Der Denkstein fehlt, aber die ganze Kirche kann als ein Denkmal gelten.«

»Als ein Denkmal für wen?«

»Für König Harald.«

»Für den, den Editha Schwanenhals auf dem Schlachtfelde von Hastings suchte?«

»Für denselben.«

»Ich habe während meiner Londoner Tage das Bild von Horace Vernet gesehn, das den Moment darstellt, wo die schöne Col de Cygne zwischen den Toten umherirrt. Und ich erinnre mich auch, daß zwei Mönche neben ihr herschritten. Aber weiter weiß ich nichts. Und am wenigsten weiß ich, was daraus wurde.«

»Was daraus wurde, - das ist eben der Schlußakt des Dramas. Und dieser Schlußakt heißt Waltham-Abbey. Die Mönche, deren Sie sich erinnern und die da neben Editha herschritten, das waren Waltham-Abbey-Mönche, und als sie schließlich gefunden hatten, was sie suchten, legten sie den König auf dichtes Baumgezweig und trugen ihn den weiten Weg bis nach Waltham-Abbey zurück. Und da begruben sie ihn.«

»Und die Stätte, wo sie ihn begruben, die haben Sie besucht?«

»Nein, nicht sein Grab; das existiert nicht. Man weiß nur, daß man ihn dort überhaupt begrub. Und als ich da, die Sonne ging eben unter, in einem uralten Lindengange stand, zwischen Grabsteinen links und rechts, und das Abendläuten von der Kirche her begann, da war es mir, als käme wieder der Zug mit den Mönchen den Lindengang herauf, und ich sah Editha und sah auch den König, trotzdem ihn die Zweige halb verdeckten. Und dabei (wenn auch eigentlich der Papa schuld ist und nicht Sie, Gräfin) gedacht' ich Ihrer in alter und neuer Dankbarkeit.«

»Und daß Sie mich besiegt haben. Aber das sage nur ich. Sie sagen es natürlich nicht, denn Sie sind nicht der Mann, sich eines Sieges zu rühmen, noch dazu über eine Frau. Waltham-Abbey kenn' ich nun, und an Ihre Phantasie glaub' ich von heut' an, trotzdem Sie mich mit Traitors-Gate im Stiche gelassen. Daß Sie nebenher noch, und zwar Armgard zu Ehren, in Martins le Grand waren, dessen bin ich sicher und ebenso, daß Sie Papas einzige Forderung erfüllt und der Kapelle Heinrichs VII. Ihren Besuch gemacht haben, diesem Wunderwerk der Tudors. Welchen Eindruck hatten Sie von der Kapelle?«

»Den denkbar großartigsten. Ich weiß, daß man die herabhängenden Trichter, die sie ›Tromben‹ nennen, unschön gefunden hat, aber ästhetische Vorschriften existieren für mich nicht. Was auf mich wirkt, wirkt. Ich konnte mich nicht satt sehen daran. Trotzdem, das Eigentlichste war doch noch wieder ein andres und kam erst, als ich da zwischen den Sarkophagen der beiden feindlichen Königinnen stand. Ich wüßte nicht, daß etwas je so beweglich und eindringlich zu mir gepredigt hätte wie gerade diese Stelle.«

»Und was war es, was Sie da so bewegte?«

»Das Gefühl: ›zwischen diesen beiden Gegensätzen pendelt die Weltgeschichte.‹ Zunächst freilich scheinen wir da nur den Gegensatz zwischen Katholizismus und Protestantismus zu haben, aber weit darüber hinaus (weil nicht an Ort und Zeit gebunden) haben wir bei tiefergehender Betrachtung den Gegensatz von Leidenschaft und Berechnung, von Schönheit und Klugheit. Und das ist der Grund, warum das Interesse daran nicht ausstirbt. Es sind große Typen, diese feindlichen Königinnen.«

Beide Schwestern schwiegen. Dann sagte Melusine, der daran lag, wieder ins Heitere hinüber zu lenken: »Und nun, Armgard, sage, für welche von den beiden Königinnen bist du?«

»Nicht für die eine und nicht für die andre. Nicht einmal für beide. Gewiß sind es Typen. Aber es gibt andre, die mir mehr bedeuten, und, um es kurz zu sagen, Elisabeth von Thüringen ist mir lieber als Elisabeth von England. Andern leben und der Armut das Brot geben - darin allein ruht das Glück. Ich möchte, daß ich mir das erringen könnte. Aber man erringt sich nichts. Alles ist Gnade.«

»Du bist ein Kind«, sagte Melusine, während sie sich mühte, ihrer Bewegung Herr zu werden. »Du wirst noch Unter den Linden für Geld gezeigt werden. Auf der einen Seite ›die Mädchen von Dahomey‹, auf der andern du.«

Stechlin ging. Armgard gab ihm das Geleit bis auf den Korridor. Es war eine Verlegenheit zwischen beiden, und Woldemar fühlte, daß er etwas sagen müsse. »Welche liebenswürdige Schwester Sie haben.«

Armgard errötete. »Sie werden mich eifersüchtig machen.«

»Wirklich, Komtesse?«

»Vielleicht... Gute Nacht.«

 

Eine halbe Stunde später saß Melusine neben dem Bett der Schwester, und beide plauderten noch. Aber Armgard war einsilbig, und Melusine bemerkte wohl, daß die Schwester etwas auf dem Herzen habe.

»Was hast du, Armgard? Du bist so zerstreut, so wie abwesend.«

»Ich weiß es nicht, aber ich glaube fast...«

»Nun was?«

»Ich glaube fast, ich bin verlobt.«


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