Theodor Fontane
Der Stechlin
Theodor Fontane

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierunddreißigstes Kapitel

Unter den Hochzeitsgästen hatte sich, wie schon kurz erwähnt, auch ein Doktor Pusch befunden, ein gewandter und durchaus weltmännisch wirkender Herr mit gepflegtem, aber schon angegrautem Backenbart. Er war vor etwa fünfundzwanzig Jahren an der Assessorecke gescheitert und hatte damals nicht Lust gehabt, sich ein zweites Mal in die Zwickmühle nehmen zu lassen. »Das Studium der Juristerei ist langweilig und die Karriere hinterher miserabel« so war er denn als Korrespondent für eine große rheinische Zeitung nach England gegangen und hatte sich dort auf der deutschen Botschaft einzuführen gewußt. Das ging so durch Jahre. Ziemlich um dieselbe Zeit aber, wo der alte Graf seine Londoner Stellung aufgab, war auch Doktor Pusch wieder flügge geworden und hatte sich nach Amerika hinüber begeben. Er fand indessen das Freie dort freier, als ihm lieb war, und kehrte sehr bald, nachdem er es erst in Newyork, dann in Chikago versucht hatte, nach Europa zurück. Und zwar nach Deutschland. »Wo soll man am Ende leben?« Unter dieser Betrachtung nahm er schließlich in Berlin wieder seinen Wohnsitz. Er war ungeniert von Natur und ein klein wenig überheblich. Als wichtigstes Ereignis seiner letzten sieben Jahre galt ihm sein Übertritt vom Pilsener zum Weihenstephan. »Sehen Sie, meine Herren, vom Weihenstephan zum Pilsener, das kann jeder; aber das Umgekehrte, das ist was. Chinesen werden christlich, gut. Aber wenn ein Christ ein Chinese wird, das ist doch immer noch eine Sache von Belang.«

Pusch, als er sich in Berlin niederließ, hatte sich auch bei den Barbys wieder eingeführt; Melusine entsann sich seiner noch, und der alte Graf war froh, die zurückliegenden Zeiten wieder durchsprechen und von Sandringham und Hatfieldhouse, von Chatsworth und Pembroke-Lodge plaudern zu können. Eigentlich paßte der etwas weitgehende Ungeniertheitston, in dem der Doktor seiner Natur wie seiner Newyorker Schulung nach zu sprechen liebte, nicht sonderlich zu den Gepflogenheiten des alten Grafen; aber es lag doch auch wieder ein gewisser Reiz darin, ein Reiz, der sich noch verdoppelte durch das, was Pusch aus aller Welt Enden mitzuteilen wußte. Brillanter Korrespondent, der er war, unterhielt er Beziehungen zu den Ministerien und, was fast noch schwerer ins Gewicht fiel, auch zu den Gesandtschaften. Er hörte das Gras wachsen. Auf Titulaturen ließ er sich nicht ein; die vielen Telegramme hatten einen gewissen allgemeinen Telegrammstil in ihm gezeitigt, dessen er sich nur entschlug, wenn er ins Ausmalen kam. Es war im Zusammenhang damit, daß er gegen Worte wie: »Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat« einen förmlichen Haß unterhielt. Herzog von Ujest oder Herzog von Ratibor waren ihm, trotz ihrer Kürze, immer noch zu lang, und so warf er denn statt ihrer einfach mit »Hohenlohes« um sich. In der Tat, er hatte mancherlei Schwächen. Aber diese waren doch auch wieder von ebenso vielen Tugenden begleitet. So beispielsweise sah er über alles, was sich an Liebesgeschichten ereignete, mit einer beinah vornehmen Gleichgültigkeit hinweg, was manchem sehr zupaß kam. Ob dies Drüberhinsehn bloß Geschäftsmaxime war oder ob er all dergleichen einfach alltäglich und deshalb mehr oder weniger langweilig fand, war nicht recht festzustellen; er kultivierte dafür mit Vorliebe das Finanzielle, vielleicht davon ausgehend, daß, wer die Finanzen hat, auch selbstverständlich alles andere hat, besonders die Liebe.

Das war Dr. Pusch. Er schloß sich, als man aufbrach, einer Gruppe von Personen an, die den »angerissenen Abend« noch in einem Lokal verbringen wollten.

»Ja, wo?«

»Natürlich Siechen.«

»Ach, Siechen. Siechen ist für Philister.«

»Nun denn also, beim ›schweren Wagner‹.«

»Noch philiströser. Ich bin für Weihenstephan.«

»Und ich für Pilsener.«

Man einigte sich schließlich auf ein Lokal in der Friedrichstraße, wo man beides haben könne.

Die Herren, die dahin aufbrachen, waren außer Pusch noch der junge Baron Planta, dann Cujacius und Wrschowitz und abschließend Premierleutnant von Szilagy, der, wie schon angedeutet, früher bei den Gardedragonern gestanden, aber wegen einer großen Generalbegeisterung für die Künste, das Malen und Dichten obenan, schon vor etlichen Jahren seinen Abschied genommen hatte. Mit seinen Genrebildern war er nicht recht von der Stelle gekommen, weshalb er sich neuerdings der Novellistik zugewandt und einen Sammelband unter dem bescheidenen Titel »Bellis perennis« veröffentlicht hatte. Lauter kleine Liebesgeschichten.

Alle fünf Herren, mit alleiniger Ausnahme des jungen Graubündner Barons, erwiesen sich von Anfang an als ziemlich aufgeregt, und jeder ihnen Zuhörende hätte sofort das Gefühl haben müssen, daß hier viel Explosionsstoff aufgehäuft sei. Trotzdem ging es zunächst gut; Wrschowitz hielt sich in Grenzen, und selbst Cujacius, der nicht gern anderen das Wort ließ, freute sich über Puschs Schwadronage, vielleicht weil er nur das heraushörte, was ihm gerade paßte.

Leutnant von Szilagy - man kam vom Hundertsten aufs Tausendste - wurde bei den Fragen, die hin- und hergingen, von ungefähr auch nach seinem Novellenbande gefragt und ob er Freude daran gehabt habe.

»Nein, meine Herren«, sagte Szilagy, »das kann ich leider nicht sagen. Ich habe ›Bellis perennis‹ auf eigne Kosten herstellen lassen und hundertzehn Rezensionsexemplare verschickt, unter Beilegung eines Zettels; der ist denn auch von einigen Zeitungen abgedruckt worden, aber nur von ganz wenigen. Im übrigen schweigt die Kritik.«

»Oh, Krittikk«, sagte Wrschowitz. »Ich liebe Krittikk. Aber gutte Krittikk schweigt.«

»Und doch«, fuhr Szilagy fort, der sich in dem etwas delphischen Ausspruch des guten Wrschowitz nicht gleich zurechtfinden konnte, »doch sind diese schmerzlichen Gefühle nichts gegen das, was voraufgegangen. Ich unterhielt nämlich vor Erscheinen des Buches selbst die Hoffnung in mir, einige dieser kleinen Arbeiten in einem Parteiblatt und, als dies mißlang, in einem Familienjournal unterbringen zu können. Aber ich scheiterte...«

»Ja, natürlich scheiterten Sie«, sagte Pusch, »das spricht für Sie. Lassen Sie sich sagen und raten, denn ich weiß in diesen Dingen einigermaßen Bescheid. War nämlich drüben, ja ich darf beinah sagen, ich war doppelt drüben, erst drüben in England und dann drüben in Amerika. Da versteht man's. Ja, du lieber Himmel, dies bedruckte Löschpapier! Man lebt davon, und es regiert eigentlich die Welt. Aber, aber... Und dabei, wenn ich recht gehört habe, sprachen Sie von Parteiblatt - furchtbar. Und dann sprachen Sie von Familienjournal - zweimal furchtbar!«

»Haben Sie selbst Erfahrungen gemacht auf diesem schwierigen Gebiete?«

»Nein, Herr von Szilagy, so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. Aber ich treibe mein Wesen über dem Strich, und wenn man so Wand an Wand wohnt, da weiß man doch einigermaßen, wie's bei dem Nachbar aussieht. Ach, und außerdem, wie so mancher hat mir sein Herz ausgeschüttet und mir dabei seine liebe Not geklagt! Wer's nicht leicht nimmt, der ist verloren. Roman, Erzählung, Kriminalgeschichte. Jeder, der der großen Masse genügen will, muß ein Loch zurückstecken. Und wenn er das redlich getan hat, dann immer noch eins. Es gibt eine Normalnovelle. Etwa so: tiefverschuldeter adeliger Assessor und ›Sommerleutnant‹ liebt Gouvernante von stupender Tugend, so stupende, daß sie, wenn geprüft, selbst auf diesem schwierigsten Gebiete bestehen würde. Plötzlich aber ist ein alter Onkel da, der den halb entgleisten Neffen an eine reiche Cousine standesgemäß zu verheiraten wünscht. Höhe der Situation! Drohendster Konflikt. Aber in diesem bedrängten Moment entsagt die Cousine nicht nur, sondern vermacht ihrer Rivalin auch ihr Gesamtvermögen. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch... Ja, Herr von Szilagy, wollen Sie damit konkurrieren?«

Alles stimmte zu; nur Baron Planta meinte: »Doktor Pusch, pardon, aber ich glaube beinah, Sie übertreiben. Und Sie wissen es auch.«

Pusch lachte: »Wenn man etwas der Art sagt, übertreibt man immer. Wer ängstlich abwägt, sagt gar nichts. Nur die scharfe Zeichnung, die schon die Karikatur streift, macht eine Wirkung. Glauben Sie, daß Peter von Amiens den ersten Kreuzzug zusammengetrommelt hätte, wenn er so etwa beim Erdbeerpflücken einem Freunde mitgeteilt hätte, das Grab Christi sei vernachlässigt, und es müsse für ein Gitter gesorgt werden?!«

»Sehr gutt, sehr gutt.«

»Und so auch, meine Herren, wenn ich von moderner Literatur spreche. Herr von Szilagy, den wir so glücklich sind, unter uns zu sehn, soll aufgerichtet, seine Seele soll mit neuem Vertrauen erfüllt werden. Oder aber mit Heiterkeit, was noch besser ist. Er soll wieder lachen können. Und wenn man solche Wirkung erzielen will, ja, dann muß man eben deutlich und zugleich etwas phantastisch sprechen. Indessen auch ernsthaft angesehen, wie steht es denn mit der Herstellung (ich vermeide mit Vorbedacht das Wort Schöpfung,) oder gar mit dem Verschleiß der meisten dieser Dinge! Lassen Sie mich in einem Bilde sprechen. Da haben wir jetzt in unsern Blumenläden allerlei Kränze, voran den aus Eichenlaub und Lorbeer bestehenden und meist noch behufs besserer Dauerbarkeit auf eine herzhafte Weidenrute geflochtenen Urkranz. Und nun treten Sie, je nach der Situation, an die sich Ihnen mit betrübter oder auch mit lächelnder Miene nähernde Kranzbinderin heran, um zu Begräbnis oder Trauung Ihre Bestellung zu machen, zu drei Mark oder zu fünf oder zu zehn. Und genau dieser Bestellung entsprechend, werden in den vorgeschilderten Urkranz etliche Georginen oder Teichrosen eingebunden und bei stattgehabter Höchstbewilligung sogar eine Orchidee von ganz unglaublicher Form und Farbe.«

»Kenne die Orchidee«, rief Wrschowitz in höchster Ekstase, »lila mit gelb.«

Pusch nickte, zugleich in steigendem Übermut fortfahrend: »Und genau so mit der Urnovelle. Die liegt fertig da wie der Urkranz; nichts fehlt als der Aufputz, der nunmehr freundschaftlich verabredet wird. Bei Höchstbewilligung wird ein Verstoß gegen die Sittlichkeit eingeflochten. Das ist dann die große Orchidee, lila mit gelb, wie Freund Wrschowitz sehr richtig hervorgehoben hat.«

»Unter diesen Umständen«, bemerkte hier Baron Planta, »will es mir als ein wahres Glück erscheinen, daß Herr von Szilagy, wie ich höre, mehrere Eisen im Feuer hat. Was ihm die Novellistik schuldig bleibt, muß ihm die Malerei bringen.«

»Was sie leider bisher nicht tat und mutmaßlich auch nie tun wird«, lachte Szilagy halb wehmütig, »trotzdem ich vom Genrebild aus, mit dem ich anfing, eine Schwenkung gemacht und mich unter Anleitung meines Freundes Salzmann neuerdings der Marinemalerei zugewandt habe. Mitunter auch Bataillen. Und was die blauen Töne betrifft, so darf ich vielleicht behaupten, hinter keinem zurückgeblieben zu sein. Habe mich außerdem in Gudin und William Turner vergafft. Aber trotzdem...«

»Aber trotzdem ohne rechten Erfolg«, unterbrach hier Cujacius, »was mich nicht wundernimmt. Was wollen Sie mit Gudin oder gar mit Turner? Wer das Meer malen will, muß nach Holland gehn und die alten Niederländer studieren. Und unter den Modernen vor allem die Skandinaven: die Norweger, die Dänen.«

Wrschowitz zuckte zusammen.

»Wir haben da beispielsweise den Melby, Däne pur sang, der sehr gut und beinah bedeutend ist.«

»O nein, nein«, platzte jetzt Wrschowitz mit immer mehr erzitternder Stimme heraus. »Nicht serr gutt, nicht bedeutend, auch nicht einmal beinah bedeutend.«

»Der sehr bedeutend ist«, wiederholte Cujacius. »Grade darin bedeutend, daß er nicht bedeutend sein will. Er erhebt keine falschen Prätensionen; er ist schlicht, ohne Phantastereien, aber stimmungsvoll; und wenn ich Bilder von ihm sehe, besonders solche, wo das graublaue Meer an einer Klippe brandet, so berührt mich das jedesmal spezifisch skandinavisch, etwa wie der ossianische Meereszauber in den Kompositionen unsers trefflichen Niels Gade.«

»Niels Gade? Von Niels Gade spricht man nicht.«

»Ich spreche von Niels Gade. Seine Kompositionen reichen bis an Mendelssohn heran.«

»Was ihn nicht größer macht.«

»Doch, mein Herr Doktor. Wirkliche Kunstgrößen zu stürzen, dazu reichen Überheblichkeiten nicht aus.«

»Was Sie nicht abhielt, mein Herr Professor, den großen Gudin culbütieren zu wollen.«

»Über Malerei zu sprechen, steht mir zu.«

»Über Musik zu sprechen, steht mir zu.«

»Sonderbar. Immer Personen aus unkontrollierbaren Grenzbezirken führen bei uns das große Wort.«

»Ich bin Tscheche. Weiß aber, daß es ein deutsches Sprichwort gibt: ›Der Deutsche lüggt, wenn er höfflich wird.‹«

»Weshalb ich unter Umständen darauf verzichte.«

»En quoi vous réussissez à merveille.«

»Aber, meine Herren«, warf Pusch hier ein, den die ganze Streiterei natürlich entzückte, »können wir nicht das Kriegsbeil begraben? Proponiere: Begegnung auf halbem Wege; shaking hands. Nehmen Sie zurück, hüben und drüben.«

»Nie«, donnerte Cujacius.

»Jamais«, sagte Wrschowitz.

Und damit erhoben sich alle. Cujacius und Pusch hatten die Tête, Wrschowitz und Baron Planta folgten in einiger Entfernung. Szilagy war vorsichtigerweise abgeschwenkt.

Wrschowitz, immer noch in großer Erregung, mühte sich, dem jungen Graubündner auseinanderzusetzen, daß Cujacius ganz allgemein den Ruf eines Krakeelers habe. »Je vous assure, Monsieur le Baron, il est un fou et plus que ça - un blagueur.«

Baron Planta schwieg und schien seinen Begleiter im Stich lassen zu wollen. Aber er bekehrte sich, als er einen Augenblick danach von der Front her die mit immer steigender Heftigkeit ausgestoßenen Worte hörte: Kaschube, Wende, Böhmake.


 << zurück weiter >>