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Nicht einer, sondern drei Frühlinge waren vorübergegangen seit jenem Herbste 1855, ohne daß man die Banner entfaltet und die Waffen ergriffen hätte, wie es die Italiener an den Ufern des Tessin erwarteten. Im Februar 1859 war man sicher, daß es so nicht weiter gehen würde. Große Ereignisse, die sich pflichtschuldigst durch einen prächtigen Kometen angemeldet hatten, waren im Gange. Durch die Eingeweide der alten Welt liefen Schauer und ein dumpfes Knistern wie im Innern eines eingefrorenen Flusses am Vorabend des Eisgangs. Die tödliche Kälte, das angstvolle Schweigen von zehn Jahren sollten weggefegt werden in den krachenden Stößen und dem Zusammenprall neuer, heißer, glänzender Strömungen. Carlascia machte den Schwadroneur und erzählte seinen schweigenden Beamten von einem demnächst bevorstehenden militärischen Spaziergang nach Turin. Herr Giacomo hatte sich nie wieder recht erholt von dem Schlage jenes Morgens, von der Verräterei des Advokaten, von dem tragischen Ende seines Hutes und von dem komischen Ende seines Rockes und hatte jede Achtung vor den Patrioten verloren. Gerade im Februar 1859 sprach der deutsch gesinnte Paolin in der Apotheke von San Mamette mit ihm über die tollen Hoffnungen der Liberalen.
»Nein, verehrtester Herr Paolo,« erwiderte ihm das Männchen. »Ich bin unter San Marco geboren, einem großen Heiligen; ich habe die Franzosen gesehen, gute Leute; jetzt sehe ich die Deutschen, na, lassen wir's gehen; es könnte ja kommen, daß ich auch noch andre sehe, aber die Gauner, das glauben Sie mir, die Gauner können nicht triumphieren.«
Doktor Aliprandi war schon in Piemont. Ein alter napoleonischer Unteroffizier, der in Puria wohnte, brachte in aller Heimlichkeit seine Uniform in Ordnung, um sich dem Kaiser der Franzosen vorstellen zu können, wenn er nach Italien käme. Der Pfarrer von Castello, Introini, erinnerte Don Giuseppe Costabarbieri, als er ihm begegnete, an das Lied von 1796, das Don Giuseppe 1848 ausgegraben und dann wieder versteckt hatte:
Standen unsre wackern Truppen,
Hergeschickt aus Ungarland,
Die Franzosen, diese ...
Jagten fort sie allesamt!
Und Don Giuseppe machte entsetzt: »Still, still, still!«
Inzwischen blühten auf den Hängen des Valsolda friedlich die Veilchen, als ob gar nichts los wäre. Am Abend des zwanzigsten Februar trug Luisa ein Veilchensträußchen auf den Friedhof. Sie ging noch in Trauerkleidern, sah erdfahl und abgezehrt aus, ihre Augen waren größer geworden, und ihr Haar war von Silberfäden durchzogen. Sie sah aus, als seien seit dem Tage ihres Unglücks zwanzig Jahre vergangen. Als sie vom Kirchhof zurückkam, ging sie in der Richtung nach Albogasio und gesellte sich einigen Frauen aus Oria zu, die nach der Pfarrkirche gingen, um den Rosenkranz zu beten. Sie schien nicht mehr das finstere Gespenst zu sein, das die Veilchen auf Marias Grab gelegt hatte. Sie sprach heiter, beinahe fröhlich mit der einen und mit der andern, fragte nach einer kranken Kuh, liebkoste und lobte ein kleines Mädchen, das mit der Großmutter zum Rosenkranz ging, und empfahl ihm an, sich in der Kirche ruhig zu verhalten, wie es ihre Maria auch immer getan habe. Sie sagte das ganz ruhig, auch Marias Namen, während die Frauen schauderten und sich zugleich auch wunderten, da Luisa jetzt nie mehr in die Kirche ging. Dann fragte sie ein Mädchen, ob die jungen Leute wie früher eine Aufführung veranstalten wollten, und ihr Bruder mitwirke. Auf die bejahende Antwort erbot sie sich, bei den Kostümen zu helfen. Bei der Kirche der Annunciata verabschiedete sie sich, und als sie allein die Calcinera herunterstieg, hatte sie wieder ihr gespenstisches Gesicht.
Sie ging nach Casarico zu den Gilardonis, die seit drei Jahren verheiratet waren. Die Glückseligkeit des Professors, seine Anbetung für Ester waren ein Gedicht. Onkel Piero behauptete von ihm, er sei kindisch geworden. Ester fürchtete, er könnte sich lächerlich machen, und erlaubte ihm, wenn Leute da waren, nicht, seine ekstatischen Stellungen vor ihr einzunehmen. Die einzige Person, für die das Verbot nicht galt, war Luisa. Aber vor Luisa nahm Gilardoni sich zusammen; sie war noch immer ein übermenschliches Wesen für ihn; zu dem Respekt vor ihrer Person hatte sich der Respekt vor ihrem Schmerz gesellt, und in ihrer Gegenwart hatte er stets ein rücksichtsvolles Benehmen. Seit beinahe zwei Jahren ging Luisa fast jeden Abend in das Haus Gilardoni, und wenn etwas den Frieden der Gatten hätte stören können, so waren es diese Besuche.
Sie hatten in der Tat einen seltsamen und für Ester sehr antipathischen Grund; aber Esters Liebe zu ihrer Freundin war so groß, das Mitleid mit ihrem Unglück war so tief, und sie fühlte in ihrem innersten Herzen einen so drückenden Vorwurf, an jenem Schreckenstag nicht besser auf Maria acht gegeben zu haben, daß sie es nicht wagte, sich Luisas Wünschen ernsthaft entgegenzusetzen oder ihren Gatten zu veranlassen, ihnen nicht mehr zu willfahren. Sie sprach Luisa ihre Mißbilligung aus und bat sie, wenigstens geheim zu halten, was sie abends im Studierzimmer des Professors betrieben; aber weiter ging sie nicht. Der Professor hingegen wäre über diese Zusammenkünfte glücklich gewesen, wenn er nicht unter Esters Mißvergnügen gelitten hätte.
Es war schon Nacht, als Luisa an der Tür des Hauses Gilardoni läutete. Ester öffnete ihr. Luisa erwiderte ihren Gruß, der ihr verlegen vorkam, nicht, sondern blickte sie nur an, und als sie in dem kleinen Salon zu ebener Erde waren, in dem Ester ihre Abende zu verbringen pflegte, umarmte sie sie so leidenschaftlich, daß die andere anfing zu weinen.
»Habe Geduld,« sagte Luisa, »es ist das einzige, was mir geblieben ist.«
Ester versuchte, sie zu trösten, ihr zu sagen, daß nun wieder bessere Zeiten, die Vereinigung mit ihrem Gatten, für sie kommen würden. Binnen wenigen Monaten würde die Lombardei frei sein. Franco würde wieder heimkehren. Und dann ... dann ... es könnten so viele Dinge geschehen ... auch Maria könnte wiederkommen!
Luisa sprang auf und packte ihre Hände.
»Nein!« rief sie. »Sage das nicht! Niemals, niemals! Ich gehöre ganz ihr! Ich gehöre ganz Maria!«
Ester konnte nicht antworten, denn eilig und lächelnd trat der Professor ein.
Er bemerkte, daß seine Frau die Augen voll Tränen hatte, und daß Luisa sehr erregt schien. Er begrüßte sie ganz verzagt und setzte sich schweigend neben Ester in der Annahme, daß sie über den gewohnten, seiner Frau so peinlichen Gegenstand gesprochen hätten. Diese hätte ihn am liebsten fortgeschickt, um ihre Unterhaltung mit Luisa wieder aufzunehmen, aber sie wagte es nicht recht. Luisa erbebte vor diesem Bilde einer kommenden Gefahr, das von Zeit zu Zeit undeutlich vor ihrer Seele aufgestiegen war, das sie immer voller Schrecken verjagt hatte, ohne ihm ins Auge zu schauen, und das jetzt durch die Worte ihrer Freundin unverhüllt und klar vor ihr erstand. Nach einem langen, drückenden Schweigen seufzte Ester und sagte leise zu ihr:
»So geht also, weißt du. Geht also.«
Luisa hatte einen stürmischen Erguß von Dankbarkeit, kniete vor ihrer Freundin nieder und legte den Kopf in ihren Schoß.
»Du weißt,« sagte sie, »daß ich nicht mehr an Gott glaube. Zuerst glaubte ich, daß es einen bösen Gott gäbe, aber jetzt glaube ich nicht mehr an seine Existenz; aber wenn der gute Gott existierte, an den du glaubst, so könnte er eine Mutter nicht verdammen, die ihr einziges Töchterchen verloren hat und sich zu überzeugen sucht, daß ein Teil von ihr noch lebt!«
Ester antwortete nicht. Beinahe an jedem Abend seit zwei Jahren beschworen ihr Gatte und Luisa das tote Kind herauf. Professor Gilardoni, ein seltsames Gemisch von Freidenker und Mystiker, hatte mit allerhöchstem Interesse die wunderbaren Dinge gelesen, die von den amerikanischen Schwestern Fox, von den Experimenten des Eliphas Levi berichtet wurden und hatte die spiritistische Bewegung, die sich wie ein Wahnsinn rasch über ganz Europa ausgebreitet hatte und Köpfe und Tische ergriff, mit Eifer verfolgt. Er hatte Luisa davon erzählt, und Luisa, von der Vorstellung erfüllt und geblendet, sie könne erfahren, ob ihr Kindchen noch existiere, und könne, falls es noch existiere, eine Verbindung mit ihm herstellen, sah in dem Wunderbaren der Tatsachen und in der Seltsamkeit der Theorien nur diesen einen leuchtenden Punkt und hatte ihn angefleht, mit ihr und Ester einige Experimente zu versuchen. Ester glaubte an Übernatürliches nur, soweit es sich mit der christlichen Doktrin verträgt. Sie nahm auch die Sache nicht recht ernst und erklärte sich sofort bereit, zusammen mit der Freundin und dem Gatten die Hände auf ein Tischchen zu legen; ihr Gatte hingegen zeigte großen Eifer und einen festen Glauben an den Erfolg. Die ersten Experimente blieben erfolglos. Ester, die sich dabei langweilte, hätte gewünscht, daß man auf die Fortsetzung verzichtete; aber eines Abends, nach einer Erwartung von zwanzig Minuten, neigte sich das Tischchen langsam auf eine Seite, ein Fuß hob sich in die Höhe, senkte sich wieder und hob sich von neuem in die Höhe, zu Esters größtem Entsetzen wie zu Luisas und des Professors größter Freude. Am nächsten Abend genügten schon fünf Minuten, um ihn in Bewegung zu bringen. Der Professor brachte ihm ein Alphabet bei und versuchte eine Beschwörung. Der Tisch antwortete, indem er mit dem Fuß auf den Boden klopfte, dem Alphabet entsprechend, das ihm vorgesagt war. Der angerufene Spirit nannte seinen Namen: van Helmont. Ester zitterte vor Angst wie Espenlaub, der Professor zitterte vor Erregung und wollte van Helmont zu verstehen geben, daß er seine Werke in seiner Bibliothek besäße; aber Luisa beschwor ihn, er möge fragen, wo Maria sich befände. Van Helmont antwortete: »Ganz nah.« Darauf stand Ester, blaß wie eine Leiche, auf und weigerte sich fortzufahren. Weder Luisas Bitten noch ihre Tränen vermochten sie umzustimmen. Es wäre Sünde, es wäre Sünde! Ester hatte kein tiefes religiöses Empfinden, aber große Angst vor dem Teufel und auch vor der Hölle. Für einige Zeit war es unmöglich, die Sitzungen wieder aufzunehmen. Sie empfand Entsetzen davor, und ihr Gatte wagte nicht, ihr zuwider zu handeln. Luisa gelang es endlich durch inständiges Bitten, einen Vergleich zustande zu bringen. Die Sitzungen wurden wieder abgehalten, aber Ester nahm nicht mehr teil daran.
Sie wollte nicht einmal erfahren, was dort vorginge. Nur wenn sie ihren Mann zerstreut und innerlich beschäftigt sah, warf sie eine gereizte Anspielung auf die geheimen Umtriebe in seinem Arbeitszimmer hin. Das betrübte ihn dann tief, und er erbot sich, davon abzulassen; und es war dann Ester, die sich Luisa gegenüber schwach fühlte. Denn sie hatte schließlich verstanden, daß Luisa mit dem Geiste ihrer Kleinen Verkehr zu haben glaubte. Einmal hatte sie zu ihr gesagt: »Morgen abend komme ich nicht, denn Maria mag nicht.« Und ein andres Mal: »Ich gehe nach Looch, denn Maria wünscht eine Blume von der Großmama.«
Ester kam es unglaublich vor, daß ein so heller und starker Kopf wie dieser sich so verirren konnte. Gleichzeitig aber sah sie ein, wie unendlich schwierig es sein würde, sie mit guten Gründen zu überzeugen, und wie unendlich grausam, sich ihr mit absprechenden Worten zu widersetzen.
Der Professor zündete eine Kerze an und stieg, von Luisa gefolgt, in sein Studierzimmer. Wir kennen das kleine Arbeitszimmer schon, das einer Schiffskabine gleicht, mit den Gestellen voller Bücher, dem Kamin, dem Fenster, das auf den See geht, und dem Lehnstuhl, auf dem Maria in der Weihnachtsnacht eingeschlafen war. Jetzt war noch zwischen dem Kamin und dem Fenster ein kleines rundes Tischchen mit einem einzigen Fuß, der einen Zoll über dem Boden dreigeteilt war, hinzugekommen.
»Es tut mir so sehr leid,« sagte Gilardoni beim Eintreten, »daß wir Esters Mißfallen erregen.« Er stellte das Licht auf den Schreibtisch, und anstatt wie gewöhnlich das Tischchen und die Stühle zurechtzurücken, ging er an das Fenster, um den unbestimmten Schimmer des Wassers und des Himmels im Dunkel der Nacht zu betrachten.
Luisa blieb unbeweglich, und er wendete sich plötzlich um, als ob er vermittels einer magnetischen Kraft ihre qualvolle Angst empfunden hätte. Er blickte in ihr erschrecktes Gesicht und verstand, daß sie glaubte, er wolle ein- für allemal abbrechen, während er nur die Versuchung dazu verspürt hatte; und gerührt ergriff er ihre Hände, sagte ihr, wie gut Ester wäre, wie sehr sie sie liebte, und daß weder er noch sie ihr je mit Absicht eine Kränkung zufügen würden. Luisa antwortete nicht, aber der Professor hatte alle Mühe, sie zu verhindern, daß sie ihm die Hände küßte. Während er das Tischchen und die zwei Stühle in die Mitte des Zimmers trug, setzte sie sich wie überwältigt von ihren Empfindungen auf den Lehnstuhl.
»Ich bin bereit,« sagte der Professor.
Luisa zog einen Brief aus der Tasche und reichte ihn ihm hin.
»Ich bedarf Ihrer und Marias heute abend so dringend!« sagte sie. »Lesen Sie, er ist von Franco. Sie können auf der vierten Seite anfangen.«
Der Professor faßte diese letzten Worte nicht auf, rückte das Licht zurecht und las mit lauter Stimme:
Turin, 18. Februar 1859.
»Meine Luisa!
Weißt Du, daß Du mir seit vierzehn Tagen nicht geschrieben hast?«
»Das können Sie überspringen,« unterbrach ihn Luisa; aber dann verbesserte sie sich. »Nein, lesen Sie nur weiter, es ist besser.«
Der Professor fuhr fort:
»Dieses ist der dritte Brief, den ich an Dich abschicke, nachdem ich Deinen vom sechsten erhalten habe. Vielleicht bin ich in dem ersten zu lebhaft geworden und habe Dich verletzt. Mein verwünschtes Temperament, das mich nicht nur heftige Worte sagen läßt, wenn mein Blut erhitzt ist, sondern sie mir auch in die Feder diktiert! Und verwünschtes Blut, das sich mit geschlagenen zweiunddreißig Jahren erhitzt wie mit zweiundzwanzig! Verzeih mir, Luisa, und erlaube mir, auf den Gegenstand zurückzukommen und die Worte zurückzunehmen, die Dich verletzt haben können.
Jetzt spricht man nicht mehr von Tischrücken und von Spirits, jetzt spricht man von Diplomatie und von Krieg; aber in den verflossenen Jahren sprach man viel darüber, und verschiedene Personen, die ich schätze und achte, glauben daran. Von einigen weiß ich positiv, daß sie Betrogene waren, aber wenn sie mir von ihren Unterhaltungen mit den Spirits berichteten, habe ich niemals an ihrem guten Glauben gezweifelt. Es scheint, daß die überreizte Einbildungskraft Dinge, die nicht sind, dem Auge wie dem Ohre als Realitäten erscheinen läßt. Aber ich will glauben, daß auch in Deinem Falle die Phantasie nicht täuscht, daß euer Tisch sich bewegt und wirklich spricht, wie Du es berichtest. Ich bekenne, daß ich unrecht gehabt habe, dies in Zweifel zu ziehen, da Du so sicher bist, Dich nicht zu täuschen, und da ich die Ehrenhaftigkeit des Professors Gilardoni kenne. Aber da gibt es für mich noch eine Frage des Gefühls. Ich weiß, daß meine süße Maria bei Gott lebt, ich hoffe, eines Tages mit andern Seelen, die mir teuer sind, dorthin zu gelangen, wo sie weilt. Wenn sie mir plötzlich erschiene, wenn ich, ohne sie gerufen zu haben, den Klang ihrer lebendigen, wirklichen Stimme hörte, so könnte ich vielleicht eine so große Freude nicht ertragen; aber sie rufen, sie zum Kommen zu zwingen, das möchte ich niemals. Es widerstrebt mir, es geht mir gegen den Sinn von Verehrung, den ich einem Wesen gegenüber habe, das Gott so viel näher ist als ich. Auch ich, Luisa, spreche täglich zu unserm Liebling, ich spreche ihr von mir und auch von Dir, denn ich weiß, daß sie uns liebt, daß sie uns sieht, daß sie auch in unserm diesseitigen Leben viel über uns vermag. So wünschte ich auch Deine Unterhaltungen mit ihr; und wenn ich Dir auf Deinen Brief, in dem Du auf einen Verkehr mit ihr anspieltest, mit Bitterkeit geantwortet habe, so verzeih es mir, nicht nur mit Rücksicht auf meinen schlechten Charakter, sondern auch wegen der Gedanken und Gefühle, die wie ein Teil meiner selbst sind.
Verzeih mir auch im Hinblick auf die ungeheure Erregung, in der wir hier leben. Mit meinem Hals geht es gut; seitdem man vom Kriege spricht, habe ich Kampfer und Gurgelwasser fortgeworfen, aber meine Nerven sind so über die Maßen gespannt, daß ich glaube, sie müßten bei der Berührung Funken geben. Das kommt auch mit von der intensiven Arbeit, die wir jetzt auf dem Ministerium haben, wo es keine Tageseinteilung mehr gibt; und wer am meisten Vertrauen genießt, sei er auch nur ein kleiner Sekretär, muß am meisten schanzen. Als ich diesen Posten durch die Güte des Herrn Grafen Cavour erhielt, hatte ich die Empfindung, das Brot des Staates unverdientermaßen zu essen. Jetzt ist davon keine Rede mehr, aber ich bin im Begriff, mich diesem großen Arbeitsfeld zu entziehen, und das bringt mich auf etwas andres, das ich seit einer Weile auf dem Herzen habe, und das ich Dir jetzt mit unsagbarer Bewegung mitteilen will.
In acht Tagen treten meine Freunde und ich für die Dauer des Feldzugs als Freiwillige in das Heer ein. Wir treten ins neunte Infanterieregiment, das in Turin steht. Hier im Ministerium möchten sie mich noch halten, aber ich möchte, wenn der Feldzug beginnt, schon im Regiment ausgebildet sein und habe nur die Verpflichtung übernommen, das Amt erst einen Tag vor meinem Eintritt zu verlassen.
Luisa, es sind drei Jahre und fast fünf Monate, daß wir uns nicht gesehen haben. Es ist wahr, daß Du unter polizeilicher Aufsicht stehst und nicht nach Lugano kommen darfst. Aber ich habe Dir des öfteren verschiedene Wege angegeben, wie Du mir heimlich wenigstens bis an die Grenze entgegenkommen könntest über die Berge, und Du hast mir nie darauf geantwortet. Ich habe zu erraten geglaubt, daß Du Dich, wenn auch nur für kurze Zeit, nicht von einem heiligen Orte zu trennen vermöchtest. Es erschien mir übertrieben, und ich gestehe Dir, daß es mich mit tiefer Bitterkeit erfüllte! Dann empfand ich Reue hierüber, klagte mich als Egoisten an und entschuldigte Dich. Aber jetzt, Luisa, sind die Umstände verändert. Ich leide nicht an schlimmen Ahnungen, und es scheint mir unmöglich, daß ich auf dem Schlachtfelde bleiben sollte; aber es ist nicht unmöglich. Ich beteilige mich an einem Kriege, der sich als einer der größten, längsten und verzweifeltsten ankündigt, denn wenn für Österreich seine italienischen Provinzen auf dem Spiele stehen, so steht für uns und vielleicht auch für den Kaiser Napoleon alles auf dem Spiele. Man sagt, daß wir den kommenden Winter vor Verona zubringen werden. Luisa, ich möchte nicht die Gefahr laufen zu sterben, ohne Dich wiedergesehen zu haben. Ich habe nur vierundzwanzig Stunden, ich kann weder an die Grenze noch nach Lugano kommen, und es genügt mir nicht, Dich auf zehn Minuten zu sehen! Laß Dich auf irgendeine Weise am Morgen des fünfundzwanzigsten dieses Monats von Ismaele nach Lugano bringen. Brich von Lugano rechtzeitig auf, um mittags in Magadino zu sein, da Du über Luino nicht gehen kannst. In Magadino mußt Du das Schiff nehmen, das ungefähr um halb eins dort abfährt. In Isola Bella verläßt Du es gegen vier Uhr, und ungefähr um diese Stunde werde ich dort von Arona eintreffen. Isola Bella ist um diese Jahreszeit eine Einöde, wir verbringen den Abend zusammen und reisen am nächsten Morgen wieder ab. Du nach Oria, ich nach Turin.
Ich schreibe an Onkel Piero, um ihn um Verzeihung zu bitten, daß ich ihn auf einen Tag Deiner Gesellschaft beraube.
Ich fürchte keine ernsteren Ungelegenheiten. Auch die Österreicher denken nur an die Waffen, und ihre Polizei läßt sich Tausende von jungen Leuten entgehen, die hierher kommen, um sie hier zu ergreifen. Sie werden am Morgen nach einem Siege schrecklich sein, aber dieser Tag wird, so Gott will, für sie nicht kommen.
Luisa, sollte es möglich sein, daß ich Dich auf der Isola Bella nicht finde, daß Du glaubst, Maria zu Gefallen zu handeln, wenn Du nicht kommst? Aber weißt Du nicht, wenn sie meiner Maria, meiner armen Kleinen, gesagt hätten: geh nur, Deinen Papa zu begrüßen, der vielleicht in den Tod geht – wie ...«
Die Stimme des Lesenden bebte, wurde unsicher, brach sich in einem Schluchzen. Luisa verbarg das Gesicht in den Händen. Er legte den Brief auf ihren Schoß und sagte mühsam:
»Donna Luisa, können Sie zweifeln?«
»Ich bin schlecht,« erwiderte Luisa leise, »ich bin wahnsinnig.«
»Aber lieben Sie ihn denn nicht?«
»Zuweilen scheint mir, sehr; und zuweilen gar nicht.«
»Mein Gott!« rief der Professor. »Aber jetzt? Erschüttert Sie denn nicht die Vorstellung, daß Sie ihn vielleicht nie wiedersehen würden?«
Luisa schwieg; sie schien zu weinen. Plötzlich sprang sie auf, preßte die Schläfen zwischen ihre Hände und heftete auf den Professor zwei Augen, in denen nichts von Tränen zu sehen war, wohl aber ein Feuer düsteren Zornes brannte.
»Sie wissen nicht,« rief sie aus, »was in meinem Kopfe vorgeht, was für Widersprüche und entgegengesetzte Vorstellungen dort angehäuft sind, die sich bekämpfen und beständig eine die andre verdrängen! Als ich den Brief erhielt, habe ich lange geweint und habe mir gesagt: ja, armer Franco, diesmal komme ich – und dann war da eine Stimme, die mir hier im Kopfe sagte, nein, du sollst nicht gehen, weil ... weil ... weil ...«
Sie unterbrach sich, und der Professor, entsetzt über die Blitze des Wahnsinns, die aus diesen auf ihn gehefteten Augen schossen, wagte nicht, eine Erklärung zu verlangen. Die unheimlichen Augen, die immer noch wie gebannt in die seinen starrten, wurden sanfter, verschleierten sich.
Luisa ergriff seine Hände und sagte leise und schüchtern: »Wir wollen Maria fragen.«
Sie setzten sich an den Tisch und legten die Hände darauf. Der Professor hatte den Rücken der Kerze zugewendet, deren Licht auf Luisas Gesicht fiel. Das Tischchen war im Schatten. Nach elf Minuten tiefen Schweigens murmelte der Professor: »Er bewegt sich.«
In der Tat neigte sich der Tisch langsam auf eine Seite. Dann fiel er wieder zurück und gab einen kleinen Klopfton. Luisas Gesicht strahlte.
»Wer bist du?« fragte der Professor. »Antworte nach dem gewohnten Alphabet.«
Der Tisch gab siebzehn Klopftöne, dann vierzehn, dann achtzehn, dann einen.
»Rosa,« sagte leise der Professor.
Rosa war ein früh verstorbenes Schwesterchen seiner Frau, und der Tisch hatte schon früher zu verschiedenen Malen diesen Namen durch Klopfen bezeichnet.
»Geh,« begann Gilardoni wieder, »und schicke uns Maria.«
Der Tisch setzte sich sofort wieder in Bewegung und klopfte diese Worte:
»Ich bin hier, Maria.«
»Maria, Maria, meine Maria!« flüsterte Luisa mit dem Ausdruck seligsten Glückes im Gesicht.
»Kennst du den Brief,« sagte Gilardoni, »den dein Vater an deine Mutter geschrieben hat?«
Das Tischchen antwortete:
»Ja.«
»Was soll deine Mutter tun?«
Luisa zitterte erwartungsvoll von Kopf bis Fuß. Der Tisch blieb unbeweglich.
»Antworte,« sagte der Professor.
Der Tisch bewegte sich und klopfte ein unverständliches Durcheinander von Buchstaben.
»Wir haben nicht verstanden. Wiederhole.«
Der Tisch bewegte sich nicht mehr.
»So wiederhole doch!« rief der Professor fast barsch.
»Nein!« bat Luisa. »Bestehen Sie nicht darauf, bestehen Sie nicht darauf! Maria will nicht antworten.«
Aber der Professor blieb beharrlich. »Es ist nicht möglich,« sagte er, »daß der Geist nicht antwortet. Sie wissen ja, daß es auch früher schon vorgekommen ist, daß wir nicht verstanden, was er sagte.«
Luisa stand sehr erregt auf und sagte, ehe sie einen Zwang auf Maria ausübe, wolle sie lieber die Sitzung unterbrechen.
Der Professor blieb nachdenklich auf seinem Platz sitzen. »Still!« sagte er.
Der Tisch bewegte sich und begann wieder zu klopfen.
»Ja!« rief Gilardoni strahlend. »Ich habe eben in Gedanken gefragt, ob Sie gehen sollen, und der Tisch hat ›ja‹ geantwortet. Fragen Sie ihn nochmals mit lauter Stimme.«
Fünf oder sechs Minuten vergingen, bevor der Tisch sich wieder in Bewegung setzte. Auf Luisas Frage: »Soll ich gehen?« klopfte er zuerst dreizehnmal und dann fünf-, neun- und wieder dreizehnmal. Die Antwort lautete »nein«.
Der Professor erbleichte, und Luisa sah ihn fragend an. Lange blieb er stumm, dann erwiderte er seufzend:
»Vielleicht ist es nicht Maria. Es könnte ein Lügengeist sein.«
»Und wie kann man es erfahren?« fragte Luisa angstvoll.
»Unmöglich. Man kann es nicht erfahren.«
»Aber die andern Mitteilungen – wie steht es dann mit denen? Kann man nie Gewißheit haben?«
»Niemals.«
Sie schwieg, zu Boden geschmettert. Dann flüsterte sie: »So mußte es kommen. Auch dies mußte mir versagen!«
Und sie legte die Stirn auf das Tischchen. Das Kerzenlicht spielte auf ihrem Haar, auf ihren Armen, auf ihren Händen. Sie rührte sich nicht, und nichts rührte sich im Zimmer, mit Ausnahme der flackernden Flamme des Lichts. Eine andre Flamme, ein letztes Hoffnungs- und Trosteslicht erstarb in dem armen Haupte, das unter dem Schlag eines bitteren, unabweisbaren Zweifels niedergesunken war. Was konnte Gilardoni tun, was konnte er sagen? Er sah es, daß Esters Wunsch, nicht durch sein Zutun, demnächst in Erfüllung gehen würde. Drei oder vier Minuten später hörte man im unteren Stockwerk Schritte und Esters Stimme.
»Wir wollen gehen,« sagte Luisa.
»Vielleicht sollten wir beten,« bemerkte Gilardoni, ohne sich zu rühren. »Vielleicht sollten wir die Geister fragen, ob sie an Christus glauben.«
»Nein, nein, nein, nein,« sagte Luisa feindselig und mit der Hand ebenfalls abwehrend. Schweigend nahm der Professor die Kerze.
*
Auf dem Heimweg nach Oria ging Luisa an das Gittertor des Friedhofs. Sie lehnte die Stirn daran, rief Marias Grab ein ersticktes Lebewohl zu und entfernte sich wieder. Auf dem Platz vor der Kirche angelangt, ging sie an die Brüstung, beugte sich darüber und blickte lange hinunter auf den im nächtlichen Dunkel schlummernden See. So blieb sie einige Zeit und ließ den Gedanken ihren Lauf. Sie stützte die Ellbogen auf die Brüstung, bückte sich, lehnte das Gesicht in die Hände und sah unabänderlich auf das Wasser, das Wasser, das ihr Maria geraubt hatte. Ihr Gedanke nahm bestimmte Gestalt an, nicht in ihrem Innern, sondern dort unten im Wasser. Sie starrte darauf hin. Sterben, ein Ende machen. Sie hatte ihn schon gehegt, diesen Gedanken, so ins Wasser starrend hatte sie sich vor langer Zeit schon damit getragen, ehe sie die spiritistischen Sitzungen mit dem Professor anfing. Dann war er verschwunden. Jetzt kehrte er wieder. Es war ein besänftigender und trostreicher Gedanke, voller Ruhe und Vergessenheit, voller Frieden. Es tat wohl, ihm ins Antlitz zu schauen, jetzt, wo sie auch den Glauben an die Geister verloren hatte. Sterben, ein Ende machen. Früher hatte das Bild des alten Onkels viel gegen die Verführung des Wassers vermocht. Jetzt war seine Macht geringer. Der Onkel war nach Marias Tode und dem, was darauf folgte, in fast vollständige Schweigsamkeit verfallen, was Luisa einem Beginn greisenhafter Apathie zuschrieb. Sie verstand nicht, daß im Gemüte des Alten neben dem Schmerze eine tiefe Mißbilligung sich eingenistet hatte, und wie sehr ihn die wiederholten täglichen Besuche auf dem Friedhof und die Blumen und die geheimnisvollen Gänge nach Casarico, vor allem aber das vollständige Aufgeben der Kirche verletzten. Wäre sie nicht so ganz von ihrer Toten ausgefüllt gewesen, so hätte sie wenigstens in diesem letzten, die Kirche betreffenden Punkte den Onkel besser verstehen müssen; denn der schweigende Alte ging jetzt öfter als früher in die Kirche, kehrte mit dem Herzen zurück zur Religion von Vater und Mutter, die er bis dahin nur kühl, mehr aus Gewohnheit und aus Achtung vor den Traditionen des Hauses ausgeübt hatte. Es kam Luisa vor, als wäre er etwas stumpfsinnig geworden, und als brauche er weiter nichts, wenn nur für seine Bedürfnisse gesorgt würde. Für die materiellen Sorgen war ja Cia da, und die Hilfsmittel, die für drei gereicht hatten, würden zweien noch besser genügen.
Luisa glaubte, das Wasser um eine Handbreit steigen zu sehen. Und Franco? Franco würde trostlos sein und sie einige Jahre beweinen, und dann würde er glücklicher sein. Franco besaß das Geheimnis, sich schnell zu trösten. Und wieder schien das Wasser um eine Handbreit zu steigen.
In demselben Augenblick, in dem Luisa so an der Brüstung stand, sah Franco, als er in der Via di Po an San Francesco di Paolo vorüberging, Licht in der Kirche und hörte Orgelklang. Er trat ein. Kaum hatte er sein Gebet gesprochen, so bemächtigte sich seiner sofort wieder sein vorherrschender Gedanke, der Klang der Orgel verwandelte sich in das Geschmetter von Trompeten und Trommeln und Waffengerassel, und während vom Altare ein Sang des Friedens aufstieg, kam es ihm vor, als stürme er mit Ingrimm gegen den Feind. Plötzlich sah er im Geiste vor sich Luisas Gestalt, bleich, in Trauer gekleidet. Seine Gedanken richteten sich auf sie, und er betete mit Inbrunst für sie.
Und da fühlte sie, auf dem geweihten Orte der Kirche zu Oria, eine Eiseskälte, eine Unruhe, ein Nachlassen der Versuchung. Sie wollte sie zurückrufen und konnte es nicht. Das Wasser fiel wieder. Eine innere Stimme sprach zu ihr: und wenn der Professor sich getäuscht hätte? Wenn es nicht wahr wäre, daß der Tisch zuerst ja geantwortet hätte und dann nein? Wenn das mit den lügnerischen Geistern gar nicht wahr wäre? Sie löste sich von der Brüstung und ging langsamen Schrittes nach Hause.
Sie fand den Onkel in der Küche, am Kamin sitzend, mit der Feuerzange in der Hand, seinen Becher mit Milch neben sich. Cia und Leu kochten.
»Ich war also,« sagte er, »im Zollwächterhaus. Der Einwohner lag mit Gelbsucht im Bett, aber ich habe mit dem Sedentarius gesprochen.«
»Worüber, Onkel?«
»Nun, über Lugano, über deine Reise nach Lugano am Fünfundzwanzigsten. Er hat mir versprochen, ein Auge zuzudrücken und dich passieren zu lassen.«
Luisa schwieg und sah nachdenklich ins Feuer. Dann gab sie Leu einige Anordnungen für den folgenden Tag und bat den Onkel, mit ihr in den kleinen Salon zu kommen.
»Zu welchem Zweck?« fragte er mit seiner gewohnten Einfachheit. »Du wirst keine großen Geheimnisse haben. Bleiben wir lieber hier am Feuer.«
Cia zündete ein Licht an. »Wir werden hinausgehen,« sagte sie.
Der Onkel machte seine gewohnte mitleidsvolle Miene für die Torheiten der andern, aber er schwieg, trank seinen Becher Milch aus und reichte ihn schweigend Luisa. Luisa nahm den Becher und sagte leise:
»Ich bin noch nicht entschlossen.«
»Wie? Zu was noch nicht entschlossen?« fragte der Onkel auffahrend.
»Ob ich nach Isola Bella gehe.«
»Oho! Was zum Teufel?«
Der Onkel konnte etwas derartiges nicht einmal verstehen.
»Und warum willst du nicht gehen?«
Ruhig, als ob sie eine selbstverständliche Sache sagte, erwiderte sie: »Ich fürchte, ich kann Maria nicht verlassen.«
»Oho! Höre!« sagte der Onkel. »Setz dich hierher.«
Er wies auf einen Stuhl ihm gegenüber unter dem Kaminmantel, ließ die Feuerzange los und sagte mit seiner ernsten, ehrlichen, aus dem Herzen dringenden Stimme:
»Liebe Luisa, du hast die Steuerung verloren!«
Und mit einem tiefen Seufzer hob er die Arme in die Höhe und ließ sie wieder auf seine Knie fallen.
»Verloren!« sagte er. Ein Weilchen schwieg er noch mit gesenktem Kopfe, die Lippen bewegend in einem leisen Brummeln sich bildender Worte, die dann hervorströmten.
»Dinge, die ich niemals geglaubt hätte! Dinge, die unmöglich scheinen! Aber wenn man anfängt« – und bei diesen Worten hob er den Kopf wieder in die Höhe und sah Luisa gerade ins Gesicht –, »die Steuerung zu verlieren, dann ist's um einen geschehen. Und du, Liebe, hast schon seit geraumer Zeit angefangen, sie zu verlieren.«
Luisa zitterte.
»Ach ja!« rief der Onkel aus vollem Hals. »Seit geraumer Zeit hast du angefangen, sie zu verlieren. Und das wollte ich dir sagen. Höre: meine Mutter hat Kinder verloren, deine Mutter hat Kinder verloren, ich habe so viele Mütter Kinder verlieren sehen, und keine hat sich aufgeführt wie du. Man muß es hinnehmen, wir sind alle sterblich und müssen uns abfinden mit unserm Geschick. Sie fügten sich. Aber du, du nicht. Und dieser Friedhof! Und diese zwei, drei, vier Besuche jeden Tag! Und diese Blumen, und was weiß ich, ach, ich Ärmster! Und dann diese Narrheiten, die du mit diesem andern armen Einfaltspinsel in Casarico betreibst, und von denen ihr glaubt, sie im geheimen zu betreiben, während alle davon sprechen bis auf Cia herab! Ach, ich Ärmster!«
»Nein, Onkel,« sagte Luisa traurig, aber ruhig. »Sprich nicht so. Du kannst es nicht verstehen.«
»Darin sind wir einverstanden,« erwiderte der Onkel mit der ganzen Ironie, deren er fähig war. »Ich kann es nicht verstehen. Aber dann ist da noch ein andres. Du gehst nicht mehr in die Kirche. Ich habe dir niemals etwas darüber gesagt, denn es ist mein Grundsatz, in diesen Dingen jeden so handeln zu lassen, wie er es für richtig hält; aber wenn ich sehe, wie du sozusagen den gesunden Menschenverstand verlierst, und überhaupt jedes Verständnis, so möchte ich dir dann doch zu bedenken geben, daß, wer unserm Herrgott den Rücken wendet, eben solchen Verlusten ausgesetzt ist. Aber diese Idee, unter solchen Umständen nicht zu der Begegnung mit deinem Manne gehen zu wollen, übersteigt alle Grenzen. Das will sagen,« nahm er nach einer kurzen Pause wieder auf, »daß ich gehen werde.«
»Du?« rief Luisa.
»Warum nicht? Jawohl, ich. Ich hatte die Absicht, dich zu begleiten, aber wenn du nicht mitkommst, so werde ich allein gehen. Ich werde deinem Gatten sagen, daß du den Verstand verloren hast, und daß ich hoffe, auch bald dahinzugehen und mich mit der armen Maria zu vereinigen.«
Niemals hatte irgend jemand aus Onkel Pieros Munde ein so bitteres Wort vernommen. War es dieses, war es die Autorität des Mannes, oder war es Marias in dieser Weise ausgesprochener Name: Luisa war besiegt.
»Ich werde gehen,« sagte sie. »Aber du mußt hier bleiben.«
»Nicht im geringsten,« erwiderte der Onkel zufriedengestellt. »Seit vierzig Jahren habe ich die Inseln nicht gesehen. Ich benutze die Gelegenheit. Und wer weiß, ob ich nicht noch bei der Kavallerie eintrete?«
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»Also wirklich?« sagte Cia zu Luisa, nachdem der Onkel ins Bett gegangen war. »Der Herr will also wirklich mitreisen? Liebste Frau, erlauben Sie es ihm doch um Gottes willen nicht!«
Und sie erzählte ihr, daß er vor zwei Stunden die Augen so seltsam weit aufgerissen und den Kopf auf die Brust gesenkt habe; auf ihren Ruf habe er nicht geantwortet, dann sei er wieder zu sich gekommen, und auf ihre ängstlichen Fragen hin sei er in Zorn geraten und habe sich dagegen verwahrt, es sei ihm nicht schlecht gewesen, nur ein wenig müde habe er sich gefühlt. Luisa hörte sie stehend, das Licht in der Hand, mit gläsernen Augen an, und ihre Aufmerksamkeit war nur halb auf die Worte, die sie hörte, gerichtet, halb auf einen andern Gedanken, der ganz verschieden und weit entfernt war vom Onkel, vom Hause, von Valsolda.