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Der Oberingenieur bemerkte nichts, und zwei Tage später, da sein Urlaub abgelaufen war, fuhr er in friedlichster Stimmung, angetan mit seinem langen grauen Reiseüberzieher, zusammen mit Cia, seiner Wirtschafterin, im Boot davon. Es vergingen weitere zehn Tage, ohne daß sich das geringste ereignete, so daß Franco und Luisa zu der Überzeugung kamen, daß man ihnen in der Tat eine Falle gelegt hätte, und daß die Polizei sich nicht sehen lassen würde. Am Abend des ersten Oktober spielten sie mit Puttini und Pasotti vergnügt Tarock, und als die Gäste sich zeitig entfernt hatten, gingen sie zu Bett. Als Luisa dem schlafenden Kind einen Kuß gab, fühlte sie, daß es heiß war. »Maria hat Fieber,« sagte sie.
Franco nahm das Licht, um sie anzusehen. Maria schlief, das Köpfchen wie gewöhnlich auf die linke Schulter geneigt. Das hübsche Gesichtchen, das im Schlaf immer ernst aussah, war etwas gerötet, der Atem beschleunigt. Franco erschrak; er dachte sofort an Masern, Scharlach, gastrisches Fieber, Gehirnentzündung. Luisa, die viel ruhiger blieb, dachte an Würmer und machte auf dem Nachttisch das Santonin zurecht. Dann gingen Vater und Mutter geräuschlos zu Bett, löschten das Licht und horchten gespannt auf die leisen, kurzen Atemzüge der Kleinen. Sie schliefen ein und wurden gegen Mitternacht durch Marias Weinen geweckt. Sie zündeten Licht an, und Maria beruhigte sich und nahm das Santonin. Dann fing sie wieder an zu weinen, wollte in das große Bett getragen werden, zwischen Papa und Mama liegen, und bald darauf schlief sie wieder ein; aber es war ein unruhiger, durch Weinen unterbrochener Schlaf.
Franco ließ die Kerze brennen, um sie besser beobachten zu können.
Er und seine Frau waren beide über ihren Sprößling geneigt, als plötzlich zwei hastige Schläge gegen die Haustür ertönten. Franco fuhr in die Höhe und saß auf dem Bett. »Hast du gehört?« sagte er. »Still!« antwortete Luisa, sich an seinen Arm klammernd und horchend.
Noch zwei, diesmal stärkere Schläge. Franco rief: »Die Polizei!« und sprang aus dem Bett. »Geh, geh!« flehte sie leise. »Sie sollen dich nicht fassen! Geh über den kleinen Hof! Klettere über die Mauer!«
Er antwortete nicht, warf sich hastig einige Kleidungsstücke über und stürzte aus dem Zimmer, entschlossen, seine Luisa, seine kranke Maria freiwillig nicht zu verlassen, jeder Gefahr Trotz zu bieten. In großen Sätzen sprang er die Treppe hinunter. »Wer ist da?« fragte er, bevor er öffnete. »Die Polizei!« war die Antwort. »Machen Sie sofort auf!«
»Um diese Stunde mach' ich niemand auf, den ich nicht sehe.«
Man hörte ein kurzes Zwiegespräch auf der Straße. Die erste Stimme sagte: »Reden Sie,« und die Stimme, die nun sprach, war Franco wohlbekannt.
»Öffnen Sie, Herr Maironi.«
Es war die Stimme des Einnehmers. Franco öffnete. Ein schwarz gekleideter Herr mit Brille trat ein; nach ihm der Tölpel von Carlascia, nach dem Tölpel ein Gendarm mit einer Laterne, dann noch drei bewaffnete Gendarmen, zwei einfache und ein Sergeant, der einen großen Ledersack trug. Jemand blieb draußen.
»Sie sind Herr Maironi?« fragte der mit der Brille, ein Hilfskommissär der Mailänder Polizei. »Begleiten Sie mich hinauf.« Und die ganze Gesellschaft ging die Treppe hinauf mit einem Geräusch schwerer Schritte, mit militärischem Eisengerassel.
Sie waren noch nicht beim ersten Stock angelangt, als die Treppe von oben hell wurde, Schluchzen und Stöhnen vom zweiten Stock herunterdrang.
»Das ist Ihre Frau?« fragte der Agent.
»Meinen Sie?« erwiderte Franco ironisch. Der Einnehmer murmelte: »Es wird das Dienstmädchen sein.« Der Agent wandte sich, um einen Befehl zu erteilen; zwei Gendarmen traten vor und stiegen eilig zum zweiten Stock hinauf. Der Polizist fragte Franco in schärferer Tonart als zuvor: »Ihre Frau ist im Bett?«
»Selbstverständlich.«
»Wo? Es ist notwendig, daß sie aufsteht.«
Die Tür des Alkovens ging auf, Luisa, im Morgenrock, mit gelösten Haaren, erschien, ein Licht in der Hand, während ein Gendarm von dem oberen Treppenabsatz meldete, daß das Mädchen halb ohnmächtig sei und nicht hinunterkommen könne. Der Agent befahl ihm, hinunterzukommen und seinen Kameraden oben bei dem Mädchen zurückzulassen. Dann grüßte er die Dame, die seinen Gruß nicht erwiderte. In der Hoffnung, daß Franco flüchten werde, hatte sie sich geeilt, aus dem Zimmer zu kommen, um womöglich die Polizei hinzuhalten, zu täuschen. Als sie ihren Gatten sah, zuckte sie zusammen, zitterte, faßte sich aber gleich wieder.
Der Agent näherte sich, um in das Zimmer einzutreten. »Nein!« rief Franco, »da liegt eine Kranke!« Luisa ergriff die Klinke der geschlossenen Tür und blickte jenem ins Gesicht.
»Wer ist diese Kranke?« fragte der Agent.
»Und was glauben Sie, daß wir ihm antun werden?
»Entschuldigen Sie,« sagte Luisa, nervös an der Klinke rüttelnd, fast wie eine Herausforderung, »müssen alle mit hineinkommen?«
»Alle.«
Bei dem Geräusch der Stimmen und des Türgriffes fing die kleine Maria an zu weinen, ein müdes, verzweifeltes Weinen, das dem Herzen wehe tat.
»Luisa,« sagte Franco, »laß diese Herren ihres Amtes walten.«
Der Hilfskommissär war ein junger, ziemlich eleganter Mann mit feinen Zügen und boshafter Physiognomie. Er warf Franco einen unheilvollen Blick zu. »Hören Sie auf Ihren Gatten, Madame,« sagte er, um es ihm irgendwie heimzuzahlen. »Ich finde ihn vorsichtig.«
»Weniger als Sie, der Sie sich von einer ganzen Armee eskortieren lassen!« antwortete Luisa, die Tür öffnend. Jener sah sie an, zuckte die Achseln und ging hinein, gefolgt von den andern.
»Öffnen Sie dies alles!« sagte er in lautem, grobem Ton, auf den Schreibtisch deutend. Francos große, himmelblaue Augen sprühten Funken. »Sprechen Sie leise!« sagte er. »Erschrecken Sie mir das Kind nicht!«
»Sie schweigen!« donnerte der Hilfskommissär, mit der Faust auf den Schreibtisch schlagend. »Öffnen Sie!«
Das Kind fing bei diesem Lärm an, herzzerreißend zu schluchzen. Zornbebend warf Franco den Schlüssel auf den Schreibtisch.
»Ich verhafte Sie!« schrie der Polizeiagent.
»Gut!«
Als Franco geantwortet hatte, richtete Luisa, die sich ganz über ihr Kind gebeugt hatte, um es zu beruhigen, jäh ihr Gesicht in die Höhe.
»Habe ich auch Anspruch auf diese Ehre?« sagte sie mit ihrer schönen, vibrierenden Stimme.
Der Polizist würdigte sie keiner Antwort, er ließ von einem Gendarmen alle Fächer des Schreibtisches öffnen und durchwühlen, Briefe und Papiere herausnehmen, die er schnell durchflog und teils auf die Erde, teils in den großen Ledersack warf. Nach dem Schreibtisch kamen die Kommoden an die Reihe, wo alles durcheinander geworfen wurde. Nach den Kommoden wurde Marias Bettchen durchsucht. Der Hilfskommissär befahl Luisa, das Kind aus dem großen Bett zu nehmen, das er ebenfalls zu visitieren beabsichtigte.
»Bringen Sie das Bettchen in Ordnung!« entgegnete Luisa zornbebend. Während dieser ganzen Zeit war der Tölpel Carlascia stumm und unbeweglich hinter seinem Schnurrbart geblieben, als sei dieses in der Theorie vielleicht sehr erwünschte Geschäft in der Praxis nicht ganz nach seinem Geschmack. Jetzt rührte er sich, und ohne ein Wort zu sagen, machte er sich mit seinen Riesentatzen daran, die Matratzen und Laken des Bettchens in Ordnung zu bringen. Luisa legte das Kind hinein, und nun wurde auch das große Bett auseinandergenommen und durchwühlt, ohne Ergebnis. Maria weinte nicht mehr, mit großen, erstaunten Augen verfolgte sie das wüste Gebaren.
»Sie kommen jetzt mit mir,« sagte der Hilfskommissär. Luisa war sicher, daß man sie mit ihrem Mann fortführen würde, und verlangte, daß man ihr Dienstmädchen herunterkommen lasse, um ihr das Kind anzuvertrauen. Bei dem Gedanken, daß man auch Luisa in Haft nehmen, der kranken Maria die Mutter entziehen könnte, rief Franco außer sich vor Zorn und Schmerz:
»Das ist nicht möglich! Sagen Sie es!«
Der Agent würdigte ihn keiner Antwort, gab den Befehl, die Magd herbeizuschaffen. Halbtot vor Furcht erschien das Mädchen zwischen den Gendarmen, stöhnend und schluchzend. »Alberne Person!« murmelte Franco zwischen den Zähnen.
»Das Mädchen bleibt hier mit dem Kind,« sagte der Kommissär. »Sie kommen mit mir. Sie haben der Haussuchung beizuwohnen.« Er hieß sie Lichter nehmen, ließ einen Gendarmen im Schlafzimmer zurück und ging in den Saal, gefolgt von den andern Gendarmen, Bianconi, Franco und Luisa.
»Bevor ich mit der Haussuchung fortfahre,« sagte er, »will ich eine Frage an Sie richten, die ich schon eher getan hätte, wenn Ihr Verhalten ein besseres gewesen wäre. Sind Sie im Besitz von Waffen oder aufrührerischen Veröffentlichungen oder Schriften, seien es gedruckte oder handschriftliche, die der Kaiserlich Königlichen Regierung feindlich sind?«
Franco antwortete mit einem kräftigen »Nein«.
»Das werden wir sehen,« entgegnete der Kommissär.
»Ganz nach Belieben.«
Während der Kommissär die Möbel von den Wänden rücken, alles durchsehen und durchwühlen ließ, fiel Luisa ein, daß vor acht oder zehn Jahren der Onkel ihr in der Kommode eines Zimmers im zweiten Stock einen alten Säbel gezeigt hatte, der seit dem Jahr 1812 dort lag. Es war der Säbel eines andern Pietro Ribera, eines Kavallerieleutnants, der bei Malojaroslawetz gefallen war. In diesem Zimmer, das über der Küche lag, schlief nie jemand, fast nie kam jemand hinein, es war, als ob es nicht existierte. Luisa hatte den alten Säbel des Kaiserreichs ganz vergessen. Gott im Himmel, und jetzt mußte er ihr einfallen! Wenn der Oheim ihn auch vergessen hätte! Wenn er ihn 1848 nach dem Kriege nicht abgegeben hätte, als bei Todesstrafe alle Waffen abgeliefert werden mußten! Hatte der Onkel in seiner patriarchalischen Einfachheit daran gedacht, daß dieses Familienstück, das seit sechsunddreißig Jahren auf dem Grunde einer Kommode ruhte, gleichfalls ein gefährliches und verbotenes Gerät geworden war? Und Franco, Franco, der von nichts wußte! Luisa hielt ihre Hände auf der Lehne eines Sessels; der ganze Stuhl knarrte unter der krampfhaften Berührung; sie hob ihre Hände, entsetzt, als ob sie gesprochen hätte.
Sie sah den Polizeimenschen mit seinen Gendarmen von einem Zimmer ins andre gehen, schließlich bei diesem anlangen, die Kommode öffnen, durchwühlen, den Säbel finden. Sie gab sich die erdenklichste Mühe, sich des genauen Platzes zu erinnern, wo sie ihn gesehen hatte, auf einen Ausweg zu sinnen, und sie schwieg, mechanisch mit den Augen das Licht verfolgend, das ein Gendarm, je nach den Winken seines Vorgesetzten, bald einem offenen Schubfach, einem Eckschrank oder einem Bild näherte, das jener hochnahm, um dahinter zu suchen. Kein Ausweg fiel ihr ein. Wenn der Oheim vergessen hatte, den Säbel beiseite zu schaffen, so blieb als einzige Hoffnung, daß man dieses Zimmer bei der Visitation übergehen konnte.
Franco, gegen den Ofen gelehnt, folgte mit finsterer Stirn jeder Bewegung der Leute. Wenn sie mit ihren Händen in den Kästen wühlten, sah man den Zorn in dem stummen Spiel der Kinnladen. Nichts war zu hören als einige abgebrochene Befehle des Kommissärs, einige leise gegebene Antworten der Gendarmen. Nichts bewegte sich um sie her als ihre großen, schwankenden Schatten an den Wänden. Francos, Luisas und des Einnehmers Schweigen wirkte wie das Schweigen derer, die in einem Saale, wo verbotenes Spiel getrieben wird, während der kurzen Ausrufe der Spieler einen hohen Einsatz gewagt haben. Das drohende Gesicht, die drohende Stimme des Kommissärs blieben sich, obwohl nichts gefunden wurde, immer gleich. Auf Luisa machte er den Eindruck eines Menschen, der sicher war, seinen Zweck zu erreichen. Und sie konnte nichts tun, nicht einmal Franco warnen! Aber vielleicht war es besser, daß er nichts wußte, vielleicht konnte die Unkenntnis ihn retten.
Nachdem Saal und Loggia durchsucht waren, ging der Kommissär zum Salon über. Er nahm die Kerze einem Gendarmen aus der Hand und hielt eine schnelle Musterung der kleinen Berühmtheiten.
»Der Herr Oberingenieur Ribera,« sagte er, als er die Porträts von Gouvion Saint-Cyr, von Marmont und andern napoleonischen Generälen bemerkte, »hätte besser getan, das Porträt Seiner Exzellenz des Feldmarschalls Radetzky aufzuhängen. Ist er nicht da?«
»Nein,« antwortete Franco.
»Eine nette Sorte Beamter!« sagte er mit einer Verachtung und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Arroganz.
»Sind die Beamten verpflichtet,« fuhr Franco auf, »Porträts zu halten ...«
»Ich bin nicht hier,« unterbrach ihn der Kommissär, »um mich mit Ihnen in Diskussionen einzulassen!«
Franco war im Begriff, zu antworten.
»Still da, Sie, mit der vier Ellen langen Zunge!« mischte sich der barsche Einnehmer ein.
Der Kommissär ging aus dem Salon in den Korridor, der zur Treppe führte. ›Wird er hinaufgehen oder nicht?‹ dachte Luisa. Er ging hinauf, und sie folgte ihm auf dem Fuße, ohne Zittern, aber mit schwindelerregender Schnelle alle möglichen Dinge erwägend, die sich ereignen konnten. In ihrem Geiste rollten sozusagen alle Möglichkeiten, unglückliche und hoffnungsvolle, durcheinander. Hielt sie sich bei den ersteren auf, so trieb das Entsetzen sie den zweiten in die Arme; und wollte sie bei diesen verweilen, so kehrte mit perverser Gier die Phantasie zu den ersten zurück.
Noch bevor sie den Fuß auf den Flur des zweiten Korridors gesetzt hatte, hörte sie Maria weinen. Franco ersuchte den Kommissär, zu gestatten, daß seine Frau zu dem Kind hinuntergehen dürfe, aber sie widersetzte sich, sie wollte bleiben. Der Gedanke, nicht bei ihm zu sein, wenn man die Waffe fände, flößte ihr Entsetzen ein.
Inzwischen war der Kommissär in ein kleines Zimmer getreten, in dem sich verschiedene Bücher befanden; er fand ein in Capolago gedrucktes Werk mit dem Titel: »Literarische Schriften eines lebenden Italieners« und fragte:
»Wer ist dieser lebende Italiener?«
»Der Pater Cesari,« erwiderte Franco kühn.
Der andre, durch die schnelle Antwort und den Namen des Mönches getäuscht, gab sich die Miene des gebildeten Mannes, sagte: »Ah, ich weiß!« stellte das Buch wieder hin und fragte, wo der Oberingenieur schlafe.
Luisa war von der einen Angst so überwältigt, daß sie auf andres nicht acht hatte, aber Franco, als er den Schergen und seine Knechte in das reinliche und ordentliche Stübchen des Onkels treten sah, das so erfüllt war von seinem guten, friedlichen Geist, und als er daran dachte, welch ein Schlag für den armen Alten eine derartige Nachricht sein würde, empfand eine wütende Lust zu weinen.
»Mir scheint,« sagte er, »daß dieses Zimmer wenigstens verschont bleiben könnte.«
»Behalten Sie Ihre Bemerkungen für sich,« war die Antwort des Kommissärs, und er fing damit an, Matratzen und Decken umherzuwerfen. Dann verlangte er den Schlüssel zur Kommode.
Franco hatte ihn in Verwahrung und ging unter dem Schutze eines Gendarmen hinunter, um ihn aus seinem Zimmer zu holen.
Der Onkel hatte ihn ihm bei der Abreise übergeben und ihm gesagt, daß er im Notfalle in dem obersten Kasten etwas cum quibus finden würde.
Sie öffneten. Eine Rolle Zwanziger lag da, ein paar Briefe und Papier, alte Brieftaschen und Notizbücher, Kompasse, Bleistifte, ein Holzschälchen mit verschiedenen Geldstücken.
Der Hilfskommissär untersuchte jedes einzelne Stück aufs genaueste, entdeckte unter den Münzen in dem Schälchen einen Taler von Carlo Alberto und ein Vierziglirestück der Provisorischen Regierung der Lombardei.
»Der Herr Oberingenieur,« sagte der Hilfskommissär, »hat diese Geldstücke mit außerordentlicher Fürsorge aufbewahrt! Von jetzt an werden wir sie aufbewahren.«
Damit schloß er den Kasten und gab die Schlüssel zurück, ohne die andern zu öffnen.
Dann trat er in den Korridor und blieb ungewiß stehen. Der Einnehmer glaubte, daß er die Absicht habe hinunterzugehen, und da der Korridor fast dunkel war, und man die Treppe nicht sah, so ging er, der Bescheid wußte, rechts auf die Treppe zu, indem er sagte:
»Hier geht's entlang.«
Das Zimmer mit dem Säbel lag links.
»Warten Sie,« sagte der Kommissär. »Wir wollen auch hier hineinsehen.«
Und sich nach links wendend, schritt er auf die bewußte Tür zu.
Luisa, die die letzte im Zuge geblieben war, trat in dem entscheidenden Augenblick vor. Ihr Herz, das während der Unentschlossenheit des Kommissärs wild gehämmert hatte, beruhigte sich wie durch ein Wunder. Jetzt war sie kühl, furchtlos und auf alles vorbereitet.
»Wer schläft hier?« fragte der Kommissär.
»Niemand. Hier schliefen die Eltern meines Onkels, die seit vierzig Jahren tot sind. Seitdem hat niemand hier geschlafen.«
In dem Zimmer standen zwei Betten, ein Kanapee und eine Kommode.
Der Kommissär winkte den Gendarmen, die Kommode zu öffnen. Sie probierten. Sie war verschlossen.
»Den Schlüssel muß ich haben,« sagte Luisa mit vollkommener Gleichgültigkeit.
Von einem Gendarmen begleitet, ging sie hinunter und kehrte mit einem Körbchen voller Schlüssel zurück. Sie reichte es dem Kommissär.
»Ich kenne ihn nicht,« sagte sie, »er wird nie gebraucht. Es muß einer von diesen sein.«
Dieser probierte alle der Reihe nach vergebens. Dann probierte sie der Einnehmer, dann Franco. Der passende war nicht dabei.
»Schicken Sie nach San Mamette und lassen Sie den Schlosser kommen,« sagte Luisa gleichmütig.
Der Einnehmer sah den Hilfskommissär an, als wollte er sagen: ›Das scheint mir überflüssig.‹ Aber der Kommissär drehte ihm den Rücken und rief zu Luisa gewendet:
»Dieser Schlüssel muß da sein!«
Die Kommode, ein altes Rokokomöbel, hatte an jedem Kasten Metallgriffe. Einer der Gendarmen, der robusteste, versuchte mit Gewalt zu öffnen. Es gelang ihm weder beim ersten noch beim zweiten Kasten. In diesem Augenblick fiel Luisa ein, daß sie den Säbel im dritten Kasten gesehen hatte, zusammen mit einigen aufgerollten Zeichnungen. Der Gendarm zog an den Griffen des dritten Kastens.
»Der ist nicht verschlossen,« sagte er.
In der Tat ging der Kasten ganz leicht auf. Der Kommissär nahm das Licht und bückte sich, um hineinzusehen.
Franco hatte sich auf das Kanapee gesetzt und betrachtete die Querbalken an der Decke. Seine Frau setzte sich, als sie sah, daß der Kasten offen war, neben ihn, nahm seine Hand und preßte sie krampfhaft. Er hörte das Blättern von Papieren und den Einnehmer mit wohlwollender Stimme sagen: »Zeichnungen.« Dann rief der Kommissär: »Oho!«
Die Trabanten bückten sich, um zu sehen; Franco erbebte. Sie hatte die Kraft aufzustehen, um hinzusehen:
»Was gibt's?«
Der Kommissär hielt ein langes, krummes, dünnes Pappetui in der Hand, auf dem ein geschriebenes Billet lag. Er hatte es erst still für sich gelesen und las es nun laut mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Genugtuung und Sarkasmus.
»Säbel des Leutnants Pietro Ribera, gefallen bei Malojaroslawetz 1812.«
Franco sprang auf, erstaunt und ungläubig, und gleichzeitig öffnete der Kommissär das Etui. Franco konnte nicht sehen, was es enthielt; er blickte seine Frau an, die es sah. Seine Gattin hatte weiße Lippen. Er hielt es für Furcht, und das schien ihm unbegreiflich.
Es war Freude; das Etui enthielt nichts als eine leere Scheide. Luisa zog sich schnell in den Schatten zurück, ließ sich auf das Sofa niederfallen, kämpfte gegen ein heftiges inneres Zittern an, war zornig auf sich selbst, verachtete sich und überwand es. Inzwischen hatte der Kommissär die Scheide in die Hand genommen, sie nach allen Seiten betrachtet und fragte Franco, wo die Waffe sei.
Franco war im Begriff, der Wahrheit entsprechend zu antworten, daß er es nicht wisse. Aber da das wie eine persönliche Rechtfertigung aussehen konnte, antwortete er statt dessen: »In Rußland.«
Der Säbel war nicht in Rußland, sondern steckte im Schlamm auf dem Grunde des Sees, in den Onkel Piero ihn heimlich versenkt hatte, statt ihn abzuliefern.
»Und warum hat man ›Säbel‹ darauf geschrieben?« fragte der Einnehmer, um doch auch etwas Eifer an den Tag zu legen.
»Der es geschrieben hat, ist tot,« sagte Franco.
»Dieser Schlüssel, her damit!« rief wütend der Hilfskommissär.
Diesmal fand ihn Luisa, und die andern beiden Kästen wurden geöffnet; der eine war leer, der andere enthielt wollene Decken und Wäsche.
Die Haussuchung war hier zu Ende. Der Polizeiagent ging wieder hinunter in den Saal und forderte Franco auf, sich bereit zu machen, um ihm innerhalb einer Viertelstunde zu folgen.
»Aber so verhaften Sie uns doch alle!« rief Luisa.
Der Kommissär zuckte die Achseln und wiederholte zu Franco: »Innerhalb einer Viertelstunde, Sie! Gehen Sie nur in Ihr Zimmer.«
Franco zog Luisa fort und flehte sie an zu schweigen, sich um Marias willen darein zu ergeben. Er schien ein andrer; er zeigte weder Schmerz noch Zorn, auf seinem Gesicht und in seiner Stimme lag eine ernste Zärtlichkeit, eine männliche Ruhe.
Nachdem er etwas Wäsche, einen Dante und einen » Almanach du Jardinier«, der auf seinem Nachttisch lag, in die Reisetasche getan, beugte er sich einen Augenblick über Maria, die eingeschlafen war, und gab ihr keinen Kuß, um sie nicht zu wecken, küßte Luisa und löste sich, da sie sich unter den Augen der Gendarmen befanden, die an den beiden Ausgängen des Zimmers aufgepflanzt standen, schnell aus ihren Armen, indem er ihr auf französisch sagte, daß es nicht angebracht sei, diesen Herren ein Schauspiel zu geben. Dann nahm er seine Tasche und ging, sich den Befehlen des Hilfskommissärs zu stellen.
Dieser hatte seine Barke fünfzig Schritt entfernt von der Casa Ribera, nach Albogasio zu, bei der Landungsstelle, die sie dort den Canevaa nennen, warten.
Als Franco aus dem zurückgebauten Torweg des Hauses trat, hörte er über seinem Kopf ein Geräusch von Fensterflügeln, sah auf die weiße Fassade der Kirche das Licht aus seinem Fenster fallen und rief hinauf zum Fenster:
»Schicke morgen früh zum Arzt! Leb wohl!«
Luisa antwortete nicht.
Als die Gendarmen mit ihrem Arrestanten bei dem Canevaa angelangt waren, befahl ihnen der Hilfskommissär, Halt zu machen.
»Herr Maironi,« sagte er, »für diesmal haben Sie Ihre Lektion gehabt. Kehren Sie nach Hause zurück und lernen Sie die Behörde respektieren.«
Staunen, Freude, Empörung wollten Francos Herz zersprengen. Er nahm sich jedoch zusammen, biß sich auf die Lippen und trat ohne Hast den Heimweg an. Er war noch nicht um die Ecke bei der Kirche gebogen, als Luisa ihn am Schritt erkannte und rief:
»Franco?« Er sprang vorwärts, wurde von ihr gesehen, sah ihren Schatten vom Fenster verschwinden, erreichte laufend das Haus, stürzte zur Treppe mit dem Ruf: »Frei, frei!«, während seine Gattin die Treppe heruntereilte, einmal über das andre fragend: »Aber wieso, wie ist es möglich?« Sie suchten einander mit sehnsüchtigen Armen, sie umfingen sich, sie preßten sich aneinander und sprachen nicht mehr.
In der Loggia sprachen sie dann noch zwei Stunden lang ununterbrochen von allem, was sie gesehen, gehört, empfunden hatten, immer wieder auf den Säbel zurückkommend, auf die Schriftstücke, die Münzen, nicht ohne sich bei allerhand Kleinigkeiten aufzuhalten, wie über den venezianischen Akzent des Hilfskommissärs, über den brünetten Gendarm, der ein guter Teufel schien, und über den blonden Gendarm, der ein gemeiner Hund sein mußte. Von Zeit zu Zeit schwiegen sie, genossen dieses sichere Schweigen und die Süße des Heims; dann fingen sie wieder an. Bevor sie zu Bett gingen, traten sie hinaus auf die Terrasse. Die Nacht war dunkel und lau, der See unbeweglich. Die Schwüle, die Dunkelheit, die unbestimmten, ungeheuerlichen Formen der Berge nahmen in der Einbildungskraft etwas von dem tödlichen österreichischen Druck an, selbst die Luft schien gesättigt davon. Sie fühlten beide keine Müdigkeit, weder Luisa noch Franco; aber wegen des Mädchens, das bei Maria wachte, mußten sie sich doch entschließen, zu Bett zu gehen. Auf den Fußspitzen traten sie ins Zimmer. Das Kind schlief, und seine Atemzüge waren fast regelmäßig.
Sie versuchten auch zu schlafen, aber es wollte ihnen nicht gelingen.
Es drängte sie, besonders Franco, zu sprechen. Er fragte leise: »Schläfst du?« Sie antwortete: »Nein,« und so wurden die Geldstücke oder die Papiere oder der Säbel oder der Scherge mit dem venezianischen Dialekt wieder ins Treffen geführt. Es war nun wirklich nichts Neues mehr, und daher, als Maria gegen Morgen sich rührte und Zeichen des Erwachens gab und Franco wieder einmal geflüstert hatte: »Schläfst du?« antwortete Luisa »Ja«, worauf er endgültig schwieg, als ob er davon überzeugt wäre.
Am Tage nach der Haussuchung ging das Gezischel in Oria, Albogasio, San Mamette: »Haben Sie schon gehört? – O du himmlischer Vater! – Haben Sie gehört? – Himmlische Madonna!« – Am lautesten war naturgemäß das Geflüster, durch das Barborin Pasotti von dem Geschehnis erfuhr. Ihr Mann schrie ihr in den Mund: »Maironi! Polizei! Gendarmen! Verhaftung!« Die arme Frau glaubte nicht anders, als daß eine Armee ihre Freunde weggefegt habe und fing an zu schnauben: »O, o!« wie eine Lokomotive. Sie weinte und stöhnte und fragte Pasotti nach dem Kinde.
Pasotti, der ihr unter keiner Bedingung erlauben wollte, hinunter nach Oria zu gehen, den Maironi unter allen Umständen Teilnahme zu bezeigen, antwortete mit einer Bewegung, die das Aufkehren mit dem Besen deutlich versinnbildlichte. Fort! Auch fort! – Und die Dienstmagd? Die Magd wird doch da sein? – Wieder fegte dieser boshafte Mensch in der Luft, und Frau Barborin begriff, daß Seine K. K. österreichische Majestät auch die Dienstmagd hatte mit einsperren lassen.
Aber am boshaftesten wurde in beträchtlicher Entfernung von Valsolda, in einem Saale des Palazzo Maironi in Brescia gezischelt. Zehn Tage nach der Haussuchung entstieg der Cavaliere Greisberg di San Giustina, ein Vetter Maironis, der bis 1853 der Regierung des Feldmarschalls in Verona attachiert und dann mit seinem Herrn nach Mailand übergesiedelt war, vor dem Hause Maironi einem Wagen des K. K. Gesandten zu Brescia, dessen Gast er seit einigen Stunden war. Der Cavaliere, ein schöner Mann, an vierzig, geputzt und parfümiert, zeigte keine sehr heitere Miene, während er in der Mitte des Empfangssalons stand und die alten Stuckarbeiten an der Decke in Erwartung der Marchesa, ihrer Zeitgenossin, betrachtete. Als jedoch die gegenüberliegende Tür von dienender Hand weit geöffnet ward, um die umfangreiche Gestalt, das Marmorgesicht und die schwarze Perücke von Madame langsam hereinrauschen zu lassen, war der Cavaliere wie ausgetauscht und küßte mit Inbrunst die runzlige Hand der Greisin. Eine Österreich ergebene lombardische Dame war ein seltenes Tier und von großem Wert in den Augen der K. K. Regierung: jeder loyale Staatsbeamte schuldete ihr ehrerbietigste Artigkeit. Die Marchesa nahm die Huldigungen des chevaleresken Vetters mit der gewohnten phlegmatischen Würde entgegen, und nachdem sie ihn aufgefordert, sich zu setzen, erkundigte sie sich nach seiner Familie, dankte ihm für seinen Besuch, alles immer in demselben schläfrigen und gutturalen Ton. Schließlich wartete sie, die Hände über den Leib zusammengelegt, etwas atemlos von der Anstrengung so vieler Worte, daß der Vetter das Wort ergriffe.
Sie erwartete, daß er von der Haussuchung und dem Ingenieur Ribera sprechen sollte. Schon früher einmal hatte sie ihm ihr Mißfallen darüber ausgedrückt, daß Franco unter dem Einflusse seiner Frau und des Ribera stände, und ihr Erstaunen, daß die Regierung einen Menschen in Amt und Brot halte, der sich im Jahre 1848 ganz öffentlich zu den Liberalen bekannt hatte, und dessen Familie, insbesondere die »Frau Listig«, den dreistesten Liberalismus zur Schau trug. Der Cavaliere Greisberg hatte ihr geantwortet, daß man ihren gescheiten Beobachtungen Rechnung tragen würde. Darauf hatte die Marchesa den Kommissär Zerboli gegen den armen Oberingenieur aufgestachelt. Sie hatte durch Zerboli von der Haussuchung erfahren und meinte, als sie Greisberg sah, daß er gekommen sei, um mit ihr darüber zu sprechen. Nun bediente sie sich wohl gern der Regierung für ihre privaten Ränke, aber aus Prinzip hielt sie sich niemand gegenüber zur Dankbarkeit verpflichtet. Indem sie einem Beamten, dem sie mißtraute, auf den Leib gerückt war, hatte die österreichische Regierung in ihrem eigensten Interesse gehandelt. Es war nicht ihre Angelegenheit, es war nicht an ihr, darnach zu fragen; Sache des Cavalieres war es, als erster davon zu sprechen. Aber der Herr Cavaliere, schlau, boshaft und hochmütig seinerseits, war andrer Meinung. Die alte Dame verlangte eine Gunst, und um sie zu erhalten, mußte sie sich bücken, die wohltätigen Fingernägel der Regierung zu küssen.
Er schwieg, um sich zu sammeln und zu sehen, ob die andre nachgäbe. Als er sah, daß sie stumm und hart blieb, wurde er selbst geschmeidig, lächelnd, liebenswürdig, erzählte ihr, daß er von Verona komme, und schlug ihr vor, zu raten, welchen Weg er genommen habe. Er war durch einen so reizenden Ort gekommen, hatte eine so entzückende prächtige Villa gesehen, ein Paradies! Das Raten war nicht die starke Seite der Marchesa; sie fragte, ob es Brianza gewesen sei. Nein, von Verona nach Brescia über Brianza, nein, so war er nicht gekommen. Er schilderte die Villa so eingehend, daß die Marchesa nicht umhin konnte, ihre Besitzung in Monzambano zu erkennen. Nun gab ihr der Cavaliere zu raten auf, weshalb er sich wohl die Villa angesehen habe.
Sie erriet es sofort, erriet das ganze Gewebe der Komödie, die man ihr vorspielte, aber ihr schwerfälliges Gesicht ließ nichts durchblicken. Der Gesandte von Brescia hatte schon einmal vorsichtig getastet, um zu erfahren, ob sie die Villa Seiner Exzellenz dem Marschall vermieten würde, aber von den Liberalen in Brescia heimlich mit Feuersbrünsten und Tod bedroht, hatte sie allerhand plausible Ausflüchte gebraucht. Sie fühlte jetzt aus Greisbergs Rede das stumme Anerbieten eines Kontrakts und blieb auf ihrer Hut. Sie gestand ihrem Vetter, daß sie auch dieses nicht erraten könnte. Ja, es schien ihr, als würde sie mit jedem Tag dümmer. Die Jahre und die Sorgen! »In diesen Tagen gerade habe ich einen argen Verdruß gehabt,« sagte sie. »Ich habe erfahren, daß die Polizei bei meinem Enkel in Oria eine Haussuchung vorgenommen hat.«
Greisberg, als er die heuchlerische Alte sich entschlüpfen sah, warf die Handschuhe beiseite und packte sie mit den Krallen fest. »Marchesa,« sagte er in einem Ton, der keine Erwiderung duldete, »Sie dürfen nicht von Verdruß sprechen. Sie haben durch mich und den Herrn Kommissär von Porlezza der Regierung wertvolle Informationen verschafft, die Ihnen Ihr verdienstliches Vorgehen sehr hoch anrechnet. Ihrem Enkel wurde kein Haar gekrümmt, noch wird man ihn anrühren, wenn er verständig ist. Indessen bedauere ich aufrichtig, daß man vermutlich keine Mittel und Wege finden wird, gegen eine andre Persönlichkeit strenge Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen privatim Unrecht zugefügt hat. Um ein Mittel zu finden, diese Person zu treffen, ist der Herr von Porlezza sogar über seine Pflicht hinausgegangen. Sie müssen also ohne weiteres zugeben, Marchesa, daß von Verdruß nicht die Rede sein kann, und daß Sie sogar der Regierung besonders verpflichtet sind.« Niemals war man der Marchesa so hochmütig und mit so überwältigender Autorität entgegengetreten. Vielleicht waren es die empörten Schläge ihres Herzens, die über dem steifen Busen Kopf und Hals in sichtbare, unablässige Schwingungen versetzten; aber es sah genau aus wie die Bewegungen eines Tieres, das mühsam arbeitet, um einen Riesenbissen zu verschlucken. Auf jeden Fall demütigte sie sich nicht so weit, ein Wort der Besänftigung zu sagen. Wieder im Besitze ihrer fetten Gemütsruhe bemerkte sie nur, daß sie niemals Maßregeln gegen irgend jemand angerufen, und daß, wenn man bei der Haussuchung nichts für den Ingenieur Ribera Belastendes gefunden habe, sie das aufrichtig freue; daß wohl im Hause Ribera alles Erdenkliche gesprochen worden sei, daß aber Reden schwerlich aufzugreifen seien. In etwas milderer Tonart entgegnete der Cavaliere, daß er nicht sagen könne, ob nichts gefunden sei, daß das letzte Wort erst der Marschall sprechen würde, der beabsichtigte, sich persönlich mit der Angelegenheit zu befassen. So fand er Gelegenheit, das Gespräch wieder auf die Villa Monzambano zu lenken. Er bat sie formell, sie seiner Exzellenz zu überlassen, der die Absicht habe, sich acht Tage dort aufzuhalten. Die Marchesa dankte für die große Ehre, sagte, daß die Villa es nicht verdiene, daß sie ihr zu eng scheine, daß sie reparaturbedürftig sei und man das Seiner Exzellenz sagen müsse. Sie hätte gern einen Aufschub ermöglicht, abgewartet, welches der Sündenpreis für ihre Nachgiebigkeit sein würde, aber der Cavaliere zeigte noch einmal die Krallen und erklärte, eine sofortige Antwort haben zu müssen, eine klare Antwort, ja oder nein, und so mußte die alte Dame wohl oder übel sich unterwerfen. »Seiner Exzellenz zu Gefallen,« sagte sie. Sofort wurde Greisberg wieder liebenswürdig und scherzte über die Maßregeln, die man gegen den Herrn Ingenieur ergreifen könnte. Es würde kein Blut fließen, allerhöchstens ein bißchen Tinte; man würde ihm die Freiheit nicht nehmen, sondern sie ihm völlig wiedergeben! Die Marchesa sagte kein Sterbenswörtchen. Sie ließ zwei Glas Limonade bringen und schlürfte langsam die ihre in kleinen Schlückchen, nicht ohne einen schwachen Ausdruck von Befriedigung zwischen einem Schluck und dem andern, als habe die Limonade einen neuen und auserlesenen Geschmack. Der Cavaliere hätte gern von ihr ein bestimmtes Wort betreffs des Ribera gehört, einen ausdrücklichen Wunsch, und das schnell geleerte Glas auf das Tablett stellend, sagte er zu ihr: »Ich werde die Sache in die Hand nehmen, wissen Sie, und es soll uns gelingen. Sind Sie's zufrieden?«
Die Marchesa fuhr fort, ihre Limonade zu schlürfen, ganz, ganz langsam, und blickte dabei ins Glas.
»Ist's Ihnen nicht recht?« fragte der Vetter noch einmal nach vergeblichem Warten.
»Ja, sie ist gut,« tönte es schläfrig durch die Nase. »Ich trinke wegen der Zähne so langsam.«
*
Ein letztes Flüstern, doch das kam nicht aus Menschenmund. Luisa und Franco saßen auf der Wiese von Looch, dicht bei dem Kirchhof. Sie sprachen von der großen und wunderbaren Güte der Mutter und verglichen sie mit der großen und einfachen Güte des Onkels, die Ähnlichkeiten und die Unterschiede hervorhebend. Sie sagten nicht, welche von beiden ihnen im ganzen die erhabenere dünkte, aber aus ihrem Urteil konnte man die verschiedenen Neigungen erraten. Franco zog die ganz von dem Glauben an das Überirdische durchdrungene Güte vor, Luisa die andre. Er litt unter diesem geheimen Widerspruch, hütete sich jedoch, daran zu rühren, in der Furcht, eine Note anzuschlagen, die einen allzu schmerzlichen Nachhall geben könnte. Aber ein Schatten lag auf seiner Stirn, und in einem gewissen Augenblick entschlüpften ihm dennoch die Worte: »Wieviel Unglück, wieviel Bitterkeit ertrug deine Mutter und mit welcher Resignation, mit welcher Kraft, mit welchem Frieden! Glaubst du, daß einfache, natürliche Güte sie so hätte ertragen können?«
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Luisa. »Die arme Mama hat, glaube ich, vor dieser schon in einer jenseitigen Welt gelebt; ihr Herz war immer dort.« Sie sagte nicht alles, was sie dachte. Sie dachte, daß, wenn alle guten Seelen dieser Welt ihrer Mutter an frommer Ergebenheit glichen, die Erde bald unter der Herrschaft der Bösewichter und der Gewalttätigen stehen würde. Und was die Schmerzen anbelangt, deren Ursache nicht die Menschen, sondern die Verhältnisse des menschlichen Lebens sind, so schienen ihr jene, die aus eigenster Kraft dagegen ankämpften, bewundernswerter als die andern, die von eben demselben Wesen, das sie heimgesucht, Beistand erflehen und erhalten. Aber diese Empfindungen wollte sie ihrem Gatten nicht eingestehen. Sie sprach statt dessen die Hoffnung aus, daß den Oheim niemals schwere Trübsal treffen möge. »War es möglich, daß der Herr einem solchen Mann Leiden schickte?«
»Nein, nein, nein!« rief Franco, der in einem andern Moment vielleicht nicht gewagt haben würde, Gott in dieser Weise ins Handwerk zu pfuschen. Ein leichter Wind wehte vom Boglia herunter durch die Schlucht von Muzai, bewegte die Kronen der alten Nußbäume. Luisa schien es, als stände dieses Rauschen im Zusammenhang mit Francos letzten Worten; es schien ihr, als wüßten der Wind und die großen Bäume etwas von der Zukunft und flüsterten miteinander davon.