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Sechstes Kapitel.
Die alte Frau mit dem Marmorherzen

Die Tür ging leise ein wenig auf, das Mädchen steckte den Kopf ins Zimmer und rief Franco, der vor einem Stuhl neben dem Bett der Toten kniend betete. Franco hörte nicht, aber Luisa erhob sich. Sie ging zu dem Mädchen, um nach ihrem leise geflüsterten Begehr zu fragen, sagte ihr ein paar Worte, und als jene sich zurückgezogen, wartete sie neben der Tür. Als niemand erschien, öffnete sie die Tür und sagte laut: »Kommen Sie, kommen Sie herein.« Ein heftiges Schluchzen antwortete ihr. Luisa streckte beide Hände aus, die der Professor Gilardoni krampfhaft festhielt. So blieben sie geraume Zeit unbeweglich mit gepreßten Lippen, gegen die Bewegung ankämpfend, er mehr als sie. Luisa war die erste, die sich regte, sie entzog ihm sanft eine Hand und zog mit der andern den Professor in das Zimmer der Toten.

Frau Teresa war im Salon gestorben, auf dem Lehnsessel, den sie nicht mehr hatte verlassen können seit der Hochzeitsnacht. Man hatte sie dann auf den Diwan gebettet, der zur Totenbahre hergerichtet war. In dem Lichte der vier Kerzen sah man das sanfte, wachsbleiche Antlitz auf dem Kissen ruhen, mit einem Lächeln, das durch die geschlossenen Lider schien, mit halbgeöffnetem Munde. Das Lager und das Kleid waren mit Herbstblumen bestreut, mit Cyclamen, Dahlien, Chrysanthemen.

»Sehen Sie, wie schön sie ist,« sagte Luisa mit so zärtlicher und klarer Stimme, daß es einem das Herz zerriß. Der Professor lehnte sich schluchzend gegen einen Stuhl, der von dem Lager entfernt stand.

»Fühlst du es, Mutter,« sagte Luisa leise, »wie lieb sie dich haben?«

Sie kniete nieder, nahm die Hand der Toten und bedeckte sie mit Küssen und Liebkosungen und flüsterte ihr süße Worte zu; dann schwieg sie, legte die Hand hin, stand auf, küßte die Stirn und betrachtete mit gefalteten Händen ihr Antlitz. Sie gedachte der Vorwürfe, die ihr die Mutter in den vergangenen Jahren, von der Kinderzeit an, gemacht, und die sie so bitter empfunden hatte. Wieder kniete sie nieder, wieder drückte sie die Lippen auf die eiskalte Hand mit leidenschaftlicherer Inbrunst, als wenn sie ihrer Zärtlichkeiten gedacht hätte. Dann nahm sie eine Cyclame von der Schulter der Toten, stand auf und reichte sie dem Professor. Dieser nahm sie weinend, näherte sich Franco, den er zum erstenmal seit jener Nacht wiedersah, umarmte ihn und wurde in stummer Bewegung wieder umarmt; dann verließ er auf den Zehenspitzen das Zimmer.

Es schlug acht. Frau Teresa war um sechs am vorhergehenden Abend gestorben; in den sechsundzwanzig Stunden hatte Luisa nicht einen Augenblick geruht, hatte sie nur vier- oder fünfmal das Zimmer auf wenige Minuten verlassen. Wer oft hinausging und auch lange draußen blieb, das war Franco.

Man hatte ihn heimlich benachrichtigt, und er war gerade rechtzeitig in Castello eingetroffen, um die Mutter noch am Leben zu finden, und alle die traurigen Obliegenheiten, die der Tod mit sich bringt, waren ihm zugefallen, denn der Oheim Piero hatte trotz seines Alters nicht die geringste Erfahrung in diesen Dingen und wußte nicht ein noch aus.

Jetzt, als er es acht schlagen hörte, näherte er sich seiner Gattin und bat sie sanft, ein wenig zu ruhen, aber Luisa antwortete ihm sofort in so entschiedenem Ton, daß er nicht den Mut fand, weiter in sie zu dringen. Das Begräbnis sollte am folgenden Tag um neun stattfinden. Sie hatte gewünscht, daß man solange wie möglich damit wartete und wollte bis zum letzten Augenblick bei der Mutter bleiben. In ihrer zarten Gestalt wohnte eine unbezähmte Energie, die noch ganz andre Beweise ihrer Stärke geben sollte. Für sie war die Mutter, die dort auf dem bescheidenen Lager unter den Blumen lag, alles, was ihr geblieben war. Sie dachte nicht, daß ein Teil von ihr anderswo sei, sie suchte sie nicht an dem nach Westen gelegenen Fenster unter den Sternen, die über den Bergen von Carona flimmerten. Sie dachte nur, daß die geliebte Mutter, die seit so vielen Jahren allein für sie gelebt, die keine andre Sorge auf Erden gehabt hatte als ihr Glück, binnen weniger Stunden und für immer unter den großen Nußbäumen von Looch schlummern würde, in der schattigen Einsamkeit des kleinen Friedhofes von Castello, während sie das Leben genießen würde, die Sonne, die Liebe.

Sie hatte Franco fast schroff geantwortet, als verletze die Liebe des Lebenden auf irgendeine Weise die Liebe der Toten. Dann glaubte sie, ihn gekränkt zu haben, sie bereute es, gab ihm einen Kuß, und wissend, daß sie ihm eine Freude damit machte, wollte sie etwas tun, was die Mutter sicher von ihr erwartet haben würde: sie wollte beten. Mechanisch sagte sie Paters, Aves und Requiems her, ohne eine Befriedigung darin zu finden, ja sogar ein geheimes Unbehagen dabei empfindend, ein Loslösen vom Schmerz. Sie hatte immer die religiösen Gebräuche ausgeübt, aber seitdem die Inbrunst der ersten Kommunion erloschen, hatte ihre Seele keinen Teil mehr an dem Gottesdienst gehabt. Ihre Mutter hingegen hatte weit eher für das Jenseits als für diese Welt gelebt, jede Handlung, jedes Wort, jeden Gedanken hatte sie auf jenes Ziel gerichtet. Luisas Gedanken und Gefühle hatten bei ihrer vorzeitigen intellektuellen Entwicklung durch die kraftvolle Entschlossenheit, die in ihrem Charakter lag, eine andre Richtung genommen. Sie verbarg sie jedoch hinter einer teils bewußten, teils unbewußten Verstellung, sei es aus Liebe zur Mutter, sei es infolge der Widerstandskraft durch das mütterliche Wort ausgesäter Keime, die durch das Beispiel gepflegt, durch die Gewohnheit erstarkt waren.

Von ihrem vierzehnten Jahr ab hatte sie dazu geneigt, nicht über das gegenwärtige Leben hinauszublicken und gleichzeitig nicht in sich selbst zu blicken, für andre zu leben, für das irdische Wohl der andern, jedoch mit einem starken und stolzen Gerechtigkeitssinn. Sie ging in die Kirche, erfüllte die äußeren Formen der Religion, ohne Ungläubigkeit und ohne die Überzeugung, Gott damit wohlgefällig zu sein. Sie hatte den unklaren Begriff eines so erhabenen und großen Gottes, daß keine direkte Verbindung mit den Menschen und ihm möglich wäre. Und wenn sie zuweilen glaubte zu irren, so schien es ihr, daß ein so unendlich gütiger Gott einen solchen Irrtum nicht strafen könne. Wie sie zu dieser Vorstellung gekommen war, wußte sie selbst nicht.

Noch einmal wurde die Tür ganz vorsichtig geöffnet, eine gedämpfte Stimme rief »den Herrn Don Franco«. Als Luisa allein geblieben war, hörte sie auf zu beten, sie neigte das Haupt über das Kissen der Mutter, berührte mit den Lippen ihre Schulter und schloß die Augen, sich von dem Strome der Erinnerungen tragen lassend, die diese Berührung wie ein vertrauter Lavendelduft heraufbeschwor. Das Kleid der Mutter war von Seide, ihr bestes, ein Geschenk des Oheims Piero. Sie hatte es nur ein einziges Mal getragen, vor einigen Jahren bei einem Besuche bei der Marchesa Maironi. Auch dieser Gedanke kam mit dem Lavendelduft, brennende Tränen stiegen ihr auf voll schmerzlicher Zärtlichkeit und einem Gefühl, das nicht gerade Haß, das nicht gerade Zorn war, aber doch von beiden die Bitterkeit in sich barg.

*

Als Franco seinen Namen rufen hörte, erbebte er; er erriet sofort die Veranlassung. Oheim Piero hatte zeitig am Morgen der Marchesa geschrieben, ihr in einfachen, aber ehrerbietigen Worten den Tod seiner Schwester angezeigt; und Franco selbst hatte dem Briefe des Oheims ein Billett mit den folgenden Worten beigefügt: »Teure Großmutter, ich habe nicht die Zeit, Dir zu schreiben, weshalb ich hier bin; ich werde es Dir morgen mündlich sagen, und ich habe die Zuversicht, daß Du mich anhören wirst, wie mein Vater und meine Mutter mich angehört haben würden.«

Bisher war noch keine Antwort aus Cressogno eingetroffen. Jetzt hatte ein Mann aus Cressogno einen Brief gebracht. Wo ist dieser Mann? – Fort; er wollte keinen Augenblick warten. – Franco nahm den Brief, las die Adresse »Herrn Ingenieur Pietro Ribera, Wohlgeboren«, und er erkannte die Handschrift der Verwalterstochter. Er ging sofort hinauf zum Oheim Piero, der sich ermüdet zu Bett gelegt hatte.

Oheim Piero zeigte, als Franco ihm den Brief reichte, weder Erstaunen noch Neugier und sagte gleichmütig:

»Öffne ihn.«

Franco stellte das Licht auf die Kommode und öffnete, dem Bett den Rücken wendend, den Brief. Er schien zu Stein erstarrt, er atmete nicht, er rührte sich nicht.

»Also?« fragte der Oheim.

Schweigen.

»Ich verstehe,« sagte der Alte. Da ließ Franco den Brief fallen, streckte die Hände zum Himmel und stieß ein langes, tiefes und heiseres »Ach!« aus, voll dumpfen Staunens und Abscheus.

»Nun,« sagte der Oheim, »darf man wissen?«

Franco schüttelte sich, stürzte ihm in die Arme, nur mit Mühe sein Schluchzen unterdrückend.

Der friedliebende Mann erduldete zunächst schweigend diesen Sturm, ohne sich darüber aufzuregen. Dann begann er sich zu wehren und verlangte den Brief: »Gib her, gib her, gib her!« Und er dachte: ›Was zum Teufel kann diese verwünschte Frau geschrieben haben?‹ Franco nahm das Licht und reichte ihm den Brief. Die Großmutter hatte nichts geschrieben, auch nicht eine Silbe; sie hatte einfach den Brief des Ingenieurs und Francos Billett zurückgeschickt. Der Oheim brauchte einige Zeit, ehe er es begriff; er war nie schnell von Begriffen, und dies ging ihm über den Verstand. Als er verstanden hatte, konnte er nicht umhin zu sagen: »Ja, das ist ein starkes Stück.« Dann aber, als er Franco so außer sich sah, rief er mit der feierlichen Stimme, mit der er alle menschlichen Dinge abzutun pflegte:

»Höre! Es ist sozusagen ...« und er suchte nach dem bezeichnenden Wort in einer ihm eigentümlichen Weise, indem er die Backen aufblies und eine Art von Röcheln ertönen ließ, »– es ist eine Gemeinheit; aber mich darüber zu wundern wie du, daran denke ich nicht. Das Unrecht, mein Lieber, ist nicht auf ihrer Seite allein; und also? Im übrigen tut es mir euretwegen leid, die ihr euch einschränken und in diesem elenden Nest leben müßt; aber meinetwegen? Ich gewinne dabei und bin bereit, ich sag's gerade heraus, deiner Großmutter zu danken. Sieh, ich habe keine Familie gegründet, ich habe immer darauf gerechnet. Jetzt ist meine arme Schwester gestorben; hätte die Großmutter euch mit offenen Armen empfangen, so würde ich überflüssig sein wie ein Kohlstrunk. Also!«

*

Franco hütete sich, seiner Gattin die Sache zu erzählen, und obschon sie von den nach Cressogno abgeschickten Briefen wußte, fragte sie doch erst nach der Beerdigung, einige Stunden nachher, ob die Großmutter geantwortet habe. Der kleine Salon, die kleine Terrasse, die kleine Küche waren den ganzen Tag von morgens neun Uhr bis abends neun Uhr voller Menschen gewesen.

Um zehn verließen Luisa und Franco das Haus ohne Laterne, sie schlugen den Weg zur Rechten ein, gingen langsam und schweigend durch die Dunkelheit des Dorfes, erreichten die lichte und zugige Biegung, zu der das dumpfe Getöse des Flusses San Mamette heraufdringt, und traten in den Schatten der einen kräftigen Geruch ausströmenden Nußbäume von Looch. Kurz ehe sie den Kirchhof erreichten, fragte Luisa mit leiser Stimme ihren Mann: »Weißt du nichts von Cressogno?« Er hätte ihr so gern, wenigstens teilweise, die Wahrheit verborgen. Er konnte es nicht. Er sagte, daß ihm sein Billett zurückgeschickt worden sei, aber Luisa wollte wissen, ob die Großmutter dem Oheim wenigstens ein Wort des Beileids geschrieben habe. Francos »Nein« war so unsicher, fast zitternd, daß bei Luisa, nicht sofort, aber nach wenigen Schritten, ein Verdacht aufblitzte und sie plötzlich stehen blieb und den Arm ihres Gatten umklammerte. Noch bevor sie den Mund öffnete, verstand Franco sie, er schloß sie in seine Arme, wie er den Oheim umarmt hatte, mit noch größerem Ungestüm, er sagte ihr, sein Herz, seine Seele, sein Leben gehöre ihr, nichts andres solle sie suchen auf der Welt, und er fühlte sie in seinen Armen erbeben.

Kein weiteres Wort, nicht jetzt und nicht später, wurde zwischen ihnen gewechselt. Am Kirchhofsgitter knieten sie zusammen nieder. Franco betete mit der ganzen Inbrunst seines Glaubens. Luisas verlangende Augen drangen durch das gelockerte Erdreich neben dem Eingang, sie drangen durch die Bahre, sie hefteten sich im Geiste auf das milde und ernste Antlitz der Mutter; auch im Geiste, aber in einem so wilden Drange, daß sie die Eisenstäbe des Gitters hätte ins Wanken bringen können, neigte sie sich tief und immer tiefer, preßte ihre Lippen auf die Lippen der Toten, empfand eine Gewalt der Liebe, die viel stärker war als alle Beleidigungen, als alle abscheulichen Niedrigkeiten der Welt.

Nur schwer trennte sie sich von hier gegen elf Uhr. Als sie an der Seite ihres Gatten den schlüpfrigen, frisch beschotterten Fußweg langsam hinunterstieg, tauchte plötzlich vor ihrem Geiste die Vision einer zukünftigen Begegnung mit der Marchesa auf. Sie blieb stehen, sie richtete sich in die Höhe, sie ballte die Fäuste; und ihr schönes, intelligentes Gesicht strömte eine solche Willenskraft aus, daß, wenn die alte Dame mit dem Marmorherzen sie in Wirklichkeit gesehen hätte, ihr in diesem Augenblick begegnet wäre, sie sich ohne weiteres, nicht gebeugt, nicht gefürchtet, nein zur Wehr gesetzt haben würde.


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