Gorch Fock
Seefahrt ist not!
Gorch Fock

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Achter Stremel

Es war Ostern auf Finkenwärder.

An den Gräben standen die Wicheln mit silbernen Katzen, und die Erlen ließen braune Troddeln im Winde wehen. Die Pappeln leuchteten im Sonnenschein und glommen wie Frühlingsbräute mit hellblonden Scheiteln. Die Elstern bauten ihre Nester im Lande. Über den Wischen gaukelten die Kiebitze zu Hunderten, und über dem hohen Neß schwebten die grauen Reiher.

Und die Finkenwärder Fahrensleute feierten Ostern, indem sie um ihr Eiland gingen. Nur Ostern taten sie das, sonst nicht. Wann käme sonst auch wohl ein Fischermann dazu, einen Gang um sein Land zu machen? Er geht sowieso nicht gern, denn Seebeine sind nicht für Landwege geschaffen. Wintertags, wenn er zu Hause ist, lassen die grundlosen Wege es nicht zu, für die sie früher Stelzen gehabt haben. Sommertags hat er zwischen Jütland und Niederland zuviel zu beschicken. Nur Ostern geht es klar.

Der Brauch entstammt der alten Zeit, als die Fischerei den ganzen Winter eingestellt war und die große allgemeine Ausreise erst nach Ostern stattfand. Da lag es nahe, daß der Fischer noch mal seine Insel auf den Kieker nahm, bevor er sich der See für lange Monde anvertraute. Auch die Konfirmanden, die mit zur See sollten, hatten ein Verlangen, den Deich noch einmal ganz unter den Füßen zu haben, bevor sie an Bord gingen. 1887 war diese uralte Sitte noch allgemein üblich.

Wir denken an den Ostergang im Faust, an den Doktor und seinen Famulus, an Bürger und Soldaten, Scholaren und Handwerksburschen und an all das andere bunte Gewimmel vor dem Tor der bunten, mittelalterlichen Stadt Frankfurt – aber das muß verblassen vor der großen Deichwanderung der Fischer am Ostersonntag, die nachmittags anfängt und bis zum Abend währt und voll Gewaltigkeit ist.

Breit und blau grüßt die Elbe, im Hintergrund steigen die Blankeneser Berge auf. Dampfer gehen auf und ab. Ihr Rauch weht über den Strom. Deutsche, englische, französische, nordische und holländische Flaggen flattern im Wind, Hunderte von braunen und griesen Segeln beleben das Fahrwasser wie Riesenvögel, und im Osten steigen die Hamburger Türme aus dem Hafendunst wie Propheten aus dem Volk. Vom Bollwerk aber und von den Schallen grüßen die blanken Ewer und Kutter, die starken, schönen Schiffe, und ihre Flögel lachen im Sonnenschein, als wenn sie wüßten, daß es Ostern ist. Da liegt Schiff bei Schiff in nachbarlicher Eintracht, und jedes spiegelt sein Gesicht ruhig in dem stillen Wasser. Zwischen den Masten hängen die Kurren zum Trocknen, die aussehen wie die Panzerhemden eines Hünengeschlechts, das große Wäsche gehabt hat.

Das ist eine Seite des Deiches; auf der anderen stehen die Fischerhäuser mit moosbewachsenen Stroh- oder Pfannendächern, mit grünen Türen, geröteten Steinen und blanken Fenstern, hinter denen Blutstropfen, Schuhbäume, Geranien und andere Blumen blühen. Binnendeichs stehen die großen Hamenanker, die ausgedienten Kurrbäume, die aufgefischten Hummerkästen; dahinter liegen die braunen Äcker, von Gräben durchzogen, die grünen Wischen, die Wurten mit den großen Bauernhäusern, mit hohen Eschen, Linden und Eichen: Inseln inmitten der Insel.

Da kommen sie, die Osterleute.

Zuerst die Gören, de mol üm Finkwarder snurren weut! In Scharen kommen sie und setzen am Westerdeich einen Feekhaufen nach dem andern in Brand – denn an diesem Tag sind die Ostermoonen frei –, damit die Fahrensleute Leuchtfeuer haben, nach denen sie steuern können. Ihnen folgen die Schlingel, die ihre Kräfte an den morschen Wicheln versuchen, die in die Eschen klettern und in die Heisternester gucken, die über die Gräben jumpen und Enten und Gänse bange machen, die Deerns vom Deich stoßen und die Hunde reizen. Sind die vorüber, dann erscheinen die Konfirmandinnen in langer Reihe, sittsam in den langen Kleidern gehend, mit weißen Tüchern um die Schultern; aber doch summt ihnen schon der erste Schnellwalzer in den Ohren, doch gucken sie sich schon heimlich nach den Konfirmanden um, die nun kommen, etwas schwankenden Ganges, als wenn sie ihr Lebtag auf See gewesen wären. Sie tun, als hätten sie schon das kleine Schifferpatent in der Tasche, und gucken die Jungen gar nicht mehr an, kümmern sich auch nicht mehr um die Osterfeuer, sondern sprechen von Schiffen und Mädchen. Der breitrandige schwarze Hut, der Huler, sitzt verwegen auf dem Kopfe, etwas mit Backbordschlagseite, wie der Fischerknecht ihn gern aufsetzt. Jeder schmökt seine Zigarre (un noher fangt se doch all an to prüntjern).

Nach ihnen aber kommen die Seefischer, zu zweien oder dreien, in Gruppen zu fünfen oder sieben, zu zehn und zwanzig: Die brauchen den ganzen Deich und gehen ruhig und langsam, bleiben stehen, kehren ein, sprechen mit anderen, die ihnen entgegenkommen, und betrachten den Deich, die Häuser und die Schiffe wie ein Bauer sein Vieh. Namentlich die Alten nehmen sie vor, die vor den Türen stehen oder aus dem Fenster schauen, Hein-Bruer und Jan-Ohm, Thees-Unkel und Vadder Warnk, und fragen sie nach ihrer Gesundheit und ob das Essen noch schmecken wolle. Sie sehen nach, was auf den Werften gebaut wird und wie viele neue Häuser das Jahr hinzugekommen sind. Dazwischen gilt das Gespräch der Fahrt und der Fischerei und dem Wetter. Neem hei fischt und wat hei fungen: So geht es immerzu.

Klaus Mewes und sein Junge müßten keine rechten Finkenwärder sein, wenn sie nicht auch unterwegs wären. Auch sie machten die Runde um das Eiland, wobei sie sich ordentlich Zeit lassen mußten, denn weil das Mewesgeschlecht das größte auf Finkenwärder war, hatten sie an allen Huken Verwandte wohnen, denen sie guten Tag sagen mußten, und wurden alle Augenblicke zu einer Tasse Kaffee hineingenötigt. Auch mit den Fischern, die er überholte oder denen er begegnete, hatte Klaus Mewes manches zu beklönen. Störtebeker zog ihn schon ab und zu an der Jacke, damit sie nur weiterkamen, denn er wollte gern um ganz Finkenwärder herum.

Beim Segelmacher wurde ein neues Großsegel bestellt, das bis Karkmeß geliefert werden sollte. Und als Klaus den Zimmerbaas auf der Helling stehen sah, bog er mit seinem Jungen vom Deich ab. Zunächst bezahlte er die beiden Kurrbäume, die er noch auf der Rechnung stehen hatte, dann besah er den neuen Kutter, den Simon Wriede bauen ließ. Ein hohes stolzes Fahrzeug war es, das wie ein Königsschiff in den Himmel ragte.

»Wat köst de nu, Jochen?« fragte er, als er alles befühlt und besehen hatte.

»He löppt sowat up twölfdusend, Klaus«, erwiderte der Baas.

»Dat Schipp is god«, lobte der Seefischer und erfreute sich wieder an dem scharfen Steven und dem schlanken Rumpf. »De schall woll seilen, Gotts den Dünner! Dor mol mit no buten to flimsen! Jochen, noch een poor Johr, denn sett ik mien Ewer af, und denn schallst du mi een neen Kutter bon, noch greuter un noch scheuner as düsse hier! Und denn will ik jo mol wiesen, wat Seilen un Fischen to bedüden hett, so gewiß as ik Klaus Mees heet!«

»Denn giffst du mi den Ewer, ne, Vadder?« rief Störtebeker eifrig, der Baas aber strich den grauen Bart und sagte bedächtig: »Dor snackt wi noch moi ober, Klaus, wenn wi denn noch left un noch gesund sünd!«

»Hest upstünds noch mihr to don, Jochen?«

»Noch een Kutter, Klaus. Für Jan Harm.«

»Geiht vörwarts mit de Fischeree, Jochen! Wo lang schallt duern, un wi hebbt H. F. 500 up See!«

Der Baas aber sagte nur: »Wi weut dat best höpen«, denn er glaubte nicht daran.

Vater und Sohn verließen die Werft und gingen weiter.

 

Abends saßen sie alle in der Dönß und warteten auf die Ostereier. Hein Mück sagte, er wolle ganz gewiß zehn essen, und Kap Horn erzählte, er habe schon den ganzen Tag nichts mehr gegessen und rechne auf drei- oder vierundzwanzig, so hungrig sei er. Da trat Gesa mit der großen Schüssel herein, gehäuft voll mit den schönen, weißen Eiern, und das Ostereieressen begann, das lustige Wettessen, bei dem der gewonnen hatte, der die meisten Eier aß. Mit glänzenden Augen löffelte Störtebeker ein Ei nach dem anderen aus. »Wedder een, Vadder! De smeckt as Zucker!«

»Söben«, rief sein Vater.

»Kann ne angohn«, sagte Störtebeker aufgebracht, »du kannst heuchstens dree Eier up hebben.« Er zählte die Schalen: »Een, twee, dree, Vadder!«

Kap Horn beschäftigte von da an die Augen des Jungen bald auf dem Deich und bald bei den Bildern an der Wand und schob ihm, ohne daß er's merkte, die leeren Schalen hin, wie der brütenden Henne Enteneier untergeschmuggelt werden. Die drei Fahrensleute rissen ein ordentliches Loch in den Eierhügel, aber schließlich mußten sie doch back brassen und sich für beet erklären. Da bekleidete Störtebeker sich mit der Würde eines Preisrichters und zählte die Eierschalen, die jeder vor sich liegen hatte. Bei seinem Vater waren es fünf. »U, wat wenig, Vadder! Du säst söben! Dat harr ik ne van di dacht!«

»Ik much ne tolangen, Störtebeker«, entschuldigte sein Vater sich, »ik dach, anners wörs du ne satt!«

Bei der Mutter kam Störtebeker zu dem niederschmetternden Ergebnis: »Twee! Mudder, dat et de lütjen Kinner ok all meist. Du müß gewiß de Pann wegdrägen!« Hein Mück, der sechs Eier gegessen hatte, kam glimpflich davon, aber über Kap Horn, der nur ein Häufchen ganz zusammengedrückter Schalen hatte, goß er die volle Schale seines Spottes aus. Dann ging er an den eigenen Berg und steckte die Schalen zusammen. »Mit de poor Dinger is ok doch keen Stoot to moken«, stichelte Kap Horn.

»Van wegen poor Dinger«, ereiferte der Junge sich und zählte sie in Gedanken schnell noch einmal durch, um sicher zu sein, daß er sich nicht verzählt hatte. »Kiek hier: dre, süß, söben, acht, negen. Negen Eier! Ik harr sülben ne dacht, wat soveel würen, ober kannst jo sehn!«

»Wohrraftig negen«, rief Klaus Mewes, der sich kaum des Lachens erwehren konnte. »Wat kannt angohn, wat en swarte Koh witte Melk gifft, und wat de Jung mihr Eier eten kann as wi groten Lüd?«

Kap Horn lachte: »Jo, he is de Boos und sall noher hochleben loten warrn.«

Störtebeker aber sagte: »Junge, Junge!« und knöpfte die Hose auf, um sich Luft zu schaffen, denn die vermeintlich gegessenen neun Eier lagen ihm nun doch mit einem Mal schwer im Magen. »Vadder, nu komm ik ok doch mit no See?«»

»Nu noch ne«, bremste die Mutter schnell, »is noch veel to kold buten.« Klaus Mewes sah sie jedoch bedeutsam an und sagte, er wolle morgen zum Schuster und Dampf dahinter machen; dann könne der Junge die nächste Reise schon mit an Bord.

»Och jo, Vadder! Och jo!« rief Störtebeker in heller Freude und sprang in der Dönß herum wie ein Füllen auf der Wisch.

Er müsse aber auch Ölzeug haben, gab Kap Horn zu bedenken; das wolle er ihm machen, denn auf so was verstehe er sich noch von den großen Schiffen her. Er ließ sich eine Elle geben und nahm gleich Maß, was dem Jungen den größten Spaß machte. Umständlich schrieb er Länge und Breite in sein Notizbuch mit Kalender von Anno Tobak ein und malte darüber: Ölzeug für Klaus Mewes junior.

Spät am Abend standen sie auf dem Deich und schauten nach den drei großen Osterfeuern aus, die auf dem Opferberg bei Neugraben, der altgermanischen Thingstätte, auf dem Sand von Teufelsbrücke und auf dem Strand von Blankenese loderten und das Sonnen- und Sommerverlangen des Niedersachsengaues in die Nacht hinausriefen.

 

So bald wurde es doch nichts mit Störtebekers Seefahrt, denn ein starker, stetiger Ostwind, von dem die Fahrensleute sagten, daß er bis Michaelis wehen könne, ließ seinen Vater nicht die Elbe herauf. Klaus Mewes machte sich wieder auf der Weser heimisch, denn mit dem ewigen Dampferschleppen vom vierten Feuerschiff bis Hamburg hatte er nicht viel im Sinn; er schrieb von Bremen und Bremerhaven.

»He hett mi förn Narren«, sagte Störtebeker immer wieder erbittert zur Mutter, wenn er den Ewer nicht hergucken konnte. Längst hatte der Schuster die Siebenmeilenstiefel abgeliefert; aber sie hingen auf der Diele an dem Haken, an dem wintertags das geschlachtete Schwein hing, und er sollte sie vorher nicht tragen. Da hingen sie und ärgerten ihn alle Tage.

Störtebeker war wieder wie ein Schiff ohne Kompaß, das hierhin und dorthin trieb, wohin gerade der Wind wehte: Er fischte und schipperte, bemühte sich um das Sprechen der Nebelkrähe, verkaufte die jungen Kaninchen, er sprang mit den Jungen über die Gräben und trocknete sein Zeug im Wind, wenn es dabei naß geworden war, er watete schon in der Elbe, wenn die Mutter es nicht sehen konnte, und war der einzige vom Neß, der schon schwamm – das Wasser war noch eiskalt und benahm ihm fast den Atem! –, er suchte Regenwürmer an feuchten Abenden und pödderte Aale, er ließ sein kleines Vollschiff segeln und kalfaterte seinen Kahn mit Hilfe des Jägers, er ging mit auf die Entenjagd und saß mäuschenstill in den Binsen, während die zahmen Lockenten nach den wilden Schwestern riefen und Juno zum Sprung bereitstand, er holte sich die getrockneten Scharben von der Leine, zog ihnen die Haut ab, schnitt sie in Stremel und verzehrte sie, er sorgte dafür, daß sie abends und vor aufkommenden Regenflagen unter Dach und Fach kamen, er machte sich Hupuppen, Flöten und Dreibässe aus dem leicht abnehmbaren Bast der jungen Weidenzweige und ketscherte an stillen Abenden die Maikäfer, die um die grüngewordenen Linden schwirrten – aber es war alles Notbehelf, bis sein Vater kommen mußte und er mit zur See sollte! Alle seine Gedanken waren an Bord, und er konnte wieder jeden Tag nach dem Fahrwasser hinausfahren und Blankeneser, Kränzer und Finkenwärder nach H. F. 125 fragen.

Da stand der alte Hans Benitt am Deich, der auf dem Altenteil lebte, unbeweglich auf seine Schaufel gestützt, und hatte die Maulwurfshügel vor Augen. Regungslos stand er wie ein Hecht im Graben. Wühlte aber ein Maulwurf, so schlich er hin, stach mit der Schaufel in den Hügel, warf den Schwarzrock in die Luft und tötete ihn durch einen Hieb auf die Nase. So reinigte er jeden Tag den landschützenden Deich von seinen schlimmsten Feinden, den Erdwühlern, die in alten Zeiten so manchen Deichbruch verschuldet hatten.

Da kam ein Schnelläufer den Deich entlang, bunt gekleidet wie ein Kasper von St. Pauli, mit Schellen behängt, eine Glocke in der Hand, und hinter ihm her liefen Hunderte von Kindern. Die gingen nicht so sittsam hinter ihm wie die Kinder von Hameln hinter dem Rattenfänger. Sie lärmten und lachten, schrien und sangen wie rechte Gören des lauten Finkenwärders, des Eilands, das gewohnt ist, zwischen Stürmen zu fischen und in schwarzen Kleidern zu tanzen. »U – en Snilläuper!«

Vorbei braust die wilde Jagd. Störtebeker läuft barfuß neben dem Schnelläufer, er überholt ihn und springt geschickt vom Deich, als er einen mit der Peitsche kriegen soll, aber dann fällt ihm ein, daß er mit dem Kahn los muß, und er kehrt um. Und als der bunte Mann langsam zurückkommt und von Tür zu Tür geht, um sich für sein schnelles Laufen bezahlen zu lassen, da dümpelt der Junge schon bei Blankenese in der Dünung und ruft die Ewer an.

Jan Lanker aber gab dem Schnelläufer nichts, als der seine Hand ausstreckte, sondern fragte nur: »Wat is dor los?« – »Ik bün de Snelläuper un heff snell lopen!« – »Wat geiht mi dat an! Du harrst jo man sinnig lopen kunnt«, sagte Jan patzig und machte ihm die Tür vor der Nase zu.

Da kamen Straßenmusikanten, pfälzisches und böhmisches Volk, nicht zu vieren wie in Hamburg, sondern zu zwölfen und zwanzigen, und spielten, daß der ganze Deich tanzte, da kam der Schornsteinfeger, und die Kinder sangen:

Schosteenfeger sitt upt Dack:
Goh no Schol un lihr di wat!

Da kamen kroatische Mausefallenkerle, Nudelkastenmänner erschienen, denen weiße Mäuse aus den Taschen krochen, Elias kam mit Hüten und Geesch mit Wolle, Jan Timm mit Kirschen und Betti-Betti mit wat Räukerts, da kam der Scherenschleifer und ließ die Funken springen, der Wollkämmer kam und schor die Schafe, die Bauern kamen mit Pferd und Wagen: Es gab wirklich viel zu gucken und zu hören am garn- und fischbehängten Deich, aber Störtebekers Augen waren westwärts gerichtet. Er lag die meiste Zeit auf dem Wasser und ließ Torpedoboote und Ochsendampfer, Jalken und Kuffen, Viermaster und Barken, Lühjollen und Steinewer vorbeidampfen und -segeln. Jonn Meier kam auf, der glückliche Störfischer, weithin kenntlich an den beiden Booten, die auf Deck standen, an den roten Bojen, den Pümpeln, die an den Wanten hingen, und an dem großmaschigen Störgarn – er hatte neun große Störe gefangen, die er an Stroppen hinter sich her schleppte wie Etzel die Könige an Stricken – aber seinen Vater konnte Störtebeker nicht in Sicht kriegen. Was gingen ihn die Störe an? Sein Vater fischte keine Störe! Was kümmerte es ihn, daß Jan Mewes seine alte Jolle abschlachtete und mit dem Boot weiterfischte, daß Hein Schloo zwei Fischottern bei der Neßkuhle schoß, daß Paul Fahje sich einen neuen Großmast einsetzen ließ, weil er den alten abgesegelt hatte, daß Hinnik Saß doch zum Bauern mußte, weil er zu seekrank geworden war, daß der kleine Karsten Kölln in den Graben fiel und ertrank, daß Hans Peter sich aufhängte, weil sein Sohn von einem Dampfer in Grund gebohrt worden war, daß Hein Husteen und Marieken Kröger lustige Hochzeit feierten? Was kümmerte es ihn, der auf seinen Vater lauerte? Wie auch die Mutter sich bemühte, ihn an den Deich und an das Land zu gewöhnen – er sprach von der See und guckte nach den Schiffen, als wenn es weiter nichts auf der Welt gäbe.

Dann kam der Tag, an dem Gesa ihrem Jungen beiläufig klagte, daß sie keinen Sand mehr hätte und den Schweinen kaum noch streuen könnte; wenn Vater doch bald käme, daß er ein Boot voll Sand vom Nienstedter Fall holen könnte. Störtebeker merkte sich das und beschloß, sie zu überraschen und ihr heimlich einen Kahn voll Sand zu holen. Er nahm sich am dritten Tag, als es mit der Tide besser paßte, den kleinen Harm Rolf zu Hilfe, versah sich mit zwei Schaufeln und schipperte mit halber Ebbe westwärts, zu den Ausläufern des Nienstedter Falles, die bei Niedrigwasser als Sandbänke aus dem Wasser tauchten. Sie sollte nicht sagen, daß er nur zu schlechten Dingen zu gebrauchen sei.

Als sie die rechte Stelle gefunden hatten, klaren Sand ohne Schlick und Kraut, ließ er den Kahn aufs Trockne laufen, zog Stiefel und Strümpfe aus, krempelte die Hose auf und sprang ins Wasser. Sein kleiner Macker machte es ihm nach. Als die Bank hoch genug aus dem Wasser guckte, häuften sie den Sand zunächst neben dem Kahn zu einem Berg, damit die Feuchtigkeit abziehen konnte, dann erst schaufelten sie den trockeneren Sand in den Kahn; so mußte er ja bedeutend mehr tragen können, sagte sich Störtebeker und warf immer mehr hinein, bis der Haufen mit der Ducht gleich war. Aber auch dann gab er noch nicht nach; er wollte eine ordentliche Last ans Bollwerk bringen und schaufelte unermüdlich.

»Schullt ok woll all genog wesen?« fragte Harm, aber Störtebeker schüttelte den Kopf und spuckte von neuem in die Hände. »Noch lang ne, Harm, smiet man noch in, de Sand is dreuch, und de Kohn is en fixen Kohn, de driggt wat, kann ik di flüstern.« Er mußte sich schon den Schweiß von der Stirn wischen, so riß er sich ab. »Lot em giern bit an den Dullbom to Woter liggen, Harm: dat weiht jo ne un nix!«

Er gönnte sich und seinem Knecht erst Ruhe, als der ganze Kahn voll Sand war. »Nu weut wi utscheiden, Harm«, sagte er väterlich, setzte sich auf den Dollbaum und wartete auf die Flut, die den beladenen Kahn flottmachen sollte, der nun hoch und trocken auf dem langen Sandrücken saß. Harm betrachtete besorgt den großen Sandhaufen, aber er traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen, weil er nicht ausgelacht werden mochte, und weil Störtebeker seiner Sache und seines Fahrzeugs so sicher war.

»Wenn achtern Swiensand Seils in Sicht kommen, denn ist Flot«, sagte Störtebeker gleichmütig. »Dat durt ober noch wat«, setzte er hinzu, als er Jakob Derner und Karsten Wubb, die Aalfischer, mit ihren Kähnen vorbeirudern sah, denn die wollten ja vor der Flut noch ihre Körbe und die Aale herausnehmen. Die beiden Jungen spielten deshalb erst noch Kriegen auf dem Fall, sie bewarfen sich mit Sand, sie sammelten die großen Elbmuscheln, die Adam und Eva heißen, sie jagten die Möwen und Krähen auf, die an der Fahrwasserkante saßen, daß sie sich wie eine riesige, schwarz-weiße Wolke über dem Wasser erhoben, sie griffen die Nesen und Weißfische, die in den Prielen schwammen, und wateten in den tiefen Löchern, mit denen der Fall bedeckt war. Zuletzt saßen sie aber wieder auf dem Bordrand und suchten nach flutkündenden Segeln.

»Nu ist Stallwoter«, sagte Störtebeker, »kiek, Harm!« Und er zeigte auf die Blasen auf dem Wasser, die stillstanden.

Dann setzte Donar das Trinkhorn des Riesen ab (die Ebbe wird künden von Asenkraft, bis einmal alles vergeht, sagt die Edda), und die Flut kam, die Flut! Zuerst stiegen die Wasserblasen langsam stromauf, unmerklich fast, wie von einem Hauch bewegt, aber ihre Geschwindigkeit nahm allmählich zu, wurde stärker und stärker; gelassen wischte das Wasser mit leiser, zaghafter Hand über den Sand und stieg schüchtern über die ersten Sandrillen, besann sich noch, bevor es eine Muschel umspülte, dann aber nahmen Kraft und Strömung unaufhaltsam zu und wurden stark und wild, denn es war Neumond und springende Tide. Wie kletterte das Wasser, wie sprang, wie lief, wie wallte es!

Flot, Schipper, flot, flot!

Die Möwen und Krähen erhoben sich in die Luft und flogen davon, ihnen folgten die Störche und Reiher, als das reißende Wasser immer mehr vom Sand fraß. Im Fahrwasser ließen die elbabwärts segelnden Schiffe die Draggen fallen, weil sie die Flut nicht meistern konnten; dafür erschienen bei Schulau Dampfer über Dampfer und hinter dem Schweinesand Segel nach Segel.

Ruhig saß Störtebeker auf dem Bordrand, baumelte mit den Beinen und ließ die lebendige Flut um seine Füße strömen. »Gliek sünd wir flott, Harm!« rief er. »Kiek mol, wat dat Woter kummt!« Seines Genossen Besorgnis aber war angesichts der starken Strömung zur Angst geworden, und er wagte es, wieder davon anzufangen, daß sie zu viel Sand eingeladen hätten, daß der Kahn es nicht tragen könne und daß sie gut täten, etwas rauszuwerfen. Störtebeker indessen verzog geringschätzig den Mund, nannte ihn eine Bangbüx und verfolgte mit Freude, wie ein Stück des Sandes nach dem anderen im Wasser verschwand.

Nun war der ganze Sandfall unter, der Kahn schwamm inmitten der großen Wasserfläche – und schwamm doch nicht, sondern saß fest und rührte sich nicht. Er habe sich am Ende festgesogen, bemerkte Störtebeker, sie wollten doch mal dümpeln; er krempelte die Hosen weiter auf und riß an dem Fahrzeug, um es in Gang zu bringen, aber das lag fest wie ein großer Stein und war nicht zu bewegen, so sehr der Junge sich auch mühte.

»Wat hebb ik di seggt, wat hebb ik di seggt«, jammerte sein Kamerad. »Wi flott ne, wi flott ne, lot uns gau utsmieten!«

»Dat wür scheun!« sagte Klaus. »Kumm hier, ward nix mokt!« Und er bemühte sich eifriger, den Kahn zu bewegen, er stieg auf die Ducht und nahm den Riemen zur Hand, aber es war, als wäre das Fahrzeug angewachsen, jedenfalls rührte es sich nicht. »Dat ist jo rein as wenn dat Diert behext wür«, scherzte er, als er sich dann aber über den Dollbaum beugte und fand, daß nur noch eine Handbreit frei war, da wurde auch er bedenklich und ging hastiger mit dem Riemen zur Kehr. »Bang bün ik ober ne«, sagte er.

Der Kahn blieb fest sitzen. Der Macker begann zu weinen: »Wi buddelt af, wi versupt!« klagte er und begann, um Hilfe zu rufen: »Hilpt uns, hilpt uns!« Aber der Deich war weit, und die aufsegelnden Fischerjollen waren noch in der Ferne. Wenn nicht ein Jäger in den Binsen oder im Reet saß, wer sollte sie dann retten? Die Aalfischer waren schon längst zurückgerudert.

Störtebeker warf Sand hinaus. Wie flog die Schaufel, wie blitzte sie in der Sonne, wie flog der Sand, wie spritzte das Wasser auf!

»Hilpt uns, hilpt uns!«

»Nu lot doch bloß mol dien Geschricht van Murd und Dotslag no!« sagte Störtebeker barsch. »Smiet man mit ut, denn sünd wie gliek flott!«

»U, ik bün jo so bang, Klaus!«

»Denn kannst du ne no See hin! Ik bün keen betjen bang! Smiet doch bloß mit ut, du Knappen!«

Er hatte das Gesicht voller Wasser- und Schweißtropfen, aber er warf unverdrossen aus. »Mol schuben, Harm!« Sie stemmten sich, auf dem Dollbaum stehend, mit aller Macht gegen die Riemen, und wirklich rührte das Fahrzeug sich jetzt. »Huroh, wie hebbt em«, rief Störtebeker. »Noch en lütj betjen, denn geiht de Reis los!« Er schaufelte emsig, denn das Dollbord lag jetzt mit dem Wasser gleich, und mitunter spritzte schon eine kleine See in den Kahn. Vielleicht wäre es Störtebeker in seinem Eifer doch gelungen, ihn im allerletzten Augenblick zu retten, aber da kam die hohe, mächtige Dünung eines großen schwarzen Amerikadampfers, der schon bei Teufelsbrücke qualmte, den Störtebeker bei seiner dringlichen Arbeit aber nicht gesehen hatte, in starken Wellen über den Nienstedter Fall gelaufen, fegte über den Bordrand und füllte den Kahn mit Wasser, wischte den Sand glatt und brachte das Euschfatt zum Treiben. Da war nichts mehr zu machen, obschon Störtebeker das Euschfatt ergriff, um das Wasser auszugießen. Es war zu spät.

»Wie versupt, wie versupt!«

Sie standen schon bis an die Knöchel im Wasser auf den Duchten. Störtebeker meinte freilich, das wäre spaßig, so auf dem Wasser zu stehen. Er tröstete Harm und sagte, er solle nicht bange sein; bis das Wasser ihnen an die Knie ginge, wären die Jollen dreimal da und könnten sie holen; schade wäre es nur um den schönen Sand. Er blickte sich aber doch besorgt um, ob nicht vom Deich ein Boot käme, denn der Wind war still geblieben, und die Segel kamen nur langsam näher. Als das Wasser ihnen bis über die Knie reichte, band er die Riemen an die Fangleine und hieß Harm sich daran festhalten, damit der starke Strom ihn nicht umrisse.

Es war eine böse Lage. Nun begann auch Störtebeker laut zu rufen, nachdem er versichert hatte, daß er nicht bange sei. Aber sie konnten wohl am Deich vor lauter Eschen und Pappeln nicht gesehen und wegen der weiten Entfernung nicht gehört werden, denn kein Boot ließ sich blicken. Immer höher stieg das Wasser, es reichte ihnen schon an die Hüften. Störtebeker tröstete seinen frierenden Macker, er solle sich an ihm festhalten, damit er nicht über Bord ginge. Dann sagte er ihm, sie wollten warten, bis das Wasser ihnen bis unter die Arme gehe. Wenn dann keine Rettung gekommen sei, wollten sie die Leine losmachen und sich mit den Riemen treiben lassen. »De drägt uns as en Beesenbült«, sagte er zuversichtlich.

»Wat ist dat Woter kold, wat früst mi! Hilpt uns, hilpt uns, hilpt uns!«

Störtebeker stützte ihn und hielt tapfer aus, denn die ersten Boote kamen heran und konnten sie am Ende schon sehen. Mehr als an den Riemen klammerte er sich an den Gedanken: Ne bang warrn, anners kummst du ne mit no See! Er begann zu winken. Da antwortete das erste Boot: Der Fischer hob die Hand und steckte schnell die Riemen aus, um durch Rudern bessere Fahrt zu machen.

»Nu hol di fast«, sagte Störtebeker.

Bis an die Brust standen die beiden Gesellen im Wasser, als das Boot sie erreichte und Jan Fock sien Jung, Peter Husteen, sie über den Setzbord zog.

»Junge, du kannst wat moken«, sagte er zu Störtebeker. »Wat meenst wull, wenn Peter Husteen ne so bannig seilen kunn, denn harrn ji hier doch afsopen as son poor Rotten!«

»Non, denn lot di man en Medaille geben«, antwortete Störtebeker und zog die Riemen ein, nachdem er sie losgeknotet hatte.

»Nu büst doch mol bang wesen, wat?«

»Dat lügst du, Peter! Ik bün ne bang wesen! Kannst Harm frogen! Wat schreest du denn nu noch?« wandte er sich an seinen Leidensgefährten, aber der antwortete nicht, er schluchzte nur noch mehr, denn er dachte an die Schläge, die zu Hause seiner warteten.

Daran dachte Störtebeker nicht, denn seine Gedanken waren bei seinem gesunkenen Fahrzeug und den Möglichkeiten, es zu heben.

»Segg den Düker man Bescheed«, sagte er am Neß zu dem Fischerjungen, als sie gelandet wurden.

Der Empfang, den Gesa, die schon unruhig geworden war, ihrem Jungen bereitete, war nicht ohne, aber er dachte: Utschillers deit ne weh, un Togels durt ne lang, und sagte schließlich, als er wieder seine Prügel hingenommen hatte, ohne auch nur ein einziges Mal zu schreien, und sich zum Abendbrot hinsetzte: »Bang wesen bün ik ober doch keen betjen, Mudder!«

Am anderen Tag ging der Jäger los, um den Kahn zu bergen. Störtebeker wollte ihn mit aller Gewalt begleiten, und weil er das nicht sollte, wurde er zuletzt in den Keller gesperrt und mußte einen Tag brummen.


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