Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil VI
Henry Fielding

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72 Fünftes Kapitel.

Die Geschichte geht weiter.

Herr Allworthy hatte in seiner letzten Rede sich einiger zärtlichen Gedanken gegen Jones erinnert, die Thränen in die Augen des guten Mannes gebracht hatten. Mad. Miller, die dies bemerkte, sagte darauf: »ja, ja, guter Herr, Ihre Güte gegen den armen jungen Mann ist bekannt, welche Mühe Sie sich auch geben, sie zu verbergen; aber es ist keine Sylbe wahr in dem, was diese schlechten Menschen sagen. Herr Nightingale hat jetzt die ganze Sache ergründet. Jene Bösewichter wurden, wie es scheint, durch einen Lord, der ein Nebenbuhler des armen Jones ist, gedungen, ihn zu pressen und auf ein Schiff zu bringen. Nightingale hat den Offizier selbst gesehen, der ein sehr braver Mann ist, ihm Alles sagte und bedauerte, was er unternommen hat. Er sagte ferner, er würde dies nie gethan haben, wenn er gewußt hätte, daß Herr Jones ein anständiger gebildeter Mann ist; man habe ihm gesagt, derselbe sei ein gemeiner Vagabond.«

Allworthy verwunderte sich darüber nicht wenig und sagte, ihm sei von allem dem kein Wort bekannt. »Ja, Herr,« fuhr sie fort, »ich glaube es, daß Sie nichts davon wissen. Die Sache ist gewiß ganz anders, als jene Menschen sie dem Advokaten erzählt haben.«

»Welchem Advokaten, Madame? Was meinen Sie?« fragte Allworthy.

»Nun, es sieht Ihnen ganz ähnlich, Ihre eigene Güte abzuleugnen; aber Herr Nightingale sah ihn hier.«

»Wen sah er hier, Madame?«

»Ihren Advokaten, Herr,« antwortete sie, »den Sie 73 ausschickten, um Erkundigungen wegen der Sache einzuziehen.«

»Ich weiß wahrhaftig noch immer nicht, was Sie meinen,« sagte Allworthy.

»Ich sah,« erzählte Nightingale, »denselben Advokaten, der von hier fortging, als ich hereintrat, in einem Wirthshause in Aldersgate mit zwei von den Leuten, welche Lord Fellamor gedungen hatte, Herrn Jones zu pressen, und die deshalb bei dem unglücklichen Zweikampfe zwischen ihm und Herrn Fitzpatrick zugegen waren.« – »Ich gestehe, Herr,« fiel Mad. Miller ein, »daß ich der Meinung war, Sie hätten den Advokaten ausgeschickt, um Erkundigungen wegen der Sache einzuziehen.«

Man sah es Herrn Allworthy an, daß er sich über das, was er eben gehört hatte, sehr verwunderte. Endlich wendete er sich an Herrn Nightingale und sagte: »ich muß gestehen, daß ich über das, was Sie mir erzählen, mehr erstaunt bin als über sonst etwas in meinem Leben. Wissen Sie es gewiß, daß es der Herr war, der sich hier bei mir befand?«

»Ich bin meiner Sache vollkommen gewiß,« antwortete Nightingale.

»In Aldersgate?« fragte Allworthy weiter. »Und Sie waren mit bei dem Advokaten und den beiden Männern?«

»Allerdings; ich saß fast eine halbe Stunde bei ihnen.«

»Wie benahm sich der Advokat? Hörten Sie alles mit an, was zwischen ihm und jenen Männern vorging?«

»Nein,« antwortete Nightingale, »sie hatten schon früher bei einander gesessen. In meiner Gegenwart sprach der Advokat wenig, aber nachdem ich die Männer mehrmals gefragt hatte, die bei einer Aussage blieben, welche von der Erzählung Jones' ganz abwich und die, wie ich durch 74 Herrn Fitzpatrick erfuhr, ganz falsch ist, forderte der Advokat die Leute auf, durchaus nichts zu sagen, als was die Wahrheit sei und er schien so sehr zu Gunsten des Herrn Jones zu sprechen, daß, als ich den Mann bei Ihnen sah, ich auf den Gedanken kam, Sie hätten ihn dahin geschickt.«

»Sie schickten ihn also nicht?« fragte Mad. Miller.

»Wahrhaftig nicht,« antwortete Allworthy, »ich wußte bis jetzt nicht einmal, daß er einen solchen Gang gemacht hat.«

»Ich errathe den Zusammenhang,« fiel Mad. Miller ein, »wahrhaftig, ich errathe ihn. Deshalb also schlossen sie sich so lange mit einander ein. Lieber Sohn Nightingale, suchen Sie geschwind jene Männer wieder auf . . . oder ich gehe selbst.«

»Gute Frau,« sprach Allworthy, »gedulden Sie sich und erweisen Sie mir die Gefälligkeit, Herrn Dowling, wenn er im Hause ist, sonst Herrn Blifil hierher rufen zu lassen.«

Mad. Miller ging hinaus, während sie mit sich selbst sprach und kam bald darauf mit der Antwort zurück, Herr Dowling sei fortgegangen, »der Andere« aber komme.

Allworthy war ruhiger als die gute Frau, die sich für die Sache ihres Freundes ganz erhitzt hatte, indessen hegte auch er einigen Argwohn, der mit dem ihrigen so ziemlich zusammen traf. Als Blifil in das Zimmer trat, fragte er ihn sehr ernst und mit einem weit weniger freundlichen Blicke als sonst gewöhnlich, ob er nicht wisse, ob Herr Dowling Einen von den Männern gesehen habe, die Augenzeugen von dem Zweikampfe zwischen Jones und dem andern Herrn gewesen.

Es ist nichts so gefährlich als eine Frage, die einen Mann unvermuthet überrascht, der es sich zur Aufgabe 75 gemacht hat, die Wahrheit zu verheimlichen und die Lüge zu vertheidigen. Aus diesem Grunde geben sich die würdigen Männer, deren edeles Amt es ist, das Leben ihrer Mitmenschen vor Gericht zu retten, so viele Mühe, jede Frage, die ihren Clienten an dem Tage des Verhöres vorgelegt werden dürfte, zu errathen, damit sie die passenden Antworten bereit halten. Ueberdies veranlaßt der plötzliche und heftige Andrang des Blutes, den solche Ueberraschungen herbeiführen, häufig eine solche Veränderung in dem Gesichte, daß der Mensch gegen sich selbst zeugen muß. Auch erlitt jetzt das Gesicht Blifils bei dieser unerwarteten Frage eine solche Veränderung, daß wir die Voreiligkeit der Mad. Miller kaum tadeln können, die sogleich ausrief: »schuldig, bei meiner Ehre! schuldig.«

Herr Allworthy gab ihr wegen ihrer Heftigkeit einen scharfen Verweis, wendete sich dann gegen Blifil, der in die Erde sinken zu müssen schien und sagte: »warum zögerst Du, mir auf meine Frage zu antworten? Ohne Zweifel hast Du ihn geschickt, denn aus eigenem Antriebe hätte er sicherlich einen solchen Gang nicht gemacht, besonders ohne mir etwas davon zu sagen.«

Blifil antwortete endlich: »ich gestehe, daß ich mich eines Vergehens schuldig gemacht habe, aber ich darf gewiß auf Verzeihung hoffen!«

»Auf Verzeihung?« wiederholte Allworthy sehr ernst.

»Ja,« antwortete Blifil. »Ich wußte, daß Sie es übel nehmen würden, aber sicherlich verzeiht auch mein theurer Oheim das, was in Folge der liebenswürdigsten menschlichen Schwäche geschah. Mitleid mit denen, die es nicht verdienen, ist ein Verbrechen, ich weiß es, aber ein Verbrechen, von dem Sie selbst nicht ganz frei sind. Ich weiß, ich habe mich desselben mehr als einmal gegen denselben Menschen schuldig gemacht, und ich gestehe, daß ich 76 Herrn Dowling veranlaßte, nicht aus eitler Neugierde, sondern um die Zeugen zu ermitteln und wo möglich deren Aussagen zu mildern. Das ist der wahre Hergang der Sache, den ich nicht läugnen will, ob ich ihn gleich vor Ihnen verheimlichte.«

»Ich gestehe,« sagte Nightingale, »daß ich die Sache nach dem Benehmen des Herrn auch in diesem Lichte betrachtet habe.«

»Nun, Madame,« setzte Allworthy hinzu, »Sie werden gestehen müssen, daß Sie einen ungerechten Argwohn hegten und meinem Neffen ohne Veranlassung zürnen.«

Mad. Miller schwieg, denn ob sie gleich mit Blifil sich nicht so schnell aussöhnen konnte, den sie für die Ursache des Unglücks des armen Jones hielt, so hatte er sie doch diesmal wie alle übrigen zu täuschen vermocht.

Wie die Unterdrückung eines Aufstandes einer Regierung neue Kraft giebt oder wie die Gesundheit nach einer Krankheit meist mehr befestiget wird, so steigert die Entfernung von Zorn und Unwillen sehr häufig die Liebe. Auch bei Allworthy war dies der Fall, denn da Blifil den stärkern Argwohn zu beseitigen gewußt hatte, sank auch der geringere, den Square's Brief veranlaßt hatte, allmälig und wurde endlich ganz vergessen.

Doch auch der Zorn gegen Jones begann bei Herrn Allworthy sich allmälig zu legen. Er sagte zu Blifil, er vergebe ihm nicht blos die außerordentlichen Bemühungen seiner Gutherzigkeit, sondern würde sogar dem Beispiele folgen. Dann wendete er sich an Mad. Miller mit einem Lächeln, das einem Engel wohl anständig gewesen sein würde und sagte: »was meinen Sie, Madame? Wollen wir eine Miethkutsche nehmen und Ihrem Freunde mit einander einen Besuch machen? Es ist nicht das erste Mal, daß ich in ein Gefängniß gehe.«

77 Jeder Leser wird für die würdige Frau antworten können, wer aber mitfühlen will, was sie in diesem Augenblicke empfand, muß ein sehr gutes Herz haben. Wenige dagegen werden sich hoffentlich eine Vorstellung von dem machen können, was in dem Herzen Blifils vorging; diejenigen, welche es vermögen, werden dagegen zugestehen, daß es ihm unmöglich war, irgend einen Einwurf zu machen. Das Glück, oder wenn man will, sein guter Freund, der Böse, stand ihm jedoch auch diesmal bei, denn eben als man nach dem Wagen schickte, kam Partridge an, der Mad. Miller heraus rufen ließ und ihr den schrecklichen Umstand mittheilte, mit dem er vor kurzem bekannt geworden war, und, als er von Allworthys Absicht hörte, dringend bat, ihn von diesem Besuche abzubringen, »denn,« sagte er, »die Sache muß jedenfalls vor ihm geheim gehalten werden; geht er aber jetzt, so wird er Herrn Jones und die Mutter desselben, die eben bei ihm ankam, das schreckliche Verbrechen bejammern hören, das sie unbewußt begangen haben.«

Die arme Frau, die in Folge dieser schrecklichen Nachricht fast ihren Verstand verlor, war in diesem Augenblicke durchaus nicht fähig, irgend einen Vorwand zu erdenken. Da indeß Frauen weit mehr Geistesgegenwart besitzen als die Männer, so erdachte sie doch nach einiger Zeit eine Entschuldigung, kehrte zu Allworthy zurück und sagte: »Sie werden sich wundern, wenn Sie hören, daß ich einen Einwurf gegen Ihren Vorschlag mache, aber ich fürchte die Folgen desselben, wenn er sogleich zur Ausführung gebracht wird. Sie können sich denken, daß der arme junge Mann durch das Unglück, das ihn so schnell hinter einander betroffen hat, in die größte Muthlosigkeit und Verzweiflung gestürzt worden ist; bereiten wir ihm jetzt unerwartet eine so große Freude, wie es Ihre Gegenwart gewiß thun wird, 78 so könnte es sehr nachtheilige Folgen für ihn haben, zumal sein Diener, der draußen ist, mir eben sagt, daß er sich gar nicht wohl befinde.«

»Sein Diener ist hier?« fragte Allworthy, »lassen Sie ihn hereinkommen. Ich möchte ihn Einiges über seinen Herrn fragen.«

Partridge scheute sich anfangs, vor Herrn Allworthy zu erscheinen, wurde aber endlich vermocht, nachdem Mad. Miller, der er seine ganze Geschichte oft erzählt, ihn einzuführen versprochen hatte.

Allworthy erkannte Partridge sobald derselbe in das Zimmer trat, obgleich mehrere Jahre vergangen waren, seit er ihn gesehen hatte. Mad. Miller hätte sich deshalb eine förmliche Rede ersparen können, in der sie jedoch vielmehr ziemlich weitläufig war, wie denn der Leser wahrscheinlich schon bemerkt hat, daß die gute Frau namentlich ihre Zunge im Dienste ihrer Freunde nicht schonte.

»Und Sie sind,« sagte Allworthy zu Partridge, »der Diener des Herrn Jones?«

»Ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich ein ordentlicher Diener sei,« antwortete er, »aber ich befinde mich jetzt bei ihm. Non sum qualis eram, wie Ew. Gnaden wohl wissen.«

Herr Allworthy legte ihm dann mancherlei Fragen vor über Jones in Bezug auf das Befinden desselben und Anderes, worauf Partridge stets antwortete nicht wie die Sachen standen, sondern wie er sie darzustellen wünschte, denn ein strenges Verharren bei der Wahrheit gehörte nicht zu den Glaubensartikeln des ehrlichen Mannes.

Während dieser Gespräche entfernte sich Herr Nightingale und bald darauf verließ auch Mad. Miller das Zimmer, worauf Allworthy auch Blifil fortschickte, weil er der Meinung war, Partridge würde, wenn er mit ihm allein sei, 79 unverhohlener sprechen. Sobald sie allein waren, begann Allworthy wie man in dem nachstehenden Kapitel lesen wird.


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