Johann Gottlieb Fichte
Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution.
Johann Gottlieb Fichte

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Einleitung.

Aus welchen Grundsätzen man Staatsveränderungen zu beurtheilen habe.

Was geschehen ist, ist Sache des Wissens, nicht des Urtheilens. Zwar bedürfen wir, um auch diese bloss historische Wahrheit aufzufinden und zu unterscheiden, gar sehr der Urtheilskraft; – bedürfen ihrer, theils um die physische Möglichkeit oder Unmöglichkeit der vorgeblichen Thatsache selbst, theils um den Willen oder das Vermögen der Zeugen, sie zu sagen, zu beurtheilen: wenn aber diese Wahrheit einmal ausgemittelt ist, so hat für jeden, der sich von ihr überzeugte, die Urtheilskraft ihr Geschäft vollendet, und überträgt den nun geläuterten und zugesicherten reinen Besitz dem Gedächtnisse.

Ganz etwas anderes aber, als diese Beurtheilung der Glaubwürdigkeit einer Thatsache, ist die Beurtheilung der Thatsache selbst, – die Reflexion über sie. In einer Beurtheilung von der letzteren Art wird die gegebene und schon aus anderen Gründen für wahr anerkannte Thatsache mit einem Gesetze verglichen; um entweder die erstere durch ihre Uebereinstimmung mit dem letzteren, oder das letztere durch seine Uebereinstimmung mit der ersteren zu rechtfertigen. Im ersten Falle muss das Gesetz, nach welchem die Thatsache geprüft wird, schon vor der Thatsache vorausgegangen und als schlechthin gültig – als ein solches anerkannt seyn, nach welchem die letztere sich richten müsse, da es nicht seine Gültigkeit von der Begebenheit, sondern die Begebenheit die ihrige von ihm erwartet. Im letzten Falle soll das Gesetz entweder selbst, oder die grössere oder geringere Gemeingültigkeit desselben durch die Vergleichung mit der Thatsache gefunden werden.

Nichts verwirrt unsere Urtheile mehr, und nichts macht uns für uns selbst und für andere unverständlicher, als wenn wir diesen wichtigen Unterschied übersehen; wenn wir urtheilen wollen, ohne eigentlich zu wissen, aus welchem Gesichtspuncte wir urtheilen; wenn wir bei gewissen Thatsachen uns auf Gesetze; auf allgemeingültige Wahrheiten berufen, ohne zu wissen, ob wir die Thatsache nach dem Gesetze, oder das Gesetz nach der Thatsache; ob wir den Winkelhaken, oder den Perpendikel prüfen.

Dies ist die reichhaltigste Quelle jener schaalen Vernünfteleien, in die sich nicht nur unsere galanten Herren und Damen, sondern auch unsere gepriesensten Schriftsteller täglich verwirren, wenn sie von dem grossen Schauspiele urtheilen, das uns Frankreich in unseren Tagen gab.

Bei Beurtheilung einer Revolution – damit wir uns unserem Gegenstande nähern – können nur zwei Fragen, die eine über die Rechtmässigkeit , die zweite über die Weisheit derselben, aufgeworfen werden. In Absicht der ersteren kann entweder im allgemeinen gefragt werden: hat ein Volk überhaupt ein Recht, seine Staatsverfassung willkürlich abzuändern? – oder insbesondere: hat es ein Recht, es auf eine gewisse bestimmte Art, durch gewisse Personen, durch gewisse Mittel, nach gewissen Grundsätzen zu thun? Die zweite sagt so viel: sind die zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes gewählten Mittel die angemessensten? Welche der Billigkeit gemäss so zu stellen ist: waren es unter den gegebenen Umständen die besten?

Nach welchen Grundsätzen werden wir nun über diese Fragen zu urtheilen haben? An welche Gesetze werden wir die gegebenen Thatsachen halten? An Gesetze, die wir erst aus diesen Thatsachen – oder wenn auch eben nicht aus diesen, doch aus Thatsachen der Erfahrung überhaupt entwickeln werden: oder an ewige Gesetze, welche gegolten hätten, wenn es auch einmal keine Erfahrung hätte geben können, und gelten würden, wenn auch einst alle Erfahrung aufhören könnte? Wollen wir sagen: recht ist, was am öftersten geschehen ist, und die sittliche Güte durch die Mehrheit der Handlungen bestimmen lassen, wie die kirchlichen Dogmen auf den Concilien durch die Mehrheit der Stimmen? Wollen wir sagen: weise ist, was gelingt? Oder wollen wir lieber gleich beide Fragen zusammennehmen, den Erfolg, als den Probirstein der Gerechtigkeit und der Weisheit zugleich, abwarten und dann, nachdem es kommt, den Räuber einen Held oder einen Verbrecher, den Sokrates einen Missethäter oder einen tugendhaften Weisen nennen?

Ich weiss, dass viele an dem Daseyn ewiger Gesetze der Wahrheit und des Rechts überhaupt zweifeln, und gar keine Wahrheit, als die durch die Mehrheit der Stimmen, und gar keine sittliche Güte, als die durch den sanfteren oder stärkeren Kitzel der Nerven bestimmte zugeben: ich weiss, dass sie dadurch auf ihre Geistigkeit und vernünftige Natur Verzicht thun, und sich zu Thieren machen, die der äussere Eindruck durch die Sinne, zu Maschinen, die das Eingreifen eines Rades in das andere unwiderstehlich bestimmt, zu Bäumen, in denen der Kreislauf, und die Destillation der Säfte die Frucht des Gedankens hervorbringt; dass sie sich unmittelbar durch jene Behauptung zu allem diesen machen, wenn ihre Denkmaschine nur richtig gestellt ist. Es ist hier gar nicht meines Vorhabens, ihre Menschheit gegen sie selbst in Schutz zu nehmen, und ihnen zu beweisen, dass sie doch nicht unvernünftige Thiere, sondern reine Geister sind. Sie können, wenn die Uhr ihres Geistes richtig geht, auf unsere Fragen gar nicht fallen, an unseren Untersuchungen gar nicht Theil nehmen. Wie sollten sie zu den Ideen der Weisheit oder des Rechts kommen?

Aber ich sehe, dass auch andere, die solche Urgesetze der Geisterwelt entweder ausdrücklich vertheidigen, oder sie doch, wenn ihre Untersuchungen bis zu dieser äussersten Grenze noch nicht, vorgedrungen sind, stillschweigend annehmen und auf Resultate ihrer Ursprünglichkeit bauen, sich schon für eine Beurtheilung nach Erfahrungsgesetzen entschieden haben. Sie haben das unterrichtete Publicum, das seine Sachkunde, seine ihm so am Herzen liegende Sachkunde gern recht vollgültig machen möchte, und das zerstreuete und oberflächliche, das die Arbeit des Denkens scheut, und alles mit seinen Augen sehen, mit seinen Ohren hören und mit seinen Händen betasten will, die begünstigten Stände, die von der bisherigen Erfahrung ein vorteilhaftes Urtheil erwarten – sie haben alles auf ihrer Seite; es scheint für die entgegengesetzte Meinung kein Raum mehr da zu seyn. – Ich möchte gelesen werden; ich möchte Eingang in die Seele des Lesers finden. Was soll ich thun? Versuchen, ob ich nicht auf irgend eine Art mich mit dem grossen Haufen vereinigen könne.

I.

Also die Frage; ob ein Volk ein Recht habe, seine Staatsverfassung zu verändern, – oder die bestimmtere: ob es ein Recht habe, es auf eine gewisse Art zu thun, soll durch Erfahrung beantwortet werden, und ihre Beantwortung wird wirklich durch Erfahrung versucht. – Auf die mehresten Antworten, die man auf diese Fragen gegeben hat und noch täglich giebt, haben Erfahrungsgrundsätze, das heisst hier, im allgemeinsten Sinne des Wortes, deutlich gedachte, oder unbemerkt unserem Urtheile zu Grunde liegende Sätze, die wir auf das blosse Zeugniss der Sinne, ohne sie auf die ersten Grundsätze alles Wahren zurückzuführen , angenommen haben –solche Erfahrungsgrundsätze, sage ich, haben auf die Beantwortung der obigen Fragen auf zweierlei Art einen Einfluss, nemlich theils unwillkürlich , theils willkürlich und mit Bewusstseyn .

Ohne unser Bewusstseyn haben Erfahrungsgrundsätze auf das Urtheil, das wir fällen, einen Einfluss, weil wir sie nicht für Erfahrungsgrundsätze, nicht für Sätze halten, die wir auf Treu und Glauben unserer Sinne angenommen haben, sondern für reingeistige, ewig wahre Grundsätze. – Auf das Ansehen unserer Väter oder Lehrer nehmen wir ohne Beweis Sätze für Grundsätze auf, die es nicht sind, und deren Wahrheit von der Möglichkeit ihrer Ableitung von noch höheren Grundsätzen abhängt. Wir treten in die Welt, und finden in allen Menschen, mit denen wir bekannt werden, unsere Grundsätze wieder, weil auch sie dieselben auf ihrer Eltern und Lehrer Ansehen angenommen haben. Niemand macht uns durch einen Widerspruch aufmerksam auf unseren Mangel an Ueberzeugung, und auf das Bedürfniss, sie noch einmal zu untersuchen. Unser Glaube an das Ansehen unserer Lehrer wird durch den Glauben an die allgemeine Uebereinstimmung ergänzt. «Wir finden sie allenthalben in der Erfahrung bestätigt; eben aus dem Grunde, weil jeder sie für ein allgemeines Gesetz hält, und seine Handlungen darnach einrichtet. Wir selbst legen sie unseren Handlungen und unseren Urtheilen zum Grunde, bei jeder neuen Anwendung werden sie inniger mit unserem Ich vereint, und verweben sich endlich so mit demselben, dass sie nicht anders, als mit ihm zugleich zu vertilgen sind.

Dies ist der Ursprung des allgemeinen Meinungssystems der Völker, dessen Resultate man uns gewöhnlich für Aussprüche des gesunden Menschenverstandes giebt, welcher gesunde Menschenverstand aber ebensowohl seine Moden hat, als unsere Fracks oder unsere Frisuren. – Wir hielten vor zwanzig Jahren unausgepresste Gurken für ungesund, und halten heut zu Tage ausgepresste für ungesund, aus eben den Gründen, aus welchen bis jetzt noch die meisten unter uns meinen: ein Mensch könne Herr eines anderen Menschen seyn – ein Bürger könne durch die Geburt auf Vorzüge vor seinen Mitbürgern ein Recht bekommen – ein Fürst sey bestimmt seine Unterthanen glücklich zu machen.

Versucht es nur – ich fordere euch alle auf, die ihr Kantische Gründlichkeit mit Sokratischer Popularität vereinigt, – versucht es, einem ungebildeten Besitzer von Leibeigenen den ersten, oder einem ungebildeten Altadeligen den zweiten Satz zu entreissen; treibt ihn durch Fragen, durch kinderleichte Fragen in die Enge: er sieht eure Vordersätze ein, er giebt sie euch alle mit voller Ueberzeugung zu – ihr zieht jetzt den gefürchteten Schluss, und ihr erschreckt, wie der vorher so hellsehende Mann auf einmal so ganz blind ist, den greiflichen Zusammenhang eurer Folgerung mit dem Vordersatze nicht greifen kann. Euere Folgerung ist auch wirklich wider seinen gesunden Menschenverstand.

Solche Sätze nun – untersucht, ob sie an sich richtig oder unrichtig sind, d. i. ob sie sich von den Grundsätzen, unter denen sie stehen, ableiten lassen, oder ihnen widersprechen – solche Sätze sind wenigstens für den, der sie auf die Autorität seiner Lehrer, seiner Mitbürger und seiner Erfahrung angenommen hat, blosse Erfahrungsgrundsätze, und alle Urtheile, denen er sie zum Grunde legt, sind Urtheile aus der Erfahrung. Ich werde, im Verlauf dieser Untersuchung, mehrere politische Vorurtheile dieser Art – Vorurtheile wenigstens für den, der sie nicht nachher untersucht hat – anführen und ihre Richtigkeit prüfen.

Dies ist eben der unbemerkte Einfluss der Sinnlichkeit, des Werkzeugs der Erfahrung, bei der vorliegenden Beurtheilung auf unseren Verstand . Einen ebenso unbemerkten und ebenso mächtigen hat sie bei dieser Untersuchung auf unseren Willen , und dadurch auf unser Urtheil, vermittelst des dunkeln Gefühles unseres Interesse.

Von dem Hange unserer Neigung hängt, und besonders bei der Frage vom Rechte, sehr oft unser Urtheil ab. Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren, scheinen uns viel härter, als ebendieselben, wenn sie einem anderen widerfahren. Ja, die Neigung verfälscht unser Urtheil öfters in einem noch weit höheren Grade. Bemüht, die Ansprüche unseres Eigennutzes anderen und endlich auch uns selbst unter einer ehrwürdigen Maske vorzustellen, machen wir sie zu rechtlichen Ansprüchen und schreien über Ungerechtigkeit, oft, wenn man nichts weiter thut, als uns verhindert, selbst ungerecht zu seyn. Glaubt dann ja nicht, dass wir euch täuschen wollen; wir waren selbst längst vor euch getäuscht. Wir selbst glauben in vollem Ernste an die Rechtmässigkeit unserer Ansprüche; wir machen an euch nicht den ersten Versuch, euch zu belügen; wir haben längst vor euch uns selbst belogen.

Willkürlich und mit Bewusstseyn untersucht man die aufgegebene Frage aus Erfahrungsgrundsätzen, wenn man sie aus Thatsachen der Geschichte beantworten will. – Es ist schwer zu glauben, dass irgend einer, der je eine solche Beantwortung versuchte, eigentlich gewusst habe, wonach gefragt werde: – doch das wird erst im Folgenden seine völlige Deutlichkeit erhalten.

Aus den angezeigten Grundsätzen also denken wir die vorliegende Frage zu beantworten? Aus Sätzen, die wir auf Treu und Glauben aufgenommen haben? Wenn nun aber diese Sätze selbst falsch wären, so würde ja dadurch unsere auf sie gegründete Antwort nothwendig auch unrichtig. – Diejenigen, nach deren Ansehen wir unser Meinungssystem bildeten, nahmen sie freilich für wahr an. Aber wie, wenn sie irrten? Unser Volk und unser Zeitalter nimmt sie freilich mit uns für wahr an. Aber wissen wir denn nicht – wir, die wir so viele Thatsachen wissen – wissen wir denn nicht, dass in Konstantinopel gerade das allgemein für wahr anerkannt wird, was man in Rom allgemein für falsch anerkennt?

– Dass vor etlichen hundert Jahren in Wittenberg und Genf allgemein für richtig gehalten wurde, was man jetzt ebendaselbst eben so allgemein für einen verderblichen Irrthum hält? Wenn wir unter andere Nationen oder in ein anderes Zeitalter versetzt würden, wollten wir auch alsdann unsere jetzigen Grundsätze, die dann der allgemeinen Denkungsart widersprechen würden, diesem unserem Probesteine der Wahrheit zuwider, beibehalten; oder sollte dann für uns nicht mehr wahr seyn, was bis jetzt uns wahr gewesen ist? Richtet unsere Wahrheit sich nach Zeiten und Umständen?

Was für eine Antwort suchten wir denn eigentlich? Eine solche, welche nur für unser Zeitalter, nur für die Menschen gelte, die in ihren Meinungen mit uns übereinstimmen? – Dann hätten wir uns der Mühe der Untersuchung überheben können; sie werden ohne uns sich die Frage gerade so beantworten, wie wir. – Oder wollten wir eine solche, die für alle Zeiten und Völker, die für alles gelte, was Mensch ist? Dann müssen wir sie auf allgemeingültige Grundsätze bauen.

Unserem Interesse wollten wir einen Einfluss erlauben, wo vom Rechte die Frage ist – d. h. unsere Neigung sollte allgemeines Sittengesetz für die ganze Menschheit werden? – Es ist wahr, Ritter vom goldenen Vliess, der du nichts weiter bist, als das – es ist wahr, und niemand läugnet es dir ab, dass es für dich sehr unbequem seyn würde, wenn die Achtung für deine hohe Geburt, für deine Titel und für deine Orden sich plötzlich aus der Welt verlöre, und du auf einmal bloss nach deinem persönlichen Werthe geehrt werden solltest; wenn alles von deinen Gütern, dessen Besitz sich auf ungerechte Rechte gründet, dir abgenommen werden sollte: – es ist wahr, dass du der verachtetste und ärmste unter den Menschen werden, dass du in das tiefste Elend versinken würdest: aber verzeihe – die Frage war auch gar nicht von deinem Elende oder Nicht-Elende; sie war von unserem Rechte. »Was dich elend macht, kann nie recht seyn:« meinst du. – Aber siehe hier deine bisher von dir unterdrückten leibeigenen Sklaven; – es würde sie wahrhaftig sehr glücklich machen, selbst dasjenige Wenige deiner Schätze, was du mit Recht besitzest, unter sich zu theilen; dich zu ihrem Sklaven zu machen, wie sie bisher die deinigen waren; deine Söhne und Töchter zu Knechten und Mägden zu nehmen, wie du bisher die ihrigen dazu nahmst; dich vor sich her das Wild treiben zu lassen, wie sie es bisher vor dir trieben; – sie rufen uns zu: der Reiche, der Begünstigte gehört nicht zum Volke; er hat keinen Antheil an den allgemeinen Menschenrechten. Das ist ihr Interesse. Ihre Schlüsse sind so gründlich, als die deinigen. Was sie glücklich macht, könne nie unrecht seyn: meinen sie. Sollen wir sie nicht hören? Nun so erlaube, dass wir auch dich nicht hören.

Gegen diesen geheimen Betrug der Sinnlichkeit sich zu verwahren, ist selbst bei dem besten Willen und bei dem hellsten Kopfe schwer. Kein Adeliger,Der nemlich weiter nichts ist, als Adeliger. Das deutsche Publicum verehrt in vielen Männern aus den grössten Häusern den höheren Adel, den des Geistes, und ich gewiss nicht weniger als Jemand. An diesem Orte nenne ich nur den Freiherrn von Knigge und den edeln Verfasser der Gedanken eines dänischen Patrioten über stehende Heere u.s.w.] keine Militairperson in monarchischen Staaten, kein Geschäftsmann in Diensten eines gegen die französische Revolution erklärten HofesNoch weniger sollte ein solcher, in der wichtigsten gelehrten Zeitung von Europa, Richter der dahin einschlagenden Schriften – mithin scheinbarer Interpret der Nationalmeinung seyn. – Ich wenigstens verbitte für diese Schrift, wenn sie einer Anzeige würdig sollte befunden werden, das Urtheil jedes Empirikers. Er wäre Richter in seiner eigenen Sache. Ein speculativer Denker sey mein Richter, oder Niemand! Doch hat auch diese Regel ihre Ausnahmen. Ich schätze z. B. die Schrift des Herrn Brandes, der geheimer Canzlei-Secretair in Hannover ist, über die französische Revolution sehr hoch. Man hört doch den selbstdenkenden und ehrlichen Mann, und bemerkt kein unredliches Drehen und Wenden. sollte in dieser Untersuchung gehört werden. Mischt sich denn der unter harten Abgaben seufzende gemeine Bürger, der unterjochte Landmann, der zerschlagene Soldat darein? – Oder würden wir ihn hören, wenn er es thäte? Nur der, der weder Unterdrücker noch Unterdrückter ist, dessen Hände und Erbtheil rein sind vom Raube der Nationen, dessen Kopf nicht von Jugend auf in die conventionelle Form unseres Zeitalters gepresst wurde, dessen Herz eine warme, aber stille Ehrfurcht fühlt für Menschenwerth und Menschenrecht, kann hier Richter seyn.

Das sind geheime Täuschungen der Sinnlichkeit. Offenbar beruft man sich auf ihr Zeugniss, wenn man die Frage aus der Geschichte beantworten will. – Doch ist es auch wahr, sollte es wirklich Menschen, richtig denkende Menschen, Gelehrte gegeben haben, welche durch eine Antwort auf die Frage: was geschehe, oder geschehen sey, zu beantworten geglaubt, hätten, was geschehen solle ? – Unmöglich; wir haben sie nur nicht, sie haben sich selbst nur nicht richtig verstanden. Ohne uns auf strenge Beweise mit ihnen einzulassen, welches hier ganz ausser unserem Plane liegt, wollen wir ihnen nur ihre eigenen Worte deutlich zu machen suchen.

Wenn «sie von einem Sollen reden, so sagen sie unmittelbar hierdurch auch ein Andersseynkönnen aus. Was so seyn muss, und schlechterdings nicht anders seyn kann, davon wird kein vernünftiger Mensch untersuchen, ob es so oder anders seyn solle. Sie gestehen also unmittelbar durch die Anwendung dieses Wortes manchen Dingen die Unabhängigkeit von der Naturnothwendigkeit zu.

Sie können und sie werden diese Unabhängigkeit, oder diese Freiheit , welches Wort eben das heisst, keinem anderen Dinge zugestehen wollen, als den Entschliessungen vernünftiger Wesen, welche insofern auch Handlungen genannt werden können. Sie anerkennen also freie Handlungen vernünftiger Wesen.

Von diesen wollen sie untersuchen, ob sie so seyn, oder anders seyn sollen, d. i. sie wollen die bestimmt gegebene Handlung an eine gewisse Norm halten, und über die Uebereinstimmung jener mit dieser ein Urtheil fällen. Woher wollen sie nun diese Norm nehmen? Aus der nach ihr zu richtenden Handlung nicht; denn die Handlung soll ja an der Norm, nicht die Norm an der Handlung geprüft werden. Also aus anderen durch die Erfahrung gegebenen freien Handlungen? – Sie wollen vielleicht das Gemeinschaftliche in ihren Bestimmungsgründen abziehen, und es unter eine Einheit als ein Gesetz bringen? So werden sie doch wenigstens nicht so unbillig seyn, das handelnde freie Wesen nach einem Gesetze richten zu wollen, das es seiner Handlung nicht zum Grunde legen konnte, weil es ihm nicht bekannt war; sie werden über die Rechtgläubigkeit des Erzvaters Abraham nicht nach dem preussischen Religionsedicte, über die Rechtmässigkeit der Ausrottung der Cananiter durch das jüdische Volk nicht nach den Manifesten des Herzogs von Braunschweig gegen die Pariser urtheilen wollen. Sie können diesem Wesen nichts weiter zumuthen, als dass es die bis auf sein Zeitalter mögliche Erfahrung benutzt, und das durch ihr Mannigfaltiges mögliche Gesetz befolgt habe. Sie müssen mithin für jedes Zeitalter ein eigenes Gesetz der freien Handlungen vernünftiger Wesen festsetzen, und nach ihnen haben wir heute ganz andere Rechte und Pflichten, als unsere Väter vor hundert Jahren; nach ihnen wird über hundert Jahre durch die vermehrte Erfahrung das ganze Moralsystem der Geisterwelt sich wieder umgeändert haben, und sie selbst, wenn sie zu einem so hohen Alter gelangen sollten, werden dann verdammen, was sie jetzt recht heissen, und recht heissen, was sie jetzt verdammen. – Doch, was sage ich für jedes Zeitalter! – Für jede einzelne Person müssen sie ein besonderes Gesetz annehmen, da unmöglich jeder so stark in der Geschichte seyn kann, als sie, und sie doch niemandem zumuthen werden, Verhaltungsregeln aus Begebenheiten zu ziehen, welche er nicht weiss. Oder ist es Pflicht, solche tiefe Geschichtsforscher zu werden, wie sie, damit wir nicht in dieser rohen Unwissenheit über unsere Pflichten verharren?

Endlich, da ihre Erfahrung doch irgendwo ein Ende hat, müssen sie an einen Punct kommen, wo sie keine vorherige Erfahrung nachweisen können. Nach welchen Gesetzen wollen sie dann urtheilen? – Oder hört hier, hört z.B. bei der ersten Entschliessung Adams die Betrachtung einer freien Handlung in Rücksicht des Sollens gänzlich auf, da sie diesem seine Erfahrungen von den Präadamiten her, nach welchen er sich hätte richten sollen, unmöglich aufzählen können?

In diese und weit ärgere Widersprüche würden die Vertheidiger einer empirischen Beantwortung der Frage vom Rechte sich verwickeln, wenn sie nicht zu ihrem Glücke inconsequent wären, und wenn nicht ihr Herz ihnen den Betrug spielte, richtiger zu empfinden, als ihr Kopf denkt und ihr Mund redet. Wir sehen doch, dass sie die freien Handlungen aller Völker und Zeiten so ziemlich nach einerlei Grundsätzen beurtheilen, und von der Erfahrung der Folgezeit ebensowenig einen Widerspruch zu befürchten scheinen, und dass sie das, was sie historische Beweise, oder historische Deductionen fälschlich betiteln, im Gebrauche doch nur als Beispiele, als sinnliche Darstellung ursprünglicher Sätze anwenden.

Oder verwechseln sie auch wohl zuweilen unsere Frage mit der von ihr gänzlich verschiedenen: handele ich so klug? Ehe nicht die erstere völlig beantwortet ist, findet die zweite gar nicht statt. – Dass es aber ganz etwas anderes sey, seine Pflicht thun, als auf eine vernünftige Art seinen Vortheil suchen, ist dem natürlichen, ungebildeten Menschenverstande klar, und nur der Schule war das Kunststück möglich, diese Klarheit zu verdunkeln, und der Sonne die Augen zu verbinden. Dass es öfters Pflicht sey, seinen ganz richtig verstandenen Vortheil aufzuopfern, – dass es ganz in unserer Willkür stehe, ihn auch ausser diesem Falle aufzuopfern, und dass wir darüber keinem verantwortlich sind, als allenfalls uns selbst; da hingegen etwas Pflichtmässiges der andere von uns fordern und als Schuldigkeit begehren darf, fühlt jeder, wenn er es auch nicht immer zugestehen sollte: beide Fragen sind also wesentlich verschieden.

Geben sie nun ein solches Sollen , das nach einem allgemein geltenden Gesetze gefordert werden kann – ein Dürfen , oder Nicht-Dürfen , das von diesem Gesetze abhängt, wirklich zu, und spielen nicht etwa bloss mit Worten, so geben sie zu gleicher Zeit zu, dass dieses Gesetz nicht erst von der Erfahrung abzuleiten, noch durch sie zu bestätigen, sondern dass es selbst einer gewissen Beurtheilung aller Erfahrung, welche insofern selbst unter ihm steht, zu Grunde zu legen, mithin von aller Erfahrung unabhängig und über sie erhaben gedacht werden müsse. Geben sie ein solches Sollen nicht zu, warum mischen sie sich denn in eine Untersuchung, die dann für sie schlechterdings nichtig ist, die nach ihnen ein Hirngespinnst betrifft? Lassen sie doch dann ruhig uns unsere Geschäfte treiben, und treiben sie die ihrigen!

Die Frage vom Sollen und Dürfen, oder was, wie sich sogleich ergeben wird, das nemliche ist, die Frage vom Recht gehört gar nicht vor den Richterstuhl der Geschichte. Ihre Antwort passt gar nicht auf unsere Frage; sie beantwortet uns alles übrige, nur nicht das, was wir wissen wollten: und es ist ein lächerliches Eins fürs Andere, wenn wir die Antwort, die sie giebt, an unsere Frage reihen. Sie gehört vor einen anderen Richterstuhl, den wir aufsuchen werden. – Ob nicht etwa die zweite Frage, die von der Klugheit, vor ihn gehöre, und unter welchen Bedingungen sie vor ihn gehöre, wird sich weiter unten zeigen.

Wir begehren demnach Thatsachen nach einem Gesetze zu beurtheilen, das von keinen Thatsachen entlehnt, und in keinen enthalten seyn kann. Von woher denken wir denn nun dieses Gesetz zu nehmen? Wo denken wir es aufzufinden? Ohne Zweifel in unserem Selbst , da es ausser uns nicht anzutreffen ist: und zwar in unserem Selbst, insofern es nicht durch äussere Dinge vermittelst der Erfahrung geformt und gebildet wird (denn das ist nicht unser wahres Selbst, sondern fremdartiger Zusatz), sondern in der reinen, ursprünglichen Form desselben; – in unserem Selbst, wie es ohne alle Erfahrung seyn würde. Die Schwierigkeit dabei scheint nur die zu seyn, allen fremdartigen Zusatz aus unserer Bildung abzusondern, und die ursprüngliche Form unseres Ich rein zu bekommen. – Wenn wir aber etwas in uns auffinden sollten, das schlechthin aus keiner Erfahrung entstanden seyn kann, weil es von ganz anderer Natur ist, so könnten wir sicher schliessen, dieses sey unsere ursprüngliche Form. So etwas finden wir nun wirklich an jenem Gesetze des Sollens. Ist es einmal in uns da – und dass es da ist, ist Thatsache – so kann es, da es der Natur der Erfahrung völlig entgegengesetzt ist, kein durch sie hinzugekommener fremdartiger Zusatz, sondern es muss die reine Form unseres Selbst seyn. Das Daseyn dieses Gesetzes in uns als Thatsache führt uns demnach auf eine solche ursprüngliche Form unseres Ich; und von dieser ursprünglichen Form unseres Ich leitet sich hinwiederum die Erscheinung des Gesetzes in der Thatsache, als Wirkung von seiner Ursache ab.

Um auch dem leisesten Verdachte eines Widerspruchs mit mir selbst auszuweichen, merke ich noch ausdrücklich an, dass das Daseyn eines solchen Gesetzes in uns, als Thatsache, so wie alle Thatsachen, unserem Bewusstseyn allerdings durch die (innere) Erfahrung gegeben werde; wir werden durch Erfahrung in einzelnen Fällen z. B. bei der Reizung einer sträflichen Neigung uns einer inneren Stimme in uns bewusst, die uns zuruft: thue es nicht, es ist nicht recht; die Erfahrung liefert uns einzelne Aeusserungen, einzelne Wirkungen dieses Gesetzes in unserer Brust, aber sie bringt es darum nicht hervor . Das kann sie schlechterdings nicht.

Diese ursprüngliche, unveränderliche Form unseres Selbst nun begehrt die veränderlichen Formen desselben, welche durch Erfahrung bestimmt werden, und hinwiederum die Erfahrung bestimmen, mit sich selbst einstimmig zumachen, und heisst darum Gebot – sie begehrt dies durchgängig für alle vernünftigen Geister, da sie die ursprüngliche Form der Vernunft an sich ist, und heisst darum Gesetz – sie kann dies nur für Handlungen, die bloss von der Vernunft, nicht von der Naturnotwendigkeit abhängen, d. i. nur für freie Handlungen begehren, und heisst daher Sittengesetz . Die gewöhnlichsten Benennungen seiner Aeusserung in uns, unter denen es auch der Ununterrichtetste kennt, sind: das Gewissen, der innere Richter in uns, die Gedanken, die sich unter einander anklagen und entschuldigen, u. dgl.

Was uns dieses Gesetz gebietet, heisst im allgemeinen recht, eine Pflicht ; was es uns verbietet, unrecht, pflichtwidrig . Das erstere sollen wir, das letztere sollen wir nicht . – Stehen wir als vernünftige Wesen schlechterdings und ohne alle Ausnahme unter diesem Gesetze, so können wir, als solche, unter keinem anderen stehen : wo demnach dieses Gesetz schweigt, sind wir unter keinem Gesetz, wir dürfen . Alles, was das Gesetz nicht verbietet, dürfen wir thun. Was wir thun dürfen, dazu haben wir, weil dieses Dürfen gesetzlich ist, ein Recht .

Auch dasjenige in unserer Natur, ohne welches das Gesetz in ihr überhaupt nicht möglich wäre, so wie dasjenige, was das Gesetz wirklich gebietet, gehört mit dem durch dasselbe bloss Erlaubten unter den Inbegriff des durch das Gesetz Nicht-Verbotenen ; wir können mithin ebensowohl sagen: wir haben ein Recht, vernünftige Wesen zu seyn – wir haben ein Recht, unsere Pflicht zu thun; als wir sagen können: wir haben ein Recht zu thun, was das Sittengesetz erlaubt.

Aber hier zeigt sich sogleich ein grosser wesentlicher Unterschied. Was uns nemlich das Sittengesetz bloss erlaubt, das zu thun haben wir ein Recht; wir haben aber auch das ihm entgegengesetzte Recht, es nicht zu thun. Das Sittengesetz schweigt, und wir stehen bloss unter unserer Willkür. – Unsere Pflicht zu thun haben wir auch ein Recht; aber wir haben nicht das ihm entgegengesetzte Recht, sie nicht zu thun. Ebenso haben wir das Recht, freie, sittliche Wesen zu seyn; aber wir haben nicht das Recht, es nicht zu seyn. Die Berechtigung ist also in diesen beiden Fällen sehr verschieden: im ersteren ist sie wirklich bejahend, im zweiten bloss verneinend. Ich habe ein Recht zu thun, was das Sittengesetz erlaubt, heisst: das Thun oder Unterlassen hängt bloss von meiner Willkür ab; ich habe ein Recht frei zu seyn und meine Pflicht zu thun, heisst nur: nichts darf, niemand hat ein Recht, mich daran zu hindern. Diese Unterscheidung ist um ihrer Folgen willen unendlich wichtig.

Dies sind die Grundsätze, aus denen alle Untersuchungen über die Rechtmässigkeit oder Unrechtmässigkeit einer freien Handlung geführt werden müssen, und andere gelten schlechterdings nicht. Bis auf die ursprüngliche Form unseres Geistes muss die Untersuchung zurückgehen, und nicht bei den Farben desselben, welche Zufall, Gewohnheit, aus Irrthum unwillkürlich, oder von der Unterdrückungssucht willkürlich ausgestreute Vorurtheile ihm anhauchen, muss sie stehen bleiben. (Sie muss aus Principien a priori , und zwar aus praktischen, und darf schlechterdings nicht aus empirischen geführt werden.) Wer hierüber noch nicht mit sich einig ist, ist zur aufgegebenen Beurtheilung noch nicht reif. Er wird im Finstern herumtappen, und seinen Weg mit den Fingerspitzen suchen; er wird mit dem Strome seiner Ideenassociation fortschwimmen, und es vom guten Glücke erwarten, an welches Eiland er ihn werfen werde; er wird ungleichartige Materialien, in der Ordnung, in der er sie von der Oberfläche seines Gedächtnisses auffischte, auf einander schichten, so gut es geht; weder er selbst, noch ein anderer wird ihn verstehen; er wird den Beifall des feineren Publicums erhalten, das in ihm sich selbst wiederfindet. Es war nicht mein Wille, die Geschichte von Autoren zu erzählen, die über diesen Gegenstand geschrieben haben.

II.

Die zweite Frage, die bei der Beurtheilung einer Revolution vorkommen konnte, war die über ihre Weisheit , d. i. ob die besten, wenigstens unter diesen Umständen besten Mittel zur Erreichung des beabsichtigten Zweckes gewählt worden.

Und hier drängen denn unsere viel wissenden Sachkenner sich enger zusammen, in der sicheren Voraussetzung, dass diese Frage – eine Frage von Weisheit – ganz und allein vor ihren Richterstuhl gehöre. Geschichte, Geschichte, rufen sie, ist ja die Sehwarte aller Zeiten, die Lehrmeisterin der Völker, die untrüglichste Verkünderin der Zukunft – und ich will, ohne auf ihr Rufen zu hören, die aufgegebene Frage zergliedern und sehen, welche andere Fragen in ihr enthalten sind: dann wird ja jeder an sich nehmen können, was sein ist – und alsdann erst ein paar Worte über ihre gepriesene Geschichte.

Wenn das Verhältniss gewählter Mittel zu einem Zwecke geprüft werden soll, so ist vor allen Dingen die Güte des Zwecks selbst, und in unserem Falle die Güte des Zwecks, insofern er einer Staatsverfassung zum Grunde gelegt werden soll, zu beurtheilen. – Die Frage: welches ist der beste Endzweck der Staatsverbindung? hängt von der Beantwortung folgender ab: welches ist der Endzweck jedes Einzelnen? Die Antwort auf diese Frage ist rein moralisch, und muss sich auf das Sittengesetz gründen, welches allein den Menschen als Menschen beherscht, und ihm einen Endzweck aufstellt. Die daraus zunächst folgende, ausschliessende Bedingung jeder moralisch möglichen Staatsverbindung ist die: dass ihr Endzweck dem durch das Sittengesetz vorgeschriebenen Endzwecke jedes Einzelnen nicht widerspreche; seine Erreichung nicht hindere oder störe. Ein Endzweck, der gegen diese Grundregel sündigt, ist schon in sich selbst verwerflich, denn er ist ungerecht. Ueberdies aber muss er, wenn die ganze Verbindung nicht völlig zwecklos seyn soll, auch noch den höchsten Endzweck jedes Einzelnen befördern. Da aber dies in mehreren Graden möglich, und keine bestimmte höchste Stufe anzugeben ist, weil diese Erhöhung ins unendliche geht, so lässt in dieser Rücksicht die Güte des Endzwecks sich nicht nach einer festen Regel, sondern nur nach dem möglichen Mehr oder Weniger bestimmen.

Hier ist nun, einmal angenommen, dass der Endzweck der Menschheit im Einzelnen und im Ganzen nicht nach Erfahrungsgesetzen, sondern nach ihrer ursprünglichen Form zu bestimmen sey, für den Historiker nichts zu thun, als höchstens etwa das Geschäft, uns Materialien für die Vergleichung des Mehr oder Weniger in verschiedenen Staatsverfassungen zuzulangen: aber wir befürchten, dass sein Suchen nach dergleichen Materialien in der Geschichte der bisherigen Staaten sehr undankbar seyn, und dass er mit untauglicher Ausbeute beladen zurückkommen werde.

Die zweite Aufgabe ist die: die gewählten Mittel mit dem Zwecke zu vergleichen, um zu sehen, ob die ersteren zum letzteren sich verhallen, wie Ursachen zu ihrer Wirkung. Diese Prüfung ist nun wirklich auf zweierlei Art möglich; nemlich entweder nach deutlich gedachten Gesetzen , oder nach ähnlichen Fällen .

Wenn die Rede von Mitteln ist, um in einer gesellschaftlichen Verbindung einen gewissen Endzweck zu erreichen, so sind die Gegenstände der Anwendung dieser Mittel hauptsächlich die Gemüther der Menschen, in welchen und durch welche dieser Endzweck erreicht werden soll. Diese nun werden nach gewissen allgemeinen Regeln gereizt, in Bewegung gesetzt, zum Handeln bestimmt, welche wohl Gesetze würden heissen können, wenn wir sie gründlich genug kennten. Ich rede nemlich hier nicht von jenem ersten Grundgesetze der Menschheit, das seine freien Handlungen immer bestimmen soll; sondern ich rede von denjenigen Regeln, nach welchen er, insofern er nicht bloss der ursprüngliche reine Mensch, sondern der durch Erfahrung, durch sinnlichen Zusatz gebildete Mensch ist, bestimmt werden kann, und besonders zur Übereinstimmung mit jener ursprünglichen Form bestimmt werden soll. Nemlich, so wie der ursprünglichen Vernunftform nach alle Geister, so sind gewissen anderen sinnlichen Geistesformen nach alle Menschen sich gleich. Die Unterschiede, welche Zeitalter, Klima, Beschäftigung in ihnen hervorbringen, sind gegen die Summe der Gleichheiten wirklich gering, müssen bei fortrückender Cultur unter den Händen weiser Staatsverfassungen immer mehr wegfallen ; man lernt sie leicht, und die Mittel, sie zu benutzen, sind kleine, unbedeutende Hausmittel. Das Studium ihrer allgemeinen Formen aber ist nicht so leicht geendet.

Hier nun ist es, wo wirklich die Erfahrung eintritt: aber nicht jene, wie viel Hauptmonarchieen es gegeben habe, oder an welchem Tage die Schlacht bei Philippi vorgefallen sey, sondern die uns viel nähere – die Erfahrungsseelenkunde . –

Wähle dich selbst zu deinem vertrautesten Gesellschafter, folge dir in die geheimsten Winkel deines Herzens, und locke dir alle deine Geheimnisse ab: lerne dich selbst kennen – das ist der erste Grundsatz dieser Seelenkunde. Die Regeln, die du dir aus dieser Selbstbeobachtung über den Gang deiner Triebe und Neigungen, über die Form deines sinnlichen Selbst abziehen wirst, gelten – du darfst es sicher glauben – für alles, was menschliches Antlitz trägt. Hierin sind sie dir alle ähnlich. – Lass nicht unbemerkt, dass ich sage: hierin . Du nemlich bist vielleicht redlich entschlossen, der Stimme deines Gewissens immer zu folgen, kannst dich vor dir selbst schämen und bist ein ehrlicher Mann. Ich rathe dir nicht, jeden anderen so zuversichtlich für eben das zu nehmen. Er vielleicht nimmt sich nichts übel, was nur hilft, und ist eben so fest entschlossen, der Stimme seines Interesse zu gehorchen. Selbstsucht ist die Triebfeder seiner Handlungen, wie Achtung fürs Gesetz die Triebfeder der deinigen ist. Aber das kannst du sicher glauben, dass diese zwei so sehr verschiedenen Triebfedern ziemlich auf einerlei Wege euch beide zum Handeln führen. – Du wirst dich doch wohl ferner aus der Geschichte deines Herzens noch der Zeit erinnern, da du nicht viel besser warst, als er jetzt ist; du wirst dich auch wohl noch erinnern, wie und auf welche Art du allmählig zur Vernunft bekehrt, und geistig wiedergeboren wurdest. Eben diesen Gang – nicht eben von diesem Puncte aus – muss auch er gehen, wenn er je ein besserer Mensch werden soll; und du musst ihn auf diesen Weg leiten helfen, wenn du ihn etwa dazu machen willst.

Nach den Regeln dieser Seelenkunde nun, welche durch fortgesetzte weise Beobachtung sich dem Range der Gesetze nähern werden, sind die in einer Staatsverfassung zur Erreichung ihres Endzweckes gewählten Mittel zu prüfen; es ist zu untersuchen, ob sie, der allgemeinen Analogie des sinnlichen Menschen nach, die begehrte Wirkung auf ihn hervorbringen können und werden: und diese Art der Beurtheilung ist die gründlichste, die ohnfehlbarste und die einleuchtendste. Mit ihr hat der Historiker vom gewöhnlichsten Schlage nichts zu thun, sondern sie ist das Geschäft des beobachtenden Selbstdenkers.

Ein zweiter Weg, eine Antwort auf die vorliegende Frage zu suchen, ist die Beurtheilung nach ähnlichen Fällen . Der Grundsatz dieser Beurtheilung ist folgender: Aehnliche Ursachen haben einst gewisse Wirkungen hervorgebracht, folglich werden sie jetzt ähnliche Wirkungen hervorbringen. Diese Betrachtungsart nun scheint auf den ersten Anblick rein historisch; aber es ist mancherlei über sie zu erinnern.

Zuvörderst können doch nur immer bloss ähnliche, und nie völlig gleiche Ursachen aufgewiesen, folglich darf auch nur auf ähnliche, nie auf gleiche Wirkungen geschlossen werden. Woher wisst ihr denn aber, worin die verlangte Wirkung der gegebenen wirklich ähnlich, und worin sie ihr unähnlich seyn werde – wie das Unähnliche beschaffen seyn werde? Keins von beiden lehrt euch die Geschichte; ihr müsst es also, wenn ihr es wissen wollt, nach Vernunftgesetzen aufsuchen.

Dann, worauf gründet sich denn überhaupt eure Folgerung, dass ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen haben werden? Soll diese Folgerung gesetzlich seyn, so müsst ihr ja stillschweigend voraussetzen, dass die Wirkung mit den Ursachen durch ein allgemein- und auf alle Fälle gültiges Gesetz wirklich zusammenhänge, und dass sie nach diesem Gesetze aus ihnen erfolge.

Sehet demnach, ihr Vertheidiger der ausschliessenden, oder der vorzüglichen Gültigkeit dieser Beurtheilungsart – sehet, inwiefern wir mit euch übereinkommen, und wo wir von euch abgehen. Ihr nehmt ein Gesetz und die Allgemeingültigkeit desselben einstimmig mit uns an; aber es liegt euch nicht daran, es aufzusuchen. Ihr wollt nur die Wirkung haben; ihr Zusammenhang mit der Ursache ist das, was euch am wenigsten kümmert. Wir suchen das Gesetz selbst, und folgern nun nach dem Gesetze die Wirkung aus der gegebenen Ursache. Ihr kauft aus der zweiten Hand; wir ziehen unsere Waaren aus der ersteren. Wer von uns beiden, meint ihr wohl, wird sie aufrichtiger, und um einen billigeren Preis bekommen? Ihr beobachtet ins grosse hin, seht von der Warte auf den am Markte gedrängten Volksklumpen herunter; wir gehen tiefer ins einzelne, nehmen jeden besonders vor, und forschen ihn aus. Wer, meint ihr wohl, wird mehr erfahren?

Und wie, wenn ihr auf einen Fall kommt, der in eurer Geschichte noch nicht da gewesen ist, was macht ihr dann? Ich fürchte sehr, dass das bei der Frage von den Mitteln, den einzig wahren Zweck einer Staatsvereinigung zu erreichen, wirklich der Fall sey. Ich fürchte, dass ihr in allen bisherigen Staaten vergeblich nach einer Zweckseinheit suchen werdet – in ihnen, die der Zufall zusammenfügte, an denen jedes Zeitalter mit schüchternem Respecte für die Manen der vorhergehenden flickte und ausbesserte – in ihnen, deren lobenswürdigste Eigenschaft es ist, dass sie inconsequent sind, weil die Durchführung mancher ihrer Grundsätze die Menschheit völlig zerdrückt, und jede Hoffnung eines einstigen Auferstehens in ihr vernichtet haben würde – in ihnen, in denen man höchstens nur diejenige Einheit antrifft, die die verschiedenen Gattungen der fleischfressenden Thiere zusammenhält, dass das schwächere vom stärkeren gefressen wird, und das noch schwächere selbst frisst. Ich fürchte, dass ihr über die Wirkungen mancher Triebfedern, auf den Menschen in eurer Geschichte keine Nachricht finden werdet, weil die Helden derselben sie dem menschlichen Herzen anzulegen vergassen. Ihr werdet demnach mit einer Untersuchung a priori euch – begnügen müssen, wenn die a posteriori nicht möglich seyn sollte.

Und, da wir einmal bei diesem reichhaltigen Texte sind, noch ein paar Worte darüber! – Es ist mit der Menschheit im ganzen, wie mit dem Individuum. Jene wird durch die Begegnisse ihrer Dauer gebildet, wie dieses. Wir haben die Begebenheiten unserer ersten Kindheitsjahre völlig vergessen. Sind sie darum für uns verloren, – gründet sich darum, weil wir sie nicht wissen, weniger die ganze originelle individuelle Richtung unseres Geistes auf sie? Bleibt uns nur diese, was gehen jene uns an? – Wir gehen über ins Knabenalter, und unsere kleinen Thaten und Leiden prägen sich dauernder in unser Gedächtniss. Indessen rückt durch sie unsere Bildung weiter, und wie sie weiter rückt, fangen wir an uns unserer kindischen Einfälle und Thorheiten zu schämen; eben das, was uns weiser macht, wird uns, um der grösseren Reife willen, die es uns giebt, in der Erinnerung verhasst, und wir möchten es gern vergessen, wenn wir könnten. Die Zeit, da wir uns desselben gleichgültig erinnern, kommt später; kommt erst alsdann, wenn jene Jahre uns fremd geworden sind, und wir uns nicht mehr als dasselbe Individuum betrachten. – Noch scheint die Menschheit nicht bis zum Alter des Schämenlernens heraufgewachsen zu seyn; sie würde sonst weniger mit ihren kindischen Heldenthaten prahlen, und einen kleineren Werth in die Aufzählung derselben setzen.

Nichts als das, was in der Menschheit als erworbenes Gut wirklich bleibt, ist wahrer Gewinn ihres Alters und ihrer Erfahrung. Wie sie dazu gekommen sey, verschlägt uns weniger, und unsere Neugier würde auch in der gewöhnlichen Geschichte wenig Belehrung darüber finden. Sie beschreiben uns mit aller Ausführlichkeit die Gerüste und das äussere Maschinenwerk: – wie ein Stein an den anderen sich fügte, konnten sie vor dem wunderbaren Gerüste nicht sehen. Das hätten wir allenfalls wohl wissen mögen: – was das Gerüste an belangt – wenn nur das Gebäude da stünde, möchte doch das Gerüste abgetragen werden!Da wir hier nicht einen Tractat gegen die Geschichte schreiben, so stehe folgendes in der Note! –»Wir brauchen die Geschichte unter andern auch, um die Weisheit der Vorsehung in Ausführung ihres grossen Plans zu bewundern.« – Aber das ist nicht wahr. Ihr wollt bloss euren eigenen Scharfsinn bewundern. Es kömmt euch ein Einfall von ohngefähr; so machtet ihr es, wenn ihr die Vorsehung wäret. – Man könnte mit ungleich grösserer Wahrscheinlichkeit in dem bisherigen Gange der Schicksale der Menschheit den Plan eines bösen menschenfeindlichen Wesens zeigen, das alles auf das höchstmöglichste sittliche Verderben und Elend derselben angelegt hätte. Aber das wäre auch nicht wahr. Das einzig Wahre ist wohl Folgendes: dass ein unendliches Mannigfaltige gegeben ist, welches an sich weder gut noch böse ist, sondern erst durch die freie Anwendung vernünftiger Wesen eins von beiden wird, und dass es in der That nicht eher besser werden wird, als bis wir besser geworden sind.

Soll man denn darum die Geschichte ganz eingehen lassen? O nein, nur aus euren Händen soll sie genommen werden, die ihr ewig Kinder bleibt, und nie etwas anderes könnt, als lernen ; die ihr euch nur immer geben lasst, und nie selbst hervorbringen könnt; deren höchste Schöpfungskraft nie über das Nachmachen hinausgeht: der Pflege des wahren Philosophen soll sie übergeben werden, damit dieser in dem bunten, euer Auge durch die Farben anziehenden Marionettenspiele euch den fasslichen Beweis führe, dass alle Wege versucht sind, und dass keiner zum Ziele geführt hat, auf dass ihr endlich aufhört, seinen Weg, den Weg der Grundsätze, gegen den eurigen, den Weg des blinden Probirens, zu verschreien: seiner Pflege soll sie übergeben werden, damit er durch sie euch in dem Alphabete, das ihr lernen sollt, einige Buchstaben roth färbe, auf dass ihr sie so lange an der Farbe kennt, bis ihr sie an ihren inneren Charakteren werdet kennen lernen.

Zur Bereicherung und endlichen Befestigung der Erfahrungsseelenkunde soll er sie brauchen. – Den Menschen im Ganzen, den Menschen unter gewöhnlichen Umständen kennen zu lernen, bedarf es keiner ausgebreiteten Geschichtskunde. Jedem ist sein eigenes Herz, und die Handlungsarten seiner beiden Nachbarn rechts und links ein unerschöpflicher Text. Was aber begünstigte Seelen unter ausserordentlichen Umständen vermögen, das lehrt die tägliche Erfahrung nicht. Begünstigte Seelen unter Umständen, die ihr ganzes Vermögen entwickeln und darstellen, werden nicht alle Jahrhunderte geboren. Um diese, um die Menschheit in ihrem Feierkleide kennen zu lernen, bedarf es der Belehrung der Geschichte. – Wolltet ihr mir wohl vorrechnen, wie viel wir in dieser Rücksicht durch eure Behandlung derselben gewonnen haben? mir die Plutarche nennen, die ihr uns erzogen habt?

Wirklich, es hält schwer, der Bewegung seiner Galle oder seines Zwerchfelles, je nachdem nun die eine oder das andere reizbarer bei uns ist, zu widerstehen, wenn man die Declamationen unserer – Sachkenner gegen die Anwendung ursprünglich vernünftiger Grundsätze im Leben, die heftigen Anfälle unserer Empiriker auf unsere Philosophen mit anhört; als ob zwischen Theorie und Praxis ein nie zu vermittelnder Widerstreit wäre. – Aber ich bitte euch, wornach treibt denn ihr eure Geschäfte im Leben? Ueberlasst ihr sie denn ganz dem blinden Wehen des Zufalls, oder, da ihr meistens sehr fromm redet, der Leitung der Vorsehung; oder richtet auch ihr euch nach Regeln? Im ersteren Falle – wozu denn eure wortreichen Warnungen an die Völker, sich durch die Vorspiegelungen der Philosophen doch ja nicht blenden zu lassen? Seyd ihr doch ganz stille, und lasst euren Zufall walten. Werden die Philosophen gewinnen, so werden sie ja recht gehabt haben; werden sie nicht gewinnen, so werden sie unrecht gehabt haben. Es ist nicht eure Sache, sie zu widerlegen; der Zufall wird schon über sie Gericht halten. Im zweiten Falle – woher bekommt ihr denn eure Regeln? Aus der Erfahrung, sagt ihr. Aber wenn dies nicht heisst: ihr findet sie da wirklich von anderen Männern vor euch in Worte verfasst, und nehmt sie auf ihre Autorität hin – heisst es aber das, so frage ich euch: woher haben jene sie genommen? Und ihr seyd um keinen Schritt weiter. – Wenn es dies aber nicht heisst, so müsst ihr ja wohl erst die Erfahrung beurtheilen, das Mannigfaltige in derselben unter gewisse Einheiten bringen, und so eure Regeln daraus folgern. Dieser Weg, den ihr geht, kann nicht wieder aus der Erfahrung abgezogen seyn, sondern die Richtung und die Schritte desselben sind euch durch ein ursprüngliches Gesetz der Vernunft vorgezeichnet, das euch aus der Schule unter dem Namen Logik bekannt ist. Aber dieses Gesetz schreibt euch doch nur die Form eurer Beurtheilung, nicht den Gesichtspunct vor, aus dem ihr die Thatsachen beurtheilen wollt. Ihr müsst das Mannigfaltige unter gewisse bestimmte Einheiten bringen, sagte ich, und ihr werdet es mir gewiss nicht abläugnen, wenn ihr diesen Ausdruck versteht. Wo nicht, so denkt ein wenig über ihn nach. Wie kommt ihr denn nun zu diesen Einheitsbegriffen? Durch Beurtheilung des in der Erfahrung gegebenen nicht, denn die Möglichkeit jeder Beurtheilung setzt sie schon voraus; wie ihr aus dem Gesagten begriffen haben müsst. Sie müssen also ursprünglich und vor aller Erfahrung vorher in eurer Seele gelegen haben, und ihr habt nach ihnen geurtheilt, ohne es zu wissen. Die Erfahrung an sich ist ein Kasten voll untereinander geworfener Buchstaben; der menschliche Geist nur ist es, der einen Sinn in dieses Chaos bringt, der hier eine Iliade, und dort ein Schlenkertsches historisches Drama aus ihnen zusammensetzt. – Ihr habt euch demnach höchlich unrecht gethan; ihr seyd mehr Philosophen, als ihr es selbst glauben konntet. Es geht euch, wie Meister Jourdain in der Komödie: ihr habt euer ganzes Leben philosophirt, ohne ein Wort davon zu wissen. Verzeiht uns daher nur immer eine Sünde, die ihr mit uns zugleich begangen habt.

Wo der eigentliche Streitpunct zwischen euch und uns liegt, kann ich euch wohl mittheilen. Ihr wollt es freilich nicht ganz mit der Vernunft, aber auch nicht ganz mit eurem wohlthätigen Freunde, dem Schlendrian, verderben. Ihr wollt euch zwischen beide theilen, und gerathet dadurch, zwischen zwei so unverträglichen Gebietern, in die unangenehme Lage, es keinem zu Danke machen zu können. Folgt doch lieber entschlossen dem Gefühle der Dankbarkeit, das euch zu dem letzteren hinzieht, und wir wissen dann, wie wir mit euch daran sind.

Ihr möchtet wohl gern ein wenig vernünftig handeln, nur ums Himmels willen nicht ganz. – Recht wohl! aber warum eben bis zu der von euch festgesetzten Grenze – warum hört ihr nicht noch innerhalb derselben auf – warum geht ihr nicht noch einige Schritte weiter? Einen vernünftigen Grund könnt ihr dafür nicht anführen, da ihr hier die Vernunft verlasst. Was wollt ihr nun auf diese Frage uns – was wollt ihr auf sie euren Verbündeten, die über die Sache selbst, nur nicht über die Grenze mit euch einig sind – was wollt ihr auf sie, entschiedenen Verfechtern des Alten, so wie es ist, antworten? Ihr gerathet mit der ganzen Welt in Streit, und steht allein und ohne Antwort da.

Aber, ihr bleibt dabei, unsere philosophischen Grundsätze liessen sich einmal nicht ins Leben einführen; unsere Theorien seyen freilich unwiderleglich, aber sie seyen nicht ausführbar. – Das meint ihr denn doch wohl nur unter der Bedingung, wenn alles so bleiben soll, wie es jetzt ist – denn sonst wäre eure Behauptung wohl zu dreist. Aber wer sagt denn, dass es so bleiben solle? Wer hat euch denn zu eurem Ausbessern und Stümpern, zu eurem Aufflicken neuer Stücke auf den alten zerlumpten Mantel, zu eurem Waschen, ohne einem die Haut nass machen zu wollen, gedungen? Wer hat denn geläugnet, dass die Maschine dadurch vollends ins Stocken gerathen, dass die Risse sich vergrössern, dass der Mohr wohl ein Mohr bleiben werde? Sollen wir den Esel tragen, wenn ihr Schnitzer gemacht habt?

Aber ihr wollt , dass alles hübsch bei dem Alten bleibe; daher euer Widerstreben, daher euer Geschrei über die Unausführbarkeit unserer Grundsätze. Nun so seyd wenigstens ehrlich, und sagt nicht weiter: wir können eure Grundsätze nicht ausführen, sondern sagt gerade, wie ihr es meint: wir wollen sie nicht ausführen.

Dies Geschrei über die Unmöglichkeit dessen, was euch nicht gefällt, treibt ihr nicht erst seit heute; ihr habt von jeher so geschrieen, wenn ein muthiger und entschlossener Mann unter euch trat und euch sagte, wie ihr eure Sachen klüger anfangen solltet. Dennoch ist, trotz eurem Geschrei, manches wirklich geworden, indess ihr euch seine Unmöglichkeit bewieset. – So rieft ihr vor nicht gar langer Zeit einem Manne zu, der unseren Weg ging, und bloss den Fehler hatte, dass er ihn nicht weit genug verfolgte: proposez nous donc ce, qui est faisable – das hiesse: proposez nous ce, qu'on fait , antwortete er euch sehr richtig. Ihr seyd seitdem durch die Erfahrung, das einzige, was euch klug machen kann, belehrt worden, dass seine Vorschläge doch nicht so ganz unthunlich waren.

Rousseau, den ihr noch einmal über das andere einen Träumer nennt, indess seine Träume unter euren Augen in Erfüllung gehen, verfuhr viel zu schonend mit euch, ihr Empiriker; das war sein Fehler. Man wird noch ganz anders mit euch reden, als er redete. Unter euren Augen, und ich kann zu eurer Beschämung hinzusetzen, wenn ihr es noch nicht wisst, durch Rousseau geweckt, hat der menschliche Geist ein Werk vollendet, das ihr für die unmöglichste aller Unmöglichkeiten würdet erklärt haben, wenn ihr fähig gewesen wäret, die Idee desselben zu fassen: er hat sich selbst ausgemessen. Indess ihr noch an den Worten des Berichts herumklaubt, – nichts merkt, nichts ahndet, – euch in ein paar abgerissene Fetzen desselben, wie in eine zweite Löwenhaut, einhüllt – in aller Unschuld und Unbefangenheit seinen Grundsätzen zu folgen glaubt, indem ihr die hässlichsten Verstösse dagegen macht, nähren sich vielleicht in der Stille am Geiste desselben junge kraftvolle Männer, die seinen Einfluss in das System des menschlichen Wissens nach allen seinen Theilen, die die gänzliche neue Schöpfung der menschlichen Denkungsart, die jenes Werk bewirken muss, ahnden, bis sie sie darstellen werden. Ihr werdet noch oft nöthig haben, euch die Augen zu reiben, um euch zu überzeugen, ob ihr recht seht, wenn wieder eine eurer Unmöglichkeiten wirklich geworden ist.

Wollt ihr die Kräfte des Mannes nach denen des Knaben messen? Glaubt ihr, dass der freie Mann nicht mehr vermögen werde, als der Mann in Fesseln vermochte? Beurtheilt ihr die Stärke, die ein grosser Entschluss uns geben wird, nach der, die wir alle Tage haben? Was wollt ihr doch also mit eurer Erfahrung? Stellt sie uns etwas anders dar, als Kinder, gefesselte und Alltagsmenschen?

Ihr eben seyd die competenten Richter über die Grenzen der menschlichen Kräfte! Unter das Joch der Autorität, als euer Nacken noch am biegsamsten war, eingezwängt, mühsam in eine künstlich erdachte Denkform, die der Natur widerstreitet, gepresst, durch das stete Einsaugen fremder Grundsätze, das stete Schmiegen unter fremde Pläne, durch tausend Bedürfnisse eures Körpers entselbstet, für einen höheren Aufschwung des Geistes, und ein starkes hehres Gefühl eures Ich verdorben, könnt ihr urtheilen, was der Mensch könne? – sind eure Kräfte der Maassstab der menschlichen Kräfte überhaupt? Habt ihr den goldenen Flügel des Genius je rauschen gehört? – nicht dessen, der zu Gesängen, sondern dessen, der zu Thaten begeistert. Habt ihr je ein kräftiges: ich will eurer Seele zugeherrscht, und das Resultat desselben, trotz aller sinnlichen Reizungen, trotz aller Hindernisse, nach jahrelangem Kampfe hingestellt und gesagt: hier ist es? Fühlt ihr euch fähig, dem Despoten ins Angesicht zu sagen: tödten kannst du mich, aber nicht meinen Entschluss ändern? Habt ihr, – könnet ihr das nicht, so weichet von dieser Stätte, sie ist für euch heilig.

Der Mensch kann , was er soll ; und wenn er sagt: ich kann nicht, so will er nicht.

III.

Ohne vorläufig die Untersuchung, vor welchen Richterstühlen wir unsere Sachen anhängig machen sollten, ins reine gebracht zu haben, war ein Urtheil völlig unmöglich. Jetzt, da sie im reinen ist, entsteht eine neue, vor deren Entscheidung ein gründliches und zusammenhängendes Urtheil ebenso unmöglich ist – die von dem Range der beiden competenten Richterstühle, und von der Unterordnung ihrer Aussprüche unter einander. Ich mache mich deutlicher.

Es kann eine Handlung sehr klug seyn, welche doch unrecht ist; wir können zu einer Sache ein Recht haben, dessen Gebrauch doch sehr unklug wäre: denn beide Richterstühle sprechen ganz unabhängig von einander, nach ganz verschiedenen Gesetzen, und auf ganz verschiedene Fragen. Warum sollte denn das Ja oder das Nein, das auf die eine passt, immer auch auf die andere passen? wenn wir nun unsere Frage vor beide Richterstühle gebracht hätten, in der Absicht, um unser Thun oder Lassen nach den Antworten, die wir bekommen würden, einzurichten, und der eine erlaubte oder beföhle, was der andere widerriethe, welchem müssten wir gehorchen?

Der Ausspruch der Vernunft, insofern er die freien Handlungen geistiger Wesen betrifft, ist schlechthin gültiges, allgemeines Gesetz ; was sie gebietet, muss schlechterdings geschehen; was sie erlaubt, darf schlechterdings nicht gehindert werden. Die Stimme der Klugheit ist nur guter Rath ; wenn wir klug sind, so werden wir ihn freilich hören: – aber, wenn wir nun nicht so klug sind, als ihr, wenn wir nun eure scharfe Rechenkunst der Vortheile nicht besitzen – freilich ist das übel für uns – aber dürft ihr uns nöthigen , klug zu seyn? Wenn also auf eine unserer Fragen das Sittengesetz uns antwortete: du darfst nicht – so müssen wir es nicht thun, und wenn die Stimme der Klugheit noch so laut riefe: thue es, es ist dein höchster Vortheil; wenn du es unterlässest, so ist dein ganzes Wohl vereitelt, so versinkest du in das tiefste Elend, so stürzen die Trümmer des Weltalls über dich zusammen. Lass sie stürzen, und dich mit dem Bewusstseyn, nicht unrecht gehandelt zu haben , und eines besseren Schicksals würdig zu seyn, in ihrem Schoosse begraben.

Wenn dir das Sittengesetz antwortet: du darfst, – dann gehe hin, und berathe dich mit der Klugheit; dann untersuche deine Vortheile, wäge sie gegeneinander ab, wähle den vollwichtigsten, und geniesse ihn mit gutem Gewissen; dein Herz gesegnet ihn dir.

Wenn wir aber diese Frage bloss erhoben hätten, um über die Handlung eines anderen zu urtheilen, wie hätten wir uns dann in dem Falle verschiedener Antworten des Sittengesetzes und der Klugheit zu betragen? – Hat er unrecht gehandelt, so verdient seine Handlung unseren ganzen Abscheu, und wenn seine Ungerechtigkeit uns betraf, unsere Ahndung. Hat er nur unklug gehandelt, so verdient sie bloss unseren Tadel; er höchstens unser Mitleid und unsere guten Wünsche: unsere Achtung können wir ihm nicht entziehen, denn er hat das Gesetz geehrt.

Aber – o, es ist ein tiefer, verborgener, unaustilgbarer Zug des menschlichen Verderbens, dass sie immer lieber gütig, als gerecht seyn; lieber Almosen geben, als Schulden bezahlen wollen! – Aber wir sind grossmüthig, wir suchen sein eigenes Beste, und wollen ihn auf den Weg desselben, sey es auch durch gewaltsame Mittel, zurückführen.

Wissen wir denn nun so ganz gewiss, was sein Wohl, oder sein Unglück befördere? Es kann wohl seyn, dass wir uns in seiner Lage höchst elend befinden würden; wissen wir denn aber, ob er, seinen besonderen Eigenschaften, Kräften, Anlagen nach, sich ebenso elend befinde? Wir halten und rechnen ja sonst so sehr auf die individuellen Verschiedenheiten der Menschen; warum vergessen wir denn hier unseren eigenen Grundsatz? Haben wir denn ein allgemeines Gesetz zur Beurtheilung der Glückseligkeit? Wo ist es doch anzutreffen?

Woher doch der allgemeine Zug im Menschen, die individuelle Richtung anderer so gern nach seiner eigenen zu messen, so gern für andere Pläne zu entwerfen, die weiter keinen Fehler haben, als den, dass sie bloss für ihn passen? Der Furchtsame zeichnet dem Kühnen, der Kühne dem Furchtsamen den Weg vor, den er selbst freilich gehen würde: aber wehe dem Armen, der auf solchen guten Rath hört! Er wird nie an seiner Stelle seyn, er wird beständig eines Vormundes bedürfen, weil er ein einzigesmal unmündig war. – Das würde ich auch thun, wenn ich Parmenio wäre, sagte Alexander; und war in diesem Augenblicke mehr Philosoph, als vielleicht sein ganzes übriges Leben durch. Sey dir selbst Alles, oder du bist Nichts. – Erkennt in diesem Zuge die sinnliche Verunstaltung eines Grundzuges unserer geistigen Natur; des – Uebereinstimmung in den Handlungsarten vernünftiger Wesen, als solcher, hervorzubringen.

Gesetzt aber, ihr könntet beweisen, was ihr doch nie beweisen werdet, dass er sich durch seine Handlung nothwendig unglücklich mache – ihr fühltet euch von eurem grossmüthigen Herzen fortgerissen, ihn am Rande des Abgrundes zurückzuhalten – wollt ihr euch nicht wenigstens so lange gedulden, bis ihr über die Rechtmässigkeit eurer Handlungen mit euch zu Rathe gegangen seyd?

Er zeigt eine Erlaubniss des einigen Gesetzes vor, welches euch, wie ihn, verbindet. Ist dieses Gesetz wirklich euer gemeinschaftliches einiges, so ist seine vorgezeigte Erlaubniss für euch ein Verbot . Das Gesetz will, er soll unter keinem anderen Gesetze stehen, als unter ihm. Im gegenwärtigen Falle schweigt es und befreit ihn mithin von aller Gesetzlichkeit; und ihr wolltet ihm durch euren Zwang ein neues Gesetz auflegen? Dann nehmt ihr ja eine Erlaubniss zurück, die das Gesetz gab; dann wollt ihr ja den gebunden, den das Gesetz frei will; dann seyd ihr ja dem Gesetze ungehorsam; dann setzt ihr ja euren Stuhl über den Stuhl der Gottheit, – denn selbst sie macht kein freies Wesen wider seinen Willen glücklich.

Nein, vernünftige Creatur, du darfst niemanden wider sein Recht glücklich machen, denn das ist unrecht.

0 heiliges Recht, wann wird man dich doch für das, was du bist, für ein Siegel der Gottheit an unserer Stirn anerkennen, und vor dir niederfallen und anbeten; wann wirst du uns doch, wie eine himmlische Aegide, unter dem Kampfe des gegen uns verschworenen Interesse der ganzen Sinnlichkeit bedecken, und durch deinen blossen Anblick alle unsere Gegner versteinern; wann werden doch vor deiner blossen Idee die Heere erbeben und niederfallen, und vor den Strahlen deiner Majestät dem Starken die Waffen entsinken?

IV.

In dieser den Vorerinnerungen gewidmeten Einleitung vergönne man noch nachfolgender ihr Plätzchen, die zwar nicht eigentlich die Grundsätze der Beurtheilung, aber das Recht der öffentlichen Beurtheilung selbst betrifft.

Man erhebt nemlich jetzt wieder bei freien politischen Untersuchungen ein Getratsch, wie man es schon ehemals bei religiösen trieb, über exoterische und esoterische Wahrheiten, d. h. – denn du sollst es nicht verstehen, unstudirtes Publicum, darum werden sie sich wohl hüten, es deutsch zu sagen – d. h. also: von Wahrheiten, die ein jeder wissen mag, weil eben nicht viel Tröstliches daraus folgt, und von anderen Wahrheiten, die, leider! eben so wahr sind, von denen aber niemand wissen soll, dass sie wahr sind. – Siehe, liebes Publicum, so spielen deine Lieblinge dir mit, und du freuest dich in kindlicher Unbefangenheit über die Brosamen, die sie dir von ihrer reich besetzten Tafel zufliessen lassen. Traue ihnen nicht; das, worüber du eine so herzliche Freude hast, ist nur das Exoterische; das Esoterische solltest du erst sehen; aber – das ist nicht für dich. »Die Thronen der Fürsten werden und müssen ewig stehen,« sagen sie; nemlich, denken sie, Fürst heisst jeder Verwalter der Gesetze; »nur das beherrschte Volk kann frei seyn,« sagen sie; nemlich, denken sie, durch selbstgegebene Gesetze beherrscht.

Das ist auch eine von euren alten Untugenden, feige Seelen, dass ihr uns mit einer geheimnissvollen Miene ins Ohr flüstert, was ihr aufgespürt habt: aber, aber – setzt ihr hinzu und macht ein kluges Gesicht, dass es ja nicht weiter auskommt, Frau Gevatterin! Das ist nicht männlich; was der Mann redet, mag jeder wissen.

»Aber es würde doch grosses Unheil davon entstehen, wenn es jeder wüsste.« Wenn du nicht bestallet bist, für das Wohl der Welten zu sorgen, so lass das deine letzte Sorge seyn. Die Wahrheit ist nicht ausschliessendes Erbtheil der Schule; sie ist ein gemeinsames Gut der Menschheit, von ihrem gemeinschaftlichen Vater ihr zur köstlichsten Ausstattung, zum innigsten Vereinigungsmittel der Geister mit Geistern gegeben; jeder hat das gleiche Recht, sie aufzusuchen, und sie nach seiner ganzen Empfänglichkeit dafür zu gemessen und zu benutzen. Du darfst ihn daran nicht hindern; denn das ist unrecht: du darfst ihn nicht täuschen, ihm nichts aufbinden; sey es auch in der wohlthätigsten Absicht. Was für ihn wohlthätig ist, weisst du nicht; aber dass du schlechterdings nie lügen, schlechterdings nie gegen deine Ueberzeugung reden sollst, weisst du. Freilich können wir dich auch nicht nöthigen, ihm die Wahrheit zu sagen; du kannst deine Ueberzeugung gänzlich für dich behalten; wir haben weder ein Mittel, noch ein Recht, sie aus deiner Seele herauszupressen. – Aber, ich will sie ihm sagen. Siehst du darüber scheel, dass ich so gütig bin? Habe ich nicht Recht zu thun mit dem Meinen, was ich will? Kannst du es ohne Ungerechtigkeit verhindern – ohne Ungerechtigkeit gegen mich, indem du mir den freien Gebrauch meines Eigenthums, also ein Menschenrecht streitig machen – ohne Ungerechtigkeit gegen den anderen, indem du ihn eines frei dargebotenen Mittels zur Erreichung einer höheren Geistescultur berauben würdest? Was aus meiner Mittheilung erfolgen möge, ist nicht deine Sorge; deine Sorge ist nur die, nicht ungerecht zu seyn.

Aber sollte denn auch wirklich soviel Schreckliches daraus erfolgen, oder ist es nur deine erhitzte Phantasie, welche Windmühlen für Riesen ansieht? – Die allgemeine Verbreitung der Wahrheit, die unseren Geist erhebt und veredelt, die uns über unsere Rechte und Pflichten unterrichtet, die uns die besten Wege auffinden lehrt, wie wir die ersteren behaupten, und die Erfüllung der zweiten recht fruchtbar für das menschliche Geschlecht machen können, sollte schädliche Folgen haben? Vielleicht für diejenigen, welche uns auf immer in der Thierheit erhalten möchten, damit sie uns auf immer ihr Joch auflegen, und zu ihrer Zeit uns schlachten können? Und welche denn auch für sie, als etwa die, dass sie dann ein anderes Handwerk ergreifen müssten? Fürchtet ihr dies als ein Unglück? Nun freilich, darin sind wir mit euch nicht einig; wir fürchten dieses Unglück nicht. O, möchte doch über alle Menschen die klarste, belebendste Erkenntniss der Wahrheit sich verbreiten; möchten doch alle Irrthümer und Vorurtheile vom Erdballe vertilgt seyn! Dann wäre der Himmel schon auf der Erde.

Ein halbes Wissen, losgerissene Sätze ohne Uebersicht des Ganzen, die nur auf der Oberfläche des Gedächtnisses herumschwimmen, und die der Mund herplaudert, ohne dass der Verstand die geringste Notiz davon nimmt, könnten vielleicht Schaden stiften, aber sie sind auch nicht Kenntniss. Welchen Satz wir nicht aus seinen Grundsätzen entwickelt, und die Folgen desselben überschaut haben, dessen Sinn verstehen wir sogar nicht. – Aber nein, auch sie stiften keinen Schaden; sie sind in der Seele wie ein todtes Capital, ohne allen Einfluss: die Leidenschaften sind es, die sie zum beschönigenden Vorwande ergreifen – die Leidenschaften, welche, wenn sie diesen Vorwand nicht hätten, einen anderen fänden, oder, wenn sie gar keinen fänden, ohne allen Vorwand dieselben bleiben würden.

Wir haben euch also wohl gar unrecht gethan? Wüsstet ihr etwas Gründliches, so würdet ihr auch die Folgen desselben übersehen haben, und wissen, dass sie, wie jeder Wahrheit Folgen, nicht anders als heilsam seyn können. Ihr mögt höchstens im Fluge hier und da einen Lappen abgerissen haben, über dessen fremde Gestalt ihr so erschrakt, dass ihr ihn sogleich, als eine heilige Reliquie, vor profanen Augen verschlosset. Wir werden also hinführo weniger lüstern nach euren esoterischen Wahrheiten seyn. Ihr gebt uns, vermuthe ich, mit aller Treue, was ihr habt, und die verschlossenen Kasten sind nur darum verschlossen, damit wir nicht sehen, dass sie leer sind.

Siehe, Wohlthäterin der Menschheit, belebende Wahrheit, so gehen diejenigen mit dir um, die sich deine Priester nennen. Weil sie dich noch nie erblickten, verläumden sie dich ungescheut. Du bist ihnen ein menschenfeindlicher Dämon. Sie haben sich ein hölzernes Bild geschnitzt, das sie statt deiner anbeten. Nur von dem Theile aus, von welchem Moses seine Gottheit erblickte, zeigen sie dies an hohen Festen dem Volke, und geben vor, wer ihre Bundeslade berühre, müsse sterben. O, mache doch ihrer Gaukelei ein Ende. Erscheine du selbst mitten unter uns in deinem milden Glanze, dass alle Völker dir huldigen.


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