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Am anderen Morgen mit dem Schlag sieben sprang Emil aus der sauberen, rauhen Leinwand eines breiten Bauernbettes und schaute, noch ungewaschen, aber schon glücklich zu dem Fenster des bescheidenen Gasthauses am See hinaus, wo er übernachtet hatte. Es war eine Wonne sondergleichen für seine Augen, daß sie nun nicht mehr überall an harten Felswänden anstießen, sondern ruhig über die weiche Wasserfläche schweifen konnten. Die nahen Ufer verhüllte ein leichter Frühnebel, und dichte Obstbäume und farbenglühende Blumen in den Gärten atmeten tautrunken das Licht der durchbrechenden Morgensonne.
Emil war heute, wie der Achleitner gesagt hätte, mit einem scharfen, sauberen Blick aufgewacht. Rasch wusch er sich von Kopf zu Fuß, steckte bald in den Kleidern, trank eine Tasse Kaffee, bezahlte und schritt dann, seinen Stecken schwingend, auf der Landstraße einem alten Herrenhaus zu, das in der Ferne im Sonnendunst schimmerte.
Tiefsinnige Mönche und ruhesuchende Dichter kannten schon seit geraumen Zeiten diesen Winkel Land und See als eines der schönsten Stücke der deutschen Erde. Daß auch die reichen Schweizer Patrizierfamilien diesen guten Geschmack hatten, davon zeugten neben den Klöstern die behäbigen Schlößlein, die an dem See hin auf den weichen Uferhügeln thronten. Der größte dieser früheren Edelsitze lag auf einer weit in den See hinausreichenden Landzunge, und seine vier kupfergedeckten Zwiebeltürme und die hohen, das Gut umstehenden Pappeln hoben sich dunkel von der gleißenden Wasserfläche ab.
Das war die Wirkungsstätte seines alten Schulfreundes.
Als Emil vor der Gartenmauer stand, welche das Landerziehungsheim rund umgab, fand er das kleine, rosenumsponnene Tor verschlossen. Er mußte klingeln. Wie ein Alarmsignal rief die Glocke durch die Morgenstille.
Da gingen die beiden Torflügel sperrangelweit auf, und zwischen den beiden Pfosten stand in einem leichtgeblumten duftigen Kleid und in einer schönen Verwirrung das Mädchen, dem Emil einmal gerade so unvermutet auf dem Münsterturm seiner Vaterstadt gegenübergetreten war. Sein Herz tat einen Ruck, als wollte es stillstehen. Und wieder, wie damals, strahlten sie sich an und senkten dann demütig das Haupt voreinander.
Etwas zurückhaltend fragte die schöne Pförtnerin:
»Was wünscht der Herr?«
Fest klang die Frage, doch nicht unliebenswürdig.
»Himmeldonnerwetter!« dachte Emil, sonst nichts.
Das jugendfrische Gesicht des Mädchens nahm einen fast ungeduldigen Ausdruck an, und es lag eine leichte Ungehaltenheit in der wiederholten Frage:
»Was ist gefällig, wenn ich fragen darf?«
»Vergebung!« antwortete jetzt Emil; »kann ich den Herrn Doktor Imhoff sprechen?«
»Mein Vetter ist baden gegangen, und als es läutete, glaubte ich, er sei es,« sagte Sabine, um ihre Freude beim Öffnen der Türe zu erklären und sich keinem Mißverständnis auszusetzen.
Emil verstand nun.
»Aber, bitte, treten Sie doch ein,« bat nun Sabine; »mein Vetter muß jeden Augenblick kommen.«
Emil trat ein, und die kleinen festen Torflügel schlossen sich wieder.
»Wen darf ich anmelden?«
»Doktor Himmelheber, wenn ich bitten darf.«
»Oh!« rief das Mädchen freudig aus, hielt sich aber im nächsten Augenblick, ärgerlich über ihr verräterisches Gemüt, die Hand vor den Mund.
»Fritz, mein Vetter, hat mir nämlich schon von Ihnen erzählt,« sagte sie und fügte hinzu: »Wenn ich nicht irre, hat Fritz Ihnen gestern sogar geschrieben.«
Damit führte sie Emil durch eine schmale Tannenallee, und während sie vor ihm her ging, hatte er das Gefühl, als schwebe eine kleine leuchtende Wolke ihm voraus. Und der wollte er folgen wie Moses der Feuersäule.
In dem viereckigen Hof, in welchen die dunkle Tannenallee mündete, empfing den flüchtigen Privatdozenten gleich das junge frohe Leben des Landerziehungsheims.
Das frische und doch nicht laute Durcheinander von etwa einem halben Hundert Knaben und jungen Menschen erfüllte während einer Schulpause das große, sauber gepflasterte Viereck eines Hofes. Die älteren wie die jüngeren Schüler trugen alle kurze Leinenhosen und zeigten von den Knien an sehnige, wettergebräunte Beine. Die nackten Füße steckten in braunen Ledersandalen, und die verschieden farbigen Hemden oder Blusen hielten breite Gürtel. Manche der Zöglinge gingen paarweise in vertrautem Gespräch auf und ab; andere, kleinere, halfen vor der Küche, die mit den Wirtschaftsgebäuden zusammen den Hof nach links abgrenzte, einer alten Magd beim Kartoffelschälen; in einer offenen Halle der hinteren Hofhälfte sah man Jungen an den Hobelbänken einer Schreinerei hantieren, und aus einem mit großen Scheiben verglasten Korridor auf der rechten Hofseite heraus hörte man das Klirren von Fechtsäbeln. Unter den älteren, etwa achtzehnjährigen Schülern entdeckte Emil auch seine drei jungen Bekannten von Grindelwald, und er wollte ihnen gerade zur Begrüßung entgegengehen, als es am Tor wieder läutete. Die schöne Pförtnerin flog auf die Mauer zu, und im letzten Augenblick trat Doktor Imhoff, der in seiner liebenswerten Häßlichkeit und in seinem unscheinbaren Äußeren stark von der wohlgebildeten Base abstach, in den Hof.
»Das heiß' ich aber prompt!« rief er Emil freudig zu.
»Aber einen Brief habe ich bis jetzt noch nicht erhalten,« klärte ihn Emil auf.
»Desto besser, dann hat Sie ein guter Stern hierhergeführt – denn Sie kommen wie gerufen.«
Der kleine zartgebaute Mann nahm den großen Emil unter den Arm und zog ihn durch die Fechthalle ins Haus. Als sie miteinander die breite Treppe mit dem schweren Holzgeländer hinaufstiegen, sagte Imhoff zu Emil, in dessen Gehirn die Gedanken flatterten wie aufgescheuchte Vögel:
»Wissen Sie auch, daß Sie hier nicht mehr fortkommen?«
»Nicht mehr – ist etwas lang, aber für die paar Wochen bis Schulschluß lasse ich mit mir reden.«
»Mit den ersten vier Wochen fangen wir an!« protestierte Imhoff und schob Emil in sein Studierzimmer, das schon mehr einem kleinen Saal glich. Kaum hatten sie sich gesetzt, als der Leiter des Landerziehungsheims zu Emil gewendet fortfuhr:
»Es ist wirklich ein Wink des Schicksals, daß Sie jetzt gerade kommen, denn ich befinde mich in der größten Verlegenheit. Einer unserer Lehrer, mein bester Kollege an der Anstalt, hat sich auf einer Ferienreise mit einigen Schülern beim Biwakieren im Wald derart erkältet, daß er jetzt mit der schönsten Lungenentzündung daniederliegt und nach dem Urteil des Arztes auf Monate hinaus dienstuntauglich sein wird. Er hat in den höheren Klassen Deutsch und Geschichte erteilt, das ist ja gerade nicht Ihr Fach, aber es liegt Ihnen. In den Schulbetrieb finden Sie sich rasch wieder. Ich engagiere Sie hiermit feierlich; Kostenpunkt Nebensache. Schlagen Sie ein!«
Emil schlug ein.
»Ist das Fräulein, das mich empfangen hat, Ihre Base?« fragte er gespannt und ein wenig ängstlich.
»Sie ist meine Stiefbase, wenn Sie wollen, die Tochter des Pfarrers Feuerstein in Rheineck, aber für mich und das Landerziehungsheim ist sie die Ordnung und der Sonnenschein in einer Person. Sie ersetzt die Frau im Hause und ist die Mutterseele in der Schule, obwohl sie erst vor drei Wochen hier ankam. Sie gilt alles bei den Buben. Am meisten bei den Kleinen, sie lehrt sie die Fingernägel putzen, einen Scheitel machen, und die ganz kleinen Kerlchen weinen manchmal abends das Heimweh in ihrem Schoß aus.«
»Da ist es ein Glück für Sie, daß sie noch nicht verheiratet ist!«
»Natürlich, was wollte ich als Junggeselle anfangen ohne sie!«
»Wenn aber einmal einer kommt?«
Da schaute mit einem komisch schmerzhaften Zug im Gesicht und mit rührenden Augen Doktor Imhoff seinen Studienfreund eindringlich an und sagte drohend im schönsten Schweizerdeutsch:
»Es sott mir numme einer chömme!«
Emil gab keine Antwort auf diese Drohung und sprang so, nachdem ihn das Glück auf harten Umwegen doch noch vor die rechte Tür geführt, mit beiden Füßen in die Arbeit. Der erste Tag verging mit der Einrichtung seines Zimmers, das er in einem der vier Türme angewiesen bekam. Da nagelte er, hing die Bilder nach seinem Geschmack um, verschob die Möbel, bis sie endlich richtig standen, und freute sich wie ein König, daß er von seinem Schreibtisch, in der Mitte des Zimmers, aus nach allen Himmelsrichtungen in die schöne Welt um ihn herum schauen konnte.
Am Nachmittag schrieb er der Mutter einen langen Brief, und daß er ihr damit eine größere Freude als mit den bisherigen machte, das wußte er. Abends machte er einen Rundgang um das Erziehungsheim, besah sich den Gemüse-, den Obst- und den Ziergarten und schlenderte dann über die Wiesen, die zu dem Besitz gehörten.
Er fand alles in dem Stand, welchen des Kenners Auge mit Wohlgefallen bemerkt, und ging gerade zwischen den letzten Haufen Heu über den weichen Mattenboden dahin, als er helle junge Knabenstimmen, begleitet von einem schönen Alt, irgendwoher vernahm:
»Uf em Bergli bin i g'sesse,
Han de Vögeli zug'schaut,
Hent g'sprunge, hent g'sunge
Und Nesteli baut.«
Emil stieg, bevor er zu den Sängern kam, gegen den Buchenwald zu, und als er an den nahen Waldrand kam, konnte er Sabine mit vier zehnjährigen kleinen Buben hinter einem Öhmdhaufen sitzen sehen. Sie hielt in den beiden Armen zwei von den Kleinen wie eine Glucke ihre Küchlein, und sie sangen sich mit ihr zusammen in die Nacht hinein.